Impressum

Eine Festa Originalausgabe

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild & Illustrationen: Timo Wuerz

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-889-6

www.Festa-Verlag.de

Inhalt

Das Tier in der Höhle

Der Alchemist

Die Gruft

Dagon

Polaris

Jenseits der Mauer des Schlafes

Das Gedächtnis

Der Übergang des Juan Romero

Das weiße Schiff

Das Verderben, das über Sarnath kam

Die Aussage des Randolph Carter

Die grüne Wiese

Ibid

Der schreckliche alte Mann

Der Baum

Die Katzen von Ulthar

Der Tempel

Die Fakten über Arthur Jermyn und seine Familie

Die Straße

Celephaïs

Aus dem Jenseits

Nyarlathotep

Das Bild im Haus

Die Dichtkunst und die Götter

Ex Oblivione

Stadt ohne Namen

Iranons Suche

Das Mond-Moor

Der Außenseiter

Die Anderen Götter

Die Musik des Erich Zann

Re-Animator

Das schleichende Chaos

Hypnos

Was der Mond bringt

Azathoth

Der Hund

Die lauernde Furcht

Der Schrecken von Martin’s Beach

Die Ratten im Gemäuer

Das Unnennbare

Das Fest

Vom Wolf, der Gespenster fraß

Asche

Die geliebten Toten

Gefangen bei den Pharaonen

Das gemiedene Haus

Taub, stumm und blind

Das Grauen in Red Hook

Er

In der Gruft

Der Nachkomme

Kühle Luft

Der Ruf des Cthulhu

Pickmans Modell

Der silberne Schlüssel

Das seltsame Haus hoch oben im Nebel

Zwei schwarze Flaschen

Das letzte Experiment

Das uralte Volk

Die Traumsuche nach dem unbekannten Kadath

Der Fall Charles Dexter Ward

Die Farbe aus dem All

Das Geschöpf im Mondlicht

Das Grauen von Dunwich

Geschichte des Necronomicon

Der Fluch des Yig

Die elektrische Hinrichtungsmaschine

Der Flüsterer im Dunkeln

Der Hügel

Die Falle

Das Haar der Medusa

Der Schatten über Innsmouth

Berge des Wahnsinns

Träume im Hexenhaus

Das Grauen im Museum

Der Mann aus Stein

Durch die Tore des silbernen Schlüssels

Das Ding auf der Schwelle

Der böse Geistliche

Das Buch

Tötet das Ungeheuer!

Der Schatz der Zauber-Bestie

Flügel des Todes

Der Faustkampf am Ende des Jahrhunderts

Der Baum auf dem Hügel

Der Zauber des Aphlar

Aus Äonen

Der Schatten aus der Zeit

Jäger der Finsternis

Bis zur Neige

Sterbende Universen

Die Bedrohung aus dem Weltraum

Das Tagebuch des Alonzo Typer

Das Grauen auf dem Friedhof

Die versiegelte Urne

Das Nachtmeer

In den Mauern von Eryx

Die Exhumierung

Bothon

Die Diener Satans

Vier Uhr

Quellen und Übersetzer

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Das Tier in der Höhle

Die entsetzliche Schlussfolgerung, die sich meinem verwirrten und zögerlichen Verstand allmählich aufgedrängt hatte, war nun schreckliche Gewissheit. Ich war verloren, vollkommen, hoffnungslos verloren in den gewaltigen und labyrinthischen Tiefen der Mammuthöhle. In welche Richtung ich mich auch wendete, nirgends konnten meine angestrengten Augen einen Gegenstand ausmachen, der mir als Hinweis für einen Weg nach draußen hätte dienen können. Dass ich nimmermehr das gesegnete Licht des Tages und die schönen Hügel und Täler der herrlichen Außenwelt sehen würde, daran konnte mein Verstand mittlerweile nicht mehr zweifeln. Ich verlor jegliche Hoffnung.

Doch da ich mein ganzes Leben lang philosophische Studien betrieben hatte, empfand ich eine gewisse Befriedigung über mein gefasstes Verhalten, denn ich hatte schon häufig darüber gelesen, dass Opfer ähnlicher Situationen in eine irre Raserei geraten, doch ich selbst blieb davon verschont – ich verharrte ruhig, sobald mir klar bewusst wurde, dass ich die Orientierung verloren hatte. Die Vorstellung, dass ich wahrscheinlich viel zu weit vom Weg abgekommen war, um von einem Suchtrupp entdeckt zu werden, brachte mich ebenfalls keine Sekunde aus der Fassung. Wenn ich also sterben musste, grübelte ich, dann war diese schreckliche und zugleich majestätische Höhle mir als Grabstätte ebenso willkommen wie jeder Friedhof, und diese Vorstellung hatte eher etwas Beruhigendes als etwas Verzweifeltes.

Der Hunger würde mir zum Verhängnis werden, dessen war ich mir sicher. Einige Menschen, das wusste ich, waren unter diesen Umständen wahnsinnig geworden, doch ich spürte, dass mir ein solches Ende nicht beschieden sein sollte. An meinem Verhängnis trug allein ich die Schuld, denn ich hatte mich ohne Wissen unseres Führers von der übrigen Besichtigungsgruppe getrennt und über eine Stunde lang die verbotenen Wege der Höhle erforscht, und jetzt war ich nicht mehr in der Lage, den Rückweg durch die wirren Windungen, die ich durchlaufen hatte, zu finden.

Das Licht meiner Taschenlampe verblasste bereits; nicht mehr lange, und mich würde die völlige, fast greifbare Schwärze der Eingeweide der Erde umfangen. So stand ich im fahlen, unsteten Licht und stellte müßige Überlegungen über die genauen Umstände meines bevorstehenden Endes an. Ich erinnerte mich an die Berichte über die Kolonie der Schwindsüchtigen, die sich in dieser gigantischen Grotte niedergelassen hatte, um an der vermeintlich heilsamen, reinen Luft der unterirdischen Welt, den gleichmäßigen Temperaturen und der friedlichen Stille zu genesen, doch die stattdessen ein merkwürdiger und grausiger Tod ereilt hatte. Ich hatte die Überreste ihrer grob gezimmerten Hütten gesehen, als wir mit der Besuchergruppe daran vorbeigingen, und mich gefragt, welchen unnatürlichen Einfluss ein langer Aufenthalt in dieser gewaltigen und stillen Höhle auf jemanden wie mich, der gesund und kräftig ist, ausüben würde. Und jetzt, so sagte ich mir finster, hatte ich die Gelegenheit, diese Frage zu beantworten, vorausgesetzt, dass der Mangel an Nahrung mich nicht zu schnell aus diesem Leben beförderte.

Während die letzten, zitternden Strahlen meiner Taschenlampe vergingen, fasste ich den Entschluss, bei der Suche nach einem möglichen Ausweg jeden Stein umzudrehen und keine Möglichkeit zu entkommen außer Acht zu lassen. Als Erstes nahm ich alle Kräfte meiner Lunge zusammen und stieß mehrere laute Schreie aus, in der vergeblichen Hoffnung, dadurch den Führer auf mein Los aufmerksam zu machen. Doch noch während ich schrie, wusste ich bereits, dass meine Bemühungen sinnlos waren und dass meine von den unzähligen Wällen des schwarzen Labyrinths verstärkte und zurückgeworfene Stimme von keinen außer meinen Ohren vernommen wurde.

Doch dann wurde meine Aufmerksamkeit abrupt auf etwas anderes gerichtet, denn ich glaubte, das Geräusch sanfter, sich nähernder Schritte auf dem felsigen Boden der Höhle zu hören.

Sollte ich so schnell Rettung finden? Waren all meine schrecklichen Vorahnungen also müßig gewesen? Hatte der Fremdenführer mein eigenmächtiges Entfernen von der Gruppe bemerkt und suchte er mich jetzt in diesem Irrgarten aus Sandstein? Als diese freudigen Gedanken in mir aufstiegen, wollte ich erneut rufen, um schneller gefunden zu werden, als sich beim Lauschen meine Freude innerhalb eines Augenblickes in Entsetzen verwandelte, denn mein gutes Gehör, das in der völligen Stille der Höhle noch an Schärfe gewonnen hatte, trug meinem betäubten Verstand das unerwartete und erschreckende Wissen zu, dass diese Schritte nicht wie die eines sterblichen Menschen klangen. In der unweltlichen Stille dieses unterirdischen Reiches hätten die Schritte des gestiefelten Fremdenführers wie scharfe, durchdringende Schläge klingen müssen. Diese Laute klangen jedoch sanft und verstohlen, wie von den Pfoten einer Katze. Bei genauerem Hinhören schien es mir außerdem, als vernähme ich die Schritte von vier statt von zwei Füßen.

Ich war nun überzeugt, dass ich durch meine Rufe ein wildes Tier, einen Berglöwen vielleicht, auf mich aufmerksam gemacht hatte, der zufällig in dieser Höhle umherstreunte. Vielleicht, so überlegte ich, hatte der Allmächtige ein schnelleres und gnädigeres Ende als das Verhungern für mich vorgesehen. Doch in meiner Brust regte sich der nie völlig unterdrückte Selbsterhaltungstrieb, und obwohl eine Flucht vor der sich nähernden Gefahr für mich bloß ein härteres und langwierigeres Ende bedeutete, war ich dennoch fest entschlossen, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

So sonderbar das auch erscheinen mag, mein Verstand vermochte dem sich nähernden Besucher ausschließlich böse Absichten zu unterstellen. Daher verhielt ich mich ganz still, in der Hoffnung, dass sich das unbekannte Tier in Ermangelung eines Geräusches, das es zu mir zu führte, ebenso verlaufen würde wie ich – und so an mir vorbeilaufen würde. Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Die seltsamen Schritte kamen stetig näher, da das Tier offenkundig meine Witterung aufgenommen hatte, was in einer von allen äußeren Ablenkungen freien Atmosphäre wie der in dieser Höhle zweifellos selbst aus großer Entfernung möglich war.

Da ich mich also gegen einen unheimlichen und unsichtbaren Angriff aus dem Dunkeln wappnen musste, sammelte ich tastend die größten Felsstücke ein, die in meiner Nähe auf dem Höhlenboden lagen. Ich nahm in jede Hand eines, um sofort reagieren zu können, und wartete ergeben auf das, was unausweichlich geschehen musste. In der Zwischenzeit näherte sich das scheußliche Tapsen der Pfoten. Das Verhalten der Kreatur war sehr merkwürdig. Die meiste Zeit über schienen die Schritte die eines Vierfüßers zu sein, der sich mit einem seltsamen Mangel an Einklang zwischen den Vorder- und Hinterläufen bewegte, doch mehrmals meinte ich, dass gelegentlich nur zwei Füße für das Vorankommen sorgten.

Ich fragte mich, mit welcher Tiergattung ich es gleich zu tun haben würde; es musste sich, stellte ich mir vor, um ein unglückliches Geschöpf handeln, das seine Neugier, einen der Eingänge zu der fürchterlichen Grotte zu erkunden, mit lebenslanger Haft in den unendlichen Weiten bezahlte. Es ernährte sich wohl von den augenlosen Fischen, Fledermäusen und Ratten der Höhle, sicherlich auch von den gewöhnlichen Fischen, die bei jedem Hochwasser des Green River hereingespült werden, die ihn über verborgene Wege mit den Gewässern in der Höhle verbinden.

Ich füllte mein entsetzliches Warten mit grotesken Mutmaßungen darüber aus, welche körperlichen Veränderungen das Höhlenleben bei dem Tier ausgelöst haben mochte, und erinnerte mich an einige örtliche Überlieferungen, die darüber berichteten, wie grausig die Schwindsüchtigen ausgesehen hatten, die nach langem Aufenthalt in der Höhle gestorben waren. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich, selbst wenn ich mich erfolgreich gegen meinen Gegner wehren konnte, niemals seine Gestalt sehen würde, denn meine Taschenlampe war doch längst erloschen und Streichhölzer trug ich keine bei mir.

Die Anspannung in meinem Hirn wurde unerträglich. Meine aufgewühlte Fantasie beschwor die abstoßendsten und grässlichsten Erscheinungen aus der mich umgebenden Finsternis herauf, die mich regelrecht körperlich anzugreifen schien. Näher, näher kamen die furchtbaren Schritte. Ich hatte das Gefühl, einen durchdringenden Schrei ausstoßen zu müssen, doch selbst wenn ich diesem Drang nachgegeben hätte, wäre meine Stimme wohl kaum dazu in der Lage gewesen. Ich stand wie versteinert, auf die Stelle genagelt. Ich bezweifelte, ob mein rechter Arm im entscheidenden Moment wirklich fähig war, dem sich nähernden Wesen den Gesteinsbrocken entgegenzuschleudern. Nun war das stete Tapp-tapp der Schritte nahe – jetzt ganz nahe. Ich konnte den mühsamen Atem des Tieres hören, und angsterfüllt, wie ich war, bemerkte ich doch, dass es aus beträchtlicher Entfernung hergekommen sein musste und deshalb erschöpft war.

Mit einem Mal brach der Bann. Meine rechte Hand, von meinem immer verlässlichen Gehör geleitet, warf mit ganzer Kraft den spitzen Kalkstein ins Dunkel, in die Richtung, aus der das Atmen und Tapsen kam. Es ist erfreulich, berichten zu können, dass der Stein beinahe sein Ziel erreichte, denn ich hörte das Wesen zur Seite springen und wieder landen, wo es dann zu warten schien.

Ich zielte wieder und warf den zweiten Stein, dieses Mal mit mehr Erfolg, denn mit Freude hörte ich, wie das Geschöpf, den Geräuschen nach, zusammenbrach und offenbar regungslos liegen blieb. Die große Erleichterung, die mich durchströmte, überwältigte mich fast und ich taumelte zurück gegen die Wand. Es atmete noch, ein schweres, keuchendes Ein- und Ausatmen – ich hatte die Kreatur also nur verwundet. Und nun versiegte all mein Verlangen, das Geschöpf näher zu untersuchen.

So etwas wie bodenlose, abergläubische Angst überfiel jetzt mein Gehirn, und ich näherte mich weder dem Körper noch warf ich weitere Steine nach ihm, um es ganz zu töten. Stattdessen rannte ich so schnell ich konnte in die Richtung, die mir in meinem aufgelösten Zustand als die erschien, aus der ich gekommen war. Plötzlich vernahm ich ein Geräusch oder besser: eine regelmäßige Abfolge von Geräuschen. Einen Moment später klangen sie wie eine Reihe hastiger, metallisch klackender Schritte. Dieses Mal konnte es keinen Zweifel geben. Es war der Fremdenführer.

Und dann rief und schrie ich, brüllte, schrie vor Freude, als ich auf der Höhlendecke über mir das schwache, glimmende Licht sah, von dem ich wusste, dass es die Reflexion einer näher kommenden Taschenlampe war. Ich lief los, dem Licht entgegen, und noch ehe ich begreifen konnte, was ich tat, lag ich auf dem Boden, dem Fremdenführer zu Füßen, umarmte seine Stiefel und plapperte trotz meiner üblichen Zurückhaltung, auf die ich bisher so stolz gewesen war, überaus unsinnig und idiotisch daher, sabberte meine ganze schreckliche Geschichte hervor und überschüttete meinen Retter gleichzeitig mit Bekundungen meiner Dankbarkeit.

Irgendwann kam ich wieder halbwegs zu mir. Dem Fremdenführer war bei der Ankunft der Gruppe am Höhlenausgang mein Fehlen aufgefallen, und so hatte er im Vertrauen auf seinen eigenen intuitiven Orientierungssinn alle Nebengänge durchsucht, die von der Stelle ausgingen, wo er zuletzt mit mir gesprochen hatte, und nach einer ungefähr vierstündigen Suche hatte er mich jetzt gefunden.

Nachdem er mir dies erzählt hatte und als ich durch das Licht der Lampe und durch seine Gegenwart meine Fassung wiedererlangte, dachte ich an das sonderbare Tier, das ich dicht hinter mir in der Finsternis verwundet zurückgelassen hatte, und ich schlug vor, dass wir mithilfe der Taschenlampe herausfanden, was für ein Lebewesen da eigentlich mein Opfer geworden war. So verfolgte ich meinen Weg zurück zu dem Ort des grausigen Erlebnisses, dieses Mal von einem Mut erfüllt, der daher rührte, dass ich einen Begleiter hatte. Bald erkannten wir ein weißes Etwas. Es lag auf dem Boden und war noch bleicher als der schimmernde Kalkstein. Wir näherten uns vorsichtig und stießen gleichzeitig einen Ruf des Erstaunens aus, denn von allen widernatürlichen Ungeheuern, die wir beide in unserem Leben je gesehen hatten, war dies mit weitem Abstand das sonderbarste.

Es schien ein sehr großer menschenähnlicher Affe zu sein, womöglich aus einem Wanderzirkus entlaufen. Seine Behaarung war schneeweiß, was zweifelsohne auf einen Ausbleicheffekt durch das lange Dasein in der tintenschwarzen Höhle zurückzuführen war – sie war aber auch überraschend spärlich; eigentlich wuchsen die Haare nur auf dem Kopf in größerer Menge, dort aber so lang und voll, dass sie überreichlich über die Schultern strömten. Das Gesicht konnten wir nicht erkennen, da das Geschöpf auf dem Bauch lag. Die Winkel, in denen die Gliedmaßen lagen, waren sehr eigenartig, erklärten allerdings ihren abwechselnden Gebrauch, der mir zuvor aufgefallen war, als die Bestie mal alle viere, mal nur zwei Beine zur Fortbewegung benutzt hatte. Die Spitzen der Finger oder Zehen mündeten in langen Krallen, die denen von Ratten glichen. Die Hände oder Füße waren nicht zum Greifen geeignet, eine Tatsache, die ich dem langen Aufenthalt in der Höhle zuschrieb, der, wie ich bereits erwähnte, auch für die dem ganzen Körper eigene, fast unirdische Weiße verantwortlich war. Einen Schwanz konnten wir nicht entdecken.

Es atmete nur noch sehr schwach. Der Fremdenführer griff nach seiner Pistole, um die Kreatur zu erlösen, als sie unverhofft einen Laut von sich gab, der ihn dazu brachte, die Waffe unbenutzt zu Boden fallen zu lassen. Dieser Laut lässt sich nur schwer beschreiben. Er entsprach nicht den üblichen Lauten einer uns bekannten Affengattung, und ich fragte mich, ob diese ungewöhnlichen Laute vielleicht die Folge eines langen, völligen Verstummens sein konnten, das jetzt durch Empfindungen gebrochen wurde, die der Anblick des Lichtes in ihm erweckte – etwas, das dieses Wesen seit seinem Einstieg in die Höhle wahrscheinlich nicht mehr gesehen hatte. Es stieß diese Laute, die ich mit einer Art dunklem Schnattern umschreiben will, weiterhin leise aus.

Mit einem Mal schien der Körper des Tieres von einem neuen Funken Energie durchdrungen zu werden. Die Pfoten zuckten krampfhaft, die Gliedmaßen zogen sich zusammen. Mit einem Ruck rollte der weiße Leib sich herum und zeigte uns sein Gesicht.

Einen Moment lang war ich angesichts der Augen, die sich uns nun offenbarten, so von Entsetzen erfüllt, dass ich sonst nichts wahrnahm. Sie waren schwarz, diese Augen, tief pechschwarz, und sie bildeten einen scheußlichen Kontrast zu der schneeweißen Behaarung und Haut. Wie auch bei anderen Höhlenbewohnern, lagen sie tief im Schädel versunken und wiesen keinerlei Iris auf. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass sie zu einem Gesicht gehörten, das weniger vorspringend war als das eines durchschnittlichen Affen und auch viel haarloser, dafür war die Nase recht ausgeprägt. Während wir den unglaublichen Anblick, der sich uns bot, in uns aufnahmen, öffneten sich die wulstigen Lippen und gaben mehrere Laute von sich, dann brach das Geschöpf tot zusammen.

Der Fremdenführer packte mich am Ärmel meines Mantels und zitterte so heftig, dass die Lampe unheimlich zuckende Schatten an die Wände warf.

Ich regte mich nicht, stand wie festgefroren, die entsetzten Augen auf den Boden vor mir gerichtet.

Die Angst ließ nach und wandelte sich zu Staunen, Verblüffung, Mitleid und Ehrfurcht, denn die Laute, die das gequälte Geschöpf dort auf dem Kalksteinboden von sich gegeben hatte, hatten uns die grausige Wahrheit enthüllt. Die Kreatur, die ich getötet hatte, das sonderbare Tier in der unergründeten Höhle, war zumindest in früheren Zeiten einmal ein MENSCH gewesen!!!

Der Alchemist

Hoch oben auf dem grasbewachsenen Gipfel eines Berges, dessen Seiten zum Fuße hin mit den knorrigen Bäumen urzeitlicher Wälder bewachsen sind, steht das alte Schloss meiner Ahnen. Jahrhundertelang haben seine Zinnen sich bedrohlich über die wilde und zerklüftete Landschaft erhoben und dem stolzen Geschlecht, dessen ehrwürdiger Stammbaum sogar noch älter ist als die moosbewucherten Schlossmauern, als Heim und Festung gedient.

Diese alten Türme, von Generationen an Stürmen gezeichnet und unter dem langsamen und doch machtvollen Zugriff der Zeit zerbröckelnd, stellten im Zeitalter des Feudalismus einst eine der gefürchtetsten und bedeutendsten Bastionen in ganz Frankreich dar. Die mit Gusserkern versehenen Brustwehren und erhöhten Zinnen haben Baronen, Grafen, ja selbst Königen getrotzt, und in den weitläufigen Räumen hallte nie der Tritt eines Eroberers wider.

Doch seit diesen glorreichen Zeiten hat sich alles verändert. Armut, die nur knapp über der Stufe der ärgsten Not lag, gekoppelt mit einem alten Familienstolz, der die Bekämpfung dieser Armut durch kommerzielle Geschäfte unterband, hat die Abkömmlinge unseres Geschlechts davon abgehalten, das Anwesen im ursprünglichen Glanz zu erhalten. Die aus den Mauern fallenden Steine, die ungepflegte Vegetation der Parks, der ausgetrocknete und staubige Burggraben, die schlecht gepflasterten Höfe, die wackligen Türme, die einsackenden Fußböden sowie die von Würmern zerfressene Wandvertäfelung und die ausgeblichenen Gobelins im Innern – dies alles erzählt die düstere Geschichte geschwundener Größe. Im Laufe der Zeit überließ man zuerst einen der vier großen Türme dem Verfall, dann einen weiteren, bis schließlich der traurige Rest der einstmals mächtigen Herren dieses Anwesens nur noch einen Turm bewohnen konnte.

In einem der riesigen und finsteren Gemächer dieses verbliebenen Turmes erblickte ich, Antoine, der Letzte aus dem Hause der unglückseligen und verfluchten Grafen von C–, vor 90 langen Jahren das Licht der Welt. In diesen Mauern und draußen in den dunklen, schattigen Wäldern, den wilden Schluchten und Grotten unten auf dieser Bergseite, brachte ich die ersten Jahre meines geplagten Lebens zu.

Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Mein Vater wurde im Alter von 32 Jahren, einen Monat vor meiner Geburt, durch einen herabfallenden Stein erschlagen, der sich irgendwie aus einer der verrotteten Brustwehren des Schlosses gelöst hatte. Und da meine Mutter bei meiner Geburt starb, lagen die Obhut und meine Erziehung allein in den Händen des letzten verbliebenen Dieners, eines alten, vertrauenswürdigen und überaus intelligenten Mannes, der, wenn ich mich recht entsinne, Pierre hieß. Ich war ein Einzelkind und der aus dieser Tatsache erwachsende Mangel an Gesellschaft wurde noch verstärkt durch die eigenartige Sorgfalt, die mein alter Vormund darauf verwandte, mich von den Bauernkindern fernzuhalten, deren elterliche Gehöfte hier und da auf den Ebenen am Fuße des Berges verstreut lagen. Damals erklärte Pierre mir diese Einschränkung damit, dass ein Junge von solch edler Abstammung wie ich nicht mit solchem Gesindel verkehren dürfe. Mittlerweile kenne ich den wahren Grund dafür: Ich sollte die üblen Geschichten über den schrecklichen Fluch nicht hören, der angeblich auf unserem Geschlecht liegt – Geschichten, die sich die schlichten Gemüter in den Nächten mit gesenkten Stimmen im Schein ihrer Herdfeuer erzählten und immer weiter ausschmückten.

Derart einsam und auf mich selbst beschränkt, verbrachte ich die unzähligen Stunden meiner Kindheit über den uralten Folianten der von Schatten beherrschten Bibliothek des Schlosses, oder ich streifte ziellos durch den ewigen Staub des gespenstischen Waldes, der den Fuß der Bergflanke bedeckte. Es lag wohl an einer derartigen Umgebung, dass ich schon früh zur Melancholie neigte. Besonders die Studien, die sich dem Dunklen und Verborgenen der Natur widmen, zogen mich in ihren Bann.

Über meine eigene Familie ließ man mich merkwürdig wenig in Erfahrung bringen, doch das wenige, was ich herausfand, hat mich wohl stark bedrückt. Vielleicht war es anfangs nur die ausgeprägte Zurückhaltung meines alten Lehrers, mit mir über meine väterlichen Ahnen zu sprechen, die in mir ein Grauen erweckte, sobald mein großer Name erwähnt wurde. Doch mit der Zeit, als ich dem Kindesalter entwuchs, konnte ich unzusammenhängende Gesprächsfetzen, die ungewollt über Lippen kamen, die sich der drohenden Altersschwäche nicht mehr erwehren konnten, wie Teile eines Puzzles zusammensetzen und kam damit einem gewissen Umstand näher, der mir schon immer merkwürdig erschienen war, aber nun einen nebulösen Schrecken gewann. Besagter Umstand war der frühe Tod, der alle Grafen meines Geschlechts getroffen hat. Bislang hatte ich dies auf eine naturgegebene Kurzlebigkeit der Familie zurückgeführt, doch nun grübelte ich lange über diese vorzeitigen Tode nach und fing an, sie mit den Fantastereien des Alten in Verbindung zu bringen, der häufig von einem Fluch sprach, der seit Jahrhunderten verhindere, dass die Träger meines Titels älter als 32 Jahre würden.

Zu meinem 21. Geburtstag überreichte der alte Pierre mir ein Familiendokument, von dem er behauptete, es sei seit vielen Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt und von jedem Besitzer weitergeführt worden. Der Inhalt war überaus bestürzend und schon die flüchtige Lektüre bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen. Zu dieser Zeit war mein Glaube an das Übernatürliche fest und tief verwurzelt, ansonsten hätte ich die unglaubliche Erzählung, die sich vor meinen Augen entfaltete, wohl voller Spott abgetan.

Das Dokument führte mich zurück ins 13. Jahrhundert, als das alte Schloss, in dem ich wohnte, noch eine gefürchtete und uneinnehmbare Festung gewesen war. Es berichtete von einem besonderen alten Mann, der einst auf unserem Anwesen gewohnt hatte, eine Person mit beachtlichen Fertigkeiten, obgleich er nicht viel mehr als ein Bauer war: Man nannte ihn Michel – wegen seines üblen Rufes wurde er für gewöhnlich mit dem Beinamen Mauvais, der Böse, versehen. Er hatte für eine Person seines Standes ungewöhnliche Studien betrieben, nach dem Stein der Weisen und dem Elixier des ewigen Lebens gesucht, und er soll die grausigen Geheimnisse der schwarzen Magie und Alchemie gekannt haben. Michel Mauvais hatte einen Sohn namens Charles, ein Jüngling, der in den verborgenen Künsten ebenso beschlagen war wie sein Vater und den man deshalb Le Sorcier, den Zauberer, nannte. Dieses Paar, das von allen ehrbaren Menschen gemieden wurde, verdächtigte man der scheußlichsten Praktiken. Vom alten Michel hieß es, er habe sein Weib dem Teufel geopfert, indem er es bei lebendigem Leibe verbrannte, und dem gefürchteten Gespann wurde auch das ungeklärte Verschwinden vieler kleiner Bauernkinder in die Schuhe geschoben. Und doch zeigten Vater und Sohn in ihren finsteren Charakteren einen hellen Sonnenstrahl der Menschlichkeit: Der böse Alte liebte seinen Sprössling abgöttisch und der Jüngling brachte seinem Erzeuger eine mehr als übliche Zuneigung entgegen.

Eines Nachts wurde das Schloss auf dem Hügel von größtem Aufruhr ergriffen, denn der junge Godfrey, der Sohn des Grafen Henri, war verschwunden. Ein Suchtrupp unter der Führung des panischen Vaters drang in die Hütte der Hexenmeister ein und traf dort auf den alten Michel Mauvais, der gerade mit einem großen Kessel beschäftigt war, in dem es heftig brodelte. Ohne Beweis, einzig erfüllt von unbeherrschter Wut und Verzweiflung, packte der Graf den alten Zauberer, und als er seinen mörderischen Griff endlich wieder löste, war sein Opfer tot. In der Zwischenzeit verkündeten frohe Diener, sie hätten den jungen Godfrey in einer entlegenen und ungenutzten Kammer des großen Gebäudes gefunden – der arme Michel war umsonst ermordet worden.

Als der Graf und seine Begleiter sich von der bescheidenen Unterkunft des Alchemisten abwandten, trat zwischen den Bäumen die Gestalt des Charles Le Sorcier hervor. Das erregte Geplapper der Knechte in seiner Nähe verriet ihm, was geschehen war, doch zuerst zeigte er keinerlei Regung über das Los seines Vaters. Dann schritt er langsam auf den Grafen zu und sprach mit gedämpfter, aber schrecklicher Stimme den Fluch aus, der fortan auf dem Hause der C– liegen sollte:

»Möge kein Edler deines mörderischen Stammes

ein höheres Alter als du erreichen!«

So sprach er und lief plötzlich zurück in die schwarzen Wälder, doch zuvor hatte er ein Fläschchen mit farbloser Flüssigkeit aus seiner Tunika genommen und es dem Mörder seines Vaters ins Gesicht geschleudert – und war hinter dem tintenschwarzen Vorhang der Nacht verschwunden.

Der Graf starb ohne jeden Laut und wurde am nächsten Tag begraben, kaum älter als 32 Jahre seit der Stunde seiner Geburt. Von seinem Mörder fand sich keine Spur, obschon Scharen von rohen Bauern unablässig die benachbarten Wälder und das Weideland um den Berg durchstöberten.

Die Zeit und das Fehlen einer warnenden Stimme ließen bei der Familie des verstorbenen Grafen die Erinnerung an den Fluch verblassen und als Godfrey, der unschuldige Auslöser der ganzen Tragödie und jetziger Träger des Titels, im Alter von 32 Jahren auf der Jagd durch einen Pfeil getötet wurde, gab man sich keinen weiteren Gedanken als denen der Trauer über sein Verscheiden hin. Doch als Jahre später der nächste junge Graf, sein Name war Robert, in einem nahe liegenden Feld tot aufgefunden wurde, ohne dass ein Grund dafür ersichtlich war, flüsterten die Bauern sich zu, dass ihr Herr doch erst vor Kurzem seinen 32. Geburtstag gefeiert hatte – und nun war er einem frühen Tod erlegen. Louis, der Sohn Roberts, ertrank im selben schicksalhaften Alter im Burggraben, und so verlief die unheimliche Chronik weiter durch die Jahrhunderte: Henri, Robert, Antoine und Armand, alle wurden aus einem glücklichen und ehrenhaften Leben gerissen, kurz bevor sie das Alter ihres unglückseligen Ahnherrn zum Zeitpunkt seiner Ermordung erreicht hatten.

Mir blieben höchstens noch elf Jahre zu leben, wurde mir von den gerade gelesenen Worten versichert. Mein Leben, das ich bislang wenig wertgeschätzt hatte, erschien mir nun mit jedem Tag kostbarer, mit dem ich tiefer und tiefer in die Mysterien der geheimnisvollen Welt der schwarzen Magie eindrang. So isoliert, wie ich lebte, hatte die moderne Wissenschaft keinerlei Einfluss auf mich genommen, und so arbeitete ich wie im Mittelalter, tief versunken in dämonologische und alchemistische Lehren wie dereinst der alte Michel und der junge Charles. Doch so viel ich auch las, ich konnte keinerlei Erklärung für den sonderbaren Fluch finden, der auf meinem Geschlecht lag. In seltenen rationalen Stunden ging ich gar so weit, nach einer natürlichen Erklärung zu suchen, indem ich die frühen Tode meiner Ahnen dem finsteren Charles Le Sorcier und seinen Nachfahren zuschrieb, doch bei sorgfältigen Nachforschungen fand ich heraus, dass keinerlei Nachkommen des Alchemisten bekannt waren. Deshalb verfiel ich wieder auf die okkulten Studien und versuchte weiterhin, einen Zauber zu finden, der meine Familie von dieser grausigen Bürde befreien würde. Einen festen Entschluss hatte ich bereits gefasst: Ich würde niemals heiraten, und damit, da es ja keinen weiteren Familienzweig gab, würde ich den Fluch mit mir ins Grab nehmen.

Kurz vor meinem 30. Geburtstag wurde Pierre von dieser Welt abberufen. Allein bestattete ich ihn unter den Steinen des Innenhofes, über die er im Leben so gern geschlendert war. Somit verblieb ich als einziges menschliches Geschöpf in der großen Festung und in meiner vollkommenen Einsamkeit wehrte mein Geist sich allmählich nicht mehr gegen das bevorstehende Ende und versöhnte sich beinahe mit dem Schicksal, das so viele meiner Vorfahren getroffen hatte.

Ich brachte nun einen Großteil meiner Zeit damit zu, die verfallenen und verlassenen Hallen und Türme des alten Schlosses zu erforschen, die ich in meiner Jugend aus Furcht gemieden hatte. Pierre hatte mir erzählt, dass einige davon seit mehr als vier Jahrhunderten durch keinen menschlichen Fuß mehr betreten worden waren. Merkwürdig und erschreckend waren viele der Gegenstände, die ich dort vorfand. Ich erblickte Mobiliar, das vom Staub der Jahrhunderte bedeckt und von der ewigen Feuchtigkeit vermodert war. Überall, in einer Fülle, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte, hingen Spinnweben und mächtige Fledermäuse flatterten mit ihren knochigen und unheimlichen Flügeln durch alle Winkel des unbewohnten Halbdunkels.

Ich führte gründlichst Protokoll über mein genaues Alter, bis hin zu den Tagen und Stunden, denn jede Schwingung des Pendels der großen Standuhr in der Bibliothek wischte einen Teil von meiner verfluchten Existenz hinweg. Am Ende näherte ich mich dem Zeitpunkt, dem ich mit solchen Ängsten entgegengesehen hatte. Da die meisten meiner Ahnen, kurz bevor sie das genaue Alter von Graf Henri zum Zeitpunkt seines Todes erreicht hatten, aus dem Leben gerissen worden waren, blieb ich jeden Moment auf mein unbekanntes Ende gefasst. Ich wusste nicht, auf welch sonderbare Art der Fluch mich heimsuchen würde, doch ich hatte den Entschluss gefasst, dass er in mir zumindest kein feiges oder untätiges Opfer vorfinden sollte. Mit neuem Eifer widmete ich mich weiter der Erforschung des alten Schlosses und seiner Räume.

Es geschah bei einem meiner längsten Forschungsgänge durch den verlassenen Teil des Schlosses, dass es zum entscheidenden Ereignis meines Lebens kam – nur Tage vor der verhängnisvollen Stunde, von der ich glaubte, dass sie die äußerste Grenze meines irdischen Daseins markierte, jenseits derer ich keinerlei Hoffnung auf ein Weiteratmen zu hegen brauchte. Den Großteil des Morgens hatte ich damit verbracht, halb eingebrochene Treppen in einem der verfallensten der alten Türme hoch- und runterzulaufen. Im Laufe des Nachmittags war ich dann in die unteren Etagen hinabgestiegen und im Keller auf einen Raum gestoßen, der entweder ein mittelalterliches Verlies oder ein später angelegtes Lager für Schießpulver zu sein schien.

Als ich langsam den salpeterverkrusteten Durchgang am Fuß der letzten Treppe durchschritt, wurde der Steinboden sehr feucht, und bald offenbarte das Licht meiner flackernden Fackel, dass eine nackte, mit Wasserflecken übersäte Mauer mir den Weg versperrte. Als ich mich wieder umwandte, fiel mein Blick auf eine kleine Falltür mit ringförmigem Griff direkt neben meinen Füßen. Ich bückte mich und nach einiger Anstrengung gelang es mir, die Falltür zu öffnen – darunter verbarg sich eine schwarze Öffnung, aus der widerliche Dämpfe aufwirbelten, die meine Fackel sprühen ließen. In diesem unsteten Licht enthüllte sich der Anfang einer Steintreppe.

Sobald die Fackel, die ich in die abstoßende Tiefe hielt, hell und gleichmäßig brannte, machte ich mich an den Abstieg. Es waren viele Stufen und sie führten zu einem engen, mit Steinplatten gefliesten Durchgang, der sich tief unter der Erde befinden musste. Dieser Durchgang erwies sich als sehr lang und er endete vor einer massiven Eichentür, die von der allgegenwärtigen Feuchtigkeit überzogen war und sich allen Versuchen, sie zu öffnen, unnachgiebig widersetzte. Nach einer Weile stellte ich meine Bemühungen ein und ging schon zurück zur Treppe, als mir eine der tief greifendsten und unerträglichsten Erschütterungen widerfuhr, die der menschliche Geist zu ertragen vermag. Ohne Vorwarnung hörte ich, wie die schwere Tür sich hinter mir langsam und knarrend in ihren rostigen Angeln öffnete.

Meine unmittelbaren Empfindungen darauf waren nicht zu deuten. An einem Ort wie diesem, den ich für völlig verlassen gehalten hatte, mit einem Beweis für die Gegenwart eines Menschen oder eines Geistes konfrontiert zu werden, löste in mir ein Grauen jenseits jeder Beschreibung aus. Als ich mich endlich umdrehte und der Ursache des Geräuschs gegenüberstand, müssen meine Augen bei dem Anblick, der sich ihnen bot, förmlich aus ihren Höhlen gefallen sein: Dort im uralten gotischen Türrahmen stand eine menschliche Gestalt.

Es war ein Mann mit einer Schädelkappe und einem langen, mittelalterlichen Umhang von dunkler Farbe. Sein Haar und der wallende Bart waren tiefschwarz und unglaublich lang gewuchert, seine Stirn höher als bei gewöhnlichen Menschen, seine Wangen eingesunken und tief von Falten zerfurcht. Seine Hände waren lang, klauenartig und verknöchert und von einer so tödlichen, marmornen Blässe, wie ich sie noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Seine Gestalt, mager wie ein Gerippe, stand sonderbar gebückt und wirkte verloren in den weiten Falten seiner eigentümlichen Kleidung. Doch am merkwürdigsten von allem waren seine Augen, zwei Höhlen voll abgründiger Schwärze, voller tiefgründiger Weisheit und zugleich unmenschlicher Heimtücke. Der Blick dieser Augen richtete sich nun auf mich, zerschnitt meine Seele in ihrem Hass und bannte mich fest an der Stelle, an der ich stand.

Endlich sprach die Gestalt mit einer grollenden Stimme, die mir mit ihrem dumpfen Klang voll lauernder Rachsucht durch und durch ging. Die Sprache, die diese Gestalt benutzte, war jene niedere Form des Latein, das die gebildeteren Menschen des Mittelalters gebraucht hatten und mir durch meine Studien der Werke alter Alchemisten und Dämonologen vertraut war.

Die Erscheinung sprach von dem Fluch, der über meinem Geschlecht schwebte, und verkündete mir mein bevorstehendes Ende. Sie hielt sich bei dem Unrecht auf, das mein Ahnherr an dem alten Michel Mauvais begangen habe, und redete schadenfroh von der Rache des Charles Le Sorcier. Sie berichtete, wie der junge Charles in die Nacht entkommen und Jahre später zurückgekehrt sei, um den Erben Godfrey, der sich gerade dem Alter seines Vaters bei dessen Ermordung näherte, mit einem Pfeil zu töten. Anschließend sei Charles heimlich auf das Anwesen zurückgekehrt und habe sich unbemerkt in der schon damals verlassenen unterirdischen Kammer niedergelassen, in deren Eingang der grausige Erzähler nun stand; wie er Robert, den Sohn von Godfrey, auf einem Feld gepackt und ihn gezwungen habe, Gift zu schlucken, sodass er im Alter von 32 Jahren starb, um den rachsüchtigen Fluch aufrechtzuerhalten.

Es blieb mir allein überlassen, mir die Lösung des größten aller Rätsel auszumalen, wie nämlich der Fluch seit jener Zeit erfüllt worden war, da Charles Le Sorcier doch naturgemäß gestorben sein musste, denn der Mann schweifte jetzt ab und berichtete über die profunden alchemistischen Studien der beiden Hexenmeister, Vater und Sohn, und sprach vor allem von den Forschungen Charles le Sorciers an einem Elixier, welches dem, der davon trank, ewiges Leben und ewige Jugend verlieh.

Die Begeisterung schien einen Moment lang die schwarze Feindseligkeit aus seinen schrecklichen Augen zu verdrängen, doch jetzt kehrte der verteufelte Blick schlagartig zurück und mit dem schaurigen Zischen einer Schlange hob der Fremde eine Glasphiole, offensichtlich in der Absicht, mein Leben so zu beenden, wie Charles le Sorcier 600 Jahre zuvor das meines Ahnen beendet hatte.

Mein Selbsterhaltungstrieb löste den Bann, der mich bislang reglos gehalten hatte, und ich schleuderte die schon ersterbende Fackel in Richtung der Kreatur, die mein Leben bedrohte. Ich hörte, wie das Fläschchen unschädlich auf den Steinen des Durchgangs zerbrach, während die Tunika des seltsamen Mannes Feuer fing und alles in gespenstisches Licht tauchte. Der Schrei voller Angst und ohnmächtigem Hass, den der verhinderte Meuchelmörder ausstieß, war zu viel für meine ohnehin erschütterten Nerven – ich verlor das Bewusstsein und fiel vornüber auf den schleimigen Boden.

Als ich endlich wieder zu mir kam, war alles in fürchterliche Dunkelheit gehüllt, und als ich mich an das Geschehene erinnerte, schreckte ich vor der Vorstellung zurück, noch mehr zu sehen; doch schließlich siegte die Neugierde. Wer, so fragte ich mich, war dieser Mann des Bösen, und wie war er ins Innere des Schlosses gelangt? Weshalb wollte er den Tod von Michel Mauvais rächen und wie war der Fluch durch all die Jahrhunderte seit der Zeit des Charles Le Sorcier aufrechterhalten worden?

Die Furcht vieler Jahre glitt von mir ab, denn jetzt wusste ich, dass der, den ich niedergestreckt hatte, die Gefahr des Fluches verkörperte. Nun, da ich erleichtert war, brannte ich darauf, mehr über die finsteren Umstände zu erfahren, die mein Geschlecht seit Jahrhunderten heimgesucht und meine Jugend zu einem fortwährenden Albtraum gemacht hatten. Ich war fest entschlossen, mehr herauszufinden, tastete in meiner Tasche nach Feuerstein und Stahl und zündete die unbenutzte Fackel an, die ich noch bei mir trug.

Zuerst fiel das neue Licht auf die verkrümmte und verbrannte Gestalt des geheimnisvollen Fremden. Die scheußlichen Augen waren jetzt geschlossen. Angeekelt wandte ich mich von diesem Anblick ab und betrat die Kammer hinter der gotischen Tür. Dahinter fand ich, was allem Anschein nach das Laboratorium eines Alchemisten war. In einer Ecke lag ein gewaltiger Haufen strahlendes gelbes Metall, das im Schein der Fackel herrlich funkelte. Es mag Gold gewesen sein, doch ich nahm mir nicht die Zeit, um es zu untersuchen, war ich doch noch seltsam betäubt von dem, was ich durchgemacht hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befand sich eine Öffnung, die hinaus in eine der vielen Schluchten des dunklen Bergwaldes führte. Erstaunt wurde mir klar, wie der Mann sich Zugang zum Schloss verschafft hatte.

Ich machte mich auf den Rückweg. Ich wollte an den sterblichen Überresten des Fremden mit abgewandtem Gesicht vorbeigehen, doch als ich mich dem Leichnam näherte, glaubte ich ein leises Geräusch zu hören, als wäre der letzte Lebensfunke doch noch nicht erloschen. Entsetzt drehte ich mich um, um die verkohlte und verschrumpelte Gestalt am Boden zu betrachten.

Mit einem Male öffneten sich die schrecklichen Augen, schwärzer noch als das verbrannte Gesicht, weit aufgerissen, mit einem Ausdruck, den ich nicht zu deuten vermochte. Die aufgeplatzten Lippen versuchten Worte zu formen, die ich kaum verstand. Einmal hörte ich den Namen Charles Le Sorcier und glaubte die Worte ›Jahre‹ und ›Fluch‹ aus dem verzerrten Mund zu vernehmen. Dennoch gelang es mir nicht, diese Bruchstücke sinnvoll zu verbinden. Die pechschwarzen Augen funkelten mich wegen meiner offenkundigen Dummheit erneut boshaft an, und obwohl ich wusste, dass mein Gegner machtlos war, erzitterte ich bei diesem Anblick.

Plötzlich sammelte der Elende seine allerletzten Kräfte und hob den grässlichen Kopf von dem feuchten und eingesunkenen Steinboden. Und während ich vor Angst erstarrt danebenstand, fand er seine Stimme wieder und schrie mir im Sterben die Worte zu, die mich seither Tag und Nacht verfolgen.

»Narr!«, kreischte er. »Errätst du mein Geheimnis nicht? Hast du kein Hirn, um zu erkennen, welcher Wille über sechs lange Jahrhunderte hinweg den schrecklichen Fluch auf deinem Geschlecht erfüllt hat? Habe ich dir nicht von dem großen Elixier des ewigen Lebens erzählt? Weißt du denn nicht, wer das Rätsel der Alchemie löste? Ich sage dir, ich war’s! Ich! Ich! Ich habe 600 Jahre lang gelebt, um meine Rache zu vollziehen, denn ich bin Charles Le Sorcier!«