DIGITALE BILDKULTUREN

Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.

Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.

Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.

Herausgegeben von

Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich

Als Beitrag zu #JeSuisCharlie postete die syrische Journalistin Zaina Erhaim dieses Foto vom 8.1.2015 aus dem kriegsversehrten Aleppo auf ihrem Blog.

1 | Bildproteste – Eine Einführung

Am 18. Januar 2011 postete die damals 25-jährige ägyptische Aktivistin Asmaa Mahfouz ein einfaches, aber eindringliches Video auf Facebook.1 Im Selfie-Format aufgenommen, zeigt es die junge Frau, wie sie vor einer weißen Wand frontal in die Kamera, vermutlich eine Webcam, spricht. (1)

1: Videostandbild aus »Meet Asmaa Mahfouz and the vlog that helped spark the Revolution«

Sie beginnt mit energischer Bestimmtheit zu berichten, dass vier Ägypter sich aus Protest selbst angezündet hätten, in der Hoffnung, eine ähnliche Bewegung auszulösen, wie sie kurz zuvor in Tunesien nach der Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi begonnen hatte. Heute sei einer dieser vier gestorben, berichtet sie aufgebracht, und sie habe daraufhin gepostet, dass sie auf dem Tahrir-Platz protestieren würde, doch nur drei Leute seien gekommen. »Ich mache dieses Video, um euch eine einfache Nachricht zu übermitteln: Wir wollen am 25. Januar auf den Tahrir-Platz gehen! […] Wir werden unsere Rechte einfordern, unsere grundlegenden Menschenrechte.« Sie fordert dazu auf, die Nachricht zu verbreiten und Nachbarn, Freunde und Familie mitzubringen. »Anstatt uns selbst anzuzünden, lasst uns etwas Positives machen!« Zum Schluss hält sie ein Schild in die Kamera, das bereits für den Protestmarsch vorbereitet zu sein scheint. Darauf steht in arabischer Schrift: »Nein zur Korruption, Nein zu dieser Regierung!«

Es ist sicherlich nicht allein auf Mahfouz’ Aufruf zurückzuführen, doch am 25. Januar füllte sich der Tahrir-Platz in Kairo tatsächlich mit Protestierenden, die die Absetzung des damaligen Staatschefs Husni Mubarak forderten. Dies war der Beginn der Ägyptischen Revolution, der heute legendären »18 Tage« bis zum Rücktritt Mubaraks. Das Datum dieses ersten Tages und der Hashtag #Jan25, der um die Welt ging, wurden namensgebend, denn in Ägypten nannte man die Proteste die »Revolution des 25. Januar« – in der westlichen Welt eher bekannt unter dem Namen »Arabischer Frühling«, womit eine ganze Reihe von Aufständen in Nordafrika und dem Nahen Osten, beginnend mit der Revolution in Tunesien 2010, gemeint ist. Der Aktivistin Asmaa Mahfouz wurde im Dezember 2011 der Sacharow-Preis für geistige Freiheit des EU-Parlaments verliehen, ein Preis für die Verteidigung der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte.2

Es gibt zahlreiche visuell ähnliche Videos im Netz, die im Selfie-Format zum Protest aufrufen. Welch unterschiedliche politische Motivationen und Ziele dahinterstehen können, verdeutlichen zwei weitere Beispiele:

Auf den Seiten von Facebook-Gruppen wie »Wir für Deutschland WfD e. V.« oder »Aufwachen Deutschland«, hinter denen rechte Bündnisse stehen, die sich selbst als »patriotischer Widerstand« bezeichnen, wurde im September 2018 mit Videos zu Demonstrationen in Köthen aufgerufen. In der kleinen Kreisstadt in Sachsen-Anhalt war ein junger herzkranker Mann an einem Infarkt gestorben, nachdem er schlichtend in einen Streit zwischen mehreren Afghanen eingegriffen hatte und ins Gesicht geschlagen worden war. Daran entzündeten sich, wie kurz zuvor in Chemnitz, Demonstrationen gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. »Kai« von »Wir für Deutschland e. V.« postete am 19. September 2018 ein 1:24 Minuten langes Video, in dem er in einem vertraulichen Ton, mit leiser, eindringlicher Stimme seine Sicht auf den Fall darlegt.3 Das Selfie-Video wurde mit einer Handykamera aufgenommen, erkennbar am ausgestreckten Arm, der die Kamera in typischer Entfernung hält. Der Mann beginnt mit einem Verweis auf seine Arbeitskleidung – er trägt T-Shirt und Blaumann – und auf den »Pausenraum«, in dem er sich befinde, ein etwas heruntergekommener Raum mit einer einfachen Küchenzeile. Er zähle zur arbeitenden Bevölkerung und zahle Steuern, die die Bundesregierung für eine »verfehlte Asylpolitik« herausschleudere, erklärt er mit leicht zusammengekniffenen Augen. Den verstorbenen Mann stellt er als Opfer ebenjener Politik dar und sagt, sichtlich bewegt: »Markus aus Köthen musste seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlen.« Er hebt die Hand zum Mund und räuspert sich, um sich wieder zu fangen. Daraufhin stellt er eine Reihe von Forderungen (»Schluss mit diesem Wahnsinn«, »Sicherheit«, »dass sich die Menschen wieder frei, ohne Angst auf den Straßen bewegen können«), bevor er am Ende dazu aufruft, am 29. September um 15 Uhr zur Demonstration auf dem Marktplatz in Köthen zu kommen. Nach zahlreichen bereits stattgefundenen Kundgebungen und Trauermärschen seit Anfang September fanden sich auch am 29. September wieder Menschen auf dem Marktplatz ein. Die Demonstration war von der rechten Partei Die Republikaner organisiert worden.

2: Videostandbild aus »I AM A LIBERIAN, NOT A VIRUS«

Die liberianisch-amerikanische Moderatorin und Fotografin Shoana Cachelle hatte mit einem emotionalen Video die vielbeachtete Kampagne #IamALiberianNotAVirus gegen die Stigmatisierung von Westafrikaner*innen während der Ebolafieber-Epidemie im Oktober 2014 gestartet.4 Darin berichtet sie, ihre neun Jahre alte Tochter sei in ihrer amerikanischen Schule von anderen Kindern damit konfrontiert worden, dass sie eine Krankheit habe, weil sie aus Liberia komme. Wie Asmaa Mahfouz hält auch Shoana Cachelle gegen Ende des Videos ein Protestschild mit dem Slogan der Kampagne in die Kamera. (2) Daraufhin werden eine ganze Reihe von Protestselfies anderer Personen eingeblendet, die ihrem Beispiel bereits gefolgt sind, und es schließt sich der Aufruf »Stoppt die Stigmatisierung!« an.

Zwar scheint auch dieses Video in einem privaten Wohnzimmer aufgenommen zu sein, im Vergleich zu den Aufrufen von Mahfouz und »Kai«, die bereits durch ihre Schlichtheit eine gewisse Authentizität erzeugen, wirkt der Aufruf von Cachelle jedoch professioneller. Das Video ist geschnitten und stärker ediert, mit eingeblendeten Texten und Fotos sowie unterlegter Klaviermusik, die die emotionale Wirkung noch verstärken soll. Die amateurhafte Ästhetik des self-made und des Spontanen bei den anderen beiden Beispielen ist hier einem stylischen Look gewichen, der aber weiterhin das Persönliche in den Vordergrund stellt. Denn auch Cachelle beginnt ihre Erzählung mit einem persönlichen Schicksal, einer individuellen Erfahrung, die sie bewegt hat, und leitet davon den strukturellen Missstand ab, gegen den sich die Kampagne richtet.

Bereits jetzt wird deutlich: Was im Folgenden als Bildproteste beschrieben werden wird, ist äußerst plural. Bildproteste werden sowohl von Mehrheiten als auch von Minderheiten angestoßen, von allen politischen Lagern genutzt, mal mit mehr, mal mit weniger Popularität, Aufmerksamkeit und Verbreitung, und mit unterschiedlichen Graden an Professionalisierung. Gemeinsam ist den drei Videobeispielen, dass die Emotionen der jeweiligen Protagonist*innen aufgeführt und mit Fokus auf das Gesicht inszeniert werden, das heißt, man soll ihre Empörung, Wut, Trauer und Enttäuschung beim Anschauen der Clips wahrnehmen. Mehr noch, man soll sich davon anstecken und bewegen lassen und sich dem Protest bestenfalls anschließen – sei es, indem man auf die Straße geht oder im virtuellen Raum an Kampagnen teilnimmt.

Bild und Protest in den Sozialen Medien

Sowohl Bilder als auch Protestbewegungen haben in den Sozialen Medien Konjunktur. Grundsätzlich sind Bilder – damit sind digitale Fotografien und Grafiken ebenso gemeint wie Bewegtbilder – heute für die Kommunikation so zentral wie nie zuvor. Durch die Verbreitung digitaler Bildtechnologien, die wachsende transnationale Vernetzung durch Kommunikationssysteme und die zunehmende Anzahl von Bildern, die rund um den Globus zirkulieren, ist die menschliche Erfahrung insgesamt visueller geworden. Das Bildermachen und das Teilen von Bildern beeinflusst immer stärker, wie vor allem eine jüngere Generation soziales Leben überhaupt denkt. Allein auf Facebook werden jeden Tag circa 350 Millionen Fotos hochgeladen, das sind über 4000 Fotos in der Sekunde.56