Cover

Inhalt

Vorwort
Nicht irgendein Sexratgeber, sondern dein ganz persönliches Sexbuch

1
Zu befreit, um frei zu sein – wie Porno und neue Stereotype unsere Sexualität prägen

Wie viel Porno steckt in unserem Sex?

Wollen wir wirklich, was wir zu wollen glauben?

Sexuell befreit, aber noch verkatert

Die Stereotype und Mythen von heute

2
Das bin ich – meine sexuelle Identität

Lerne deinen Sex kennen

Wer bin ich und wer will ich sein?

Was ist für mich guter Sex?

Frau, Mann oder keines von beidem – wer bin ich und mit wem habe ich Sex?

3
Mein Körper und ich – wie Sex sich gut anfühlt

Wie gut kenne ich meinen Körper?

Bin ich schön genug?

Sex soll Spaß machen und sicher sein – ein Update zu Safer Sex

4
Du und ich – Sex und Beziehung

Wie spreche ich überhaupt über Sex?

Sex in festen Partnerschaften

Wer gut kommuniziert, stärkt das Glück der Beziehung

Fremdgegangen – wie gehe ich mit Untreue um?

Nicht-monogame Beziehungen

Gelegenheit macht Sex

Swipen, liken, matchen

Sexting

5
Irgendwas läuft schief – Probleme mit dem Sex

Es klappt einfach nicht

Der Sex tut weh

Sexuelle Belästigung, Gewalt und die Folgen

Süchtig nach Pornos und Sex

6
Ich weiß nicht weiter – Unterstützung vom Profi

Beratung und Therapie bei Problemen in Sexualität und Partnerschaft

Körpertherapie

Psychotherapie

Beratung und Therapie für Betroffene von Belästigung, Gewalt, Cybermobbing und Sexting

Beratung und Therapie bei Pädophilie

Beratung zu sexuell übertragbaren Erkrankungen und Safer Sex

Danke

Literatur

Vorwort

Nicht irgendein Sexratgeber, sondern dein ganz persönliches Sexbuch

Bitte kein Dick Pic, haben wir gedacht. Hoffentlich schickt uns keiner ein Foto seines entblößten Penis. Womöglich noch mit der Frage: Ist das normal, dass ich so gut bestückt bin und alle auf mich abfahren? Das brachte uns dann doch zum Lachen. Das mit dem Dick Pic war im September 2017. »Schickt uns eure Fragen, alles was ihr schon immer über Sex wissen wolltet«, so fing es mit einem Sexpodcast auf ZEIT ONLINE an. Wir öffneten eine Art Sprechstunde und wussten damals noch nicht, was uns erwarten würde. Neugierig und etwas angespannt hofften wir auf erste Zuschriften. Und wurden positiv überrascht: Das Interesse war groß. Zehntausende Menschen begannen, uns Folge für Folge zuzuhören. Hunderte vertrauen sich uns bis heute per E-Mail an. Immer ausgehend von einer Frage: Ist das normal?

Ist das normal, dass der Sex in meiner Beziehung langweilig geworden ist? Ist das normal, dass mir Sex nicht das gibt, was er anderen Menschen zu geben scheint? Ist das normal, wenn ich täglich zum Einschlafen Pornos schaue, ich nur einen Orgasmus habe, wenn ich mich selbst befriedige, ich mir beim Sex mit meinem Partner jemand anderes vorstelle?

Viele solcher Zuschriften bekommen wir Woche für Woche. Wir, das sind Melanie Büttner, Sexualtherapeutin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, sowie Alina Schadwinkel, Wissenschaftsjournalistin und Redakteurin, und Sven Stockrahm, stellvertretender Ressortleiter für Wissen und Digital bei ZEIT ONLINE.

Unser Sexpodcast unterscheidet sich von vielen anderen da draußen. Wir erzählen darin nicht von uns und noch weniger von den Dates, die wir hatten, von unseren Partnern oder unserer eigenen Sexualität. Stattdessen dreht sich alles um die Fragen unserer Hörerinnen und Hörer. Von Beginn an fiel uns dabei etwas auf, dem Melanie als Therapeutin auch in ihrer Sprechstunde immer wieder begegnet: Es gibt viel Verunsicherung und ganz grundlegende Fragen zu Sexualität, zu Beziehungen und Liebe, zu persönlichen Vorlieben, Wünschen und Bedürfnissen. Vielen Menschen, egal wie alt sie sind, die mitten im Leben stehen, Job, Familie und Alltag managen, fehlt etwas: Wissen über Sex.

Wie kann das sein? So viel und offen wie heute wurde doch noch nie über Sex berichtet, geschrieben und gesprochen. In Magazinen gibt es sogar Tipps, wie sich der Anus am besten bleichen lässt. Längst teilen Menschen ihre Erfahrungen über Analsex und Sadomaso, planen Sextoy- statt Tupper-Partys oder diskutieren darüber, welche Intimfrisur welche Vulvalippen am besten zur Geltung bringt. Im Kino oder auf Netflix, in der Werbung, in Songs, Büchern, auf Instagram oder Nachrichtenseiten wird uns gezeigt, wie Sex ist oder wie er zu sein hat. Auf dem Smartphone streamen Menschen den Porno für zwischendurch, scrollen sich durch erotische Fotos, lesen Sexratgeber oder sind bei Tinder, Lovoo, Lesarion, Grindr oder anderen Dating-Apps unterwegs. Für jeden scheint etwas dabei zu sein. Sex wirkt frei, intensiv und direkt – ganz gleich, wer da miteinander Spaß hat: Frau und Mann, Mann und Mann, Frau und Frau oder auch zu dritt und mehr.

Dass Sex so selbstverständlich geworden ist, ist erst einmal ein Grund zu feiern. Denn dafür haben viele Gruppen jahrzehntelang gekämpft: die Studentenbewegungen in den Sechzigern und Siebzigern, sexpositive Feministinnen, schwule, lesbische und Transmenschen, aber auch Sexualforscherinnen, -therapeuten und andere Fachleute. Fragen stellen, Tabus brechen – das hilft, um aufzuklären und zu informieren. Doch wie unverkrampft, wie ehrlich sind wir wirklich, wenn es um unsere ganz persönliche Sexualität geht? Und wissen wir überhaupt, was das ist?

Die Wahrheit ist: Was die meisten heute über Sex erfahren, ist leider noch immer mit Klischees durchsetzt und geht oft an der Realität vorbei. Nicht selten werden die Bedürfnisse jedes Einzelnen ignoriert und Mythen als Gewissheiten verkauft: Nur wer als Paar zweieinhalb Mal die Woche miteinander schläft, führt eine gute Beziehung, heißt es zum Beispiel. Oder auch: Jede Frau kann einen Orgasmus haben, wenn sie es nur richtig anstellt, sich entspannt und einfach mal den Kopf ausschaltet. Männer fragen sich, ob sie versagt haben, wenn die Frau oder ihr Partner nicht kommt. Es liege an der Performance, heißt es dann, aber die lasse sich in den Griff bekommen. Wer verführen will, müsse das Ganze nur vernünftig choreografieren, ausgefeilte Sextechniken einstudieren und möglichst viele Stellungswechsel parat haben. Es sei denn, der Penis streikt, ist nicht groß genug, oder der Mann hat andere Probleme. Egal, ob hetero, schwul, lesbisch, bi, trans oder einfach anders, sprich queer: Die Anforderungen an guten, richtigen Sex sind hoch. Wer es nicht bringt, so der Eindruck, könne eine erfüllende Beziehung und ein schönes Sexleben vergessen.

Was für ein Quatsch! Vieles davon ist nicht mehr als Gerede, die Quellen sind oft zweifelhaft. Da gibt es beispielsweise Vibrator- und Kondomhersteller, die hoffen, dass sich ihre Produkte besser verkaufen, wenn sie Ergebnisse von Studien veröffentlichen, die sie selbst in Auftrag gegeben haben. Oder Sex-Sites, die Kunden für sich gewinnen wollen, und Medien, die wissen: Sex sells. Wie soll sich jeder Einzelne von uns da ernst genommen fühlen? Wie soll ich wissen, was mir guttut, was ich wirklich will und brauche?

Um das herauszufinden, haben wir dieses Buch geschrieben. Unsere Erfahrungen mit dem Podcast und Melanies Wissen aus der Praxis zeigen: Die neue sexuelle Freiheit kann überfordern. Doch es muss nicht so sein. In der Sexualität geht es nicht darum, normal zu sein oder normal zu werden, sich einem Standard anzupassen. Es geht darum, zu finden, was einem selbst gefällt. Die eigenen Sehnsüchte ernst zu nehmen, sich zu fragen: Womit habe ich Spaß, was macht mich lebendig? Und sich von dem zu verabschieden, was uns überall vorgeturnt wird. Das sind die Erfahrungen und Erkenntnisse aus jahrzehntelanger Sexualforschung und -therapie.

Vielleicht sehnst auch du dich nach etwas anderem, selbst wenn dir noch nicht klar ist, was das sein könnte. Dieses Buch kann dir helfen, dem nachzuspüren, und vor allem deutlich machen, dass Sexualität nur einem Drehbuch folgen sollte: deinem eigenen. Wer darin die Hauptrollen spielt, wie das Set aussieht und vor allem welche Schlüsselszenen du dir wünschst, entscheidest erstmal nur du allein. Wer sich und seine Bedürfnisse kennt, der kann seine Sexualität auch mit einem Partner, der Frau oder dem Freund ganz neu entdecken.

Einigen wird dies klar, wenn sie merken, dass etwas nicht stimmt. Sexualität ist eben nicht immer nur lustvoll, aufregend oder ekstatisch, sondern kennt auch andere Seiten. Sie kann anstrengend, langweilig, leer, traurig oder gar abstoßend sein. Einige können Sex nicht mehr genießen, oder er hat ihnen noch nie so richtig gut gefallen. Intim zu sein ist für sie eher Druck als Entspannung. Ist Sex nur richtig und gut, wenn beide vor Lust fast ekstatisch sind? Was passiert, wenn eine oder beide nicht kommen? Habe ich dann versagt? Ist womöglich etwas mit mir nicht in Ordnung?

Fast jeder hat im Lauf seines Lebens ähnliche Gedanken. Die einen verspüren keine körperliche Erregung oder haben Schwierigkeiten mit dem Orgasmus. Manche kommen gar nicht, fühlen nie das Kribbeln, das über unser zentrales Nervensystem in Wellen durch den Körper jagt. Andere können keine Erektion erleben oder kommen zu früh. Nicht wenigen Frauen und so manchem Mann tut der Sex weh. Und dann ist da die Lustlosigkeit, wenn Sex einfach nicht mehr reizt. Oder auch eine Porno- oder Sexsucht.

Für all das gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Oft kommen mehrere zusammen – psychologische, körperliche und eben auch das, was wir hören, lesen, sehen und erleben. Seit die neuen Normen und Stereotype von Sexualität über Breitband-Internet in die Welt gesendet werden, beobachten Sexualtherapeutinnen, Wissenschaftler und Medizinerinnen, dass bestimmte sexuelle Probleme häufiger auftreten als zuvor. Vermutlich ist dies kein Zufall.

Doch auch die Beziehung mit der Partnerin oder dem Partner beeinflusst unsere Sexualität. Wie gehen wir miteinander um? Sprechen wir über unsere Bedürfnisse und Wünsche? Fühlen wir uns gehört und verstanden? Wie gehen wir aufeinander ein? Gelingt es uns gemeinsam, uns von Klischees frei zu machen, finden wir unseren ganz eigenen Weg in der Sexualität, der uns beide erfüllt?

Viele Erfahrungen, die wir seit der frühesten Kindheit mit uns selbst, unserem Körper und anderen Menschen gesammelt haben, beeinflussen unsere Sexualität bis heute. Nicht immer ist das, was wir erleben, stärkend und schön. Vor allem sexuelle Gewalt kann sich auf drastische Weise auswirken. Wenn Menschen überredet oder auf andere Weise dazu bewegt werden, beim Sex Dinge zu tun, die sie nicht wollen, sie bedroht oder mit Gewalt zum Sex gezwungen werden, spüren sie die Folgen oft noch Jahre später.

Dass viele heute Mainstream-Pornos schauen, macht die Situation nicht besser. Denn die vermitteln uns nicht nur unrealistische Vorstellungen davon, wie Sex auszusehen hat, sie kommen auch äußerst hart daher. In den Filmen wird allzu oft auf angedeutete oder tatsächliche Gewalt gesetzt. Und dabei sind Deepthroaten, Schläge auf den Hintern und an den Haaren ziehen noch die vermeintlich harmlosen Varianten. Umso wichtiger ist es, Bescheid zu wissen und sich selbst genauer kennenzulernen. Damit man die richtigen Entscheidungen für sich treffen kann.

Wir schreiben in diesem Buch über Sex, wie du ihn willst. Dazu gehört auch, sich mit sich selbst und in seiner Haut wohlzufühlen. Unser Körper ist der zentrale Ort des Geschehens beim Sex. Je vertrauter er uns ist, desto intensiver und vielseitiger können wir Lust, Sinnlichkeit, Leidenschaft, Geborgenheit und Liebe empfinden – und mit allen Reizen spielen, die uns zur Verfügung stehen. Gerade dann, wenn wir uns vielleicht wünschen, anders auszusehen. Klar, manche hätten gerne ein paar Kilo weniger, eine kleinere Nase, nicht so viele Falten, zartere Vulvalippen oder einen größeren Penis. Das ist normal, und doch sollten wir uns nicht zu sehr davon verrückt machen lassen. Niemand ist perfekt. Unser Körper ist es wert, gemocht und akzeptiert zu werden, und zwar so, wie er ist. Wem das gelingt, dem fällt es leichter, Sex zu haben und zu genießen.

Wir haben uns durch Studien, Umfragen, Statistiken und Bücher gelesen und aktuelles Wissen über Sex zusammengetragen. Doch unser Buch setzt nicht nur auf das, was zahlreiche Sexualforscher, Psycho- und Sexualtherapeutinnen, Mediziner und andere Fachleute berichten. Wir bringen die Erfahrungen mit ein, die Melanie Büttner in ihrer Praxis macht, und Gedanken derjenigen, die unseren Sexpodcast hören. An vielen Stellen im Buch tauchen sie als Stimmen auf, die auf dem beruhen, was die Menschen in Melanies Sprechstunde und unsere Hörerinnen und Hörer uns fragen. Bestimmt denken viele von ihnen über ähnliche Dinge nach wie du selbst. Die Ideen, Erkenntnisse und Einsichten, die wir mit dir teilen wollen, sind im Kern universell. Unabhängig davon, wer du bist, wen du liebst und mit wem du Sex hast. Um die Privatsphäre der Personen zu schützen, die ihre Fragen und Erfahrungen mit uns geteilt haben, fassen wir ihre Gedanken in neue Worte. Statt ihre echten Namen zu nennen, nutzen wir Pseudonyme – auch die Altersangaben sind nur angelehnt an das echte Alter der Menschen.

Damit unser Buch für jeden lesbar ist, haben wir uns entschieden, nicht zu gendern. Wir benutzen männliche, weibliche und neutrale Formen, schreiben über Frauen, Männer und Menschen. Oder wechseln ab. Alle Quellen und Literaturempfehlungen haben wir ins Netz gestellt. Die Literatur ist dort kapitelweise und in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text gelistet. Wo du die Literaturliste finden kannst, sagt dir der Verweis am Ende des Buches.

Wir werden dich an der ein oder anderen Stelle ermuntern, dir ganz konkret Gedanken zu machen. Am Ende des Buches gibt es außerdem einen Wegweiser, der dir dabei hilft, einen Profi zu finden, der dich direkt unterstützen kann, wenn du das möchtest.

Und noch etwas: Nichts muss bleiben, wie es schon immer war oder ist. Unsere Sexualität verändert sich ein Leben lang. Weil wir neue Erfahrungen machen – gute oder schlechte –, neue Partner kennenlernen, der Körper sich entwickelt oder weil mit den Jahren das Bedürfnis in uns wächst, authentischer zu sein und sich weniger anzupassen. Dieses Buch ist nur ein erster Schritt. Eine Art Sprechstunde – auch mit dir selbst. Denn Sex ist das, was du draus machst.

Viel Spaß beim Lesen wünschen dir

Melanie Büttner, Alina Schadwinkel und Sven Stockrahm

PS: Ein Dick Pic haben wir übrigens bis heute nicht bekommen, und dies ist keine Aufforderung, uns eines zu schicken.

Bitte beachte auch das Folgende

Die Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt zusammengestellt. Sie ersetzen jedoch nicht das persönliche Gespräch mit einem Sexual-, Paar- oder Psychotherapeuten und auch keine ärztliche Untersuchung. Deshalb: Sprich im Zweifelsfall mit einer Fachfrau oder einem Fachmann. Wer für welche Fragestellung geeignet ist, erfährst du in Kapitel 6.

1

Zu befreit, um frei zu sein – wie Porno und neue Stereotype unsere Sexualität prägen

Warum überhaupt noch über Sex reden? Wer sich heute umhört und umschaut, könnte meinen, es sei längst alles gesagt, geschrieben oder gezeigt worden. Auf Social Media, in Filmen und Serien, in Frauen- und Männerzeitschriften, in der Musik, in den Massenmedien, in Romanen, der Werbung oder Pornos erfahren wir, was vermeintlich richtigen und guten Sex ausmacht: Lust und Leidenschaft auf Abruf, unter fünf Stellungswechsel geht kaum etwas, sportlich und ausdauernd soll Sex sein, je lauter, desto besser. Wer sucht, was uns scharf machen soll, findet Antworten meist im Netz. Da begegnen uns Tipps und Ratgeber zu Fragen wie: Bin ich zu prüde? Welches Sextoy ist das richtige? Wie behalte ich einen Ständer? Wie werde ich besser im Bett? Und lernen wir nicht auch: Wer Sex hat, gehört dazu, ist glücklich, gesund und attraktiv, kurzum, führt ein besseres Leben?

Noch nie ging es offener, direkter und expliziter zu als heute. Nahezu alles scheint möglich. Es gibt Diskussionen über die Vulva, den sichtbaren Teil des weiblichen Geschlechtsorgans mit ihren Lippen, der Klitoris, dem Eingang zur Vagina und dem Venushügel, auf dem Haare wachsen. Und über Penisse, Nippel, Hintern und den Anus. In einigen Städten wirbt ein Onlinehändler mit Sprüchen wie »Alles für’n Arsch« ganz selbstverständlich für Dildos, Analduschen und Prostatamassagegeräte.

Sex scheint so immer und überall verfügbar: Menschen chatten auf Dating-Apps, treffen sich nach kurzem WhatsApp-Hin-und-Her zum One-Night-Stand. Männer, Frauen und Menschen, die sich zu keinem dieser Geschlechter zählen, finden heute online den passenden Partner. Die Welt ist auch in der Sexualität zu einer digitalen Gemeinde geworden, für jeden – ganz gleich, wen wir lieben, mit wem wir schlafen, als wer wir uns definieren. Zwei von fünf heterosexuellen und zwei von drei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften beginnen heute online (in Kap. 4, ab S. 282 beschäftigen wir uns ausführlicher mit dem Thema).

Auch sonst sind die neuen Möglichkeiten, die einige längst nutzen, divers: Per Snapchat, Messenger oder im Videochat begegnen sich viele ganz intim, manche haben Sex per Livestream oder teilen explizite Nachrichten, Bilder und Videos miteinander. Und wer gerade Single ist oder wem langweilig wird, der googelt sich rasch den nächsten Pornoclip.

Heute sprechen vor allem die noch von digitalen und analogen Welten, die sich daran erinnern können, wie es war, nicht rund um die Uhr online zu sein. Wer dagegen so groß geworden ist, kennt keine Welt ohne dieses Internet, das uns alle auch irgendwie aufklärt in Sachen Sex. Dagegen wirken der Playboy und andere Magazine wie Relikte aus längst vergangenen Zeiten. Selbst die Bravo und ihr Doktor-Sommer-Team sind für viele schon eine leicht angestaubte Anekdote von damals, als Pornos noch heimlich auf DVD oder sogar auf Videokassette geschaut wurden.

Sex – wann ich will, so oft ich will, wie ich will: Ist das wirklich so? Seltsamerweise passt so einiges, was uns über Sex erzählt wird, nicht zu dem, was viele von uns erleben. Denn Sex ist nicht immer unbeschwert, aufregend und schön. Für viele ist er ganz anders als das, was auf Social Media, in Filmen oder der Werbung gezeigt wird. Wem dies klar wird, der fühlt sich vielleicht unzulänglich. Am Ende scheint die von immer mehr Bits und Bytes beschleunigte Evolution der Sexualität außer mehr Freiheit noch etwas anderes hervorgebracht zu haben: jede Menge Verunsicherung und neue Zwänge, die viele spüren, wenn es um die Frage geht, was heute normal ist. Und dieses Gefühl hat unter anderem mit einem Massenphänomen zu tun: Pornos.

Wie viel Porno steckt in unserem Sex?

»Ich konsumiere seit Jahren täglich Pornos und hatte deshalb lange kein Interesse an ›echtem Sex‹. Jetzt habe ich eine Freundin. Weniger Lust auf Pornos habe ich deshalb aber nicht. Bisher habe ich nichts Negatives an meinem Konsum entdeckt, dennoch habe ich Angst, dass sich das ändern kann. Wie gefährlich ist das eigentlich?« – James, 28.

Sofort erreichbar, günstig und vor allem anonym: So leicht wie heute hatten wir noch nie Zugriff auf erotische Fotos und Filme – und das jederzeit, an jedem Ort mit 4G oder WLAN. Viele schauen längst auf ihren Smartphones zu Hause oder unterwegs, mancher gar in der Mittagspause. 2019 standen zwei Pornoseiten auf Platz zehn und elf der am häufigsten aufgerufenen Websites in Deutschland. Deutlich mehr Männer als Frauen und mehr jüngere als ältere Menschen wischen, klicken und scrollen sich durch das unüberblickbare Angebot. 2018 sahen sich je nach Alter 73 bis 90 Prozent aller Männer und 13 bis 58 Prozent aller Frauen in Deutschland Pornos an, ein großer Teil von ihnen regelmäßig. Für viele sind Sexfilme Alltag – ob gewollt oder ungewollt, ob wir darüber sprechen oder nicht.

Pornokonsum in Deutschland:
Erwachsene zwischen 18 und 75 Jahren

Wer hat in den letzten vier Wochen Pornos geschaut?

Wie oft wurden in den letzten vier Wochen Pornos geschaut?

Pornos sind selbstverständlich geworden und haben trotzdem ihr eher schlechtes Image nicht verloren. Immer noch schauen wir sie vor allem alleine, viele versteckt. Die Filme wirken verboten, geheimnisvoll und für manche unanständig oder beschämend. Auf Schulhöfen gehen dafür Links mit Pornoclips um. Die Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche noch kicherten, während sie heimlich einen Blick in ein Sexmagazin warfen, das irgendjemand mitgebracht hatte? Von gestern. Männer, die heute zwischen 18 und 30 sind, haben im Durchschnitt mit knapp 14 Jahren zum ersten Mal etwas aus einem Porno gesehen, Frauen mit 16 Jahren. Und manche eben auch deutlich früher.

Für viele sind die Videos der erste bewusste Kontakt mit Sexualität. Und das kann Folgen haben: Ergebnisse einer Befragung unter Neunt- und Zehntklässlern, an der fast alle Schulen in Hessen teilnahmen, zeigen, dass bereits 48 Prozent der Schüler und acht Prozent der Schülerinnen öfter Sexvideos schauen. Jeder elfte unter den Dauernutzern ging davon aus, dass echter Sex genauso ist wie im Porno, ein Viertel sagte von sich, dass sie nur noch Körper schön finden, die genauso aussehen wie in den Videoclips. Fast ein Drittel konnte nicht mehr einfach mit dem Konsum aufhören, mehr als jeder achte merkte, dass er immer mehr davon brauchte – beides Anzeichen für eine Suchtentwicklung. So geprägt und ausgestattet starten viele Menschen heute in ihr Sexleben. Und merken dann nicht selten, dass der Sex mit einem echten Menschen anders läuft als das, was in Pornos auf Anhieb klappt und befriedigt.

Viele fangen aus Neugier an, Pornos zu schauen. Wer regelmäßig und viel guckt, das sagen vor allem Männer, findet Sexfilme erregend, inspirierend, unterhaltsam. Pornos könnten auch das eigene Sexleben verbessern. Ein Problem sehen die meisten Nutzer darin nicht, wie die Studie von Martyniuk und Dekker belegt (s. Kasten). Während die Mehrheit der befragten Frauen und Männer meint, dass Pornokonsum keine Auswirkungen auf ihren Sex habe, bemerkt ein knappes Drittel ausschließlich positive Folgen. Einigen jedoch ist klar, dass Porno durchaus Nachteile für sie hat.

Pornokonsum in Deutschland und Auswirkungen auf das Sexleben

Frauen

Männer

Keine Auswirkungen

62 %

57 %

Ausschließlich positive Auswirkungen

32 %

28 %

Sowohl positive als auch negative
Auswirkungen

5 %

12 %

Ausschließlich negative Auswirkungen

2%

3 %

Martyniuk und Dekker, 2018. Es sind die Originalwerte aus der Studie angegeben.

Die Spalte »Frauen« addiert sich zu 101 Prozent, möglicherweise weil gerundete Werte dargestellt sind.

Ob diese Zahlen wirklich abbilden, was Pornos mit der Sexualität machen, lässt sich nicht genau sagen, weil es sich um Selbsteinschätzungen der befragten Personen handelt. Wer nicht weiß, dass Pornogucken ihm womöglich schadet und wie, der unterschätzt leicht die Folgen. Und zu diesen zählen neben Pornosucht manchmal auch sexuelle Funktionsstörungen. Wer davon betroffen ist, kommt zum Beispiel bei der Selbstbefriedigung mit Pornos ohne Weiteres zum Orgasmus, nicht aber beim Sex mit der Partnerin oder dem Partner – da klappt es entweder gar nicht oder nur mit einiger Anstrengung. Manche kriegen beim Sex zu zweit keinen hoch, und unbefriedigend ist das Ganze sowieso. Kein Wunder, dass das Verlangen danach schließlich auch schwindet.

Sexuelle Probleme wie diese gehören in den Praxen von Sexualtherapeutinnen und Sexualmedizinern heute zum Alltag. Und auch aus der Forschung kommen erste Einschätzungen: Die meisten Menschen, die Pornos schauen, müssen sich wohl keine Sorgen machen, dass sie deshalb süchtig werden oder sexuelle Funktionsstörungen entwickeln. Wer jedoch merkt, dass er Pornos oft nutzt, weil er gestresst ist, sie dem Sex zu zweit sogar vorzieht und gar nicht mehr gut ohne kann, ist gefährdeter als andere.

Andererseits können Pornos dabei helfen, bestimmte Probleme mit dem Sex zu überwinden. So manche Frau spürt angesichts eines Erotikfilms, der ihr gefällt, zum ersten Mal seit Langem wieder intensive Erregung. Will der Penis nicht mehr stehen, können Pornos manchmal doch zur Erektion verhelfen. Und auch die Lust auf Sex lässt sich durch sie anregen, weil sie Ideen für das eigene Sexleben liefern. Was macht mich an? Was meinen Partner oder meine Partnerin? Was könnte uns gefallen? Wie stimuliere ich ihn oder sie richtig und was wollen wir vielleicht mal gemeinsam ausprobieren? Zusammen einen Porno zu schauen, der beiden gefällt, kann Spaß machen und es durchaus auch erleichtern, über den gemeinsamen Sex zu sprechen und Wünsche zu äußern.

Vor allem unter heterosexuellen Paaren liegen die Wünsche von Männern, die Pornos schauen, und die Vorstellungen ihrer Partnerinnen manchmal aber auch ganz schön weit auseinander. Manche Frauen können verfilmtem Sex generell nichts abgewinnen, anderen sagt nicht zu, was in den Clips zu sehen ist. Kein Wunder, denn in den meisten Pornos werden vor allem Männerfantasien bedient, und zwar auf ziemlich einseitige Weise. Alles dreht sich um den Mann, die Frau erfüllt ihm seine Wünsche und findet einfach alles gut, was er tut – egal wie extrem, entwürdigend oder sogar gewalttätig es sein mag. Die Schauspielerinnen präsentieren sich fügsamer und leidenswilliger, als es für Körper und Seele gesund ist, und werden zu Objekten – gut gebaut, perfekt geschminkt, aber ohne Geist und Verstand. Reduziert auf ihre Körper und Genitalien, die Produzenten größer und erregter inszenieren, als sie es in Wirklichkeit je sein könnten.

Gewalt in Pornos

In einer US-amerikanischen Studie untersuchten Wissenschaftler eine zufällige Auswahl von 50 der beliebtesten Pornos aus den Jahren 2004 und 2005 auf die Häufigkeit von Gewaltdarstellungen. Von den 304 analysierten Szenen zeigten fast 90 Prozent Akte körperlicher Gewalt, etwa in Form von Schlägen auf den Po, Ohrfeigen oder Würgen. In knapp der Hälfte der Szenen wurden Entwürdigungen geäußert. Die Gewalt wurde in der Regel von Männern gegen Frauen verübt und von diesen lustvoll oder bestenfalls neutral beantwortet.

Auch an anderer Stelle wird die Realität von Sex in den meisten Mainstream-Pornos ausgeblendet. Stattdessen folgen sie den immer gleichen Drehbüchern: von vorne, von hinten, im Stehen, rittlings, knieend, sitzend und dann das Ganze nochmal von Neuem. Starr und mechanisch, mit lautem Stöhnen oder Dirty Talk wird der Penis immer wieder in Vagina, Po oder Mund gestoßen, und am Ende landet das Sperma im Gesicht. Wer solche Szenen im Kopf hat und sie immer wieder anschaut, für den wirkt Sex im wahren Leben nicht selten blass und unbefriedigend. Andere empfinden die extreme Körperlichkeit eher als unappetitlich. Wer beim Sex Augenhöhe, Sinnlichkeit, Genuss, Behutsamkeit, Nähe und Verbundenheit sucht, kann damit meist nicht viel anfangen.

»Ich schaue regelmäßig Mainstream-Pornos. Aber so langsam bin ich mir nicht mehr so sicher, wie gut mir das tut. Es gibt doch auch andere Arten von Sexualität. Es fahren ja auch nicht alle Auto wie bei The Fast and the Furious. Warum soll dann jeder Sex haben wie im Porno?« – Laura, 34.

Mittlerweile gibt es Pornos, die anders sind (s. Kap. 2, ab S. 64). Sie setzen auf mehr Gefühl, stellen die Menschen in den Mittelpunkt und wie sie sich begegnen. Ihre Berührungen, der Ausdruck in ihren Gesichtern, Blickkontakt, die Spannung zwischen ihnen, ihre Sinnlichkeit und ihr Begehren. Wie sie über ihren Sex sprechen und sich zeigen, was sie sich wünschen, um dann gemeinsam zu entscheiden, was sie miteinander tun wollen. So bekommt eine Lust ihren Platz, die sich subtiler entfaltet und authentischer ist. Weder müssen die Männer einen Dauerständer haben und bis zur totalen Erschöpfung rammeln, noch ist es tragisch, wenn Frau oder Mann nicht kommt. Auch Menschen mit ein paar Kilos mehr, dem ein oder anderen Achselhaar, einer Vulva, die nicht aussieht wie die einer Dreizehnjährigen, oder Männer mit einem schlaffen Penis können wunderschön sein und Erotik ausstrahlen. In diesen Pornos sind alle Geschlechter und Orientierungen zu sehen. Es gibt Filme für und mit Frauen, Männern, trans, non-binary und intersexuellen Menschen, die hetero-, homo- oder bisexuellen Sex zeigen. Auf diese Weise kann Porno sogar Befreiung und Empowerment sein.

Wollen wir wirklich, was wir zu wollen glauben?

Ein halbes Jahrhundert nachdem die 68er die sexuelle Revolution ausgerufen haben, ist offensichtlich längst nicht alles gesagt, was es zu Sex zu sagen gibt. Es fühlt sich manchmal nur so an.

»Alle Leute um mich herum haben laut ihren Berichten scheinbar fantastischen Sex. Bei mir ist das völlig anders. Nicht mal bei der Selbstbefriedigung kriege ich einen Orgasmus hin – dabei habe ich wochenlang geübt. Wie man einen Penis stimuliert, habe ich mir im Netz angeschaut, aber ich würde mich gar nicht trauen, das bei einem Mann zu versuchen. Der merkt doch sofort, dass ich es nicht drauf habe. Mein erster Freund hat zu mir gesagt, ich soll mir halt mal ein paar Pornos anschauen, dann wird das schon. Das hab ich versucht, aber diese Filme sind einfach nicht mein Ding. Ich bin irgendwie anders. Wenn das so bleibt, finde ich ganz sicher keinen Freund.« – Mathilda, 23.

Wie offen sprechen wir über unsere eigene Sexualität? Eher wenige von uns vertrauen sich einer Freundin oder einem Kumpel an, wenn es im Bett nicht so recht läuft. Kaum jemand spricht über seine Erektionsprobleme, die Schmerzen, die er beim Sex erlebt, oder darüber, dass er einfach nicht zum Orgasmus kommt. Wer traut sich zum Urologen, zur Gynäkologin oder in eine Sexualberatung, wenn etwas nicht klappt?

Obwohl Sex in den Medien und in den Gesprächen von vor allem jungen Menschen mittlerweile sehr präsent ist, beobachten Sexualtherapeuten und Forscherinnen noch immer eine große Sprachlosigkeit, wenn es um die ganz persönliche Sexualität geht – und zwar erst recht, wenn damit nicht alles so läuft wie gedacht. Ihr Eindruck ist, dass sich auch heute viele Menschen nicht bewusst sind, was ihnen beim Sex wichtig ist, was für ein sexuelles Wesen sie sind und wer sie eigentlich sein wollen. Selbst wenn sie Wünsche verspüren und eigene Ideen haben, fällt es nicht jedem leicht, sich damit ernst zu nehmen. Das gilt ganz besonders, wenn die Bedürfnisse nicht den gängigen Bildern von Sex entsprechen, die uns überall begegnen. Schnell entstehen daher Gedanken wie »ich bin komisch« oder »ich bin doch irgendwie nicht normal«.

Offen mit dem Partner oder der Partnerin darüber zu sprechen, ist für viele eine weitere Hürde. Nicht nur, weil bis heute der Mythos besteht, dass guter Sex ohne Worte funktioniere. Im Porno wird schließlich auch nicht darüber geredet, was man wie miteinander machen möchte – man tut es einfach. Dabei sprechen die Pornodarsteller mit der Regisseurin sehr wohl, allerdings bevor gedreht wird oder in Drehpausen, was hinterher bloß nicht zu sehen ist. Andere gehen schon von vornherein davon aus, dass ihre Wünsche nicht zählen und darüber zu reden nichts bringt. Wer es dennoch versuchen will, ist oft unsicher, wie er es angehen soll. Vielen fehlen im wahrsten Sinne die Worte, um zu beschreiben, worum es ihnen geht. Wie spreche ich über meinen Penis oder meine Vulva, wie beschreibe ich, nach welchen Gefühlen ich mich sehne, wo ich berührt werden will, was genau ich mit dem anderen eigentlich erleben und teilen möchte?

Vielleicht sind einige von uns zu befreit, um frei zu sein. Gerade weil uns Sex so offensiv begegnet, alles möglich scheint, wenn wir uns nur ausprobieren, setzt er uns schon wieder unter Druck. Und gleichzeitig gibt es zweifelhafte Tipps und Ratgeber, wie es im Bett noch besser klappen soll – immer schärfer, geiler und effektiver. Wer sich nur genug anstrengt, könne beim Sex der oder die Beste sein. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern verdrängt vieles, was Menschen wirklich bewegt und ausmacht. Und das hat möglicherweise Folgen.

Studien aus den USA und Großbritannien zeigen, dass wir seit Beginn des neuen Jahrtausends seltener Sex haben als früher. Vor allem die Millennials, die in den achtziger und neunziger Jahren geboren sind, sind auffallend weniger sexuell aktiv als die Generationen vor ihnen. Ist es nur ein Zufall, dass sich gleichzeitig unser Leben digitalisiert hat und sich Pornos auf jedem Gerät mit Bildschirm und Internetanschluss streamen lassen? Fühlen sich angesichts der neuen Leistungsstandards beim Sex womöglich viele von uns überfordert und verlieren die Lust daran? Wächst die Zahl derer, die ihre Sexualität heute alleine mit einem Porno oder via Chat leben statt mit Menschen aus Fleisch und Blut? Mit Sicherheit lässt sich das heute noch nicht beantworten.

Die neuen Anforderungen an den Sex vermischen sich zudem mit längst veralteten Klischees und Vorurteilen. Zum Beispiel: Brauchen und wollen Männer nicht schon von Natur aus mehr Sex als Frauen? Und muss dieser nicht stets schnell, knackig und heiß sein? Frauen, die davon ausgehen, ordnen ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht selten dieser stereotypen Vorstellung unter. Sie haben Sex, den sie so gar nicht wollen oder der ihnen eigentlich nicht wirklich gefällt. Eher Lustspenderinnen als Lustempfängerinnen setzen sie um, was in ihren Augen zu einer Beziehung dazugehört. Der Mann hingegen muss stehen und immer bereit sein, um die Frau von einem zum nächsten Höhepunkt zu stoßen. Die Frage aber, ob so eine Sexualität überhaupt ihren Bedürfnissen entspricht oder was sie stattdessen entwickeln könnten, kommt beiden nicht in den Sinn – Hauptsache, sie machen alles »richtig« und wie es angeblich von ihnen erwartet wird.

Man kann sich schon fragen, wie wir dahin gekommen sind. Macht uns Sex heute anders zu schaffen als vor der sexuellen Revolution? Bestimmt. Nur ist es mittlerweile möglich, frei darüber nachzudenken und sich zu überlegen, ob man wirklich will, was man zu wollen meint.

Sexuell befreit, aber noch verkatert

Zu oft trifft Überforderung auch heute auf verkorkste Vorstellungen von Sex. Vielleicht dröhnt uns noch unbewusst der Kopf vom Kampf der sexuellen Revolution. Selbst wenn ein Großteil von uns diese gar nicht miterlebt haben dürfte. Dass Tabus gebrochen wurden und wie sehr sie eingeengt haben, zeigt sich immer erst im Rückblick.

Viel hat sich in den vergangenen Jahrzehnten getan. Dass Sex Alltag ist und mehr Menschen versuchen, einen unverkrampften Umgang damit zu finden, haben wir unzähligen Vorkämpferinnen und Vorkämpfern zu verdanken. Zum Beispiel dem wohl berühmtesten Sexualforscher überhaupt, Alfred Charles Kinsey. Seine Reports, die er Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre veröffentlichte, enthielten erstmals umfassende Daten über das Sexualverhalten von Frauen und Männern. Nie zuvor waren so viele Menschen so detailliert danach gefragt worden, wie häufig sie masturbierten, mit wem sie Sex hatten und ob sie ihre Partnerinnen und Partner schon einmal betrogen hatten. Zusätzlich wurde erfasst, wie viele Frauen schon vor der Ehe Sex hatten, wer mit einem Menschen des gleichen Geschlechts geschlafen und wer welche sexuellen Fantasien gehabt hatte. In der prüden und verklemmten Gesellschaft dieser Zeit waren die Daten für viele ein Skandal. Dennoch löste Kinseys Forschung vermutlich die sexuelle Revolution mit aus, die 1968 durch die liberale Studentenbewegung befördert auch in Deutschland an Fahrt gewann.

Was damals folgte, war eine Kampfansage an jahrhundertealte Vorstellungen von Geschlechterrollen, Sitte und Moral sowie der Anstoß eines noch immer andauernden gesellschaftlichen Wandels. Die Antibabypille kam auf den Markt und wurde frei zugänglich, Sex vor der Ehe war kein absolutes Tabu mehr, unverheiratete Paare konnten zusammen eine Wohnung mieten, Frauen durften arbeiten, ohne zuvor ihren Mann um Erlaubnis zu fragen. Auch Schwule, Lesben und queere Menschen kämpften sichtbarer für ihre Rechte und weigerten sich, den ihnen zugewiesenen Platz am Rand der Gesellschaft zu akzeptieren.

Dieses Einstehen für freie Liebe und Menschenrechte hat uns vorangebracht. Zuvor hatte Sexualität in der Öffentlichkeit praktisch keinen Platz. Geschlechtsverkehr war dazu da, die Ehe zu vollziehen und Kinder zu zeugen. Penis rein, Spermien einbringen, fertig. Wer sich hingegen heute noch in modernen Gesellschaften dafür stark machen würde, dass Sex eine Ehepflicht sei, verheiratete Männer über die Körper ihrer Frauen entscheiden dürften, schwuler, lesbischer oder queerer Sex nicht nur verwerflich, sondern ein Verbrechen sei, stünde mittlerweile zum Glück fast alleine da. Viraler Shitstorm inklusive.

Heute bestimmen viele selbst über ihre Sexualität und nutzen ihre sexuelle Freiheit. Inspiriert auch von jenen, die die meisten Follower auf Social-Media-Plattformen haben. Auf Instagram oder für Magazincover pressen Berühmtheiten wie Kim Kardashian ihre Körper in immer engere Korsetts und formen Hintern und Brüste zu Kunstobjekten. Auf YouTube sind Superstars zu sehen, die zweideutig oder ganz direkt über Sex singen, sich in ihren Musikvideos halbnackt und in hautengen Outfits räkeln – Powerfrauen wie Lady Gaga, Beyoncé und Madonna, die in den Achtzigern den selbstbestimmten weiblichen Sex auf die Bühne des Pop holten. Ihnen geht es nicht nur darum zu gefallen, sondern auch um Befreiung: Die Zeiten von Männern, die die Regeln diktieren und Frauen vorschreiben, was sie zu denken, zu sagen, zu tun und zu lassen haben, neigen sich in westlichen Gesellschaften dem Ende zu. Doch auch moderne Männer haben aufgeholt. Kaum ein Star, der uns nicht in engen Boxershorts seinen wohlgeformten Schritt entgegenhält – mitsamt perfekt aufgereihten Bauchmuskeln darüber. Mit Sex und Sexualität wird offen gespielt, freizügig und diverser denn je.

Gleichzeitig finden sich viele Klischees und absurde Rollenbilder aus Pornos bis heute in der Popkultur wieder. In Musikvideos beispielsweise provozieren selbsternannte Alphamänner nicht nur mit sexistischen und manchmal homofeindlichen Texten, sondern auch mit Tänzerinnen, die vor ihnen in die Knie gehen oder ihnen ihre Hintern entgegenwerfen. Noch immer verbinden viele dies mit Rap oder Hiphop, obwohl diese Stile heute längst vielfältiger und progressiver sind. Bestes Beispiel sind Musikerinnen wie Nicki Minaj, Cardi B oder Azealia Banks sowie neue, junge Talente wie der schwule Rapper Lil Nas X. Dessen Song Old Town Road landete nicht nur in Deutschland 2019 auf Platz 1, sondern wurde zur erfolgreichsten Single in der Geschichte der US-Billboard-Charts.

Auch Film, Fernsehen und Streaming wandeln sich und verändern die Wahrnehmung von Sexualität in der Gesellschaft. Immer wieder gibt es Produktionen, in denen Sex nicht mehr bloß vorkommt – sie wären nichts ohne ihn. Geradezu legendär sind die freizügig ausgelebte Erotik in Basic Instict, die Konflikte um Untreue und Eifersucht im erotischen Mystery-Drama Eyes Wide Shut oder der Neo-Western Brokeback Mountain sowie das Drama Moonlight, die sich beide mit Homosexualität und Homofeindlichkeit auseinandersetzen.

Zugleich erschienen in den vergangenen zwei Jahrzehnten Serien, die nicht nur rund um das Thema Sex konzipiert waren, sondern in denen Frauen Sex hatten, wie er bis dato offiziell nur Männern vorbehalten war. So schliefen sich Ende der neunziger Jahre vier Frauen in Sex and the City auf der Suche nach der großen Liebe jahrelang durch New York, um dabei alle Dates, Sexerlebnisse und Schwierigkeiten, die Partnerschaften so mit sich bringen, ausführlich zu diskutieren. Differenzierter und weitaus realitätsnaher setzte sich die Grundidee starker, sexuell befreiter Frauen in Formaten wie Girls und The Bold Type weiter durch.

Die Suche nach der eigenen sexuellen Orientierung war in den genannten Serien immer mal wieder Thema. Im Fokus jedoch stand sie bereits im Jahr 2000 in Queer as folk, gefolgt von The L Word sowie The New Normal oder Modern Family. Wieder später huldigte Looking vor allem dem hedonistischen Lebensgefühl der Gay Community in San Francisco, die Miniserie Tales of the City – jüngster Weiterdreh einer in den neunziger Jahren gestarteten Reihe – ist etwa der dort ansässigen LGBTQIA-Community und ihrer politischen Geschichte gewidmet. In Transparent wiederum steht ein Elternteil nach vielen Jahren dazu, trans zu sein.

Was all diese Produktionen eint: Sie zielen allen voran auf Menschen, die Mitte 20 oder älter sind. Anders die Serien Sex Education oder Big Mouth, die sich an junge Menschen in der Pubertät richten – mit vollkommen unterschiedlichen Zugängen. Während Erstere humorvoll und einfühlsam, geradezu sexualtherapeutisch ist, stehen bei Letzterer derbe, unangebrachte Witze im Mittelpunkt, um gleichzeitig für Entsetzen und Spaß zu sorgen.

Binnen weniger Jahre hat sich also einiges verändert. Was bleibt, sind immer neue Ideale von Sexualität, während gleichzeitig so einiges von dem nachwirkt, was schon vor Kinsey und der sexuellen Revolution unseren Umgang mit Sexualität bestimmt hat. Was sind schon fünfzig Jahre oder einige mehr im Vergleich zu Jahrhunderten sexueller Unterdrückung? Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich eben nur langsam.