Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas

Die Originalausgabe erschien erstmals 1948 und erneut 2016 unter dem Titel Je wist het toch bei Uitgeverij Cossee in Amsterdam. Der Verlag dankt der Dutch Foundation for Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

Das Foto auf dem Cover stammt von Annelise Kretschmer (1903  1987 in Dortmund), geborene Silberbach, in der Weimarer Republik eine der ersten Fotografinnen mit eigenem Porträtstudio. Die Meisterschülerin von Franz Fiedler und Vertreterin der Neuen Sachlichkeit publizierte in wichtigen Zeitungen und Zeitschriften und nahm gegen Ende der 1920er Jahre an internationalen Fotoausstellungen teil. Als Tochter eines jüdischen Vaters musste sie in der Zeit des Nationalsozialismus Anfeindungen und den Ausschluss aus der »Gesellschaft Deutscher Lichtbildner« über sich ergehen lassen. Das Werk der Fotografin erlebt nun mit neuen Ausstellungen und Katalogen eine Renaissance.

E-Book-Ausgabe 2018

© 1948 / 2016 Erben Josepha Mendels und Uitgeverij Cossee, Amsterdam

© 2018 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40 / 41, 10719 Berlin

Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie von Annelise Kretschmer (Sammlung Fotografie, Folkwang-Museum, Essen) © Christiane von Königslöw.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803142405

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3298 7

www.wagenbach.de

Für Sadi de Gorter

»… Hier sehen wir abermals die unbegreifliche Vorsehung, Vollkommenheit und Ordnung, welche unser Herr, der Schöpfer des Himmels und der Erden, solch winzigen Geschöpfen, welche sich unseren Augen entziehen, hat zuteilwerden lassen, dass dero Geschlecht niemals solle aussterben …«

Antoni van Leeuwenhoek, in einem Brief vom 9. Februar 1702 über Rädertierchen

ERSTES BUCH

Formen der Liebe

1

Der Dichter und die Berge

Heute Abend wird der Dichter die Berge wiedersehen.

Der hochaufgeschossene junge Mann, mit dem er sich am Nachmittag verabredet hat, holt ihn ab und reicht ihm ein Paar Stoffschuhe. Der Dichter verabschiedet sich vom Wirt und von dessen halbwüchsiger Tochter. Er drückt dem Mann die Hand und das Mädchen begleitet ihn vors Haus, wünscht ihm eine gute Reise und küsst ihn auf den Mund. Er sagt: »Nicht einmal vier Stunden war ich euer Gast, ich habe allein an einem kleinen Tisch hinter dem Ofen gesessen und gegessen, was ihr mir aufgetischt habt. Als du den Kaffee brachtest und ich dich fragte, wie viel ich dir schuldig sei, hast du geantwortet: Nichts, Sie können Ihr Geld besser brauchen, und: Ich kann Ihnen vielleicht helfen, denn ich weiß, dass Sie nach drüben wollen, und du hast auf die andere Seite der Berge gezeigt, wo das Land liegt, das, mit ein bisschen Glück, in die Freiheit führt. Du hast mir geholfen, vielleicht sehen wir uns einmal wieder.«

Er denkt: Könnte ich nur hier bei dir bleiben und arbeiten und mit und von dir lernen, die Berge zu lieben. Denn der Dichter hat die Berge nie besonders gemocht. Er hatte diese Landschaft, in Gedanken an die sanften Dünenhügel, prätentiös und arrogant genannt.

Der junge Mann sagt: »Wir müssen stramm durchlaufen.« Das ist alles. Zuerst heben sich die weißen Stoffschuhe noch ab, aber dann werden sie braun wie der schmelzende Schnee und mit dem Schnee schwarz wie die Nacht. Der junge Mann hat eine Taschenlampe, und als er bemerkt, dass dem Dichter das Gehen durch das Unterholz schwerfällt, leuchtet er ihm, reicht ihm manchmal die Hand, immer wortlos.

So vergehen fast zwei Stunden, und gerade als der Dichter fragen will, ob er kurz ausruhen darf, sagt der junge Mann: »Warten Sie«, und zeigt ihm einen Stein zum Hinsetzen, und dort ist ein Stern, der durch die Wolken funkelt, den muss der Dichter immerzu betrachten. Seine Finger tasten seine Arme und Beine ab, als wolle er sich vergewissern, dass es ihn noch gibt, dass er es wirklich ist, Frans Winter, allein und verlassen.

Er grübelt und grübelt, erinnert sich aber nicht, wo er gestern war, vorgestern oder vorvorgestern. Er kommt nur bis zu seinem Haus in Eindhoven, und da erinnert er sich vor allem an das Schloss in der Haustür und dass rings um das Schlüsselloch die Farbe abgeblättert ist. So habe ich die Tür abgeschlossen, sagt er laut, zweimal nach rechts, und er wiederholt die Handbewegung, zweimal nach rechts, und dann habe ich den Schlüssel Marjolijn gegeben, die mit Annette und Kareltje auf der Straße wartete. Danach habe ich sie zu Freunden gebracht, die Glucke mit ihren Küken.

Danach …

Das liegt jetzt alles schon so weit hinter mir, ich weiß nicht einmal mehr genau, wie unser Esszimmer eingerichtet war. Welches Bild hing denn bloß links vom Fenster? Die Landschaft mit der Kuh oder der Sonnenuntergang auf Texel? Annette, hat sie graue Augen oder grüne, und hat Kareltje in der letzten Zeit eigentlich noch in der Wiege oder schon im Kinderbett geschlafen? Meine Ehe mit Marjolijn ist im Lauf der Jahre zu einer guten Gewohnheit geworden, zu etwas, das man gemeinsames Leben nennt, neben dem ich noch mein eigenes Leben hatte: Verabredungen mit Freunden und mitunter eine flüchtige Liebelei. Jetzt bin ich plötzlich ein freier Mensch, nichts als ein Dichter, der vor der Besetzung flieht und dem Krieg entgegenreist. Ich will alles und jeden in einen geheimen Winkel meines Herzens schließen, die Mutter, Marjolijn, die Kinder, und mein restliches Herz will ich weit öffnen. Vielleicht gelingt es Kareltje ab und zu, sich durch das Schlupfloch zu mogeln, darauf hat er ein Recht, denn was kenne ich von ihm außer seinem Flunsch und dem weißblonden Schopf, der mit jedem Tag heller wurde? Einmal habe ich ihn in meinen Armen gehalten – vier Monate war er damals –, als wolle ich ihn um Vergebung bitten, dass ich ihm in seinem kurzen Kriegsleben zu wenig Vaterliebe entgegengebracht habe. Das werde ich später nachholen. Später, später, werde ich Marjolijn dann noch lieben? Warum denn nicht, all die gemeinsamen Jahre habe ich sie geliebt, bisher ist es keiner anderen Frau gelungen, mir dieses Gefühl zu nehmen. Ganz im Gegenteil. Wann, und wie, werde ich sie alle wiedersehen?

Frei, frei, ich bin frei. Ein neues Leben liegt vor mir …

So sitzt er da auf dem Stein, schaut in die Dunkelheit und vergisst, dass er wartet, und als er »frei« sagt, ich bin frei, da lacht sein Mund. Plötzlich fühlt er den Kuss des Mädchens von heute Abend wieder und das holt ihn in die Wirklichkeit zurück. Er wird unruhig und ruft: »Hallo, hast du mich vergessen?« Dann steht er auf und stößt dabei gegen jemanden. Es ist der lange Bursche, der sagt: »Geben Sie mir Ihre Hand, ich bringe Sie zu unserer Höhle.« Im Schein einer Petroleumlampe steht dort ein zweiter Führer: »Keine Bange, Monsieur, ich habe erst gestern Nacht drei Generälen über die Grenze geholfen. Sie sitzen jetzt schon in Barcelona bei einer Flasche Wein.« Der Dichter bückt sich, tritt in die Höhle und sucht in seiner Brieftasche, um den langen Burschen zu bezahlen. Doch der nimmt die Scheine nicht an und sagt: »Du hattest mir mehr versprochen, ich sollte doch was extra kriegen, weil du deine Schreibmaschine verkauft hast.«

»Ja, ich habe sie verkauft«, gibt der Dichter zurück. Seine Schreibmaschine, sein Werkzeug. Ältere Freunde haben nie verstanden, warum er seine Gedichte immer gleich getippt hat, aber er hat behauptet, nichts sei leichter als das. Jeder könne ein Dichter werden, wenn er nur die richtigen Tasten anschlage. Jetzt steht diese Maschine im Büro eines Krämers.

Er legt noch einen Schein dazu. Der Lange zuckt mit den Schultern und geht. »He du«, ruft der Dichter, »warte mal«, und kritzelt ein paar Worte auf einen Zettel. »Gib das der Wirtstochter.« Der junge Mann nimmt den Zettel und geniert sich nicht, das Briefchen aufzufalten. Er liest: Alles geht gut. Der erste Führer war völlig desinteressiert, er wollte das Geld von meiner Maschine nicht annehmen. Nach dem Krieg werden wir diese Patrioten feiern. Nach dem Krieg will ich Dich wiedersehen.

Und der Lange sagt: »Aber Monsieur, alles, was recht ist, ich setze für Sie mein Leben aufs Spiel.«

Der Dichter gibt keine Antwort. »Du bist müde«, sagt jetzt der andere Führer, »versuch ein wenig zu schlafen, der Weg wird lang und beschwerlich«, und bietet ihm seine Matratze an. Der Dichter setzt sich, zwei Aktentaschen auf dem Schoß. »Zigarette?« »Hübsches Etui«, antwortet der neue Führer und wiegt es in der Hand. »Versilbert oder reines Silber? Wenn es reines Silber ist und du noch ein bisschen was drauflegst, kann ich dich sogar bis kurz vor Barcelona bringen.«

»Das ist nicht nötig, wenn ich nur zum ersten spanischen Dorf komme.«

»Geh jetzt doch mal schlafen.« »Aber ich bin nicht müde.« »Du schleppst viel zu viel mit. Das müssen wir alles tragen. Lass uns zusammen aussuchen, was zurückbleiben kann.« »Nein«, sagt der Dichter, »alles, was hier drin ist, hat für mich einen Wert.« Aber der Schlepper hat schon eine der Taschen in der Hand und kippt den Inhalt auf die Matratze. Bücher, Papiere und, wahrhaftig, eine goldene Uhr! »Die hättest du besser auch verkauft!« Passfotos, Unterwäsche, und verflixt, auch noch ein nagelneuer Fotoapparat. »Zwei Füller, na Kumpel, du kannst nicht klagen. Was ist denn das? Ein Aspirinröhrchen mit spanischem Geld?«

»Für meine Freunde.« Wenn ich je dort ankomme …

Er hält die zweite Aktentasche ganz fest, denn er fühlt, dass er diesem Mann nicht gewachsen ist. Eigentlich ist ihm Misstrauen fremd und feind, aber heute Abend ist es so, als warne ihn jemand. Sei auf der Hut! Das Sturmsignal aus seinem kleinen Vaterland. Mit den Wassergräben in den Wiesen, und daneben die Kühe, zu träge, um auf die andere Seite zu springen. Aber mit dunklen Nächten wie dieser. »Ich will los«, sagt er zu dem Schlepper, »das hier ist nur Zeitverschwendung. Ausruhen kann ich morgen oder übermorgen.«

Nun folgt er dem Schein der Taschenlampe. Es nieselt, die Pfade sind glitschig und er hat große Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Vor, neben und hinter ihm ragen die Berge auf, höher, immer höher. Wann werden sie auf ihn herabstürzen? Der Mond bricht durch die Wolken, eine kleine Scheibe, er kann ein D darin erkennen: letztes Viertel. Neben dem Mond und diesem einen, stetig weiterfunkelnden Stern zeigen sich jetzt ein paar weitere Sterne und das scheint ihm das Laufen zu erleichtern. Da geh ich nun, denkt er, auf dem Weg ins Unbekannte. Ich bin glücklich. Ich muss nur diesem freundlichen Mann mit seinem Licht folgen und alles wird gut. Warum war ich nur so misstrauisch? Er ist ein guter Mensch, er bringt mich weg, und wenn ich ihm noch ein bisschen was drauflege, sogar bis Barcelona, hat er gesagt. Aber das ist nicht nötig, wenn ich nur vor morgen Nacht in einem Dorf ankomme und dort ein Bett habe. Ich bin ein Mensch, der vor einem anderen flieht. Vor einem ganzen Heer anderer Menschen, die sich Nationalsozialisten nennen. Wenn ich nicht fliehe, sperren sie mich ein. Welches Recht haben sie, einem anderen Menschen die Freiheit zu nehmen? Und warum nehme nicht ich ihnen die Freiheit, warum sorgen meine Freunde und ich nicht dafür, dass sie abziehen müssen? Wenn ich geblieben wäre, hätten sie mich gefunden, darum bin ich geflohen. Ich bin kein Mensch mehr mit einer Nationalität, ich bin ein Flüchtling. Jetzt kann ich meine ganze Vergangenheit vergessen und eine andere auftischen. Meine Landsleute werden mich mit offenen Armen aufnehmen, denn ich will meinem Land dienen. Ich will Matrose werden und auf einem U-Boot fahren.

Der Pfad wird steiler, der Dichter bleibt kurz stehen, während der Führer weitergeht, mit regelmäßigen, immer größeren Schritten. »Warte!«, ruft der Dichter, denn er kann nicht mithalten und hastet voran, um das Licht der Taschenlampe nicht aus den Augen zu verlieren. Jetzt sieht er nichts mehr und trampelt über die Sträucher, unter jedem Arm eine Aktentasche, reißt seine Schuhe an den Steinen auf, bis er endlich etwa hundert Meter vor sich wieder den Schlepper entdeckt, der sich umdreht und mit der Taschenlampe den Pfad beleuchtet. Mit den zwei Taschen fühlt sich der Dichter wie ein abgerissener Hausierer, ramponiert und verschwitzt: Nichts verkauft heute, aber morgen wird es bestimmt besser laufen. »Du musst direkt hinter mir bleiben«, sagt der Mann ärgerlich. »Und gib mir doch dein Gepäck, sonst kommst du nie an.«

Sie gehen jetzt wieder im Gänsemarsch, der Führer trägt alles in einem Jutesack, der auf seinem Rücken hängt. Sein vorgeneigter Körper wirkt wie aus Holz geschnitzt. Doch ein feiner, guter Kerl, denkt der Dichter, und ich bin ein Narr. »Hallo, möchtest du noch eine Zigarette? Lass uns kurz ausruhen.«

»Keine Zeit«, antwortet der Schlepper und dreht sich um, »und schrei nicht so. Siehst du die Mauer dort? Nein, nicht links, rechts vor dir.« Der Dichter versucht, sich im Dunkeln zu orientieren, und entdeckt vage etwas Gelbes. Es hat keinen Sinn zu verneinen, deshalb antwortet er: »Ja, ich sehe eine Mauer.« »Das ist ein Dorf«, flüstert der Schlepper und kommt zu ihm, »ich gehe kurz allein weiter, um nachzusehen, ob dort Polizisten sind. Warte hier auf mich, in zwei Minuten bin ich wieder da.«

2

Ich bin ein Flüchtling

»Meine Schuhe, meine Schuhe!«, ruft der Dichter. Das Scheibchen Mond hat sich wieder hinter den Wolken verkrochen. »Ich habe einen Schuh verloren, meine Schuhe, meine Schuhe!«

In dieser Nacht haben sich auf der Welt Millionen von Wesen in Liebe umarmt, Eier wurden befruchtet und Kinder geboren, Menschen und Tiere sind gestorben. In dieser Nacht haben Frauen und Männer getanzt, Soldaten gekämpft, Unschuldige wurden in Konzentrationslagern ermordet, Diebe sind herumgeschlichen, belauert von einer patenten Polizei; Brände sind ausgebrochen, Schlafende durch Bombardierungen aufgeschreckt, Wissenschaftler haben nach einer totalen Vernichtungsmethode geforscht, Bäume haben ihre Rinde verloren und Pflanzen sind gewachsen; in dieser Nacht haben Kneipenwirte Cocktails geschüttelt, Bäcker Brot gebacken, Metzger tote Tiere zerlegt und Mütter geweint. Kindern ist schlecht geworden, Mädchen wurden entjungfert und Greise haben ihre Impotenz beklagt. In dieser Nacht haben die Uhren aller Länder getickt, Zeitungen wurden gedruckt, Putzfrauen haben Büros gebohnert, Studenten diskutiert und Dichter ihre schönsten Gedichte geträumt.

Träume ich?

»Komm zurück, allein habe ich Angst, komm doch zurück, warum hast du mich so feige im Stich gelassen, du kriegst meine zwei Füller, das spanische Geld und einen Ring! Hallo, hallo, du hast mein Manuskript, du hast meine Schuhe und alles andere, bring mir mein Manuskript zurück, bitte, ich …«

Ich träume!

Ich stehe zwischen den Sträuchern, mein Socken rutscht in den Schlamm; von der Mauer ist nichts mehr zu sehen. Ich schreie nicht mehr, ich sage: Oh Gott, oh Gott, was nun? Zuerst kommt der Hunger und dann der Tod, der Hungertod in den Bergen. Ich rufe doch noch einmal: »Ich hab auch eine goldene Uhr für dich!« »Ich«, antwortet naiv das Echo. Dann ist es still. Eine Stille, die tiefer ist als das Fehlen eines jeden Geräusches, eine Stille, die den Regen zum Schweigen bringt, das Gestrüpp in Gestalten verwandelt, die Dunkelheit vage werden lässt, die meinem Körper feste Formen gibt. Hier sind meine Hände, sie klammern sich um meine Kehle, da ist meine Kehle, ich kann kaum schlucken, sind das meine Beine, meine braven Beine, die mich so weit getragen haben, aber jetzt bei jedem Schritt wegrutschen? Das ist mein Mund, nicht schreien! Meine Augen erspähen durch die Sträucher etwas Gelbes. Ich ziehe meinen Fuß aus dem Morast und laufe, laufe! Mein Mantel bleibt am Gestrüpp hängen. Sei vorsichtig mit dem teuren Mantel, hat Marjolijn gesagt. Mein Socken ist schwer vom Schlamm. Ich wende mich zu dem Gelben, wie die zwei Kinder, die den Himmel suchten, um zu ihrer Mutter zurückzufinden. Ein kleiner Junge und ein Mädchen. Der Horizont hatte sie genarrt, sie kamen nie am Himmel an, sie fielen tot nebeneinander nieder, und so hat sie ein Wilderer gefunden. Wenn ich tot umfalle, bin ich allein. Aber das Gelbe kommt näher, es wird kompakter als ein Strich. Es wird der Dorfeingang sein. Ich kann wieder atmen. Es ist der Führer, der sich verirrt hat, nicht ich. Ich habe ihn im Stich gelassen, nicht er mich. Er wird sich wegen meines Gepäcks doch keine Sorgen machen? Ich rufe, und meine Stimme ist so freundlich, als spräche ich mit Annette! »Mein Freund, ich komme, warte auf mich an der gelben Mauer!«

Die gelbe Mauer ist ein anderer Berg.

Die rote Mauer ist ein anderer Berg.

Alle Mauern sind andere Berge.

Bis eine graue Mauer kommt. Ich taste mit den Händen über den Stein und berühre ein Seil. Ich ziehe, und eine Glocke läutet. Eine Glocke läutet in der Weite einer Nacht! Mein Herz pocht, und bei jedem Pochen ziehe ich wieder am Seil, minutenlang. »Mann in Not!«, rufe ich. »Mann verirrt!« Jetzt werden Leute kommen, Leute in Nachthemden. Gleich bekomme ich Kaffee und werde wissen, ob ich noch in Frankreich bin oder schon in Spanien. Dann ist der Film zu Ende. Ich bin ein guter Schauspieler. Jetzt rufe ich schon im Gleichklang mit den Glocken. Welch ein Abenteuer für einen Mann, der nichts weiter wollte, als Gedichte schreiben und herumsitzen. Mein Arm wird müde, ich setze mich auf einen kalten Stein. Ich ziehe mein Hemd fest um mich und sinke in einen tiefen Schlaf. Dann kommt Marjolijn wieder, die sanfte Marjolijn. Geh weg, rufe ich, ich bin der Held in einem Einakter. Ich muss spielen. Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Siehst du nicht, dass ich geschminkt bin? Mit weißer Kreide und wie ein Landstreicher gekleidet. Lass mich doch weiterspielen und störe mich nicht mit deinen liebevollen Worten. Ja, ich liege auf meinem Hemd, es ist mein letztes Hemd, begreifst du das denn nicht, ich liege auf einem Grabstein, meinem Grabstein.

Beim ersten Sonnenstrahl blicke ich mit Grauen auf die alte Grabplatte, überall sind Grabsteine mit Inschriften, die nicht mehr zu entziffern sind. Ich stehe auf, mir tut alles weh. Ringsherum Kohlfelder, dann sehe ich einen Bauernhof. Ich klopfe, zwei-, dreimal, ein Mann öffnet die Tür. Er versteht mich nicht, er will mir nichts geben, nicht einmal Kaffee. Er zeigt nur mit der Hand … geh in die Richtung, und schließt wieder die Tür.

Ich bin in Spanien, zwei Schritte hinter mir liegt Frankreich.

Oh, Grenzen in Friedenszeiten, freudvolle Grenzen, die einen in eine neue Welt führten, der Blick veränderte sich, sobald man sein eigenes Land verließ, es war eine Erleichterung, eine Befreiung.

Ich will jetzt auch mein Gesicht sehen, aber meinen Taschenspiegel hat der Schlepper. Ich laufe, und mit jedem Schritt wird der Himmel heller. Die Sonne bricht durch, und ich laufe und singe und verspüre keinen Hunger. Es gibt viele kleine Pfade, und natürlich nehme ich den falschen, ich klettere mit nackten, blutenden Füßen, aber ich fühle keinen Schmerz. Ich habe keinen Körper mehr, nur eine Stimme. Jetzt werde ich von den Bergen beschützt, die ich einst gehasst habe, weil ich sie nicht verstand. Ich rufe dem höchsten zu: »Ich habe dich ausgesucht; wenn ich auf deinem Gipfel stehe, werde ich mich in die Sonne legen!« Was für ein Tourist, feixt ein Kaninchen, fast nackt mitten im Winter. Und ohne Rucksack, was für ein Tourist, aber trotzdem Vorsicht, und nichts wie weg! Ich gehe lächelnd weiter, immer weiter. Wohin? Zum Frieden des Individuums, zum höchsten Glück. Was das ist? Dazu hat ein Philosoph dreißig Jahre lang jeden Abend einen Eintrag gemacht, er wird noch zehn Jahre damit fortfahren und dann ein Buch darüber schreiben, um zu dem Schluss zu kommen, dass es der Friede ist, der innere Friede, das Einssein mit der Natur, die Gedanken ohne Tun, ein Körper ohne Lüste. Bereite ich mich jetzt etwa auf den Tod vor? Es ist nicht mehr nötig, das Gift zu nehmen, das ich für die Reise eingepackt habe. Ich kann es jetzt wegwerfen. Ich greife in meine Tasche. Aber es ist im Sack des Schleppers …

Höher, und höher! Die Sonne ist heiß. Ich ziehe meinen Mantel aus, dann den Pullover und lache, als ich beides ins Tal werfe. Ich winke, lebt wohl, lebt wohl! Höher! Habe ich etwa einen meiner Zehen verloren, da ist Blut, überall Blut. Werde ich im Wahnsinn sterben oder einfach einschlafen? Dann stehe ich auf dem Gipfel. Die Landschaft ist schöner, als ich je eine sah. Ich recke mich. Meine Finger liebkosen blaue Glöckchen, blaue Glöckchen im Winter. Ich kapituliere.

Ich schlafe, wie ich von Kindesbeinen an geschlafen habe, ruhig und an einem Stück. Ich bewege mich nicht, und auch ohne Wecker wache ich nach sieben Stunden auf. Ich wache auf wie immer, ich reibe mir die Augen, gähne und setze mich auf, recke meine Glieder und erhebe mich. Die Landschaft um mich herum überrascht mich nicht, nicht einmal die grünen Wiesen, die ich im Tal erblicke. Das einzig Störende ist der Hunger, und meine schmerzenden Füße. Der Abstieg geht schnell, ich bin so leicht, ich schwebe hinab und stehe unverhofft vor einem Bauernhof, so einem wie in den Märchen von Mutter Gans, Felsen hier und Felsen da und überall Kinder, braune Kinder, die meisten mit einem Finger im Mund. Eine Frau in einer offenen Tür winkt mir, gibt mir die Hand und stellt mir einen Stuhl hin. Die Kinder stellen sich rings um mich auf und ich bekomme in einem Suppenteller warme Milch, warme Milch mit Zucker, als wäre ich eine Katze, vielleicht werde ich auch eine, denn ich schlafe mit dem Kopf zwischen den Beinen einfach ein.

Der Flüchtling hat verschiedene Formalitäten zu erledigen. Er wird ausgefragt, und eine junge Spanierin übersetzt für ihn. Aus Laxheit sagt er die Wahrheit. Schließlich war das Mahl zu reichlich, um sich Lügen ausdenken zu können. Der Beamte liest seinen Bericht vor. Kein Wort davon stimmt. »Gut?«, fragt er lachend. Der Dichter nickt zustimmend. Sie bringen ihm Socken und neue Stoffschuhe, Schnäpse und Zigaretten. Die Kinder werden weggescheucht und der Bürgermeister wird informiert. Er kommt, er spricht ziemlich gut Französisch und erzählt vom Krieg von 1914. Der Flüchtling hört zu, er fühlt sich wie im Urlaub. Da sitzt er jetzt in Spanien, und wer weiß, wo es noch hingeht. Ja, wer weiß! Er bekommt auch Mandarinen und Schokolade. Dann klettert er auf einen Lastwagen, und als sie ihm die Hand reichen, um herunterzuspringen, öffnet sich ein großes Tor, das gleich wieder geschlossen wird. Das Gefängnistor.

- Im Fernglas -

Frans Winter ist ein Mann wie andere Männer, obwohl er auch ein Dichter ist. Er hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um wieder aus dem Gefängnis herauszukommen, und er hat es geschafft. In Madrid hat er die niederländischen Behörden aufgesucht. Sie haben ihm Geld gegeben, um sich einzukleiden, aber weil Marjolijn weit weg ist und er ein neues Leben anfangen wird, hat er viel getanzt und noch viel mehr andere Dinge getan, sodass er schließlich ohne Unterhose und mit zerknittertem Baumwollanzug an Bord des Klippers gegangen ist. Nach seiner Ankunft in England hat jeder gesagt: »Sie müssen ein Buch schreiben, über alles, was Sie mitgemacht haben.«

Er hat mit den Schultern gezuckt und geantwortet: »Wer über so ein Abenteuer ein Buch schreibt, beweist nur seine totale Oberflächlichkeit. Nicht, was ich erlebt habe, ist wichtig, sondern wie ich darauf reagieren werde. Ob die Habgier und der grenzenlose Egoismus in den Gefängnissen bleibenden Einfluss auf mich haben werden. Oder ob mich die Korruption der Behörden, der ich in Madrid sechs Monate lang ausgesetzt war, zum Anarchisten machen wird. Ob ich dann noch dichten, noch lieben kann. Und ob ich einmal begreifen werde, dass El Greco, Velazquez und Goya Christus gemalt haben, alle drei einen Christus, in dem sie ihr eigenes Antlitz, veredelt, wiedergefunden haben.«

3

Das verwöhnte Ohr und die vergessene Niere

Als er noch ein kleiner Junge war, wurde ihm an einem Frühlingstag sein Ohr untreu. Es begann zu stechen und zu brennen und hörte nicht mehr, nicht einmal mehr auf seinen eigenen Namen. Wollene Tücher und heiße Tropfen kamen zum Einsatz. Dann schlug auch das rechte Ohr den Weg des Verrats ein.

So lag Frans Winter lange Monate in seinem Bett und schaute. Seine Augen wurden größer und größer, und er schaute, als ob er lausche. Der Wecker stand neben seinem Bett, und wenn die Mutter das Zimmer verließ, hielt er ihn an sein Ohr und ballte die Fäuste (bleiche, magere Fäuste). Aber die Töne blieben aus. »Wo bleiben sie denn bloß?«, fragte er seine Mutter. Sie antwortete: »Sie gehen in die Bäume, und die Vögel picken sie auf und singen damit. Sie singen so lange und üben so gut – und das alles für dich –, damit du ihnen zuhören kannst, wenn deine Ohren nicht mehr dem Arzt gehören, sondern wieder dir.«

Also hat er angefangen, die Vögel zu beobachten, und hat sie durchs offene Fenster gelockt. Zuerst wollten sie nichts von ihm wissen; dann hat er seine Brote, die das Dienstmädchen Aaltje sonst für ihn aufaß, aufgehoben und damit an einem Nachmittag, als seine Mutter außer Haus war, die weiße Tagesdecke vollgekrümelt. Die Vögel sangen, aber er hörte es nicht, seine Ohren glühten, aber er spürte es nicht. Er sah nur, wie die Vögel näher kamen, und blieb liegen, ohne auch nur einen Finger zu rühren. Es waren ganz gewöhnliche Spatzen mit schmutzig grauen Federn und wachen Augen. Ein ganz kleiner traute sich zuerst und pickte vorsichtig ein Krümelchen weg, das in einer Falte seiner Decke lag. Er dachte: Jetzt redet er mit den anderen, denn er sah, wie sich der kleine Schnabel bewegte. Er sagt vielleicht: »… ihr könnt ruhig zu dem kleinen Jungen kommen, es ist nur ein kleiner kranker Junge, er kann nicht mehr aus seinem Bett springen, wie er es früher tat, denn er muss ruhen. Kommt doch her, er tut euch nichts. Er hat zwar schon mal einen Wurm zerquetscht, aber das ist schon sehr lange her, und auch Vögel fressen Würmer, er hat auch schon mal eine Fliege getötet, aber die kämpfte auf einem Fliegenfänger um ihr Leben. Er hat auch mal ein Mädchen geschlagen, aber das war doch nur ein Mädchen, er hat auch Aaltje gekniffen, weil sie dann so kreischt, aber uns wird er nichts tun. Kommt doch, kommt doch her! …«

Drei, vier, fünf hüpfen jetzt über die weiße Decke, und dann passiert etwas. In seiner Hand ist noch ein Bröckchen Brot übrig geblieben, und der erste Spatz hat es mit dem Schnabel weggepickt. Er ist nicht erschrocken, hat aber dann doch zu weinen angefangen; darauf ist Aaltje ins Zimmer gekommen und die fing so laut zu schreien an, dass ihm nicht einmal auffiel, dass er wieder hören konnte.

Sein linkes Ohr war wieder gesund, aber sein untreues rechtes hat nie mehr ein Wort aufgeschnappt.

»Das ist dein verwöhntes Ohr«, hat seine Mutter gesagt, »es muss nie mehr arbeiten, es muss nie mehr hören.«

Sie war schon immer ein handfestes Mädchen, wie man das in ihrem Heimatstädtchen nannte. Am liebsten spielte sie mit den Jungen und raufte mit den Mädchen. Einmal hat sie Catootje de Lange mit dem Bleistift die Wange zerkratzt und Sofia van Tengeren so verprügelt, dass sie blaue Flecken auf dem Rücken bekam. Daraufhin sind Mevrouw de Lange und Mevrouw van Tengeren, zuerst jede für sich, zum Schulleiter gegangen, der aber nur zu ihnen sagte: Das Mädchen ist zu stark für ein Mädchen, sie hätte ein Junge werden müssen. Mehr hat er nicht gesagt. Daraufhin sind Mevrouw de Lange und Mevrouw van Tengeren zusammen (sie hatten sich beim Schulleiter kennengelernt und waren mit seiner Antwort überhaupt nicht zufrieden, Mevrouw de Lange meinte, das sei die Antwort eines jungen Flegels), sie sind also zusammen zur Mutter von Henriëtje Bas gegangen, um sich zu beschweren. Die Mutter sagte: »Ja, Henriëtje ist fast ein Junge, und es tut mir sehr leid, ich werde sie zur Rede stellen.« Und sie hat den beiden Damen, Honoratiorengattinnen, eine Tasse Tee angeboten.

Dann kam völlig ahnungslos Henriëtje ins Zimmer.

»Mutter«, hat sie gefragt, »erlaubst du mir, mit Fritz radzufahren? Auf dem Gepäckträger?«

Bevor ihre Mutter antworten konnte, hat Mevrouw de Lange den Kopf geschüttelt, worauf Henriëtje sie angesehen und gesagt hat: »Ich bin nicht deine Tochter.« Darauf hat die Mutter sie kurzerhand, denn die Damen schienen nicht einfach zu sein, aus dem Zimmer geschickt. Das war sehr vernünftig, denn Mevrouw van Tengeren hatte bereits ihren Handschuh ausgezogen. Aber damals war Henriëtjes Mutter noch vernünftig. Und Henriëtje machte trotzdem ihre Radtour.

Bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag blieb sie ein handfestes Mädchen. An diesem Tag stürzte sie bei einer Schneeballschlacht zwischen den Mädchen der Höheren Handelsschule und den Jungen von der Handelstagesschule und fiel dabei auf etwas Scharfes. Ihr Blut strömte rot auf das makellose Weiß und sie spürte, dass in ihrem Mund etwas gebrochen war. Ihr fehlten zwei Zähne. Als sie aufstehen wollte, tat ihr die Niere weh und sie musste deshalb viele Monate lang Bettruhe halten. Der Arzt wollte sie nicht operieren und ihre Niere ist nie mehr geheilt. Früher, wenn sie sich beklagte, wurde sie ausgelacht: »Sei doch nicht so wehleidig, Henriëtje. Du willst bestimmt nur wieder verwöhnt werden!« Und deshalb hat sie nicht mehr darüber gesprochen, musste aber immer, wenn der Schmerz kam, an ihre vergessene Niere denken.