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Hans Habe

Palazzo

Roman

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2015 bei hey! publishing, München

Copyright der Print-Originalausgabe © 1989 by F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

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E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

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Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-025-9

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DIESMAL konnte es die Signora nicht ablehnen, Dorothy Ginsburg zu empfangen. Dario hatte sie darum gebeten; es sei wichtig für Venedig.

Sie beschloß, sich für den Besuch der Ginsburg schön zu machen. Für eine Weile tat es ihr leid, daß alle ihre Kleider schwarz waren, der Kleiderschrank ein schwarzer Safe. Obwohl sie früher gern bunte Kleider getragen hatte, so hatte es doch nichts mit Trauer zu tun, eher mit Stolz: Vincente hatte sie nicht vor Männern behütet, aber vor der Lächerlichkeit. Übrigens ähnelten sich die schwarzen Kleider durchaus nicht; Dario etwa bemerkt sogleich, wenn sie ein neues trug. Diesmal wählte sie das beste, eine pazzia, eine Verrücktheit, aus dem teuersten Geschäft der Merceria, diskret, doch mit venezianischen Spitzen reich besetzt. Der kärgliche Schmuck, den sie von Vincente bekommen hatte, war längst in die Pfandleihanstalt gewandert und von dort nicht mehr zurückgekehrt, nur die lange Perlenkette war echt; sie hielt es für keinen Leichtsinn, daß sie den einen oder anderen Ring in Kleider umgesetzt hatte.

Erst nachdem sie den Lippenstift ausgiebiger benützt hatte, als es ihre Art war, dachte sie an die Besucherin. Die Ginsburg war so alt wie sie, vielleicht älter. Man erzählte Wunderdinge von ihrer Vitalität: Sie reiste im Flugzeug zwischen Venedig und New York, eröffnete Ausstellungen, erschien beim Filmfestival. Es kümmerte die Signora nicht, ob junge Menschen sie für eine Greisin hielten, aber vor der Gleichaltrigen mochte sie nicht alt erscheinen. Nicht alt, doch sie selbst: Zwar wollte sie den Tee selber servieren, aber Romolo und Emilia hatten ihr bei den Vorbereitungen geholfen - Silber auf dem Servierwagen, Deckehen, Porzellan.

«Ich kann Ihnen keinen Cocktail anbieten», sagte die Signora. «Nehmen Sie Tee?»

«Gern», sagte die Ginsburg. «Etwas Milch, danke. Ich hasse Cocktails.»

Der Anblick der Ginsburg verblüffte die Signora, beruhigte sie auch. Dorothy Ginsburg trug ein rotes Sportkleid, in dem ein hochgeschlossener grüner Pullover steckte, dazu weiße Stiefel, die ihr bis an die Knie reichten. Über dem Rollkragen saß ein kleiner Bulldoggenkopf, die violettweißen Haare waren auf Männerart kurz geschnitten, von absichtlicher Unordnung. Die dunkle Brille, ein mit glitzernden Steinchen besetzter Schmetterling, dessen Flügel von der winzigen, aber fleischigen Nase getrennt wurden, verdeckte beinahe ihr halbes Gesicht. Man besiegt das Alter nicht, weil man sich weigert, vor ihm zu kapitulieren.

«Es ist seltsam, daß wir uns nie kennengelernt haben», sagte die Ginsburg in fast akzentfreiem Italienisch. «Ich bewundere Ihr Haus seit langem. Das ist er also, der berühmte; Tizian.»

«Ja.»

«Offenbar ein Spätwerk.»

«Er war neunzig, als er es malte.»

«Maler altern nicht. Es muß wohl an der glücklichen Kombination von geistiger und physischer Übung liegen. Übrigens ist es nicht sicher, daß Tizian wirklich hundert geworden ist. Mit zweiundachtzig gab er sich in einem Brief an den König für fünfundneunzig aus. Wir würden derlei nicht tun.»

«Ich wußte es nicht», sagte die Signora. Die Vertraulichkeit der Ginsburg berührte sie peinlich, auch hätte sie das Gespräch gern vom Tizian abgelenkt.

«Mädchen mit Blumenkorb», sagte die Ginsburg.

Sie sagte es mit Bewunderung, obwohl sie das Bild erstarrt und konventionell fand, Schönfärberei. Sie hatte das Gefühl, daß die alte Frau nicht von dem Tizian sprechen wollte. Die alte Frau! Vierundsiebzig hatte man ihr gesagt, aber es schien ihr, daß die Signora viel, viel älter war als sie, herausvergessen aus einer Zeit, an die sie selbst sich kaum noch erinnerte.

«Leben Sie allein in diesem großen Haus?» fragte die Ginsburg.

«Einer meiner Enkel ist gerade bei mir. Sonst ja, das ganze Jahr.»

«Haben Sie keine Angst?»

«Wovor?»

«Ich fürchte mich oft. Obwohl das Haus meistens voll ist», sagte die Ginsburg.

«Sie haben Kunstschätze.»

«Das haben Sie auch.»

«Meine sind nicht begehrt.»

«Der Tizian!»

Schon wieder der Tizian! Wollte die Ginsburg das Mädchen mit Blumenkorb kaufen? Das hätte sie Dario gesagt. Und was sollte die Ginsburg, die meinte, die Erschaffung der Welt habe in ihrem Geburtsjahr begonnen, mit einem Tizian anfangen?

Die Ginsburg wandte sich vom Tizian ab. Sie begann von dem Regen zu sprechen, der in der vorigen Woche erheblichen Schaden angerichtet hatte. Wovon sonst sollte man mit dieser Greisin sprechen, die vor zwanzig Jahren den Witwenschleier genommen hatte; die Betten beurteilte sie nach den Matratzen, ein Leben lang war sie nur ihresgleichen begegnet. Und nun dünkte sie sich vermutlich auch noch als Aristokratin, weil gegenüber dem Tizian das miserable Bild eines Santarato aus dem achtzehnten Jahrhundert an der Wand hing.

Die Ginsburg war neunzehn gewesen, als sie zum ersten Mal nach Venedig gekommen war. Sie hatte die Stadt gleich gehaßt, wie, bewußt oder unbewußt, Montesquieu, Henry James, Emerson sie gehaßt hatten. Dem Auge bot sie alles, nichts dem Gedanken, ein einziger Gefühlsausbruch, von keiner Vernunft gebändigt, Verführung zu Sentimentalität, zusammengepfercht war man mit Bewunderern, die bewunderten, was zu bewundern ihnen vorgeschrieben war – dieser Jahrmarkt, dieses Zwischendeck der Schönheit, diese Mischung aus Bude und Barock, dieser Karneval der Unredlichkeit, dieser heile Spiegel der krummen Welt, dieser kokette Tod, diese Fälschung noch in der Echtheit. Aber die Ginsburg hatte nie zu jenen gehört, die fliehen, was sie nicht erobern können. Man mußte aufräumen mit dem theatralischen Lagerhaus, wie ihre Freundin Mary McCarthy Venedig so treffend nannte, und als die neue Kunst aufkam, da beschloß sie, deren Fahnen auf die Zinnen der vergoldeten Illusionen zu pflanzen.

Je länger das small-talk dahinplätscherte, desto unsicherer wurde die Ginsburg. Die Signora konnte in keinem Wettstreit unterliegen, weil sie offenbar nie um die Wette stritt. Diese Vorhänge würden nie zerfallen, sie hatten dem Alter schon zu lange getrotzt; würden diese Tapeten noch mehr verblassen, dann würde man sie noch mehr bewundern, und würde in dem Kristalllüster statt jeder zweiten nur noch jede dritte Glühbirne brennen, dann wäre es wie bei Kerzenlicht und eine Gnade für die porösen Vorhänge und die verblaßten Tapeten.

Abrupt sagte die Ginsburg:

«Es handelt sich um eine Ausstellung, die wir im Anschluß an die Biennale planen. Venezianische Kunst in den Jahrhunderten. Dazu brauchen wir» - wer «wir» sei, erwähnte sie nicht - «Ihren Tizian.»

«Neben den Tizians der Accademia oder des Palazzo Ducale ist mein Tizian eine Stümperei.»

«Sagen Sie das nicht! überdies handelt es sich ausschließlich um Gemälde in Privatbesitz. Von Giorgione bis Max Ernst, weiter wollen wir nicht gehen. Es ist eine soziale Tat. Die jungen Leute, die nach Venedig kommen», fuhr die Ginsburg mit heiserer Stimme fort, «lernen nur Museen und Kirchen kennen. An den Palazzi gehen sie hungrig vorbei. Wir können ihnen nicht jeden Palazzo öffnen, aber wir können einige Schätze zusammentragen. Nur für vier Wochen, im September ...»

Die Signora verscheuchte den Zigarettenrauch mit einer unhöflichen Geste, die sie sogleich bedauerte. Warum hatte sie sich von Dario überreden lassen, die Ginsburg zu empfangen? Dario ahnte nichts von ihrem Entschluß: Entweder würden Paolo und Laura jetzt zustimmen, nachdem Claudia gesagt hatte, der Tizian sei nicht so wichtig - oder sie würde den Tizian ohne ihr Einwilligung verkaufen. Wenn man mit dem Verfall lebte, bemerkte man ihn kaum noch, wie die Falten im Gesicht der Freunde. Aber Romolo hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. «Vielleicht sollte man das eine oder andere aus dem Salon einen Stock höher tragen.» Exil himmelwärts. Sozial? Sozial war es, den Tizian zu verkaufen, damit die jungen Leute nicht über einen archäologischen Leichnam stolpern.

Die Ginsburg, im Umgang mit Menschen geübt, wußte, daß die Signora nein sagen würde. Etwas Seltsames, Stolzes, Stürmisches, schien es ihr, ging in der Seele ihrer Gegnerin vor.

«Ich könnte Sie belügen», sagte die Signora. «Eine Ausrede ist schnell gefunden. Oder ich könnte mich einfach weigern - ich bin Venezianerin, daher ungerechterweise gegen den Vorwurf gefeit, daß ich Venedig nicht mein Bestes gebe. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen.»

Ihre Worte waren, wie es oft geschah, ihrem Entschluß vorausgeeilt.

Sie war froh darüber. Die alte Frau mit der Schmetterlingsbrille und den weißen Stiefeln war einsamer als sie. Der Palazzo Santarato sollte ein Museum werden, der Palazzo Ginsburg war es schon. Der Katalog der kranken Palazzi wurde nicht an Straßenecken feilgeboten, ihr Besuch wurde nicht von Hotelportiers empfohlen. Die Ginsburg hatte mit den Malern geschlafen, und jetzt stand sie an deren Neongräbern Oder aus ihren Geliebten waren ihre Kinder geworden; es war nicht gut, mit den Kindern zu leben.

War es Mitleid oder Bösartigkeit, daß sie sich der Ginsburg eröffnete, oder wollte sie der Eroberin beweisen, was einer Eingeborenen ihr Palazzo bedeute? Sie sagte:

«Im September wird der Tizian nicht mehr hier sein. Mein Freund Ortelli darf es nicht erfahren. Ich muß den Tizian verkaufen, wenn ich den Palazzo retten will.»

«Soll der Tizian Venedig verlorengehen?»

«Ich hoffe, nein. Aber ich habe keine Wahl.» Sie lächelte.

«Die jungen Leute bemerken es nicht, wenn in einem Museum ein Rahmen leer ist. Aber ein Loch in der Häuserfront des Canal Grande würden sie bemerken. Oder ein neues Haus.»

«Neue Häuser werden alt», sagte die Ginsburg. «Ich könnte Ihnen jetzt anbieten, den Tizian zu kaufen. Aber es wäre geschmacklos. Schlimmer, es wäre eine Lüge. Denn ich finde den Tizian abscheulich.» Auch sie lächelte. «Wie übrigens die meisten meiner eigenen Bilder. Es wird spät.»

Sie stand auf. Der Tizian war mittelmäßig, aber er gefiel seiner Besitzerin; ihre eigenen Bilder waren nicht mittelmäßig, aber sie gefielen ihr nicht.

«Seien Sie sicher, Signora Santarato», sagte sie, «daß ich Ihr Vertrauen nicht mißbrauchen werde. Ich werde sagen, das Mädchen mit Blumenkorb eigne sich nicht für die Ausstellung.»

«Ich danke Ihnen», sagte die Signora.

Nachdem die Ginsburg gegangen war, trat sie ans Fenster. Das Motorboot verließ den Seitenkanal und überquerte den Canal Grande. Die rote Pelerine war in der Kabine verschwunden.

Sie hörte die Schritte Romolos und wandte sich um.

«Hat sie dir auch angeboten, den Palazzo zu kaufen?» fragte Romolo.

«Nein, nein», sagte die Signora.

DER RUF des Anselmo Mozetti war schon lange an die Ohren der Signora gedrungen; nun entschloß sie sich, ihn zu besuchen.

Die Fahrt mit dem Vaporetto war für sie immer ein Erlebnis gewesen. Seit Gondeln und Motorboote teuer geworden waren, benützten viele Fremde die schwimmende Straßenbahn, aber der Vaporetto war dennoch venezianisch geblieben: Arbeiter mit Schiffermützen, Hausfrauen mit Einkaufstaschen, Beamte, die sich in II Gazettino vertieften, Liebespaare, Studenten, Mönche, und niemand blickte auf, niemand bewunderte den wendigen Kapitän, der den Gondeln auswich, die geschickten Matrosen, die ihre Taue warfen, die vorbeiziehenden Palazzi waren Häuser, keine Museen.

Sie verließ den Vaporetto, wo der Canale di Cannaregio vom Canal Grande abzweigt, und schlug den wohlbekannten Weg ins Getto ein.

Obwohl dieJuden längst nicht mehr im Getto lebten und es kein Jude war, bei dem vorzusprechen sie sich anschickte, beschlich sie beim Anblick des Gettos das Unbehagen, das hier die meisten Venezianer befällt.

Die Venezianer, die so viel erfunden haben - die Staffelei und die Einkommenssteuer, die Geige und das Haarfärben, die Spielbank und die Bücherzensur, die Statistik und das Schönheitspflästerchen, die Theorie des Regenbogens und den Bau von Hochhäusern -, haben auch das Getto erfunden, Getto auf venezianisch Gießerei: Kanonen hatte man hier gegossen und Juden eingesperrt. Die waren schon in Venedig gewesen, als die Stadt gegründet wurde, Flüchtlinge unter Flüchtlingen, der Name des Inselviertels Giudecca kommt von Giudei, aber das bedeutet nicht viel, denn ansässig und heimisch ist nicht dasselbe. Als das sechzehnte Jahrhundert anbrach, verlangten die Franziskaner, man möge die Hebräer verbrennen, aber die Venezianer hatten für die Brutalität ihrer Behörden nie viel übrig gehabt: Sie isolierten die Juden, wie Bazillen. Sie verboten ihnen, neue Häuser zu bauen, und weil die Juden ein verschlagenes Volk sind, erfanden sie die Hochhäuser. Auch Juden, deren Väter und Großväter und Urgroßväter in Venedig geboren worden waren, brauchten eine Aufenthaltsgenehmigung - die war zwar keine venezianische Erfindung, ist aber bis heute ein probates Mittel geblieben, Menschen zweiter Ordnung zu legitimieren. Für die Erlaubnis, alle paar Jahre erneuert, mußten die Juden zahlen: Daß sie zahlen konnten, hat ihnen mit Recht den Ruf großer Geschäftstüchtigkeit eingetragen. Sie bezahlten für die Toleranz, leben zu dürfen, hinter brettervernagelten Fenstern, des Nachts abgeschlossen von der Umwelt und streng bewacht, zu ihrem eigenen Schutz, wohlgemerkt, und bezahlten dafür so teuer, daß die Inquisitoren 1735 melden mußten, die Juden seien geschröpft, nun könne man sie verbrennen, verdorrtes Laub. Abermals taten das die Venezianer nicht, denn insgeheim fühlten sie sich den Juden verwandt, als Ausgetriebene und Auserwählte und Überlebende. Allmählich nahm Venedig dieJ uden auf. Weil aber der Stolz, auf eine lange Ahnenreihe zurückzublicken, unabhängig davon ist, ob die Vorfahren Bewachte waren oder Wärter, Verfolgte oder Verfolger, Ausgetriebene oder Treiber - wer weiß, ob es nicht Rehväter gibt, die ihren Rehkindlein stolz erzählen, daß deren Großväter von den Großvätern der Jäger erschossen wurden? -, deshalb also leben von .den achthundert Juden Venedigs noch dreißig im Getto, etwas wenig freilich für fünf Synagogen und viele Erinnerungen.

Die Erinnerung hätte die Signora weniger belastet, wenn der nördlichste Teil der Stadt nicht immer noch der ärmste gewesen wäre: nackte Fassaden, armselige Wäsche, stinkende Brunnen, dunkle Winkel, verdurstete Bäume, huschende Skelette von Katzen, Kinder, die so elend sind, daß sie Judenkinder sein könnten. Und in einem schmalen Calle kam ihr einjunger Rabbiner entgegen, ohne den roten Hut, wie ihn seine Vorfahren tragen mußten, aber die rotblonden Haare über den Ohren gelockt, vergessen von den Jahrhunderten. Aus einer Bäckerei kam der Geruch des ungesäuerten Brotes.

Sie blieb auf der Brücke über dem Rio di Ghetto Nuovo stehen und betrachtete, Atem schöpfend, die mit Brettern vernagelten Fenster und die windschiefen Türen und die schamlosen Ziegel; das alles unterschied die Häuser kaum noch vom Palazzo Santarato, als hätte sich einjüdischer Fluch erfüllt, Venedig hatte sich in ein Getto verwandelt.

Wolkenlos spannte sich der Himmel über den Dächern, plötzlich war es beinahe hochsommerlich heiß geworden. Die Signora trocknete sich die Stirn mit dem Spitzentuch. Der Wind vom Meer hatte die Wolken ins Land getrieben. Aber noch sah man, was die Regengüsse, früh in diesem Jahr, angerichtet hatten: Fast bis zu den Stufen der Brücke stand das Wasser, es spülte die unteren Fenster der Häuser; unter einem Torbogen stand eine Frau und scheffelte das Wasser mit einem Eimer aus dem Zimmer in den Kanal.

In den Regentagen war der Gedanke der Signora, Anselmo Mozetti zu besuchen, zum Entschluß gereift. Luigi Primavesi hatte angerufen;ja, man werde die Pfeiler herrichten, doch müsse sie sich gedulden, das Wetter habe ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, seine Arbeiter seien angefordert, Not am Mann. Und mit Dario hatte sie gesprochen; ja, er sei auf ihr Drängen im Bürgermeisteramt nochmals vorstellig geworden, der sindaco sei willens, sie zu empfangen, doch habe er, des Unwetters wegen, alle Hände voll zu tun, dringend, dringender, am dringendsten, vielleicht in der nächsten Woche oder der übernächsten. Schließlich der Anruf Paolos. «Gut, deine Stimme zu hören» - sechs Wochen lang hatte er sich dieses Vergnügens beraubt. Der Brief, den sie ihm geschrieben habe, auch in Claudias Namen - «was weiß denn Claudia!» -;sehr wohl verstünde er ihre Emotionen, aber Emotionen seien es eben, der Palazzo habe vier Jahrhunderte überlebt, er werde auch das zwanzigste überleben - «warum hast du nur Mr. Wilcox die Tür gewiesen?» -; jedenfalls sei das alles nicht so dringend, «übrigens werden wir dich in diesem Sommer sicher besuchen, da läßt es sich besprechen - wie ist das Wetter?» - «Es regnet», hatte sie gesagt.

Niemand hatte es eilig, morgen war auch ein Tag, Primavesi nicht und der sindaco nicht und nicht Paolo. Dario! Auch Dario hatte sie nichts von ihrem Vorhaben erzählt - um ihn nicht zu belasten, belog sie sich, in Wahrheit aus Angst vor seinem starren Anstand.

Sie hatte den Campo Ghetto Nuovo erreicht und blieb stehen.

Der «Fall Mozetti» hatte vor einigen Jahren die Zeitungen wochenlang beschäftigt; vor etwa einem Jahr, als Mozetti aus dem Gefängnis entlassen wurde, war er wieder aufgeflammt. Der junge venezianische Maler, ein Genie, das gab man zu, hatte van Dycks, Gainsboroughs, Tiepolos, Goyas, aber auch Manets, Degas' und Cézannes auf den Markt geworfen, die, falsch allesamt, von den Experten, blamiert allesamt, als unbekannte Werke der Meister erkannt und anerkannt worden waren, bis die Häufung der Funde Verdacht erregte und die Komödie als Tragödie endete. Gleichwohl fiel das Urteil der venezianischen Richter milder aus, als man erwartet hatte: Zwar hatte der Fälscher als van Dyck oder Degas ausgegeben, was doch nur ein schlichter Mozetti war, aber er hatte die Bilder nicht kopiert, Porträts und Landschaften und Stilleben waren seine eigenen, nur im Stil der Großen waren sie gehalten und, leider, auch mit ihren Signaturen versehen.

Ein Bäckerjunge in schmutzigem Weiß wies sie nach dem Atelier Mozetti, das sich, anders als sie es erwartet hatte, nicht im obersten Stock eines Hauses, sondern im Erdgeschoß des Gebäudes auf dem Campo Ghetto Nuovo befand, und hier wiederum ins Dunkel der Arkaden zurückfiel.

Sie blickte ungläubig durch das beschlagene Fenster, ein Schaufenster vielmehr - eine ehemalige Glasbläserei, wie die verwaschene Aufschrift verriet. Sie erschrak. Im niedrigen Raum, so gut wie leer, stand ein dürrer, hochgewachsener Mann vor einer Staffelei, glatzköpfig, mit einem Spitzbart, jung, aber früh gealtert, eine Karnevalsfigur, wenn nicht ein Gespenst. Denn dieser Mann trug ein wallendes schwarzes Gewand aus schäbigem Samt, unerträglich warm für die Jahreszeit, mit einem roten Fuchskragen verbrämt, dazu eine schneeweiße Halskrause, Seidenstrümpfe und Spangenschuhe: jeder Zoll ein Grande des siebzehnten Jahrhunderts. Ob sich der Mann wohl auf so seltsame Art verkleidet hatte, um sich selbst Modell zu stehen? -doch war im ganzen Zimmer kein Spiegel zu entdecken, und auch auf der Staffelei, dem Fenster zugewandt, war nicht sein Ebenbild zu finden, dort begann sich ein hellblauer Christus abzuzeichnen.

Sollte sie umkehren? Mit jedem Schritt im Getto war sie unsicherer geworden, und nun beschlich sie die feige Freude ob der Unmöglichkeit ihres Unterfangens.

René Naville hatte sie abermals besucht. Unerhört hoch war der Betrag, den er für den Tizian bot: Nichts als eine kleine Unkorrektheit trennte sie von der Rettung des Palazzo. Absolute Diskretion, parole d'honneur, hatte Naville ihr zugesichert, der Kunde sei ein Privatmann, ein «Tizian-Narr», in seinem Privathaus, von niemand bemerkt, würde sich der Sonderling mit dem Mädchen mit Blumenkorb ganz allein unterhalten. «Ein einzigartiger Glücksfall, Signora, die Gelegenheit kehrt nicht wieder.» In ihrem Leben gewiß nicht. Die Konsequenzen? In schlaflosen Nächten hatte sie Schlagzeilen gesehen: «Ein zweiter Fall Mozetti», «Im Greisenalter auf Abwege geraten», «Ein unerhörter Betrug», aber das waren Alpträume - wie sollte der Betrug entdeckt werden? Und war es Betrug? Naville und sein Narr sollten den echten Tizian bekommen, nur im Salon, ihrem eigenen, würde der falsche stehen, ein gütiger Tizian, den sie lieben konnte. Woher das Geld? würde man sie fragen. Ein Kredit der Stadt oder der UNESCO, ein amerikanischer Liebhaber: Dario der einzige, der die Fälschung entdecken könnte, aber unwahrscheinlich auch das ohne lupenreine Prüfung, besonders bei einer Arbeit Mozettis - und Dario würde sie nicht verraten. Es gab viele, die das Gute wollten, man mußte nur aus Verbündeten Komplizen machen. Nicht die Feinde waren das wahre Unglück, die zaghaften Komplizen waren es. Die sahen und nickten und jammerten und sahen und klagten und fluchten und sahen und taten nichts. Sie waren gütig vor dem Bösen und wehrlos vor den Gewehren und geduldig vor der Ungeduld und stumm vor den Reden und redlich vor dem Betrug. Bis die Sintflut sie verschlang. Aber sie, die Signora Anna-Maria Santarato, würde nicht gütig sein und nicht wehrlos und nicht geduldig und nicht stumm und auch nicht redlich.

Ein paar Gassenjungen hatten sich um sie versammelt, angezogen eher von dem Anblick der wohlgekleideten Dame als des malenden Gespenstes, an das sie sich gewöhnt hatten. Sie betrat das Lokal.

«Ich bin Signora Santarato», sagte sie. «Haben Sie meinen Brief bekommen?»

«Ja, ja», sagte der Mann zerstreut und betrachtete seine Arbeit.

«Haben Sie ein Glas Wasser?» fragte die Signora.

«Bier», sagte er und spülte, weil er ihren mißbilligenden Blick bemerkt hatte, ein Glas mit Bier aus.

Wohl oder übel mußte sie das Nitroglyzerin, das sie in einer kleinen Pillenschachtel bei sich trug, mit einem Schluck warmen Bieres zu sich nehmen. Da sie sich beharrlich weigerte, die Schwäche des Herzens mit seelischer Erregung zu erklären, gab sie der langen Vaporettofahrt, dem Fußmarsch, der plötzlichen Hitze die Schuld an ihrem drohenden Anfall.

«Was wollen Sie von mir?» fragte der spanische Grande.

«Ich besitze einen Tizian. Mädchen mit Blumenkorb. Ich möchte, daß sie ihn kopieren.»

«Ich kopiere nichts.»

Sie hatte jedes Wort ihrer Rede geprobt. Es handle sich um einen freundlichen Dienst, den er einer alten Frau erweisen könne. Ihr Sohn habe einen einzigen Wunsch, den Tizian möchte er besitzen, doch könne sie sich von dem liebgewonnenen Anblick nicht trennen, «man lebt mit einem Bild, Sie wissen es». Zu dem Geburtstag ihres Sohnes müsse das Bild fertig sein, eine Überraschung, niemand dürfe es erfahren.

Sie hatte die unglaubwürdige Geschichte absichtlich ohne Überzeugung vorgetragen. Mozetti kniff die Augen zusammen, sei es, daß er zweifelte, sei es, daß er das Bild maß, an dem zu arbeiten er nicht aufgehört hatte.

«Unsinn», sagte er endlich.

Sie hatte sich auf einem niedrigen Dreifuß niedergelassen und gestand nun zerknirscht, daß es sich hier zwar um keinen Unsinn, aber doch um ein anderes handle: Ihre eifersüchtigen Töchter widersetzten sich der Schenkung, «ich habe nichts dagegen, daß sie die Kopie für das Original halten».

Die Spekulation, daß dem Schwindler ein so ungefährlicher Schwindel gefallen könnte, erwies sich als richtig, jedenfalls zeigte sich Mozetti nicht mehr ganz abgeneigt. Er sagte:

«Ihre Töchter werden entdecken, daß es zwei gleiche Tizians gibt.»

«Mein Sohn lebt in Mailand, er verkehrt nicht mit seinen Geschwistern.»

«Es ist schwer, Tizian zu werden, wenn man El Greco ist», sagte er.

«Ich verstehe nicht ...»

Er versuchte, durch den weiten Ärmel behindert, seine Pinsel zu waschen. Er strich sich über das unmäßig lange, durch den Spitzbart verlängerte Kinn. «Ich habe es den Richtern erklärt, die haben es auch nicht verstanden. Ich bin Velázquez und Tintoretto und Rembrandt. Ich muß nur so machen» - er schnalzte mit Daumen und Mittelfinger -, «Und ihre Seele schlüpft in meine. Momentan bin ich Domenikos Theotokopoulos, genannt El Greco. Ich lebe um das Jahr sechzehnhundert, das heißt genau sechzehnhundertundzwei. Wann ist ihr Tizian entstanden?»

«Man sagt, etwa fünfzehnhundertundsiebzig. »

«Ich müßte mich zurückentwickeln. El Greco soll bei Tizian gelernt haben, aber er hat zum Glück alles vergessen ...»

«Sie brauchen nur so zu machen››, sagte die Signora. Es amüsierte sie, weil ihr das Schnippchen mit Daumen und Mittelfinger so gut gelang.

«Kann sein. Kann auch nicht sein. Ich habe noch nie einen Maler kopiert. Ich bin größer als alle. Meine Fälschungen! Ich male nicht, wie sie gemalt haben, sondern wie sie hätten malen sollen.»

«Sie beherrschen aber auch das Handwerk!»

«Wenn ich Lust habe.» Er blickte auf sie hinab «Sie machen mir Spaß. Aber es könnte passieren, daß die Kopie besser wird als das Original. Wie groß ist Ihr Blumenmädchen?»

Sie zeigte den Umfang des Bildes.

«Wieviel wollen Sie zahlen?»

«Was verlangen Sie?»

Er nannte eine Summe, die, nicht unbescheiden, immer noch ihre Ersparnisse verschlingen würde.

Sie beeilte sich, zuzustimmen.

Er entfernte sich ins Nebenzimmer. Durch die offene Tür blickte sie in einen halbdunklen Raum, der einer Theatergarderobe glich: Kostüme aus vergangenen Jahrhunderten, italienische und spanische und flämische, Samt und Seide, Gewänder, Kniehosen, Pumpärmel, Gehrock, Zylinder, Turbane, Strohhüte.

«Es ist kein Tizian dabei», sagte er zurückkehrend. «Die Kleidung geht auf Ihre Kosten.»

«Selbstverständlich. Wie lange brauchen Sie?»

«Weiß ich nicht. Drei, vier Wochen.»

Ein paar Jungen hatten sich draußen versammelt und drückten sich die Nasen an der Glasscheibe platt. Man hörte ihr Lachen.

«Allerdings müßten Sie bei mir malen», sagte die Signora.

«Das Bild kann das Haus keine Stunde lang verlassen. Und wir müssen uns über Ihre Arbeitszeiten einigen. Meine Töchter kommen oft zu Besuch, auch mein Enkel wohnt jetzt bei mir.»

«Das ist mir zu unbequem.»

«Sie können sich bei mir umziehen. Ich habe ein helles Zimmer im Dachgeschoß. Es muß eine richtige Verschwörung sein, zwischen uns beiden. Vergessen Sie nicht: Wenn Sie bei mir malen, trage ich allein die Verantwortung.»

Er ging zum Fenster, beugte sich nieder, streckte die Zunge heraus. Die Jungen liefen davon.

«Am besten rufen Sie mich morgen an», sagte sie schnell.

«Ich habe an eine Anzahlung gedacht.»

Sie entnahm ihrem Täschchen einige Geldscheine und legte sie, weil der Maler die Hand nicht danach ausstreckte, auf die Staffelei.

«Der größte El Greco›, sagte er, auf das Bild weisend.

«Aber ich werde ihn, diesen Idioten zuliebe, diesmal mit Mozetti zeichnen.»

Sie reichte ihm ihre Karte. Er lachte, wobei zwei Reihen ungewöhnlich großer, ungewöhnlich gelber Zähne sichtbar wurden.

«Ich glaube Ihnen kein Wort», sagte er. «Sie sind eine ganz hinterlistige alte Person.»

Dann überquerte sie mit schnellen Schritten den Campo Ghetto Nuovo. Sie würde wahrscheinlich lange auf den Vaporetto warten müssen. Aber die Beklemmung war gewichen, sie fand die Hitze nicht mehr drückend. Mozetti war ein Narr. Es kam darauf an, Narren zu finden.

Die Häuser zu beiden Seiten der Brücke hatten keine Ähnlichkeit mit dem Palazzo.

DIE ELEKTRISCHE Uhr auf dem Excelsior-Strand am Lido zeigte halb zwölf. Es regte sich kein Hauch. Es würde sich nicht lohnen, eines der kleinen Segelboote zu mieten, für das Mittagessen war es zu früh. Romolo pflegte seine belegten Brote mitzubringen und in der Kammer hinter der Portierloge aufzubewahren. Zwischen ihm und einem der Portiers bestand ein geheimes Einverständnis, das die Signora vermittelt hatte: Er durfte sich in der Kammer umziehen und seine Sandwiches abholen. Die Signora wünschte nicht, daß er am Volksstrand bade oder sich von dort, wie viele blinde Passagiere, durch das seichte Wasser watend auf den Excelsior-Strand schleiche.

Er hatte eine Zeitlang Muscheln gesammelt und hatte sie getrocknet und hatte sie auf den Sitz eines Bootes gelegt und hatte sie vergessen. Aber nun fielen sie ihm wieder ein, und dabei fühlte er sich elend. Es machte ihm keinen Spaß mehr, Muscheln zu suchen; er hatte es getan, wie man Gesten der Kindheit wiederholt, aus Gewohnheit, aus Erinnerung, um sich an etwas festzuhalten, was doch keinen Halt bietet.

Auch in Mailand war er viel allein, und im letzten Jahr, ganz plötzlich, hatte er begonnen, darunter zu leiden. Er hatte Kameraden, aber keine Freunde. Er nahm an allem teil, was sie taten, aber es hätte ihm nicht gefehlt, wenn er es nicht getan hätte. Seine Kameraden hörten sich stundenlang Schallplatten an, aber er verstand nicht, daß man zufrieden sein konnte, weil das Ohr zufrieden war. Die meisten von ihnen lagen im Krieg mit ihren Eltern. Einige sagten, man müsse die Welt der Eltern stürzen. Romolo verachtete seine Eltern, seinen Vater mit etwas Zärtlichkeit, seine Mutter zuweilen etwas grimmig, aber er glaubte nicht, alle Eltern seien wie seine. Wenn seine Kameraden sagten, die Gesellschaft sei ungerecht, dann wollte er wissen, was sie sich darunter vorstellten. Remus war um zehn Jahre älter als er, aber er erschien ihm wie jemand, der mit fünfundzwanzig immer noch Muscheln sucht. Er schrieb Gedichte, die er gleich wieder vernichtete, und las Gerichtssaalberichte, wobei er sich stets in die Rolle des Verteidigers versetzte. Was er werden, welchen Beruf er ergreifen wollte, wußte er nicht, aber er zerbrach sich darüber den Kopf, als stünde die Entscheidung unmittelbar bevor. Wenn er von vergangenen Zeiten las, fühlte er sich fremd in seiner eigenen Zeit; er schlüpfte in die Seele von Rittern und Liebhabern und Forschern und Priestern und Abenteurern, und er fand nur schwer zurück in die Gegenwart, als führte eine Brücke vom Heute ins Gestern und keine vom Gestern ins Heute.

Er setzte sich in den Sand vor eine der leeren Kabinen und schloß die Augen.

Die Hitze und der Anblick der fast nackten Mädchen hatten seine Sinne erregt. Etwa die Hälfte seiner Schulklasse hatte mit Mädchen geschlafen, und den Kameraden nachzueifern, hatte er sich vorgenommen, im nächsten Schuljahr, vielleicht schon in diesem Sommer. Wenn er sich selber befriedigte, hatte er kein schlechtes Gewissen: Es waren viele Frauen und Mädchen, mit denen er schlief, junge und ältere, blonde, dunkle, rothaarige, mit Anna Karenina schlief er und mit einer Tänzerin, die er auf einem Plakat gesehen hatte. Aber obgleich er sich jede Situation vorstellen konnte, versagte seine Phantasie, wenn es um ein weibliches Wesen ging, das er eine Stunde zuvor leibhaftig gesehen hatte. Zu den Unbekannten seiner Phantasie gelangte er auf einem Umweg - zufällige Begegnung in einem Eisenbahncoupe, eine Frau, die von ihrem ungeliebten Mann zu ihm floh, Küsse nach einem Spaziergang im Wald, ein Mädchen, das weinend vor einer Diskothek stand, und dann streckte er den Arm aus und streichelte die Haare des Mädchens und beobachtete es im Schlaf. «Wann hast du sie kennengelernt?» fragte er Remus, der von seinen Liebschaften erzählte; «zwei Stunden zuvor», sagte Remus, und Romolo beschloß, auf eine Begegnung im Eisenbahncoupe zu warten oder einem Mann seine Frau zu entführen, wie der Graf Wronsky.

Der Sand war noch naß, von bräunlich-lehmiger Farbe. Romolo, der in diesem Jahr bisher keine Bekanntschaften gemacht hatte, erhob sich, um das Hotel zu inspizieren.

Das Hotel Excelsior, mit dem Motorboot von Venedig in zehn Minuten zu erreichen, erhebt sich unmittelbar hinter dem Strand - eine monströse maurische Imitation, halb Harem, halb Fabrik. Auf der Straßenhöhe Marmorhalle mit Springbrunnen, Friseurladen, Schaufenster, Speise- und Gesellschaftsräume, golden-pompös, aber die Möbel neu und die Korbstühle von hypermodernen Formen: Die Geschmacklosigkeit der Jahrhundertwende und die Geschmacklosigkeit der siebziger Jahre nicken sich freundlich zu.

Die Halle war beinahe leer, und in der Bar, Lederkissen auf dem Fußboden, schon ganz Gegenwart, schienen sich die Kellner zu langweilen. Romolo kehrte um und betrat wieder die Freitreppe, die, aus dem Zeitalter des Schreitens übriggeblieben, aus dem Hotel und dem neunzehnten Jahrhundert auf den Strand führt.

Auf einer der oberen Stufen blieb er stehen und blickte über die Plage hinweg. Warum trugen seine Altersgenossen ihre Langweile so trotzig zur Schau? Er fühlte sich auf dem Excelsior-Strand zuhause. Gestern und Heute gaben sich hier ein mildes Rendezvous. Der viele Kilometer lange, gut einen Kilometer breite Sandstrand sah jeden Morgen aus, als hätte man ihn mit einem Staubsauger reingefegt: Spaziergänger, Ballspieler, die Kinder bauten Burgen, aber niemand lag im Sand, in der Sonnenschirmzeit war das nicht üblich gewesen, unsichtbar tänzelten die Sonnenschirme noch immer über den Lido. Rechts und links von der Freitreppe die endlosen Kolonnen der Cabine mit ihren Schutzblahen, Zelten gleich, gestreift in verschiedenen Farben, scheinbar von gleicher Beschaffenheit, und auch wieder nicht, denn vornehm nur die erste Reihe, und am vornehmsten jene Kabinen, die sich in der Mitte befanden. Davor Ruhebetten, welche die Bademeister, gestreift wie die Zelte, mit Laken bedeckten: die Liegestätten der Stammgäste an ihrer eigenen Wäsche, gleichsam in Familienfarben, sogleich zu erkennen. Von gestern noch die life-guards mit ihren Strohhüten; in roten Booten saßen sie da auf dem Trockenen und verkauften, weil doch niemand zu ertrinken drohte, Korallenstücke und Muscheln und Seesterne und Seepferdchen; von gestern die wandernden Obstverkäufer, «frutti, frutti!», und von gestern die alten Amerikanerinnen, die schon zu Beginn der Saison da waren, als hätten sie, am Strand mumifiziert, in ihren Strandsesseln überwintert. Romolo kannte das alles, wußte auch, daß es bald anders werden würde, spätestens in den ersten Tagen: der Film-Biennale: Dann würden Regisseure, Kameraleute, Reporter den Strand überfluten, prallnackte Filmsternchen würden sich in das Feld der Kameras hippen und viel Natürliches auf unnatürliche Art darbieten.

Er irrte noch eine Weile herum, ehe er sich entschloß, über den sich weit ins Meer hinausstreckenden Steg auf das Rondeau hinauszugehen, wo sich die jüngeren Badegäste zu versammeln pflegten. Dort lagen heute nur ein paarjunge Leute auf dem Rücken oder bewunderten eine Jacht, die gerade angelegt hatte.

Beat-Musik, die aus einem Transistorradio erscholl, zog Romolo an; er ließ sich, die Beine gekreuzt, neben einem Mädchen nieder, das sich auf seinen langen, honigblonden Haaren gebettet hatte. Die Musik des Transistorgerätes verstrickte sich bald zu einem Wirrwarr von Lauten. Das Mädchen tastete, ohne aufzublicken, nach dem Apparat. Romolo, von seiner eigenen Kühnheit überrascht, drehte an der Scheibe und befreite die Musik von den Nebengeräuschen. Das Mädchen sagte «thank you», bewegte sich aber auch jetzt nicht. Ohne die geringste Neugierde am Helfer zu verraten, fragte es, ob er Englisch verstünde. Er sagte, er sei Italiener, spreche aber Englisch, passabel. Engländerin oder Amerikanerin? Engländerin. Zum ersten Mal in Venedig? Ja, und ein «terrible nuisance», Vormittag Sonne, Nachmittag Kirchen, am Abend Musik für Greise. Ob sie nicht schwimmen wolle? Nein. Er wolle sich abkühlen. «Go ahead!» Er war schon mit sieben ein ausgezeichneter Schwimmer gewesen, und vollführte nun, tief Atem holend und die Brust vollsaugend, einen Kopfsprung, blieb lange unter Wasser und schwamm schnell kraulend wieder an die Leiter. Das Mädchen hatte sich inzwischen, seinen Bikini öffnend, auf den Bauch gelegt, aber es hatte immer noch nicht aufgeblickt. Er fragte, wie sie heiße. «Barbara.» Er stellte sich vor. Daß er seinen Familiennamen nannte, schien das Mädchen zu überraschen; endlich hob es den Kopf, aber er war nicht sicher, daß es ihn ansah. Sie nahm ihr Radio, und sie gingen auf den Strand zu. Die Muscheln hatten einen silbernen Teppich über den Sand gebreitet. Er machte sie darauf aufmerksam.

«Wie alt sind Sie?» fragte sie.

«Ich werde fünfzehn.»

«Ach so. Ich werde sechzehn.» Sie blickte auf den Strand hinunter. «Das Wasser ist schmutzig.»

«Öl von den Schiffen.»

«Schauen Sie», sagte sie, und hob einen Fuß hoch, um zu zeigen, daß ihre Sohle voll klebrigen Teers war.

«Das werden wir gleich haben.»

Sie verstand, was er wollte, und setzte sich an den Rand des Steges. Er nahm einen vom Wasser blankgewaschenen Stein, kniete nieder und begann schnell, den Teer von ihrer Sohle zu entfernen.

«Jetzt der zweite», sagte er.

Das hielt sie für überflüssig. Sie erhob sich, ohne zu danken. «Ich muß etwas trinken.»

Die offene Bar, zwischen Kabinen und Strandrestaurant, gehörte der Jugend. Mit herabhängenden Beinen saß man an der Theke, die Mädchen schienen ganz mit ihren Haaren und ihren Büstenhaltern beschäftigt zu sein, einige Jungen und Mädchen Haut an Haut, zwischen den Tischen flogen die lauten Scherze. Es war jetzt die Stunde des Mittagessens, die Hotelgäste schlenderten durch die Bar oder zogen an ihr vorbei, die meisten ihre Blößen farbenprächtig bedeckend, zu dick, zu mager, jedenfalls zu alt für so viel unbarmherzige Sonne. Sie schämten sich ihres Fettes oder ihrer Falten oder ihrer Farben oder der Schamlosigkeit der Jungen. Romolo nestelte an seiner zu kurzen Hose.

«Was soll es heute sein, Miss Barbara?» fragte der junge Barmann.

«Prairie-Oyster», sagte sie, und sah dem Kellner tief in die Augen.

«Coca-Cola», sagte Romolo, und war sicher, etwas falsch gemacht zu haben.

Er entschuldigte sich, weil er sich erinnert hatte, daß sein Geld in der Hose steckte, die er in der Portierkammer zurückgelassen hatte. Sie nickte, als hätte sie ihn kaum gehört.

Als er beinahe laufend zurückkehrte, war Barbara von jungen Leuten umringt. Einer, mit langen gekräuselten Haaren und einer goldgefaßten Brille, saß an der Bar und musterte die anderen wie jemand, der sich wundert, wie dumm die doch sind; ein Junge balancierte ein Coca-Cola auf dem Ellbogen; ein Mädchen lehnte sich so geschickt über die Theke, daß entweder das linke oder das rechte Band seines Büstenhalters über den Arm hinunterglitt. Romolo empfand plötzlich Sehnsucht nach seinem Bruder, dem diese Jungen so unterlegen waren wie sie ihm überlegen schienen.

Ein Oberkellner im eigelben Jackett kam aus dem Speisesaal und sagte, Mr. und Mrs. Donovan erwarteten Miss Barbara. Romolo war froh, daß sie Eltern hatte.

Sie sagte: «Wir gehen am Abend mit einer ganzen Clique nach Venedig. Kommen Sie mit?»

Erst als sie erklärte, man werde sich um neun bei Quadri treffen, wurde er sich des Leichtsinns seiner Zusage bewußt.

Er kehrte früher als sonst nach Venedig zurück. Auf dem Weg von der Station überlegte er sich allerlei, um die Zustimmung seiner Großmutter zu gewinnen. Von Zeit zu Zeit gestattete es ihm die Signora, ein Theater, ein Konzert oder ein Kino zu besuchen, und im Kino auf der Salizzada San Moise entdeckte er, daß dort ein amerikanischer Film gezeigt wurde, den er in Mailand gesehen hatte und dessen Inhalt er ohne weiteres würde wiedergeben können. Die Lüge wurde ihm nicht leicht, aber auch nicht so schwer, wie er gedacht hatte; er wollte unbedingt erfahren, wer das Mädchen war, und vielleicht würde es ihn frag wer er war.

Zwar kannte die «Clique» - zwei Amerikaner, ein Deutscher, eine Französin, zwei Amerikanerinnen, zwischen siebzehn und neunzehn - alle Cafés und die einzige nennenswerte Diskothek, aber nur er war Italiener, er kannte Venedig wie seine Tasche. Er ging mit Barbara immer voran, und als er ihr - sie überquerten den Markusplatz und schlugen die Richtung der Seufzerbrücke ein - erklärte, daß das hier früher ein Markt - und Rummelplatz gewesen sei, wo Hexen und Quacksalber jegliche Krankheit und sogar Liebeskummer kurierten, Nasenbluten stillten und Mittel gegen den bösen Blick feilboten, ein Nashorn ausgestellt wurde und Stierkämpfe stattfanden, sagte sie, er sei ein «großartiger Führer» und reichte ihm die Hand. In der Diskothek warf sie sich gleich darauf zu den Klängen der Schallplattenmusik hin und her in blasierter Verzückung und ohne zu bemerken, daß er ein besserer Fremdenführer als Tanzpartner war. Bemerkte sie überhaupt seine Anwesenheit, würde sie ihn morgen erkennen? Zu seiner Beruhigung tranken alle Coca - Cola, zu seiner Beunruhigung trank sie allein gin tonic - «viel Gin bitte, wenig Tonic» -; zu seiner Beruhigung rauchte sie nicht, zu seiner Beunruhigung fragte sie ihn, ob er es einmal mit Marihuana versucht habe.

In die Angst, daß sie ihm schon morgen entgleiten würde, mischte sich jetzt die Angst um sie, die sich noch steigerte, als sie von ihrer «Clique» in London erzählte - «Ich komme nie ins Bett»; «Und deine Eltern?»; «Ach was, die haben doch keine Ahnung» -, aber sie erzählte nur ihm, nun waren es die anderen, die sie nicht sah. Er kam sich vor wie jener herumstreichende Schnellzeichner in dem Sommerrestaurant, das er mit seinen Eltern besucht hatte; der durfte ihn porträtieren, aber jedesmal, wenn er einige Striche gezogen hatte, riß er das Blatt von seinem Zeichenblock, knüllte es zusammen, warf es weg, wahrscheinlich glich keine Zeichnung der anderen und keine dem Modell. Mit dem Mädchen, vorhin, auf der Piazza San Marco, wäre er Hand in Hand weitergegangen, durch alle engen Straßen, über alle Brücken, und dann hätte er es in eine Gondel gehoben, und vor dem Palazzo wären sie ausgestiegen und eng aneinander geschmiegt hinaufgegangen in sein Zimmer, aber das Mädchen, das so geistesabwesend tanzte und von der Clique sprach und von Marihuana, war nicht das Mädchen in der Gondel, man konnte die Zeichnung nur zusammenknüllen und neu beginnen. Als er schüchtern seinen Arm um ihre Hüften legte, schmiegte sie sich so eng an ihn, daß ihre Haare sein Ohr umspielten, und als er ihre Haare zurückstrich, blies sie ihm ihren Atem lachend ins Ohr; dann aber, als er vom Palazzo erzählte, hörte sie mit weit aufgerissenen Augen zu und sagte, Venedig sei.kein terrible nuisance mehr, und fragte, ob seine Großmutter wohl sehr entsetzt wäre, wenn sie eines Tages vor der Tür stünde.

Die anderen sagten, man müsse sich beeilen, um das letzte Motorboot vom Danieli zum Excelsior nicht zu versäumen; sie sagte, sie wolle noch einen gin tonic haben, es gäbe ein Schiff zum Kasino auf dem Lido, von dort könne man zu Fuß gehen, doch als sie endlich aufbrachen, richtete sie es wieder so ein, daß sie den anderen entkamen.

Sie ging dicht an seiner Seite die ausgestorbene Riva degli Schiavoni entlang. «Hier hat Petrarca gewohnt», sagte er, und sie sagte: «Wer war Petrarca?», und er sagte: «Ein großer Dichter», und sie sagte: «Ich bin schrecklich. dumm, du mußt mir einmal etwas von ihm vorlesen», und er sagte: «Im Winter gibt es hier einen Jahrmarkt», und sie sagte: «Ich komme im Winter und wir fahren im Riesenrad», und er sagte: «Im Winter bin ich in Mailand», und sie sagte: «Dann laufen wir beide davon und treffen uns auf dem Jahrmarkt.»

An der Schiffstation begegneten sie den anderen. Als er ihr die Hand reichte, um ihr beim Einsteigen zu helfen, gab sie ihm einen Kuß, und er spürte ihre Zunge.

DER NACHMITIAG war angenehm kühl. Nachdem die Signora ihren Brief an Laura am Schalter des Postamtes abgegeben hatte, schlug sie den Weg zum Campo Manin ein, wo ihre Schneiderin wohnte. Die Schneiderin hatte sie gewarnt: Für den Nachmittag war eine Demonstration der Arbeiter von Mestre und Marghera geplant, in der Nähe des Campo Manin. Sie hatte es vergessen, und als es ihr wieder einfiel, war sie zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, als daß sie ihren Plan noch hätte ändern wollen; außerdem hatte sie keine Angst vor Demonstrationen, sie las von ihnen täglich im Gazzettino.

Es konnte sein, daß Luigi Primavesi recht hatte: Sie konnte nicht durch die Straßen Venedigs gehen, ohne sich mit der Stadt zu beschäftigen.

Sie erinnerte sich vieler anderer Städte. In ihrer Kindheit hatte sie mit ihren Eltern - der Vater Archäologe, oft abwesend, die Mutter der verarmten Linie venezianischer Aristokraten entstammend - Reisen unternommen, Rom, Paris, Brüssel, London, Amsterdam; auch Vincente hatte in den ersten Jahren der jungen Frau etwas bieten wollen, in Biarritz waren sie gewesen und in Ostende. Noch manches Bild war ihr lebendig, aber die Konturen begannen zu verblassen, wie bei alten Ansichtskarten. Wenn das junge Mädchen in fremden Bahnhöfen auf einem Berg von Koffern gesessen hatte - denn leicht zu reisen, erschien der Mutter als plebejisch -, hatte Anna-Maria immer ein unerklärliches Mißbehagen empfunden, beinahe so, als enthielten die Koffer etwas, das man zuhause gar nicht eingepackt hatte. Zwischen Kleidern und Wäsche: der Konflikt mit der schönen, kränkelnden, beleidigten Mutter, die Sorge, den herrischen, Vollendung wie etwas Selbstverständliches fordernden Vater zu enttäuschen, die Angst vor den eigenen Unzulänglichkeiten. Sie erinnerte sich, daß das alles zu verschwinden pflegte, wie weggezaubert, wenn das Gepäck auf den Stufen des kleinen Palazzo an der Ecke der Calle Mandola aus der Gondel gehoben wurde. Mit der Zeit war das und manches andere wieder zum Vorschein gekommen, aber nicht viel beängstigen der als die nebelhafte Realität, zu der man zwischen zwei Träumen erwacht.

Das Gedränge war groß. Die Signora störte es nicht. In anderen Städten strebten die Massen zentrifugal auseinander, hysterische Partikel, während sie hier zentripetal zu dem ruhenden Ganzen Venedigs zusammenstrebten. Andere Städte wurden erdrückt in der Umarmung der Massen, Venedig umarmte die Menge. Ja, Luigi Primavesi hatte recht: Diese arme Stadt war stärker als die armen Menschen - das war es wohl, warum das Mädchen einst, heimkehrend aus der fremde, nicht mehr fand, was sie unterwegs bedrückt hatte. In eine Illusion geboren? Die Realität war das geöffnete Auge, die Illusion das verschlossene, aber man verbrachte das halbe Leben mit geschlossenen Augen, und Venedig half einem, die Augen zu schließen.

Die Fremden staunten. Waren sie denn wirklich so schön, diese traurigen Häuser? Die meisten waren nicht schön, aber vor ihren Toren stand das Wasser, sie öffneten sich dem unendlichen Element, der Illusion. Wenn man hinaufblickte, waren sie wie die Blinden, die gehen und gehen und gehen und nicht sehen, wohin ihre Füße sie tragen. Luigi glaubte ernstlich, Venedig sei so etwas wie die Zarenpaläste von Moskau oder die Eremitage von Petrograd. Aber die Fremden, die hier ihre Koffer auspackten und nicht fanden, was sie mitgebracht hatten, wußten, daß Venedig kein Museum war, nicht einmal eine Stadt, nur ein Gedanke. Deshalb durften die Steine brechen, aber man konnte keinen Stein entfernen, ohne den Gedanken zu brechen. So etwas Ähnliches hatte sie an Laura geschrieben, und, obwohl sie sich von dem neuerlichen Appell wenig erwartete, war sie froh, daß sie es getan hatte.

Plötzlich mußte die Signora stehenbleiben. Einen Augenblick lang meinte sie, einem Gespenst zu begegnen, oder einem jener jungen Leute, die mit Schrecken Spaß trieben. Der Mann, der ihr entgegenkam, trug eine Gasmaske. Aber schon waren es dreißig oder vierzig, die von allen Seiten herbeiströmten, die Gasmasken aufgestülpt oder unter dem Arm, Männer und Frauen, und die Signora erinnerte sich, daß die Arbeiter von mehr als zweihundert Betrieben gegen die Verschmutzung der Luft demonstrierten: Männer und Frauen wehrlos gegen den Dreck, der in ihre Wohnungen drang, die Kinder von Bronchitis geplagt, die Krankenhäuser überfüllt von Herzkranken. fünfzigtausend Arbeitern hatte der zuständige Arzt Gasmasken verschrieben, wie ein Rezept. Zehntausend Lire pro Stück, ein teueres Medikament.

Der Campo Manin war nicht mehr weit. Die Signora beeilte sich.

«Sie hätten nicht kommen sollen», sagte die Schneiderin, eine beleibte, rosige, resolute Frau mit fünf Kindern, von denen drei bei der Anprobe zwischen den Füßen der Kundin herumzukriechen pflegten; das jüngste hielt Signora Bigarello im Arm.

«Ich möchte sehen, was unten geschieht.»

In Achterreihen waren die Arbeiter herbeimarschiert, in den vordersten Reihen trugen alle Gasmasken. Wie Rüsseltiere sahen sie aus, verkleidete Menschen oder verkleidete Rüsseltiere, Overalls, Arbeitskittel, karierte Hemden, Männer mit nackten Brüsten, Frauen in Sommerkleidern, Tierköpfe, die Augen runde Gläser, die Wangen aus Gummi, Konservenbüchsen vor dem Mund.

«Ausgerechnet hier», sagte die Schneiderin, aber die Signora wußte es besser: Der Advokat Daniele Manin hatte 1848 zum Widerstand gegen die Österreicher gerufen, die Arbeiter demonstrierten gegen eine andere Fremdherrschaft, sie kam aus der Luft.

Die Tafelträger waren vor dem Monument angelangt, die Signora las: «Andreotti il buffone d'Italia!