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Gret Weyden

 

Eine launische Frucht namens Hoffnung

Roman

Originalausgabe © 2013 bei Hey Publishing GmbH, München.

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Gret Weyden wird vertreten von der Verlagsagentur Lianne Kolf, München

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

Autorenfoto: © Hartmuth Schröder

ISBN: 978-3-942822-75-6

 

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Eine launische Frucht namens Hoffnung

 

»Also greifst du beherzt zum elektrischen Dosenöffner und atmest tief durch. Langsam hebt sich der Deckel, und dann kommt’s – oder eben nicht: keine Ananas! Nur Saft. Aus, Ende, das war’s! Was bleibt, ist die Erkenntnis, wertvolle Zeit mit einer ananaslosen Beziehung vergeudet zu haben. Und du nimmst dir selbst das Versprechen ab: nie wieder Dose, nur noch Frischobst!«

In Sibille Frischs Vorstellung vom Beziehungsparadies hängen keine sündigen Äpfelchen am Baum der Erkenntnis, sondern reizvoll verpackte Ananasdosen. Doch die (ent-)halten leider nur selten das, was sie versprechen: leckere Frucht. In der Regel bleibt es bei Saft, und irgendwann ist sogar der verbraucht.

Da die Zeiten biblischen Alterns längst vorbei sind, sieht sich Bille angesichts ihrer fünfunddreißig Jahre mit der Frage konfrontiert: Wartest du noch oder heiratest du schon? Im aktuellen Angebot wäre da ihr »Dauerfreund« Matthias. Beamter, beziehungserprobt, einwandfreie Gene – ein solides Schnäppchen. Oder vielleicht der längst bereute Fehlkauf? Der ordentlich verkorkste Heiratsantrag lässt eher Letzteres vermuten.

Während Bille vor dem Regal des Lebens unentschlossen am Verlobungsringfingernagel kaut, fällt ihr unverhofft der Traummann vor die Füße. Klare Sache: Frischobst gefunden, Dose entsorgt, »Ja, ich will!«? Nix da! Denn die Umstände machen aus dieser vermeintlich perfekten Liebe einen Sündenfall, und auf den folgt bekanntlich die Vertreibung aus dem göttlichen Obstgarten.

Der Weg zum Traualtar führt Bille einmal quer durch die Hölle. Eine bittersüße Tortur, auf die sie liebend gerne verzichtet hätte.

»Eine launische Frucht namens Hoffnung« ist ein Roman für hoffnungslose Romantiker und hoffnungsvolle Realisten.

1

Ich klingel. Obwohl ich einen Schlüssel zur Wohnung meiner Eltern habe. Ich klingel aus Prinzip. Weil ich ein Vorbild sein muss. Für meine Eltern. Denn die haben auch einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Für absolute Notfälle. Aber an diese Absprache halten sie sich nicht. Was ärgerlich ist und störend. Und peinlich, weil, stellen wir uns mal vor, man vertraut darauf, dass die Erzeuger den Schlüssel nur für Im-Urlaub-Blumengießen-Briefkastenleeren-Stadtwerkereinlassen oder Tür-zu-Schlüssel-drin-Notfälle verwenden, und dann – Überraschung! – stehen die doch einfach mal so in der Tür, wenn man gerade was macht, was Eltern nicht mitkriegen sollen. Also so was wie Weihnachtsgeschenke verpacken oder Bikinizone enthaaren. Oder eben das, woran immer alle zuerst denken: Sex. Genau dann, wenn einer dieser raren Tage ist, ich in Stimmung, er in Stimmung, beide frei und absolut freizügig, geht mit hundertprozentiger Sicherheit die Tür auf, und ein fröhliches Mama-Rufen im Stil von »Hallo, Schatz, du, ich hab dir ein Kilo sizilianische Orangen vom Markt mitgebracht, die magst du doch so gerne« kippt einen Kübel Eiswasser über die knisternden Funken der Leidenschaft. Keine schöne Erfahrung. Versprochen. Vorsicht also, wem man seine Schlüssel aushändigt. Ich kriege meine dummerweise nicht mehr zurück, ohne einen Eklat zu provozieren.

Ich stehe nach wie vor vor der Tür meiner Eltern und klingel nun zum dritten Mal. Endlich macht mein Vater auf.

»Warum klingelst du? Nimm doch den Schlüssel! Du hast doch einen!«, raunzt er mich an und dreht sich um. Immerhin: Die Tür hat er nicht wieder zugemacht, um mich zum Einsatz des Schlüssels zu nötigen ...

Schon klar, es ist nicht an mir (immer noch Kind, egal, wie alt ich bin) meine Eltern zu erziehen, aber ein »Hallo, schön dich zu sehen, komm doch rein« hätte ich alles in allem netter gefunden als diesen Hinweis. Mir liegt außerdem ein »Weil ich eure Privatsphäre respektiere, Gast in eurem Haus bin und mich freuen würde, wenn ihr eine ähnliche Sensibilität an den Tag legen würdet, wenn ihr mich besucht« auf den Lippen, aber das lasse ich lieber, um diesen eigentlich so sonnigen Morgen nicht schon in den ersten Minuten zu ruinieren.

Mutter schießt aus der Küche und umarmt mich derart inniglich, als sei ich die verlorene Tochter, heimgekehrt nach jahrelanger Geiselhaft in einer brutalen Diktatur. Was schon ein wenig skurril ist, da wir uns gerade mal achtundvierzig Stunden nicht gesehen haben. Aber gut. Mich würde interessieren, wie meine Mutter mich behandeln würde, wenn ich tatsächlich aus dem Gulag heimkehrte ...

»Sibille, da bist du ja endlich. Schuhe ausziehen, Hände waschen, ich bin fast fertig.«

Ende der Illusion, dass mein Auftauchen sie in besinnungslose Freude versetzt haben könnte.

»Mama, ich bin ...«

»Mir ist egal, wie alt du bist, die Straßen werden nicht sauberer, die Menschen nicht gesünder, also ...«

Ihr Blick wandert vorwurfsvoll zu meinen Füßen und wird dort bleiben, bis ich ihren Wünschen nachgekommen bin.

Ich habe meine komplette Jugend versucht, mich gegen diese charmante Begrüßung und andere mütterliche Übergriffe zu wehren. Vergeblich. Nicht zuletzt, weil ich meine Mutter dann doch zu lieb habe, um ihr wirklich in aller Klarheit zu sagen, wie ich das finde. Und mich endlich von ihr und ihrer Dreckphobie, die irgendwie auf mich übergegangen ist, zu emanzipieren. Ich habe mal gelesen, dass man genauso lange braucht, sich von einer Sucht zu befreien, wie man süchtig war. Der Vergleich hinkt zwar ein wenig, aber irgendein Datum muss ich mir ja setzen, um endlich erwachsen zu werden. Wenn ich also exakt die Zeit, die ich mit meinen Eltern zusammengelebt habe, nicht mehr mit ihnen zusammenlebe, sollte ich noch mal einen ernsthaften Versuch machen. Das wäre dann mit achtunddreißig. Noch drei Jahre. Die Zeit läuft, Mama.

Zum Glück werde ich nicht nur von Mutters Hygienewahn in Empfang genommen, sondern auch von dem verlockenden Duft nach frischem Brot, sonst wäre ich wohl sofort wieder umgedreht. Brot macht Mama zu besonderen Anlässen nämlich selbst. Dass ich ein besonderer Anlass bin, versöhnt mich fast schon wieder mit der Begrüßung.

Ich gehe also gut gelaunt ins kombinierte Wohn-Esszimmer. Der Tisch biegt sich unter dem, was meine Mutter als Minimalausstattung für Samstagsfrühstücke betrachtet. Ich bin von den Ei-Variationen, den sieben Sorten Marmelade, dem noch immer dampfenden Brot und dem goldigen Schimmer der Landbutter, die Mutter auf dem Bauernmarkt kauft, weil sie so schmeckt wie »früher«, derart abgelenkt, dass ich die drohende Gefahr nicht spüre.

»Und, wie geht’s im Geschäft?«, will mein Vater wissen. Mehr aus Routine, weniger aus echtem Interesse.

Ich setze mich zu ihm an den Tisch und schnappe mir eine Scheibe Brot. Großartig, noch warm. Butter drauf. Und dann Marmelade.

»Gut. Sommergrippe ...«

»Und sonst?«

»Gut.«

Erdbeer-Banane. Lecker.

»Aha. Dann hat er endlich ...«

Ich schlucke. Nicht nur, weil mein Mund voll ist. »Nein.«

Das können nur meine Eltern: Fragen nach dem beruflichen Fortkommen derart offensichtlich als Anlauf nutzen, um mit beiden Beinen ins private Fettnäpfchen zu springen.

»Aber er wird doch?«

»Du, frag ihn doch einfach.«

Mein Vater ist immun gegen Ironie, aber ich versuche es immer wieder. Mit dem immer gleichen Ergebnis.

»Meinst du wirklich? Ich könnte da schon mal ein bisschen ... so von Mann zu Mann.«

»Papa, das war ein Scherz.«

»War nicht lustig.«

Worum es bei dieser ausgesprochen sinnvollen Unterhaltung geht? Um meinen Freund Matthias, der gerade – nie hätte ich gedacht, dass ich ihn darum beneiden würde – mit seiner Handballmannschaft auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel ist. »Deinen Dauerfreund« nennen ihn meine Eltern. In der Beurteilung seiner Persönlichkeit schwanken sie zwischen Hoffnung – irgendwann muss er sich ja mal zu dem alles entscheidenden Schritt durchringen und unsere Beziehung »legalisieren« – und Ablehnung, denn wer es nach drei Jahren nicht geregelt bekommt, Fakten zu schaffen, der ist schlicht nicht der Mann, den sich meine Eltern (beides ausgewiesene Macher) für ihre Tochter wünschen. Diese locker-leichte Unterhaltung über mein Leben wäre sicher noch weitergegangen, hätte meine Mutter nicht in diesem Moment einen markerschütternden Schrei von sich gegeben. Mein Vater und ich starren meine Mutter an, während die, leichenblass, die hinterste Seite unseres Lokalblattes fixiert. Besagte Seite, die man durchaus als eine Art Hobby meiner Eltern bezeichnen könnte.

Die beiden haben die morbide Angewohnheit, sich gegenseitig Todesanzeigen vorzulesen. Dabei geht es nicht nur darum, sich auf dem Laufenden zu halten, wer noch unter uns ist, nein, sie berechnen auch noch bei jeder Anzeige, die wahlweise gefaltete Hände, in die Ewigkeit flatternde Schmetterlinge oder einfach nur dezente Balkenformationen zu bieten hat, wie alt dieser (»Nur drei Jahre älter als ich!«) oder wie jung jener (»Der hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich!«) die Bühne des Lebens verlassen musste. Die Einschätzung, wer zu jung oder gerade richtig abberufen wurde, ist übrigens nicht objektivierbar, sondern hat sehr viel mit der aktuellen Tagesform des Lesers zu tun.

An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Mamas Sechzigster unmittelbar bevorsteht. Und der ist schon was ganz Besonderes für die beiden, quasi ein gutes Zwischenergebnis auf dem Weg in die Ewigkeit. Die Sechzig – das beweist jedenfalls ihre akribisch geführte Statistik des Todes – schafft noch lange nicht jeder. Wahrscheinlich ist es eine Art Tribut an ihre bisher gelieferte Lebensleistung, dass ich überhaupt die Frühstückseinladung meiner Mutter angenommen habe. Anders kann ich es mir eigentlich nicht erklären, dass ich heute wider besseren Wissens hier am Tisch sitze und mir dieses Theater antue.

»Laura Kortmann«, haucht Mutter und fügt, als würde das alles erklären, hinzu: »geborene Nägele.« Betonung auf »geborene«.

»Die war in meiner Stufe. Was ist mit der?«

Mutter, tonlos: »Sie ist tot.«

Vaters dezent mit Heidelbeermarmelade verschmiertes Kinn klappt nach unten.

Ich versuche, die Situation zu entschärfen: »Sie war nur ein Jahr bei mir in der Stufe, dann ist sie auf die Realschule. Ich weiß nicht mal mehr, wie sie ausgesehen hat.«

»›Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot. Tot ist nur der, der vergessen wird‹«, zitiert meine Mutter mit Grabesstimme. Sie ist nicht zu bremsen, jetzt wechselt ihr Ton allerdings von betroffen zu vorwurfsvoll: »›Wir sind sehr traurig: Erik mit Lea, Mia und Tom‹. Sie hinterlässt drei Kinder! Drei!«

»Ja, und? Soll ich jetzt zur Beerdigung gehen, nur, weil wir ein Jahr lang in derselben Stufe waren, und sie drei Kinder hat, deren Namen alle drei Buchstaben haben, was – zugegeben – eine ansprechende Symmetrie darstellt?«

Mein Vater lässt bedeutungsvoll das Messer sinken. »Deine Mutter meint es nur gut. Wir machen uns Sorgen um dich, Sibille, große Sorgen.«

Erneut riskiere ich einen Scherz, obwohl ich eigentlich wissen müsste, dass mich dieser Versuch nirgendwohin bringen wird: »Das müsst ihr nicht, ich glaube nicht, dass noch mehr Leute aus meiner Stufe sterben, wir sind alles in allem ein sehr gesunder Jahrgang. Ich kann das beurteilen, ich habe Informationen aus erster Hand.«

Meine Eltern verstehen leider keinen Spaß. Und natürlich ist es in diesem kritischen Moment der Unterhaltung völlig ausgeschlossen, die Nahrungsaufnahme einfach so fortzusetzen, will man nicht komplett pietätslos erscheinen.

»Du weißt genau, wie wir das meinen, es geht darum, was man zurücklässt, wenn man eines Tages ...«

Meine Mutter kann nicht weiterreden, allein der Gedanke an den Tod der eigenen Tochter, möglichst noch vor ihrem eigenen, schnürte ihr die Kehle zu.

»Wir ... Wir wollen doch nur dein Bestes, Sibille. Der Mensch soll nicht alleine bleiben.«

Wenn noch einer behauptet, nur mein Bestes zu wollen, laufe ich Amok.

»Mama!«

»Aber das ist doch so! Drei kleine Kinder!«

»Man darf also erst sterben, wenn man sich durch die Geburt von Kindern dafür qualifiziert hat?«

Mutter wird dramatisch: »›Tot ist nur der, der vergessen wird‹, und du ... Kind, du wirst auch nicht jünger.«

»Mama!«

»Ich sage doch nur, was du ganz genau weißt, Sibille. Wie lange willst du denn noch warten? Wir mögen Matthias ...«

»Er hat sehr viele gute Seiten.«

»Aber du musst auch sehen, was am Ende dabei heraus kommt«, relativiert Mutter Vaters Einwurf.

Ich bin irritiert. Raten meine Eltern mir ernsthaft dazu, Matthias für eine unsichere, vielleicht einsame Zukunft zu verlassen, nur, weil »mein Dauerfreund« nicht mit einem Antrag um die Ecke biegt?

»Er ist wohl eher ein zurückhaltender Typ Mann. Vielleicht braucht er einen deutlicheren Hinweis.«

Nein, Irrtum, nix verlassen! Sie wollen nur, dass ich höchst persönlich dafür sorge, nicht einsam und allein zu sterben.

»Das müssen wir schon Matthias überlassen. Ich kann ihm doch nicht sagen ›Hey, voran junger Mann, ich möchte geheiratet werden‹«

»Und warum nicht?« Vater hat noch mehr zu bieten: »Nach außen tut ihr jungen Frauen immer so emanzipiert, aber dann, wenn’s drauf ankommt ...«

Tief Luft holen. Keine Argumente mehr bringen, es wäre vergebliche Liebesmüh. Mein einziger Gedanke ist »Flucht«. Sofort.

Und dabei habe ich noch Hunger! Ich hätte wirklich schneller essen sollen, verdammt. Aber frisches, knuspriges Brot hin, raffinierte Marmelade her, es reicht! Ich bin fünfunddreißig, da kann man mir doch nicht ernsthaft erklären, wie ich mein (Liebes-)Leben regeln soll! Und deswegen: dramatischer Abgang, Androhung von Kontaktabbruch bei weiteren Einmischungen in meine Angelegenheiten, Rückforderung des Wohnungsschlüssels (jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an), Türenknallen. Das wäre gut.

Aber stattdessen sage ich: »Oh, Mist, mein Handy, entschuldigt bitte.«

Ich hechte in den Flur und nestel umständlich das Gerät aus meiner Tasche. Kurzer erklärender Blick zu meinen Eltern: »War auf lautlos.« Dann: »Frisch! ... Nein, das kann doch nicht ... Einmal in der Woche würde ich gerne ein paar Minuten später ... Könnt ihr das nicht ohne mich? ... Gut, ich bin in zehn Minuten da.« Dann noch ein schnelles »Tut mir leid, die haben ein Rezept für eine Creme bekommen, die extra angerührt werden muss. Das kann leider nicht warten« an meine Eltern gerichtet, und ich bin raus aus der Nummer.

Mein Beruf geht bei meinen Eltern immer vor. Vor allem als Selbständige, so der Grundsatz meines Vaters, der sein komplettes Berufsleben Beamter war, müsse man sich ranhalten, »der Markt kennt keine Gnade!«. Was keiner besser weiß als er, schon klar. Er war bis zu seiner Pensionierung Direktor an meiner alten Grundschule. Mutter hat Schneiderin gelernt, aber nach meiner Geburt nur noch für Freunde gearbeitet. Macht sie gut. Und obwohl das so ist, waren meine Puppen die einzigen in der Familie, die maßgeschneiderte Klamotten hatten. Ich habe ihr ziemlich früh und für meine Verhältnisse überraschend kompromisslos klar gemacht, dass sie mir mit selbst genähten Bundfaltenbreitcordhosen keine Freude machen konnte. Dieser frustrierende Moment in ihrer Karriere war dann sicher mit dafür verantwortlich, dass sie nie wieder so richtig als Schneiderin arbeiten wollte.

Dass ich mich mit einer Apotheke selbständig gemacht habe, finden meine Eltern gut. Krank sind die Leute immer, mit so ’ner Apotheke, da kann man richtig Geld verdienen. Und deswegen akzeptieren sie so ziemlich alles, was die Apotheke an Arbeit mit sich bringt. Wochenend- und Nachtdienste, Notfälle und andere Überraschungen, kein Problem.

Aber so weit, dass ich für den Geburtstag meiner Mutter entschuldigt wäre, geht das Verständnis für meinen Unternehmerstatus dann doch nicht.

»Und vergiss nicht: Morgen um drei!«, ermahnt sie mich.

Wie hätte ich das vergessen können? Hat meine Mutter doch in der ganzen Wohnung die Vorstufen von Frankfurter Kranz, Schwarzwälder Kirsch und einer namenlosen Eigenkreation, die, das muss man Mutter lassen, hervorragend schmeckt, verteilt. Außerdem gibt es schon seit Wochen – sieht man für einen Moment von ihren fatalistischen Ausflügen ins Reich der einsamen Toten ab – kein anderes Thema mehr als ihren Sechzigsten. Ich müsste schon geisteskrank sein, um nicht zu kommen. Moment, liegt so was bei uns nicht in der Familie? Da muss ich doch direkt mal ...

Nein, nein, das würde nichts werden. Aber immerhin schaffe ich es, der elterlichen Hölle ohne weitere Ermahnungen und Drohungen zum Thema Fortpflanzung und Tod zu entkommen. Ich will einfach nur weg. Besser hätte ich mich natürlich mit dem eben beschriebenen dramatischen Abgang gefühlt, aber das hat sich nicht bewährt. Ich spreche da aus Erfahrung.

Sobald die Tür hinter mir ins Schloss fällt, geht es mir besser. Als ich ein paar Schritte gegangen bin, schlechter. Erstens, weil ich noch immer Hunger habe, und zweitens, weil die Worte meiner Eltern ihre Wirkung dummerweise dann doch nicht verfehlt haben. Sollten sie recht haben? Ich meine, mich kann morgen ein Laster überfahren. Und was ist dann? Wer trauert um mich? Wer setzt eine Anzeige für mich in die Zeitung? Wer steht an meinem Grab? Meine Eltern, klar, und die Belegschaft der Fabrizius-Apotheke, allen voran Kitty, meine PTA und gute Freundin, die so viel weinen wird, dass sie damit mindestens fünf Kinder ausgleichen kann. Dann noch meine Freundin Else. Und mein Damenstammtisch. Und Matthias, mein Dauerfreund. Also so wenige sind das doch gar nicht. Aber irgendwie fühlt es sich trotzdem nicht ausreichend an. Prima, Mama und Papa, habt ihr toll hinbekommen!

 

Matthias und ich haben uns bei einem Salsa-Kurs kennengelernt. Else hatte mich überredet, mit ihr hinzugehen. In ihrem Fall wollte sie einfach mal wieder das machen, was sie vor Ankunft der Kinder eins bis drei getan hat. Und für mich hatte sie vorgesehen, einen Mann an Land zu ziehen, mit dem ich die Zeugung der Kinder eins plus X in Angriff nehmen könnte. Damals war ich zweiunddreißig, in Elses Welt steinalt, hatte sie doch in »meinem Alter« – wir sind gleich alt, um genau zu sein, sie ist drei Monate jünger – schon drei Kinder in die Welt gesetzt und war, als wir uns für den Kurs angemeldet haben, mit dem vierten schwanger. Allerdings führt Else auch ein etwas anderes Leben als ich. So verfügt sie beispielsweise über einen hervorragend verdienenden Mann, der trotz seiner gerade mal vierzig Lenze, die in Torbens Fall maximal wie dreißig aussehen, eher alte Schule ist. Er verdient das Geld, und sie kümmert sich um Haus und Kinder. Nicht, dass ich uneingeschränkt gut finde, was Else da macht. Mir persönlich wäre das schlicht zu eng und – darf ich den wortreichen Schilderungen ihres Alltags Glauben schenken – zu öde. Aber gut, »Jedem Tierchen sein Plaisierchen«, sagt man doch. Jedenfalls: Else wollte mich in diesem Tanzkurs verkuppeln. Gerne mit so etwas Flottem wie Torben. Männer, die in einen Salsa-Kurs gehen, so ihre Theorie, sind alles in allem sportlich, fremden Kulturen gegenüber aufgeschlossen und bereit, nette Frauen kennenzulernen.

Wir also ab in die Mosquito Bar, wo der Kurs steigen sollte. Anfänger. Klar. Wir waren zwar forsch, aber nicht größenwahnsinnig. Selbst Else, die in grauer Vorzeit mal ein paar Kurse mit ihrem Torben besucht hatte, bevor der mit seinem Sportgeschäft zum Mega-Businessman aufgestiegen und mehr unterwegs als daheim war, erklärte sich ohne Diskussionen bereit, den Anfängerkurs zu buchen. Nicht zuletzt, weil sie, wie eben schon erwähnt, ziemlich schwanger war. Außerdem seien im Anfängerkurs, das versicherte uns damals die Frau am Telefon, viele Singles unterwegs, während sich in den Fortgeschrittenenkursen schon Paare gefunden hätten. Alles klar, das war also der Kurs, in dem Else für mich mein Glück suchen wollte. Und ich? Ich war nach diversen Jahren Singledasein, denen eine schmerzhaft gescheiterte Fernbeziehung zum falschem Mann voranging, zu allen Schandtaten bereit und verhalten optimistisch.

Dummerweise waren wir nicht die Einzigen, die mit diesem weit vom Tanzen lernen entfernten Ziel zum Kurs angetreten waren. Eine beeindruckende Zahl herausgeputzter Frauen mit diesem Das-muss-heute-unbedingt-was-werden-Blick in den Augen, den ich hoffentlich nicht hatte, war in die Mosquito Bar gekommen, um Jagd auf die nur vereinzelt erschienenen männlichen Alleintänzer zu machen. Die Dame am Telefon hatte ganz offensichtlich vergessen zu erwähnen, dass diese »vielen Singles im Anfängerkurs« allesamt weiblich waren. Prima. Wir am Ende der Welt, und außer ’nem ausgesprochen knackigen Tanzlehrer, der rein rechnerisch, also wenn da ganz viel schief gegangen wäre in meiner Jugend, knapp mein Sohn hätte sein können, kein zu erobernder Mann in Sicht, dafür aber massig Konkurrentinnen. Ganz großartig.

Wobei der Vollständigkeit halber erwähnt werden sollte, dass das Ende der Welt ausgesprochen malerisch war: ein kleiner See, diverse Fahnen, die der Besitzer aus Thailand herangekarrt hatte, und die nun im sanften deutschen Sommerwind wehten. Hier und da tummelten sich noch ein paar versprengte Schwimmer im See, Familien und Kinder waren längst gen Heimat verschwunden. Alles roch irgendwie nach Urlaub. Die Wände des Lokals waren mit Bambus verkleidet, und die Cocktails schön bunt und erfreulich alkoholreich, jedenfalls für diejenige von uns, die nicht gerade schwanger war. Alles in allem konnte man es hier schon aushalten. Auch wenn keine attraktiven Männer-ohne-Frauen in Sicht waren.

Wahrscheinlich war es meine entspannte Haltung – wenn keiner mit uns tanzen wollte, dann eben nicht –, die mich auf die Gewinnerstraße brachte. Eine Gewinnerstraße namens Matthias.

Matthias ist, nun ja, nicht unbedingt der »Hallo-da-bin-ich-Typ«. Die Frauen mit Partner und die Frauen, die jede Hoffnung aufgegeben hatten, noch einen zu finden und sich deswegen zu rein weiblichen Paaren zusammengetan hatten, machten schon die ersten vorsichtigen Schritte, als Matthias in die Bar kam. Ihm war es denkbar unangenehm, dass sich, kaum hatte er den Tanzbereich betreten, sofort die Frauen, die dem eigenen Geschlecht nicht ganz so offen gegenüberstanden, auf ihn stürzten.

»Hallo, einsamer Mann, du siehst aus, als könntest du es mit mehr als einer von uns aufnehmen«, gehörte zu der Kategorie Spruch, bei der selbst weniger sensible Naturen sich umgehend in ihr mentales Schneckenhaus zurückziehen und dort bleiben, bis der Spuk vorbei ist. Und genau das plante Matthias und die körperliche Flucht gleich mit dazu.

Doch dann kam ich. Also nicht absichtlich, sondern eher zufällig. Ich war nur mal kurz um die Ecke, Hände waschen, und da sah ich ihn. Das hört sich jetzt ein bisschen so an, als wären da Weichzeichner und Licht und Musik im Spiel gewesen. Ganz und gar nicht, obwohl ... da war diese Discokugel, die so schöne Lichtfleckchen wirft und Musik gab’s natürlich auch, also hatte das wohl doch etwas damit zu tun, jedenfalls: Ich kam zurück in die Bar, er sah mich, ich lächelte – weil ich das immer tue, wenn mich jemand anlächelt, es könnte ja ein Kunde sein, als Einzelhändler muss man da fast so auf der Hut sein wie ein Politiker – er jedenfalls verstand das offensichtlich als Aufforderung, machte sich von den Hyänen los und reichte mir die Hand. Dann drehte er sich zu den aufdringlichen Weibern um und sagte: »Tut mir leid, bin schon vergeben.« Ich setzte in Windeseile die Elemente »einzelner Mann, geifernde Weiber« zusammen und verstand sofort, dass er sich nicht stehenden Fußes in mich und mein strahlendes Äußeres – ich sage nur Discokugel – verliebt hatte, sondern schlicht und einfach Asyl suchte. Aber da ich schon immer dafür war, das Asylrecht zu lockern, nahm ich ihm das nicht krumm, ließ meine Hand in seiner, und wir gingen zusammen unter den todbringenden Blicken der Damen in Richtung Tanzfläche. Nur eine, die schaute ausgesprochen zufrieden: Else.

Dieser Moment unseres Kennenlernens, das war – ja, eine solche Feststellung ist hart, wenn man sie nach gut drei Jahren Beziehung macht – das Romantischste, Spontanste und Mutigste, was Matthias jemals in meiner Gegenwart und außerhalb einer Handballhalle (auf dem Platz ist er ein Tier) getan hat. Das wusste ich damals aber nicht. Ich war verliebt und folgte von diesem Moment an streng dem Ananas-in-der-Dose-Prinzip, kurz: Dem Ananas-Prinzip.

Das Ananas-Prinzip ist der Grund, warum so viele Beziehungen sich so lange hinziehen, ohne, dass irgendjemand richtig glücklich ist. Wie es dazu kommt? Wir stehen vor dem Regal des Lebens, und unser Blick fällt auf eine Ananasdose. Wir mögen Ananas. Ananas ist toll. Und in der Dose (ja, die Dose ist der Mann, und das, was er an Romantik, Kreativität, Erotik und so weiter im Angebot hat, das ist die Ananas) ist ganz sicher Ananas, denn auf der Banderole ist eine Ananas abgebildet. Es besteht also kein Zweifel, in der Dose befindet sich Ananas. Zur Sicherheit piekst du den Deckel mit einem altmodischen Dosenöffner auf, drehst die Dose auf den Kopf und fängst probehalber ein paar Tropfen mit der Zunge auf. Ist süß und schmeckt nach Ananas, muss also – der Geschmackstest beweist es – wirklich Ananas drin sein. In Stücken oder Ringen, aber Ananas ist es auf jeden Fall. Das ist der Glaube, die feste Überzeugung, an der du dich festhältst. Und dieser Glaube bringt dich über die Wochen, die Monate und Jahre, in denen du dich zunehmend häufiger fragst, ob der Kerl an deiner Seite wirklich der Richtige ist, ob da wirklich so viel Aufregung, Prickeln und Liebe drin ist, wie der Anfang es versprochen hat. Fühlt sich nicht so an, aber immer, wenn du die Dose umdrehst, ist da noch immer der zuckersüßen Saft, du bleibst also dran.

Irgendwann aber wunderst du sich, warum der Saft nicht langsam ausgetrunken ist. Warum du keine Stücke oder Ringe in der Dose herumschütteln kannst. Du willst endlich ein Stück von der Ananas essen, denn die wurde dir ja schließlich versprochen. Also greifst du beherzt zum elektrischen Dosenöffner und atmest tief durch. Langsam hebt sich der Deckel, und dann kommt’s – oder eben nicht: Keine Ananas! Nur Saft. Aus, Ende, das war’s! Wie lange auch immer du dich an der Idee festgehalten hast, dass der Kerl dir irgendwann Ananas liefert, in dem Moment, in dem du die leere Dose vor dir siehst, ist klar, dass es vorbei ist. Dass selbst der tiefste Glaube an Ananas nicht über die Wahrheit hinwegtäuschen kann: Der Typ wird nie der sein, für den du ihn am Anfang eurer Beziehung gehalten hast. Was bleibt, ist die Erkenntnis, wertvolle Zeit mit einer ananaslosen Beziehung vergeudet zu haben. Und du nimmst dir selbst das Versprechen ab: Nie wieder Dose, nur noch Frischobst!

Genauso lief und läuft das bei Matthias und mir. Nach diesem Anfang, so dachte ich mir das, würden wir eine wilde, eine romantische, eine aufregende Beziehung haben. Ich war bereit, über alles hinwegzusehen, was mich bei klarem Verstand von einer Beziehung mit Matthias Orth, damals vierunddreißig, Beamter im Einwohnermeldeamt auf dem Weg zum Verwaltungsfachwirt, abgehalten hätte. Mittlerweile ist er Leiter seiner Arbeitsgruppe, was die Sache aber alles in allem nicht besser macht. Denn seine Beförderung und der damit verbundene Zuwachs an Selbstbewusstsein machen ihn leider nicht zu dem Mann, in den ich mich damals, eingelullt von wilden Projektionen, verliebt habe. Um genau zu sein, habe ich schon seit einiger Zeit den Verdacht, dass demnächst nicht nur der Glaube an die Ananas verschwindet, sondern uns auch noch der Saft ausgeht.

Ist also keine gute Idee meiner Eltern (und vor allem kein guter Zeitpunkt), auf Eheschließung zu drängen. Mit diesem Unterfangen hätten sie vielleicht vor drei Jahren Erfolg gehabt, als ich noch frisch verliebt war, aber jetzt? Nein, das wird nichts, liebe Eltern. Die Frage ist nur, wann ich Matthias mit dem drohenden Ende unserer gemeinsamen Vorratshaltung konfrontiere? Wenn dieses denn überhaupt noch als drohend und nicht schon als beschlossen bezeichnet werden sollte. Es gibt viele Umstände, die eine Trennung in unserem Alter und unserem Beziehungsstatus so unglaublich unangenehm machen. Wir wohnen seit einem Jahr zusammen. Das heißt, eine Trennung würde das sorgfältige Auseinandersortieren von Dein und Mein bedeuten und nicht nur den Austausch von Zahnbürsten und drei Garnituren Ersatzklamotten. Ich habe so etwas noch nie gemacht, aber ich stelle es mir furchtbar vor.

Matthias ahnt nicht einmal, dass ich emotional auf dem Rückzug bin. Er weiß nicht, dass er als Mann und Partner angezählt ist. Vielleicht wäre das anders, fehlende Ananas hin oder her, wenn er Fakten schaffen würde. Vielleicht würde ich ja sagen, wenn er mich endlich einmal wieder überraschen würde. Zum Beispiel mit einem Antrag, der mich so berührt wie dieser erste Moment, in dem wir uns kennengelernt haben. Vielleicht.

Ich bin, Else sieht das genau so, keine dreißig mehr, er ist, das sieht Else auch, ein guter Mann, nach einigem Zutun meinerseits in Sachen Frisur und Kleidung könnte man ihn sogar als attraktiv bezeichnen. Er war mir in all den Jahren nie untreu, hatte immer Verständnis, wenn es in der Apotheke mal wieder länger dauerte, oder ich am Wochenende Abrechnungen machen musste. Er Handball und seine Jungs, ich Arbeit und Freundinnen. Er mag meine Eltern, meine Eltern lieben ihn – trotz fehlender Entscheidungskraft. Wobei man hier einschränkend bemerken muss, dass meine Eltern so ziemlich jeden potentiellen Schwiegersohn mit offenen Armen empfangen würden.

Aber zurück zum Anfang meiner Überlegung, Matthias könnte der Mann sein, dem ich die Hand zur Ehe reiche, wenn da nicht zu viele Wenns wären, die diesem Schritt dummerweise entgegenstehen. Die Frage ist nun: Ist es an der Zeit, die Beziehung zu beenden? Und wenn ja, wann sollte ich es ihm sagen? Ich tendiere dazu, es erst zu tun, wenn Mamas Geburtstag vorüber ist. Den Sechzigsten mit lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen im Krankenhaus zu feiern, das muss dann doch nicht sein. Womit wir wieder beim Lieblingsthema meiner Eltern wären: Der Tod. Der einsame Tod, um genau zu sein. Der einsame Tod, der mir so viel Angst macht, dass er Matthias, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe, in einem ganz anderen Licht leuchten lässt.

2

»Warum bist du noch da?«

»Nicht noch. Wieder. Das Spiel ist ausgefallen. Die vom SC Daun haben alle Magen-Darm.«

In Gedanken sehe ich eine komplette Handballmannschaft im Bus, die ... Nein, das sollte ich lieber lassen.

»Das tut mir leid!«

»Ja, ist doof, aber kann man nichts machen. Gibt ’ne Wiederholung. Aber wenn ich jetzt schon mal da bin, könnten wir doch endlich zu IKEA fahren.«

Und hier ist er wieder, der Grund, warum ich – Angst vor einsamem Tod hin oder her – Matthias doch nicht heiraten kann, sollte er mich denn jemals fragen. Das wäre seine Chance gewesen! Er hätte statt »IKEA« einfach nur sagen müssen: »Weißt du was? Das ist doch richtig gut. Dann nehmen wir einfach eine Decke, holen uns auf dem Weg ein paar Kleinigkeiten bei Hassan, die gefüllten Weinblätter und die Oliven, die du so magst, schnappen uns eine Decke und legen uns an den Rhein. Na, wie klingt das für dich? Kannst du schon mal die Flasche Cremant holen, die ich gestern kalt gestellt habe?« Aber nein, IKEA! Und damit weit entfernt von den modernen Märchenbüchern, die ich lese, wenn in der Apotheke gerade mal nichts los ist.

In diesen Büchern, die alle diese lustigen, bunten Umschläge haben, da gibt es sie, diese perfekten, kreativen, spontanen Männer, die die richtigen Dinge zur richtigen Zeit sagen, und die Frauen wie mir die realen Männer, die genau das nicht können und niemals können werden, abspenstig machen. IKEA, ich fasse es nicht. Aber was soll ich machen? Romantisch in zehn Schritten funktioniert nun mal nicht. Es ist aussichtslos. Ich kann Matthias’ Haare ändern, ihn dazu bringen, T-Shirts statt fiesem Feinripp unter seinen Oberhemden zu tragen. Ja, ich kann ihn sogar dazu überreden, mal in ein Restaurant zu gehen, das nicht exakt das kocht, was seine Mutter ihm bis zu seinem Auszug aus dem elterlichen Nest vor viel zu wenigen Jahren vorgesetzt hat – all das kann ich tun, aber eine Gehirnwäsche übersteigt dann doch meine Möglichkeiten.

Also IKEA. An einem Samstag. Gleichbedeutend mit Höchststrafe. Matthias ist fest entschlossen, das Schuhschrankproblem ausgerechnet heute zu lösen, und da ich für dieses Problem hauptverantwortlich bin, kann ich noch nicht mal dagegen aufbegehren. Im Gegenteil: Ich sollte ihm dankbar sein. Die Würfel sind gefallen. Na, prima. Da bin ich meinen Eltern entkommen, und jetzt das. Eine klassische Vom-Regen-in-die-Traufe-Situation.

 

Wir schieben uns durch die Gänge mit Wohnbeispielen, die eine derart verspielte Architektur aus Eckchen und Winkeln verlangen, die es nur in den kühnsten Träumen von IKEA-Designern gibt, aber ganz sicher nicht in realen, deutschen Wohnschachteln. Das ist echt absurd, kein Architekt baut Wohnungen rund um PAX und Co.! Überhaupt: Wie kann man allen Ernstes einen Schrank FRIEDEN nennen, bei dessen Aufbau sicher schon tausende von Freundschaften beendet wurden und ungezählte Ehen in die Brüche gegangen sind? PAX?! Also wirklich! Aber was rege ich mich eigentlich auf? Es ist IKEA, und IKEA ist eben so. Ich kann mir übrigens durchaus vorstellen, dass der Laden in einem nicht wirklich geheimen Masterplan die Ikeaisierung der ganzen Welt vorantreibt, aber bislang – das zeigen die allerorten fehlenden Nischen und Winkelchen, die in der Ausstellung so charmant rüberkommen – ist die Sache ein wenig ins Stocken geraten. Wer hat schon in seiner Küche diese praktische kleine Ecke, in der man die Müll-Sammel-und-Sortier-Einheit WEGIST unauffällig unterbringen könnte?

Um uns herum finden sich bevorzugt junge Paare mit strahlenden Augen (aus Spaß merke ich mir immer ein Paar und beobachte, wie sich die Stimmung bis zur Kasse ändert, faszinierend) und gaaaanz viele Schwangere. Natürlich nur solche Schwangere, die permanent ihren Bauch streicheln, als müssten sie ihrer Leibesfrucht versichern, dass der ganze Stress gleich vorbei wäre –  die vielen Menschen, der Geruch nach in Soße ertrunkenen Mini-Frikadellen, dem Geschubbse und Gedrängel. Selbst schuld, meine ich. Müssen die denn, sicher alle schon im Mutterschutz, ausgerechnet an einem Samstag zu IKEA fahren, um die Wickelkommode und das total praktische, aufhängbare Set aus Miniwäschekorb und Wasserbehälter zu kaufen? Könnten sie sich nicht auch an einem Montagmorgen, wenn jeder normale, nicht schwangere Erwerbstätige seinem Tagwerk nachgeht, auf die Jagd nach einer stimmungsvollen Lampe für die Stillecke machen? Nein, ich habe nichts gegen Schwangere, das wäre ja noch schöner, immerhin gebären die Damen meine zukünftigen Kunden, und wenn es keine Kinder und die dazu gehörenden Kinderkrankheiten mehr gäbe, dann hätte ich ein kleines Problem. Nein, ich habe was gegen diesen Blick. Diesen Ich-bin-ja-sooo-glücklich-Blick, und besonders fies finde ich diesen Du-armes-nicht-schwangeres-Purzelchen-Augenaufschlag.  Der geht gar nicht.

Matthias weiß genau, was ich von solchen Situationen halte. Dafür kennen wir uns wirklich lange und gut genug. Deswegen drängt sich mir irgendwie der Verdacht auf, dass er diesen Ausflug genießt. Und die Schwangeren gleich mit dazu. Denn während ich abkürzen, also direkt in die Mitnahmeabteilung gehen und diese ganze schreckliche Ausstellung inklusive Kunden hinter mir lassen will, besteht er darauf, die komplette Runde zu machen, um sich »neue Ideen« für die Gestaltung unserer Wohnung zu holen. Aber sicher! Auf mich wirkt das vor allem so, als wenn er mich möglichst vielen Schwangeren aussetzen will. Zur Inspiration. Oder Provokation, von was auch immer. Welch hinterhältiger Plan! So hinterhältig, dass er mich – wäre ich nicht sein Opfer – fast schon wieder beeindruckt hätte.

Wir erreichen die Abteilung Kindermöbel. Der ultimative Treff- und Sammelpunkt für alle Eltern und Schwangere, die sich bis eben noch locker über tausende Quadratmeter Ausstellung verteilt haben. Also der ultimative Stresspunkt für Menschen, die sich gerade nicht vermehren oder dies in naher Zukunft planen. Immerhin ist das Ende nahe. Erst Kindermöbel, dann Restaurant, dann Kleinkram, dann Selbstbedienungshalle.

»Ist das nicht total niedlich?«

Ich kenne die Stimme, aber ich weigere mich, hinzusehen. Es gibt kaum etwas Unmännlicheres als Männer, die Dinge »total niedlich« finden. Ich will nicht den letzten Rest Respekt verlieren.

»Schau mal!«

Die Stimme kommt näher. Und vor meiner Nase landet ein »total niedlicher« Kuscheldrachen mit dem bezeichnenden Namen PUFFI. Innerlich sinke ich zusammen.

»Ja, sehr niedlich«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, denn ich sehe gerade, wie zwei schwangere Freundinnen zwei PUFFIS in Händen halten, damit über ihre riesigen Bäuche streichen, als wollten sie den Nachwuchs nach seiner Meinung fragen, und die PUFFIS dann, offensichtlich hat der Nachwuchs zugestimmt, in ihren riesigen gelben IKEA-Einkaufstaschen verschwinden lassen.

»Ich schenke ihn dir.«

»Ich will ihn nicht!«

Matthias starrt mich an, als hätte ich ihn ins Gesicht geschlagen. »Aber du liebst Drachen. Du musst ihn nehmen.«

Ich bin verwirrt. Spielt er auf meine Vorliebe für mittelalterliche Geschichten an, die ich alternativ zu den modernen Märchen mit den perfekten Männern lese? Von Drachen war da eher selten die Rede, warum wollte er mir also unbedingt diesen verdammten PUFFI …? In diesem Moment kann ich nicht umhin, ein wenig genauer hinzuschauen. Und da sehe ich ihn. Ach, du ...

Es sind natürlich die Damen mit den dicken Bäuchen, die sichtlich schneller schalten als ich, was PUFFI da im Maul hat. Das muss an den Hormonen liegen, die erhöhen einfach die Leitfähigkeit der Synapsen für derartige Informationen beim Anblick eines Ringes. Außerdem waren die eben auch nicht mit der Ablehnung eines Plüschtieres aus chinesischer Billigproduktion, Dioxin belastet, leicht entflammbar, und einem ausgeprägten Fluchttrieb in Richtung Selbstbedienungshalle beschäftigt, sondern sahen einfach nur folgendes Bild: Mann, kniend auf Boden, vor Frau. Sie hatten also nicht nur den hormonellen, sondern auch noch den perspektivischen Vorteil auf ihrer Seite.

»Oh, das ist ja so romantisch«, lässt sich die eine überlaut vernehmen.

Die andere ergänzt: »Wenn das meiner so gemacht hätte, ich wäre gestorben.«

Und das meint sie positiv. Dann dauert es nur noch Sekunden, bis eine Angestellte in einem blau-gelben Polohemd mit Tränen in den Augen zum Hörer greift (bestimmt auch schwanger, zwölfte Woche oder so) und – bevor ich ja oder nein sagen kann, bevor Matthias überhaupt die Gelegenheit hat, die alles entscheidende Frage zu stellen – der Lautsprecher über unseren Köpfen knackt: »IKEA gratuliert euch ganz herzlich zur Verlobung! Feiert diesen besonderen Tag in unserem Bistro mit GRAVAD LAX und einem Gläschen DRYCK LINGON! Und als kleines Geschenk bekommt das glückliche Paar noch einen Einkaufsgutschein in Höhe von fünfzig Euro! Lycka Till!«

Die Massen um uns herum reagieren euphorisiert. Strahlende IKEA-Klone (hat eigentlich irgendjemand mal untersucht, ob IKEA eine Sekte ist, und wie genau diese Free-Refill-Getränke zusammengesetzt sind?) geleiten uns zum bereits gedeckten Tisch mit Aussicht auf den zauberhaft überfüllten Parkplatz. Frage: Passiert hier so etwas öfter? Existiert eine Dienstanweisung, wie mit derartigen Ereignissen zu verfahren ist? Würde mich nicht wundern.

Matthias hat noch immer PUFFI in der Hand, PUFFI immer noch den Ring im Maul. Ein paar von denen, die am Samstag echt nichts Besseres zu tun haben, als in einem blau-gelben Kubus aus Stahl herumzuhängen – also Leute wie wir –, applaudieren sogar. Und ich bin allen irgendwie dankbar, denn so kann ich eine Antwort auf die nach wie vor nicht gestellte Frage noch ein wenig hinauszögern.

Da biegt auch schon der Store-Manager um die Ecke, schüttelt uns strahlend die Hände, nötigt uns und PUFFI, in eine offensichtlich jederzeit griffbereite Kamera zu grinsen, während er uns den Einkaufsgutschein überreicht, und dann haben wir endlich Ruhe. Oder was man halt hat, wenn man sich gerade öffentlich zum Horst gemacht hat. Matthias hatte sich das sicher anders vorgestellt. Der arme Kerl ist noch immer total überrumpelt.

»Mann, hab ich einen Hunger«, lasse ich meinen Beinaheverlobten wissen. »Der ist richtig gut, probier mal.«

Und bevor er etwas sagen kann, schiebe ich ihm ein Stück Toast mit GRAVAD LAX in den Mund. Endlich kann ich mein durch Flucht leider vor dem Eintreten der Sättigung erledigtes Frühstück doch noch zu einem befriedigenden Ende führen, so hat alles sein Gutes.

Die Heimfahrt verläuft eher anstrengend. Was zum einen daran liegt, dass ich natürlich darauf bestanden habe, den Schuhschrank zu kaufen. Ich mach doch nicht den ganzen Weg und fahre dann ohne Schrank nach Hause. Ich habe den höchsten ausgesucht, so dass das Paket vom hintersten Ende des Kofferraums bis zur Windschutzscheibe reicht und damit eine mehr als nur symbolische Trennung von Matthias und mir darstellt. Es redet sich einfach nicht gut, wenn der eine diesseits und der andere jenseits einer braunen Pappwand hockt. Außerdem habe ich, kaum haben wir den Beladevorgang beendet, meine »Ich-bin-Frau-und-stark-Songliste« meines MP3-Players gestartet. Und Matthias hat dank des Pappmonsters keine Chance, meine Musikwahl zu korrigieren. Und so fahren wir, Matthias, die Pappwand und ich, zu »Heavy Cross« und »I will survive« gen Heimat. Friedlich. Ohne weiteres Nachfragen bezüglich des Ringes, der noch immer im Maul des Viehs steckt. Dass sich dieser Zustand leider nicht beliebig lang ausdehnen lässt, bedauere ich schon während der Fahrt. Ich werde andere Methoden finden müssen, mich der drängenden, sicher demnächst gestellten Frage und der dann nicht minder drängenden Bitte um Antwort zu entziehen. Denn soweit bin ich bei der Analyse der Situation immerhin schon gekommen: Ich habe keinen Plan, ob ich Matthias heiraten will.

Der Wagen hält vor unserem Haus. Mit dem Drehen des Zündschlüssels verstummt die Beschallung.

Matthias, unnötig: »Wir sind da.«

Ich, ebenso unnötig: »Ja.«

Matthias: »Dann bauen wir den Schrank mal auf.«

Ich: »Oh, das tut mir total leid, ich kann nicht, ich hab Else versprochen ...« Eiliges Kramen in möglicherweise geleisteten Versprechen, die mich von hier wegbringen könnten. »… auf die Kinder aufzupassen. Sie und Torben müssen ...« Es wird kritisch. »... zur Paartherapie.«

Ich bin tot. Wenn Else das erfährt, bin ich tot. Und es wird ein langsamer, schmerzvoller Tod sein, wenn sie es Torben erzählt, und der sich an der Sache beteiligt. Das wäre dann mal eine ganz besondere Form der Paartherapie: Gemeinsames Töten von ehemaligen Freundinnen. Sicher sehr erfolgsversprechend.

Matthias überlegt einen Moment, dann nickt er. »Ich hatte eh das Gefühl, dass es bei den beiden schon ziemlich lange nicht mehr besonders läuft.«

»Ach, echt?« Ich bin überrascht, Matthias beobachtet das Paarleben von anderen Menschen und redet mit mir darüber? Mal sehen, welche Erkenntnisse er zu bieten hat. »Wie meinst du das?«

Matthias zögert. »Ach, nur so.«

Okay, zu früh gefreut. Hätte ja auch sein können, dass er wirklich was sagen will, über Torben und seine Nächte und Wochenenden in der Firma, über die Rollenverteilung in der Beziehung, über Kinder, über lange Ehen und deren fast schon Natur gegebenen Abnutzungserscheinungen, aber da habe ich ganz eindeutig zu hoch gesteckte Erwartungen. Immerhin, ich bin frei. Ich Babysitting, Matthias Schuhschrank.

Ich küsse ihn zum Abschied, nur kurz, aber lange genug, um ihm ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Und mich noch ein bisschen mieser zu fühlen. Dann steige ich in meinen Wagen, starte sofort und sehe im Rückspiegel, wie Matthias, der nun alleine das Vergnügen hat, sich dem Monsterkarton zu widmen, PUFFI im Kofferraum findet und mit dem Vieh winkt.

Ich beschleunige.

 

»Samstag bei IKEA zwischen den Kindermöbeln?!«

Else kann es nicht fassen. Ich weiß, dass Alkohol keine Lösung ist, aber ich muss zugeben, dass die Angelegenheit nach der ersten Flasche Winzersekt in meiner Erzählung schon deutlich lustiger rüberkommt. Jedenfalls, als Else ihr Glas erhebt, es an meines klirren lässt und dabei »Skål« sagt, geht es mir schon bedeutend besser. Aber die Frage, was nun zu tun ist, steht nach wie vor im Raum. Was, verdammt, soll ich tun? Selbst Matthias, nicht gerade der Handwerkerkönig, würde in absehbarer Zeit mit dem Aufbau des Schuhschranks fertig sein, und der Termin, den Else angeblich hat, nähert sich seinem gedachten Ende. Oder gibt es Marathontherapiesitzungen? Wohl eher nicht. Und dann? Was soll ich dann tun? Nach Hause gehen, Abendessen machen, Fernsehen, Schlafen. Das wäre ein Plan, aber irgendwie habe ich den dumpfen Verdacht, dass sich der nicht in die Tat umsetzen lässt.

Else geht die Sache – wie so viele Dinge in ihrem Leben – pragmatisch an.

»Er hat dir einen Antrag gemacht.«

Ich korrigiere: »Beinahe.«

»Darauf will er eine Antwort. Und das ist ja wohl verständlich. Also: Willst du ihn heiraten?« Else bleibt unbeirrt.

Mir fällt es – und das gibt mir zu denken – auch Else gegenüber nicht leicht, auf diese Frage eine Antwort zu finden. Will ich Matthias heiraten? Gegenfrage: Will ich die Beziehung zu Matthias beenden? Denn das wäre die logische Folge, wenn ich die erste Frage mit nein beantworte. Ich bin, ja, das meine ich ernst, verzweifelt. Und unsicher. Ananas hin oder her: Gegen ein Leben lang Ananassaft ist doch eigentlich nichts einzuwenden, oder? Oder?!

Else weiß nicht, was ich damit meine, obwohl ich ihr die Sache mit dem Ananas-Prinzip schon mindestens zehnmal erklärt habe. »Vergiss doch mal dieses komische Ding mit der Konservenbüchse, überhaupt sind diese Dosen total schädlich, ich würde die eh nicht kaufen an deiner Stelle.«

»Darum geht’s doch gar nicht. Was ich sagen will ...«

»Du als Apothekerin solltest doch eigentlich wissen, was da an Schwermetallen ...«

»Es ist nur eine Metapher.«

nicht