Umschlag

Philipp Gurt wurde 1968 als siebtes von acht Kindern in eine Bergbauernfamilie in Graubünden geboren. Er wuchs in verschiedenen Kinderheimen auf. Früh begann er mit dem Schreiben. Zwölf seiner Bücher wurden bisher veröffentlicht, darunter auch mehrere CH-Bestseller. 2017 erhielt er den Schweizer Autorenpreis. Er lebt in Chur im Kanton Graubünden.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Montage aus mauritius images/ClickAlps,
lisa runnels/Pixabay.com
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-582-4
Komplett überarbeitete Neuausgabe
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel «Insomnia»
bei der Literaricum GmbH.

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Nichts auf der Welt ist so wandelbar wie die Liebe:

Lügen, Hass, sogar Mord, alles ist in ihr verschmolzen;

sie ist das unvermeidliche Aufblühen ihrer Gegensätze,

eine prächtige Rose, die schwach nach Blut duftet.

Tony Kushner, «The Illusion»

Prolog

Der weisse Geländewagen wirbelte eine dichte Staubwolke hinter sich auf, die sich nur langsam in der trägen Luft auflöste. Bei jedem Aufprall in einem Schlagloch, der den Wagen durchschüttelte, kreischten die vier Insassen auf. AC/DC lärmte aus den Lautsprechern: «Highway to Hell». Sie grölten hingebungsvoll mit. Andrin schob seine Sonnenbrille zurecht und reichte Fadri, dem Fahrer, ein weiteres Bier aus der Kühlbox nach vorne. Der lachte und stimmte nach einem kräftigen Schluck wieder in den gemeinsamen Gesang ein. Bigna, die neben ihm auf dem Beifahrersitz sass, schüttelte im Rhythmus der Musik ihr langes blondes Haar so wild, dass sie ihr Wodka-Red Bull verschüttete.

Auf der Rückbank sassen Andrin und seine Freundin Mia. Andrins rechte Hand steckte in ihrem Höschen, das sie unter kurzen beigen Shorts trug. Durch die heruntergekurbelten Fenster kühlte der Fahrtwind die erhitzten Gesichter ein wenig. Mias Augen glänzten, als ihre Blicke sich wieder trafen, der Fahrtwind wirbelte ihr dabei das pechschwarze Haar ins Gesicht. Sie küssten sich, als sie den nächsten Höhepunkt erreichte. Die Musik dröhnte weiter, Mia liess sich entspannt in den Sitz sinken, um den Moment auszukosten, während Andrin wieder in den Gesang einstimmte und ein neues Bier öffnete.

«Afrika ist so schön!» Mia dachte an die vergangenen zwei Wochen in Kenia und liess ihren Blick über die endlos scheinende Savanne schweifen. Die Wolkenbänder, die langsam durch das Blau des Himmels zogen, spiegelten sich im Glanz ihrer Augen wider.

Diese Farben, die Landschaft, Erde und Himmel leuchten liessen. Die Menschen und das unfassbar schöne Licht auf diesem Schwarzen Kontinent.

Afrika! Wildnis, Safari, Tiere … feiern und sich lieben.

Seit ihrer Kindheit waren die vier beste Freunde – im selben kleinen Dorf in Graubünden aufgewachsen – und so fest zusammengeschweisst, als hätten die steilen Bergflanken im engen Tal ihre Freundschaft all die Jahre hindurch bewahrt. Diese hatte sich auch gehalten, als sie sich, wie die meisten jungen Leute, ausbildungsbedingt im Unterland einleben mussten.

Sie trugen in ihren Herzen die Heimat, das Tal mit, das umrahmt war von den in den Himmel ragenden Berggipfeln. Im August leuchtete das Abendrot in den Felswänden. Und wenn die Hitze beim Bergheuen in den stotzigen Wiesen den Schweiss über ihre tief gebräunten, erhitzten Gesichter trieb, dann wurde der hauseigene Most in bauchigen, mit Bast umwickelten Flaschen gereicht und löschte erlösend den brennenden Durst. Salsiz, Brot und Käse stillten den Hunger.

Am späten Abend, die Grillen zirpten in der Dämmerung, der Mond hing über der Ostflanke einer Felswand, der Wind blies wohltuend das Tal hoch, brachten sie mit dem Aebi-Transporter die letzte Fuhre ins kleine Dorf hinunter. Der Motor knatterte gleichmässig, keiner sagte ein Wort. Sie waren alle erschöpft. Es duftete nach Heu und feuchter Wiese. Eine leichte Abendfrische lag in der Luft. Der kleine Bach, der sich bei heftigen Gewittern wie eine Lawine ins Tal zu stürzen vermochte, trollte sich friedlich rauschend ins Tal.

Mutter Laraina hatte Rösti und Capuns auf dem Herd und wischte sich die Hände an der Schürze ab, als sie ins Haus kamen. Eine Schüssel mit selbst gemachtem Joghurt für das Dessert stand wie immer auf dem kleinen Holztisch neben dem Kühlschrank. Stets gab es zuerst Suppe mit viel Schnittlauch und Peterli aus dem eigenen Garten.

Dann kam der Moment, den Mia immer magisch fand: Wenn alle am Tisch Platz genommen hatten, sprach der Vater ein Gebet, brach das selbst gebackene Brot und reichte jedem ein Stück davon. Tee und Most wurden eingeschenkt. Schweigsam löffelten alle die würzige Suppe, dabei schlugen die Löffel hell klingend an die Teller. Wenn der Letzte seine Suppe aufgegessen hatte, stand die Mutter auf, stellte die Schüsseln mit der Hauptspeise auf den Tisch und der Vater schöpfte jedem etwas davon. Jetzt begannen sie alle zu reden – über den Tag, die Geschichten im Dorf, das Wetter, den letzten Lawinenwinter, den Bau der kleinen Holzbrücke oben bei der Schreinerei, über die Tiere, die Ernte und die Politik unten in Bern. Wenn Kaffee, Nusstorte und die Schüssel Joghurt auf dem Tisch standen, sprachen sie dann über den nächsten Tag.

Punkt zweiundzwanzig Uhr schaltete der Vater wie jeden Abend Radio SRF I ein für den Wetterbericht. Nach und nach leerte sich dann der Tisch. Nach einer erfrischenden Dusche lag Mia im Bett. Wie jeden Abend wollte sie noch lesen, doch sie war hundemüde und schaffte nicht mehr als ein paar Seiten.

Afrika!

Auf diesen Trip hatten sie sich lange gefreut. Afrika war anders, aufregend, geheimnisvoll.

Heute waren sie in der Busch- und Grassavanne der Masai Mara unterwegs, einem riesigen Naturschutzgebiet der Serengeti. Morgen früh würde sie der Flieger schon wieder zurück in die Enge der Schweiz bringen, deshalb wollten sie es noch mal so richtig krachen lassen.

Mia döste ein, ihr Körper wurde leicht wie Luft, der warme Wind umschmeichelte ihre glühenden Wangen, ihre Augen waren hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen. Der Wagen rumpelte weiter die Naturstrasse entlang. Bigna und Andrin würden heute sowieso erst mit dem Trinken aufhören, wenn sie sich gemeinsam ins Koma gesoffen hätten. Das war bei den beiden schon immer so gewesen, wenn sie beim Feiern einen gewissen Punkt überschritten hatten. Mia hörte die Musik und das Singen und Gelächter der anderen wie durch einen Schleier. Alles schien weit weg, so als würde in der Ferne ein Zug einsam durch die Nacht rattern. Müde schweifte ihr Blick aus halb geöffneten Augen über die endlose Ebene mit den Kampferbüschen, die überall wuchsen.

Fadri fuhr zu schnell.

Auch wenn sie wussten, dass ihnen ein kleiner Bus des Hotelanbieters mit weiteren Touristen folgte, da sich aus Sicherheitsgründen mindestens zwei Fahrzeuge auf Safari begeben sollten, war es nicht gut, ein zu grosses Risiko beim Fahren einzugehen. Ein Defekt am Wagen war hier draussen nicht so schnell zu beheben.

Mias Kopf schlug beim nächsten Schlagloch so hart an das Seitenfenster, dass sie aufschrie. «Fadri! Verdammt noch mal, fahr endlich langsamer! Ich will ein bisschen chillen.» Sie brüllte in die ausgelassene Stimmung hinein und kam sich dabei schon fast wie eine Spiesserin vor.

Fadri lachte auf wie ein Motor, der kurz im Leerlauf hochgedreht wird, und hob spöttisch den Zeigefinger, als er unvermittelt voll auf die Bremse trat, denn ein paar Ziegen rannten hinter einigen Kampferbüschen hervor auf den Feldweg. Alle im Wagen schreckten hoch, als dieser auf die kleine Herde zuschoss, die von drei kleinen dunkelhäutigen Jungen geführt wurde.

Die Kinder blieben mit weit aufgerissenen Augen stehen, in ihren kleinen Gesichtern stand nacktes Entsetzen.

Wie in Zeitlupe pflügte der Jeep, nach einem harten Aufprall an den wuchtigen vorderen Stossfängern, die Ziegen fort. Fadri versuchte nach rechts hinein ins Grasland zu steuern und schaffte es gerade noch, zwei der Jungen auszuweichen. Der dritte wurde nach einem dumpfen Aufprall vom Wagen weggeschleudert. Der Geländewagen schlug neben der Strasse auf einem grossen Stein auf und überschlug sich mehrmals. Fadri und Bigna wurden hinausgeschleudert und vom Wagen erdrückt, Mia und Andrin wild durchs Wageninnere geworfen. Bierdosen, Wasserflaschen und Proviant lagen rund um das auf dem Dach liegende Gefährt verstreut im Gras.

Andrin kroch mit einer blutenden Kopfwunde aus dem Wageninneren. Mia wand sich benebelt aus einem zerbrochenen Seitenfenster und spürte nicht, wie sie sich dabei an der beschädigten Karosserie eine tiefe Schnittwunde am Bein zuzog.

Es herrschte eine tiefe Stille. Es war, als hätte der laute Knall ihr Gehör betäubt. Alles wirkte zeitlos.

Doch dann hörte Mia die verletzten Tiere blöken, und die beiden Jungen schrien mit ihren hellen Stimmen auf, dass es beinahe die Luft zerschnitt.

Der Boden wankte unter ihren Füssen, als sie durchs Grasland humpelte. Einige Ziegen lagen blutüberströmt und mit verrenkten Gliedern verstreut am Boden, ihre geschlitzten Pupillen starr ins Nirgendwo gerichtet. Andere wiederum versuchten, sich in ihrer Panik aufzurichten, um zu fliehen – aufgrund der zerschmetterten Gliedmassen jedoch vergebens.

Dann sah Mia den Jungen.

Sein Gesicht zum Himmel gerichtet, lag er im dürren Gras, als ruhe er sich aus. Seine Augen waren weit geöffnet, die Hand hatte er schwach zur Faust geballt, als würde sie noch immer den Holzstecken halten, mit dem er gerade die Ziegen geführt hatte.

Er atmete nicht mehr.

Mia konnte ihren Blick nicht von dem kleinen Körper wenden. Der Junge trug keine Schuhe, das T-Shirt mit der verblichenen Coca-Cola-Werbung war fleckig, die kurze Hose an verschiedenen Stellen aufgerissen. Das Gesicht des Kleinen drehte sich wie eine Spirale in ihr Innerstes. Er hätte doch noch sein ganzes Leben vor sich gehabt. Sie waren schuld. Sie war schuld!

Dann vernahm sie in der Nähe das mächtige Brüllen eines Löwen. Seine tiefe, heisere Stimme liess die Luft vibrieren und alles andere verstummen.

Mia drehte sich vorsichtig um.

In unmittelbarer Nähe, auf einem roten Felsen, der sich einsam vom Horizont absetzte, sah sie die Silhouette eines kraftvollen Männchens mit riesiger Mähne, das sein Haupt zum Himmel emporrichtete, um nochmals aus tiefstem Rachen zu brüllen.

Nahezu gleichzeitig erhob sich, einer anrollenden Welle gleich, lautes Geschrei: «Abuu!»

«Abuu! Abuu!»

«Abuu!», hörte sie immer wieder eine Frauenstimme rufen. Dann sah sie eine Gruppe Frauen und Männer, das Entsetzen in ihren Gesichtern war nicht zu beschreiben. Sie kamen auf sie zugestürmt.

Die beiden unverletzten Jungen klammerten sich sofort an eine Frau, die in rote Tücher gekleidet war.

«Abuu! Abuu!», schrien nun alle wild durcheinander.

Als sie den Jungen zu Mias Füssen im Gras liegen sah, warf die Frau sich auf den Boden, umschlang den leblosen Körper und zog ihn zu sich heran, ihr Blick war dabei zum Himmel gerichtet, als würde sie Hilfe erwarten. Immer wieder schrie sie dabei seinen Namen.

Mia war kurze Zeit unfähig, sich zu bewegen. Wie Geister waren die Menschen auf einmal aus dem Nichts aufgetaucht.

Dann drehte sie sich um und sah Andrin am Boden kauern, eine Gruppe von Schwarzen stürmte auf ihn zu. Die Männer begannen ihn laut zu beschimpfen und zeigten auf die vielen Bierdosen am Boden. Bevor Mia ihn erreichen konnte, fingen sie an, wie wild mit Knüppeln auf ihn einzuschlagen, sodass er das Bewusstsein verlor. Sie schlugen weiter, bis Mia sich schützend über ihn warf.

Wenige Meter vom umgestürzten Wagen entfernt, verharrte sie über ihren Freund gebeugt. Hinter ihr stand die füllige Frau mit dem bunten Kopftuch im Gras der Savanne, den kleinen Körper, auf dessen wunderschöner schwarzer Haut das dunkelrote Blut glänzte, in den Armen.

Die Frau schrie weiter und klagte laut gen Himmel.

«Abuu. Abuu. Abuu.»

Die Meute hatte nur kurz abgelassen, um dann wieder ihre Knüppel zu erheben, als die Luft von krachenden Schüssen zerrissen wurde.

Mia blickte auf und sah zwei Schwarze mit Gewehren im Anschlag stehend aus dem offenen Dach eines Safarifahrzeugs ragen. Weitere Kugeln pfiffen über die Köpfe der Angreifer hinweg und trieben sie auseinander.

Dann war es wieder still.

Am äussersten Rand von Mias Blickfeld bildeten sich immer breiter werdende schwarze Ränder, die Dunkelheit floss unaufhaltsam weiter in sie hinein, wie eine schwarze Flut bahnte sie sich den Weg durch ihren Körper, bis Mia das Bewusstsein verlor 

1

1. November – Allerheiligen

Er rannte durch den grossen Saal im Eingangsbereich, der Restaurant und Speisesaal zugleich gewesen war. Durch die Löcher der herausgerissenen Fenster, die wie leere Augenhöhlen wirkten, schien die Sonne. Staub schwebte in den golden gleissenden Lichtkegeln, als gäbe es keine Zeit davor und danach. An der Wand, neben einer aus dunklem Holz gefertigten Garderobe, befand sich ein rostiges emailliertes Schild mit der Aufschrift «Kegelbahn», daneben zeigte ein Pfeil zur Treppe hin, die nach unten führte. Ein dicker, ehemals filigran gemusterter Teppich bedeckte den Boden im engen, dämmerigen Flur. Zwei schmale Türen mit den entsprechenden Symbolen führten zu den Toiletten.

Er nahm die Treppe, die nach oben führte, zwei Tritte aufs Mal. Zweiter Stock, dritter, vierter. Rückwärts ging er den Flur entlang.

Der ihn verfolgende Polizeibeamte hielt einen Knüppel in der Hand und schwang diesen bedrohlich über seinem Kopf, während er langsam näher kam. Der zweite, ebenfalls uniformierte Gesetzeshüter versuchte, eine Art Machete in seiner Rechten zu verbergen, indem er sie seitlich hinter seinen Körper hielt. Doch die tief am Horizont stehende Sonne liess deren scharfe Klinge verräterisch aufblitzen.

Nach dem, was er in den letzten Monaten erlebt hatte, war eines gewiss: Die beiden wollten ihn töten. Sie wollte ihn töten – ohne Erbarmen, ohne Gnade. Sie wollten sein Blut fliessen sehen. Ein Hieb mit der Machete oder ein Schnitt durch seinen Hals – und die Sonne würde das Blut funkeln lassen wie einen kleinen pulsierenden roten Fluss. Er hatte gehofft, sie endlich abgeschüttelt zu haben, doch nun schien seine Flucht, und somit er selbst, ein Ende gefunden zu haben. Er war barfuss, nur mit einem dünnen Jogginganzug bekleidet, doch er spürte die Kälte nicht mehr.

Sie befanden sich im Hotel-Restaurant Krone in Chur-Masans. Türen gab es keine mehr, auch die Fenster waren samt Rahmen aus den Mauern herausgerissen worden. Einzelne kleinere Möbelstücke standen wie zufällig dort platziert in den Räumen. Eine in die Jahre gekommene und mit einer Staubschicht bedeckte Kommode mit wie Zungen heraushängenden Schubladen lag umgekippt in der Mitte des nächsten Raumes. Ein Wandspiegel mit einer blinden Stelle im linken unteren Eck lehnte an der Wand, ein dicker grüner Vorhang hing in einer zur Hälfte heruntergerissenen Vorhangschiene – Farbe und Muster stammten vermutlich aus den späten Siebzigern. Ein offenbar wertloses Bild hing schief an der Wand. Es zeigte einen röhrenden Hirsch, der majestätisch vor einem Wasserlauf stand, Morgennebel schwebte über dem Geschehen, im Hintergrund dunkler Wald, die Wiese nass vom Tau, in der Bildfront leuchtete das Rot eines Fliegenpilzes.

Die Sonne legte auch hier ein Licht-Schatten-Muster durch die südwärts gelegenen Räume in den Flur, als hätte sie Freude an dieser Art der Symmetrie.

Der keuchende Atem der drei wölkte sich vor ihren Gesichtern wie bei Pferden auf der Rennbahn. Es war der erste Tag im Herbst, an dem trotz Sonnenschein das Thermometer nicht über null Grad zu klettern vermochte. Die beiden Augenpaare der Angreifer waren weiter starr auf ihn gerichtet. Leise war der Lärm der nahen Masanserstrasse zu hören: Hupen und das Brummen von Fahrzeugen, die Fahrt aufnahmen.

Die beiden Beamten der Kantonspolizei Graubünden sprachen kein Wort, als sie weiter auf ihn zukamen – langsam, als würden sie sich einem streunenden Hund nähern, um ihn einzufangen, beschwichtigend langsam, damit er nicht Reissaus nahm, und doch vorsichtig genug, um nicht gebissen zu werden.

«Ruhig, mein Kleiner», schienen die beiden ihm sagen zu wollen, «du hast es gleich geschafft. Es wird schnell gehen. Nur ganz ruhig, die scharfe Klinge wird dich erlösen.»

Immer wieder blitzte diese auf, wenn das Licht durch eine der Türöffnungen in den Flur auf den speckigen Teppichboden fiel, dessen Muster ihm überhaupt nicht gefiel. Er musste schmunzeln, weil er sich über so etwas überhaupt Gedanken machte, jetzt, wo der Tod in Begleitung zweier Beamter auf ihn wartete. Er hatte nur seine beiden Fäuste, und die würden niemals ausreichen. Vor ihm standen zwei kräftige, hochgewachsene Männer mit Oberkörpern wie massive Eichenschränke.

Er blickte beim Rückwärtsgehen weiter links und rechts in die leeren Hotelzimmer: Kabel hingen aus der Decke, ein zertrümmertes Lavabo und ein angeschlagener WC-Deckel lagen auf dem Boden, der Teppichboden hatte Risse, in der Ecke stand schräg ein braunes Bettgestell. Doch sah er kein Brett und auch keinen stangenähnlichen Gegenstand, mit dem er sich vielleicht hätte wehren können.

Hinter ihm nahte das Ende des Flurs. Vor der Südfassade lagen der asphaltierte Parkplatz und die Sonnenterrasse, auf der Gebäuderückseite dehnte sich eine Wiese mit einigen niederstämmigen Obstbäumen den Hang hinauf, versuchte er in Gedanken die Umgebung zu überblicken.

Er blieb mit dem Rücken zur Wand stehen.

Ein kleines WC lag zu seiner Linken, auch da war die Tür aus den Angeln gehoben worden.

Seine Lebensgeister, die ihn die letzten Monate hatten überleben lassen, wichen zusehends. Freude und Hoffnung, vor einer halben Stunde endlich entwischt zu sein, waren wieder Angst und Mutlosigkeit gewichen. So nahe war er dran gewesen. Er hätte nur das Haus finden und bei ihr klingeln müssen. Doch jeder findet sein Ende auf seine Art – und diese war wohl nun für ihn bestimmt.

Durch eine Türöffnung vor sich sah er, wie die Sonne tief am Horizont über dem Bündner Oberland stand. Die Gipfel waren überzuckert vom Schnee der letzten Woche, der beinahe bis ins Flachland gefallen war. Zarte Wolkenbänder leuchteten auf und verfärbten das Licht im Flur rötlich orange.

Welche Theatralik: Im letzten Schein des Tages unter flammend roten Wolkenschleiern zu sterben, dachte er.

Da erschien am Ende des Flurs schemenhaft die Frau – wie ein Geist. Je näher sie kam, desto mehr nahm sie Gestalt an. Er erkannte sie sofort wieder.

Ihr schulterlanges Haar war pechschwarz wie das von Schneewittchen. Sie trug eine weisse wollene Mütze auf dem Kopf und um den Hals einen farblich dazu passenden Wollschal. Der schwarze taillierte Wintermantel im klassischen Stil reichte bis zur Mitte der Oberschenkel. Ihre Beine steckten in dunklen Jeans mit breitem Aufschlag. Darunter kamen Stiefeletten mit hohen Absätzen zum Vorschein. Ihre Schritte waren stramm, als würde sie eine Parade ablaufen. Ihre linke Hand hatte sie tief in der seitlichen Manteltasche vergraben. Die behandschuhte Rechte hielt einen kleinen schwarzen Koffer. Bei jeder Türöffnung, die gen Süden zeigte, tauchte die unwirkliche Frau im letzten flammenden Sonnenschein auf. Ihr Haar glänzte verführerisch, um danach im Dämmerlicht des Flurs bis zur nächsten Türöffnung beinahe wieder ganz zu verschwinden. Als wüssten die beiden Beamten genau, was hinter ihnen geschah, drehten sie sich nicht um. Sie schienen keinerlei Notiz von ihr zu nehmen, ausser dass sie etwas zur Seite wichen, als sie herantrat.

Jetzt sah er ihr Gesicht. Natürlich, sie war es!

Er war nie gut darin gewesen, das Alter von anderen zu schätzen. Vielleicht war sie Mitte zwanzig, ihr Teint dunkel wie der einer Italienerin, die Gesichtszüge ebenmässig. Lipgloss glänzte auf ihren weichen, vollen Lippen, ihre Miene schien regungslos.

Und da waren ihre Augen!

Tief azurblau leuchteten sie wie feinste Opale – mit Smaragdgrün in der Iris. Kühl durchbohrten sie ihn mit der Kälte und Emotionslosigkeit von Edelsteinen und doch voller Anziehungskraft. Er war einmal mehr gebannt von der Schönheit dieser Augen, diesem Gesicht, dieser wundervollen Frau, die eine Distanz ausstrahlte, als wäre sie gar nicht anwesend, und doch fühlte er sich ihr sofort nah, wünschte sich nichts sehnlicher, als dass sie ihn hier und jetzt umarmte.

Und wie sie duftete. Wie ein wunderschöner, farbdurchtränkter, kühler Herbsttag voller Melancholie, wie der Herbstwind, der die goldgelben Blätter durch den blauen Himmel wirbelt und über die Kastanien streicht.

Ihr Anblick liess ihn alles um sich vergessen, bis zu dem Moment, als sie ihre ledernen Handschuhe abstreifte und den kleinen Koffer öffnete.

Die Beamten traten links und rechts von ihm an die Wände des Flurs. Sein Herz begann stärker zu schlagen.

Zu seinem Erstaunen zog die kühle Schönheit aus dem kleinen Kasten nicht das erwartete Messer hervor, sondern eine Geige. Ihre Augen ruhten weiter auf ihm, als sie zum Spielen ansetzte. Dann, nach den ersten Tönen, schloss sie ihre Augen.

Er erkannte das Stück sofort. Ein Lied von Frank Duval: «Give Me Your Love». Nur zwei seiner Lieder kannte er, diese dafür aber gut. Sie hatten ihn während einer schwierigen Zeit zwangsberieselt. Den Text konnte er auswendig:

Something strange was in the air when I woke up last night.

A special formed light and a far away voice was talking to me:

Give me your love

try to believe in feelings.

Give me your love

try to believe in me.

Give me your love

time has a special value.

A moment of love that’s eternity.

Give me your love

you’ll find a door of glass and light.

You’ll open it

you’ll leave the night

you’ll never feel alone.

Give me your love

that’s the sign for you to rise.

Into a new dimension of life

give me your love.

The voice strange and light faded away when dawn came

and left me behind with these words in the air:

Give me your love

you’ll find a door of glass and light 

Als das Stück zu Ende war, öffnete sie ihre leuchtenden Augen und begann das zweite Stück zu spielen.

Duvals «Todesengel» – ein Instrumentalstück.

Diesmal schaute sie ihn beim Spielen an.

Er fühlte es sofort: Es war, als läge seine Seele in den Saiten ihrer Geige. Jeder Ton wurde aus seinem Innersten geboren und schmerzhaft traurig zum Klingen gebracht. Da stand sie und spielte die Welt seiner Gefühle von damals, die noch immer von frischem Tau berührt werden konnte. Ein Schauer, gleichermassen von Glück und Traurigkeit, überkam ihn. Die Frau, so nah und doch fern, spielte im letzten Licht des Novemberabends das Lied seiner Seele und schien zu verstehen, warum damals alles so traurig gewesen war. Ein Verstehen, das nicht mit Worten möglich war. Es berührte etwas, was er damals wie heute niemals jemandem hätte erzählen können.

Niemals!

Doch sie drang mit dem Lied immer tiefer in ihn ein, bis er fühlte, dass sein Körper gänzlich aus dem Lied bestand und sich im Gefühl des Spielens mit ihr verband. Der Bogen strich über die Saiten, und er spürte sogleich auch in sich, wie die Erinnerung erwachte: gleichermassen sanft und bestimmt, gedehnt und abrupt. Seine Seele heulte hell auf wie eine E-Gitarre, zog sich zusammen, entspannte sich und weinte ihre Last im Lied aus, dabei stets ihre unsagbaren Augen vor sich. Es war, als würde sie ihm ihre Hand reichen, um mit ihm alldem nochmals zu begegnen. Er sah seinen Schmerz in ihren Augen und fühlte sich wortlos verstanden – das allererste Mal in seinem Leben. Da war ein tiefer azurblauer See, in dem sich eine Träne formte und glitzernd ihre Wange hinunterlief. Trotz des Schmerzes auf seiner Seele begann er, etwas wie Liebe zu fühlen – Schmerz und Liebe, Liebe und Schmerz, beides ineinander verwoben.

Sie spielte weiter sein Lied, bis heisse Tränen auch seine Wangen benetzten. Der Schmerz in ihm wurde lebendig, begann sich zu formen, und eine unsagbar tiefe Traurigkeit ergriff von ihm Besitz. Es schien ihm, als würde diese unsagbare Traurigkeit ihn weit hinab in die Tiefe mitreissen, um ihn wieder in den lichtlosen schwarzen Quadranten zu verwandeln, der er war.

Doch die Klänge der Geige liessen ihn weiter jeden stummen Schrei fühlen und in den Klangwogen des Liedes ausstossen, denn sein Körper war nun gänzlich Musik. Es war, als trügen die Töne ihn durch seine Gefühlswelt hindurch und rissen die Schleier auf, die seit Jahren darüber lagen. Für einen kurzen Augenblick war er mit ihr verbunden und sah, wenn auch nur für den Bruchteil eines Moments, das Entscheidende!

Nun legte sie sorgsam Geige und Bogen in den kleinen Koffer und lächelte ihn an. Er stand noch immer nur da, verwirrt durch die Gefühlsmacht und im Bann ihrer Augen.

Sie liess sich Zeit, als würde sie auf etwas warten.

Die Frau schien sich ganz langsam wieder aufzulösen, er spürte es tief im Inneren. Ebenso langsam sickerte, als kühler Schauer wie Abendkälte im Winter, die Erkenntnis in ihn ein, dass dies ja die Frau war, die seit Wochen für Schlagzeilen sorgte und doch nur ein Phantom zu sein schien. Wie hätte er sie nicht erkennen können? Es waren ihre Augen, die ihm die Erkenntnis lieferten, dass er vor sich wieder die Mörderin sah, die in Graubünden Menschen tötete – und zwar auf eine Art, mit der sie seit Wochen zum Schreckgespenst der Bevölkerung und zum wichtigsten Gesprächsthema geworden war.

Fieberhaft wurde nach ihr gefahndet, die Berichte in den Printmedien handelten den aktuellen Stand täglich ab, TV-Stationen im In- und Ausland berichteten.

So schlecht er das Alter eines Menschen einschätzen konnte, so sicher konnte er sich dafür auf sein Gespür verlassen, aus den Augen von Menschen lesen zu können. Doch etwas irritierte ihn völlig: Warum stand die in der Schweiz meistgesuchte Frau völlig unbehelligt neben zwei Beamten der Kantonspolizei Graubünden und spielte ihm seine Lieder vor?

Weiter kam er nicht in seinen Gedanken.

Auf ein fast unmerkliches Kopfnicken von ihr zog einer der Beamten die Klinge hervor und hielt sie beidhändig erhoben so vors eigene Gesicht, dass sie seinen dampfenden Atem teilte.

In dem Moment, als die Beamten die wenigen Schritte auf ihn zustürmten, ihn packen wollten, war es wie ein Reflex, den er selbst gar nicht erwartet hatte. Er hechtete ziel- und planlos in das WC und stürzte sich aus dem kleinen Fenster des vierten Stocks, der Anblick der Frau war dabei auf seiner Netzhaut eingebrannt. Wie in Trance zog die Hausfassade rasend schnell und doch endlos langsam an ihm vorbei. Das matte Violett des Anstrichs hatte er noch nie gemocht, dachte er noch, als er auf die dicke Abdeckplane eines Komposthaufens krachte.

Sekundenlang verschlug es ihm den Atem. Das Gesicht zum Himmel gerichtet, blieb er einen Moment lang liegen.

Etwa fünf Meter über sich sah er die Gesichter der Beamten, die ungläubig zu ihm nach unten blickten und sogleich wieder im Gebäude verschwanden.

Er rappelte sich auf, so schnell er konnte, und verschwand über die kleine Mauer, die das Grundstück umschloss, in der angrenzenden Siedlung.

In einem Mehrfamilienhaus schlich er leise die Kellertreppe hinunter in die Waschküche. An einer Wäscheleine hingen Tücher, eine Waschmaschine spulte ihr Programm durch, ein Wäschetrockner blies warme Luft in den Raum. Am grossen verchromten Waschtrog benetzte er eines der Tücher mit heissem Wasser und umwickelte seine eiskalten nackten Füsse damit. Warmes Wasser liess er wohlig am Waschtisch über seine dunklen kalten Hände laufen.

Er blickte auf.

Im Halbdunkel sah er in dem kleinen Spiegel über dem Waschtrog sein müdes Gesicht – das Weiss seiner Augen leuchtete hell, die Züge wirkten bewegungslos.

War diese Welt verrückt geworden?

Er hatte doch nichts anderes als seinen Job gemacht und dabei ein furchtbares Verbrechen gesehen, das er nie hatte sehen wollen. Und er hatte mit niemandem darüber gesprochen, bis zu dem Moment, als sie ihn dazu gezwungen hatte. Warum also war sie so hinter ihm her?

Seine Gedanken kehrten zurück zu all den Erinnerungen, die in seinem Kopf herumschwirrten, als wären es Bienen, die ihren Stock nicht fanden.

Irgendwo im Gebäude hörte er eine Tür aufgehen und wieder ins Schloss fallen. Er musste los, denn wie sehr würde eine Hausfrau erschrecken, wenn sie einen Schwarzen im Halbdunkel ihrer Waschküche anträfe?

Er flüchtete barfuss wieder in die Kälte hinaus.

Das Haus, das er gesucht hatte, musste ganz in der Nähe sein. Er hoffte, es diesmal zu erreichen, bevor sie ihn erwischten.

2

Im Januar zuvor

Seit Monaten lebte Abuu mehr schlecht als recht von ein paar Aushilfsjobs, die ihm wenig Geld einbrachten. Meist waren es irgendwelche Reinigungsarbeiten bei Leuten, die kein Geld ausgeben wollten, um dafür eine spezialisierte Firma zu engagieren. Er putzte deshalb Wohnungen von Leuten, die umzogen, half bei Neubaureinigungen, Kanalsäuberungen oder in der Schädlingsbekämpfung mit. Keine Arbeit war ihm zu gering, keine zu schmutzig. Doch niemand bot ihm eine Festanstellung an. Vielleicht auch deshalb, weil er nicht redete oder nur dann ein paar Worte, wenn es unbedingt sein musste, und diese auch nur geflüstert. Er war am liebsten stumm und unsichtbar, doch noch lieber wäre es ihm gewesen, wenn das alle wären. War ein Job erledigt, hatte er bis jetzt auch immer das vereinbarte Geld bar auf die Hand bekommen.

Und Abuu seinerseits war froh, dass niemand ihn fragte, warum er Tag für Tag an dem kleinen Tisch mit den Kerben in der Tischplatte sass, stumm und in sich gekehrt, sein Gesicht ausdruckslos, als wäre er ein Fisch. Er war auch erleichtert, denn nicht einmal er selbst wollte wirklich wissen, wie es dazu gekommen war, dass er nun das war, was er war.

Im «Hemingway», als er wie immer leicht über das halb leere Glas gebeugt still an seinem gewohnten Platz sass, hatte der Wirt eines Abends auf ihn gezeigt, als ein Stammgast sich nach einer billigen Arbeitskraft erkundigt hatte. Er war erstaunt darüber, dass der andere, der nun zu seinem Tisch blickte, nicht selber auf die Idee gekommen war, sassen sie doch beinahe jeden Tag nur zwei Tische voneinander entfernt.

So war er damals zu seinem ersten Job gekommen. Drei Tage putzte er eine grosse Ferienwohnung in Disentis. Offensichtlich war der Mann mit der Erledigung zufrieden, denn von da an sprach es sich in der Kneipe herum, dass Abuu für wenig Geld zuverlässig und ordentlich arbeitete.

Wenn er zurückdenken musste, kam ihm als Erstes das Kinderheim in der Nähe von Soweto in Südafrika in den Sinn, in dem er mit vier Jahren wie ein Stück Gepäck abgegeben worden war. Er fügte sich danach so gut wie möglich in den Heimalltag ein, bis ihn – nur ein Jahr später – ein liebenswertes Schweizer Pärchen entdeckte, ihn adoptierte und nach Chur holte.

So lernte er alsbald Schweizerdeutsch.

Die Beziehung des Paars hielt nicht lange, und sein Vater, bei dem er nach der Trennung blieb, wechselte danach rege seine Partnerinnen. Nichts blieb mehr übrig von der grossen Liebe, die zwischen den beiden einst gewesen war und sie eine Familie hatte gründen lassen. Die Adoption hatte ihr Glück vervollständigen, es für immer perfekt machen sollen.

«Immer», das lernte Abuu schnell, war ein zu grosses Wort, wenn es im Zusammenhang mit etwas Gutem oder gar Glück ausgesprochen wurde.

Sein Vater und er bezogen nach der Trennung eine Wohnung im Rheinquartier, in einem der anonymen Wohnblocks, in denen der Anteil an Ausländern grösser war als jener der Einheimischen. Abuu war aber beides: im Herzen Schweizer – die Haut jedoch blieb schwarz. Er verstand sich gut mit den anderen Kindern im Quartier, und es gab selten Probleme. Sein Bündner Dialekt war kernig und klar. Damals war er oft allein in der kleinen Wohnung. Sein Vater war als Vertreter viel unterwegs. Das Geschäft lief wohl nicht so gut. Oft kam er missmutig mit den wuchtigen Koffern, in denen er Musterware mitnahm, um diese den Kunden zu zeigen, nach Hause. Seine Mutter liess nach der Trennung nichts mehr von sich hören. Das Letzte, woran sich Abuu erinnerte, waren die lauten Streitereien der beiden – wie er mittendrin stand und es ihn beinahe zerriss.

Er machte damals selbstständig Hausaufgaben, kochte für sich oder spielte mit Freunden an der Spielkonsole. In der Stille der Wohnung schlief er abends oft einsam ein.

Wenn Bilder von früher zwanghaft auftauchten und er sie nicht zurückzudrängen vermochte, dann fielen sie wie Puzzleteile über ihn herab. Vieles fehlte, einiges konnte er gar nicht mehr zuordnen, seine Vergangenheit kam ihm wie ein Traum vor, der beim Erwachen immer weiter entschwindet, je mehr man ihn festhalten und verstehen will. Aber er mochte auch nicht wirklich weiter darüber nachdenken. Denken konnte gefährlich sein, vor allem, wenn es zu viele und falsche Gedanken waren.

Irgendwann in diesen Jahren damals verlor er die Lust am Sprechen und zog sich zurück. Erinnern konnte er sich nicht so genau an die Gründe, wahrscheinlich war es deshalb so gekommen, weil jeder Tag sich fast identisch an den vorherigen reihte und so anonymisiert zur Vergangenheit wurde. Auch die Jahreszeiten verschmolzen mit den Jahren zum Einheitsbrei seiner Erinnerung.

Nur ein Traum war seltsam farbig und ängstigte ihn – es war immer derselbe.

Er träumte zunächst von einem neuen, besseren Leben, irgendwo in der heilen Bergwelt, einem Leben, in dem er ein anderer war. So träumte er von der jungen Frau, sah ihre schönen Hände, spürte ihre Brüste, ohne sie jedoch zu berühren. Sie stand, ihm den Rücken zugewandt, nackt inmitten einer Bergwiese voller Blumen. Die Frau duftete nach Sommer. Über ihr leuchtete die Sonne, ringsherum erhoben sich steile Berggrate.

Langsam ging er auf sie zu, sie bewegte sich noch immer nicht. Ihre dunklen Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er sah, wie seine Hand zitterte, als er vorsichtig ihre Schulter berühren wollte. Doch wie immer, wenn er ihre Haut beinahe spürte, drehte sie sich langsam zu ihm um. Ihre Gesichtszüge waren entstellt und blutig. Anstelle von Augen starrten ihn dunkle Löcher an. Sein Schrei blieb ihm jedes Mal im Halse stecken. Sie drehte sich dann wieder stumm und langsam von ihm weg, vor ihr die Berge, unter ihren nackten Füssen die sonnendurchflutete Bergwiese, ein blassblauer Himmel überspannte das Tal. Es duftete nach Blumen und Sommer.

Eine tiefe Trauer ging von ihr aus und schob ihn fort, langsam, Schritt um Schritt rückwärts durch die Wiese, bis er am Horizont neben dem höchsten Berggrat ein kleines schwarzes Loch im Blau des Himmels entdeckte, das immer grösser wurde und schliesslich alles zu verschlucken drohte: das Tal unter ihm, den Himmel, die Wiese. Dann wurde es dunkel und still um ihn.

Sein Vater verliebte sich schliesslich wieder, als Abuu achtzehn war, in eine Schwedin, der er kurz darauf in den Norden folgte. Abuu wollte nicht mit und blieb deshalb allein zurück. Eine Zeit lang bekam er noch Geld geschickt, um seine kleine Wohnung in der Churer Altstadt bezahlen zu können, in die er wegen des günstigeren Mietzinses hatte ziehen müssen.

Als erst die Anrufe und dann das Geld aus Schweden ausblieben, war klar: Er musste etwas tun.

Die Aushilfsjobs, die er im «Hemingway» bekam, liessen ihn, gleich einem Seiltänzer, die Monate zwar überstehen, aber sein Fallen war vorprogrammiert, auch wenn er immer spartanischer lebte.

Eintönig verging die Zeit, während er regelmässig abends an dem kleinen Tisch in der Kneipe vor seinem halb leeren Glas sass.

Seine Haut katalogisierte ihn mehr, als ihm lieb war. Sein Leben als schwarzer Schweizer war nicht so einfach, wie er es sich gewünscht hätte. Er hatte das Gefühl, dass er oft argwöhnisch beobachtet wurde. Deshalb kaufte er sich eines Tages eine Sonnenbrille mit orange getönten Gläsern. Diese trug er, ausser nachts, immer und überall.

Im Januar sprach ihn ein seltsamer Typ im «Hemingway» an – einer von vielen. Abuu hatte ihn in den Tagen zuvor bereits durch seine orangen Brillengläser hindurch betrachtet. Dieser Typ war einer von denen, die nicht zu übersehen waren. Mit einem Longdrink und einem breiten Grinsen setzte er sich ungefragt ins dunkle Eck zu Abuu. Er nannte ihn Sunshine, er selbst sei Detlef, und er tat so, als ob sie sich schon ewig lange kennen würden.

Sunshine. Was bildete der sich ein, einen Schwarzen Sunshine zu nennen, dachte Abuu.

Detlef war Deutscher, einer der Sorte von Menschen, die beim Skifahren vom Ego her einen Vierersessel allein besetzen können. Er bezahlte seine Drinks und das Bier von Abuu, blätterte raschelnd beim Bezahlen ein dickes Bündel Noten durch, liess einen Schein elegant aus den Fingern auf den Tisch gleiten und gab der Bedienung ein so fettes Trinkgeld, dass sie bestimmt dachte, es habe sich gelohnt, dass sie ihre Oberweite so einladend präsentierte.

Detlef lud Abuu danach zum Essen ins nahe «Zollhaus» ein.

«Magst du Wild?», fragte er selbstherrlich und klopfte ihm, ohne die Antwort abzuwarten, auf die Schulter. «Das wird dir schmecken.» Mit einem breiten Grinsen zog er die Eingangstür auf.

Es schmeckte Abuu hervorragend, und während er den Hirschpfeffer mit Spätzle und Rotkraut verdrückte, schaute er sich den Typen genauer an. Was wollte der von ihm? Detlef war etwas grösser als er selbst – somit auch eher klein – und schlank. Muskeln hatte er kaum, dafür weiche Gesichtszüge und blassbraune Augen – das Gegenteil von einem Macho, was das Aussehen betraf. Bestimmt hatte der Typ nicht einmal Haare auf der Brust. Er war weder hässlich noch besonders gut aussehend. Seine Kleidung wirkte teuer und hatte Stil: dunkelblaue Markenjeans, braune, gepflegte Herrenschuhe aus Leder, Lacoste-Pullover. Am linken Handgelenk protzte eine prächtige, übergrosse Rolex.

In den Kreisen, in denen Abuu verkehrte, begegneten ihm viele seltsame Gestalten. Doch eines war ihm gewiss: Umsonst gab es nie etwas. Mutter Teresa war ausserdem schon länger tot und würde es auch bleiben. Also, was wollte der Deutsche von ihm? War er schwul und an einem Schwarzen interessiert? Nein, dieser Deutsche war nicht schwul, ganz bestimmt nicht, dazu gaffte er zu unverhohlen den Frauen nach. Bisexuell vielleicht, ja, das wäre möglich und würde irgendwie auch zu ihm passen. Womöglich suchte er ein Abenteuer mit einem Schwarzen. Der Grosskotz strahlte Erfolg aus und schien der Typ von Mann zu sein, der glatt einer Kuh einen Kopfschuss verpasste, um mit seinem Porsche nicht nochmals in einen ihrer Fladen zu fahren, der es aber nicht schaffen würde, ein Rad selbstständig zu wechseln.

«Du fragst dich bestimmt, was ich von dir will, ne?», fragte er, als hätte er Abuus Gedanken gelesen, und hielt die mittlerweile fast leere Weinflasche in Richtung der Bedienung.

«Keine Sorge, ich will dich weder nageln, noch bin ich ein so perverses Schwein, für das du in einem leuchtenden neongrünen Höschen um eine Stange tanzen und wie ein Tier dazu brüllen sollst. Ich steh auf ganz normale Weiber. Sorry, für mich bist du zu speziell, versteh es nicht falsch. Grosse Titten, kleiner Arsch und blasen muss sie können. Das Erste fehlt dir definitiv …» Er lachte so laut, dass die anderen Gäste unwillige Blicke in ihre Richtung warfen.

Detlef lachte noch eine Weile mit weit offenem Mund und schien sich über seinen eigenen Witz extrem zu amüsieren.

«Nein, im Ernst, nimm’s nicht persönlich, es gibt für jeden Topf auch einen Deckel und Leute, die sich die Finger lecken würden, dich zu … Ich aber nicht.» Er warf sich wieder lachend gegen die Stuhllehne.

Der Wein war schwer, und Abuu spürte die wohlige Wärme, die sich in ihm ausbreitete.

«Also, jetzt zum Geschäftlichen: Ich hab einen Job für dich, zudem einen gut bezahlten.»

Abuu spürte, wie schwer es ihm fiel zu antworten, und seine Stimme hörte sich brüchig wie alter Schiefer an. «Warum ich?», fragte er misstrauisch und dachte, dass es doch für gut bezahlte Arbeit genug Leute gab, die nicht in einschlägigen Bars herumhingen wie er. Abuu war misstrauisch, denn bevor der Henker dem Opfer den Kopf abschlägt, gibt’s immer etwas zu essen. Und gegessen hatten sie ja jetzt 

«Ganz einfach, weil du ein spezieller Typ Mensch bist. Ich hab ein Herz für solche wie dich. Der Job ist anstrengend und auf jeden Fall langweilig. Ich habe dich die letzten Abende beobachtet, du bist immer allein, kapselst dich ab, und Reden ist nicht so dein Ding. Du brauchst bloss mal ein bisschen Glück in Form von einem so tollen Typen wie mir.» Er zeigte dabei mit beiden Daumen auf sich. «Mister Glücksschwein ist nun da.» Wieder lachte er laut.

Der Typ war irgendwie ein riesengrosses Arschloch, und doch hatte er Charisma und schien den Erfolg gebucht zu haben, fand Abuu. Viele sogenannte Erfolgsmenschen wie Manager oder Vorsitzende von Geschäftsleitungen waren bestimmt auch nichts weiter als finanziell erfolgreiche Sozio- oder Psychopathen mit ihren speziellen Krankheitsbildern. Einer davon sass nun offensichtlich direkt vor ihm. Die Ehrlichkeit von Detlef hätte aber auch reine Taktik sein können, überlegte Abuu weiter. So oder so – er wollte mehr wissen. Detlef hatte etwas, was Abuu dringend brauchte, nämlich Geld.

Nach dem Besuch im «Zollhaus», es ging auf dreiundzwanzig Uhr zu, stiegen sie in einen schwarzen BMW-Geländewagen mit überdimensionalen Felgen und wurden von Detlefs Fahrer, den der für diesen Abend gebucht hatte, nach Zürich gefahren.

Unterwegs tätigte Detlef einige Anrufe, in deren Folge zwei junge, attraktive Frauen in der Nähe von Zürich zustiegen.

Im «Kaufleuten» fanden sie sich wenig später in einer der grosszügigen privaten Lounges wieder. Detlef hatte an der blonden Frau mit den grossen, prallen Brüsten Gefallen gefunden. Den Frauen wiederum gefiel das Bündel Noten, das bald ihnen gehören würde.

Abuu hingegen ging das alles viel zu schnell.

Als er mit der anderen blonden Schönheit im hinteren Teil der Lounge zurückgelassen wurde und Detlef im Separee verschwand, änderte sich die Atmosphäre schlagartig.

Er hatte nicht das Bedürfnis nach Sex. Ausserdem war er nicht der Draufgängertyp. Das letzte Mal war lange her und hatte mit einer unschönen Szene abrupt geendet. Er wollte es diesmal lieber ruhig angehen.

So kuschelten sie sich aneinander und streichelten sich gegenseitig die Gesichter.

Sie heisse Simone, sagte die Frau, und dass sie noch nie mit so jemandem wie ihm Zärtlichkeiten ausgetauscht habe, ihr das aber gefalle, und sie begann, ihn unter dem T-Shirt zu berühren. Sie war zärtlich und ging sanft vor. Ihre zuvor aufgeputschte Stimmung war verflogen, eine andere Person kam zum Vorschein, eine, die ihm lieber war.

Sie öffnete vorsichtig die breite Gürtelschnalle, knöpfte die Jeans auf, die Abuu bestimmt zwei Nummern zu gross war, und liess ihre Hand langsam hineingleiten. Anfangs wollte er ihre Bewegung noch abwehren, sie daran hindern, doch dann liess er es angespannt geschehen.

Sie wirkte zunächst erstaunt.

Was ist, Simone?, fragte sein Blick unsicher durch die orangen Brillengläser hindurch.

«Stimmt was nicht mit mir?», brachte er leise mit seiner brüchigen Glasstimme hervor.

«Nein, wieso? Es ist ja alles so, wie es sein sollte. Entschuldigung, ich dachte …»

«Was dachtest du? Ist es zu wenig?», flüsterte Abuu kaum hörbar.

Simones Blick wurde sanfter, sie küsste ihn zärtlich auf die Wange und flüsterte so nahe, dass er ihre Lippen auf den seinen fühlte, als wären es Schmetterlingsflügel: «Alles in Ordnung. Es ist ja alles da, genauso, wie es die Natur vorgesehen hat. Weisst du, du bist so … du hast einen so wunderschönen Körper, den du, warum auch immer, in diesen weiten Kleidern versteckst. Doch du scheinst so traurig, und ich glaube, dass du deine Augen versteckst. Sind sie verletzt? Ich kann sie durch deine Brille nicht wirklich erkennen.»

«Traurig?»

«Ja, traurig.»

«Wie, traurig?»

«Wie soll ich das sagen? Als ob dir etwas Furchtbares widerfahren ist und es nun wie eine erloschene Sonne aus deinen Augen drückt. So eine Art von Traurigkeit, meine ich, so tief und festsitzend.»

Abuu schwieg.

Simone hatte aufgehört, ihn zwischen den Beinen zu berühren, obwohl es schön angefangen hatte. Sie kuschelten weiter, Simone begann erneut, ihn so zärtlich auf die Lippen zu küssen, dass sie sich dabei kaum berührten. Sie spürte offenbar, dass sie behutsam mit ihm sein musste.

Musik dröhnte nach einer kurzen Pause wieder aus dem Separee von Detlef. Der Bass liess alles vibrieren. Dennoch hörten sie, wie sich Detlef und seine Begleiterin vergnügten.

Abuu hätte nicht sagen können, wie lange sie gemeinsam auf der Sitzgruppe aneinandergekuschelt gesessen hatten, doch viel zu früh stand Detlef mit seiner Begleiterin wieder im Raum.

«Daran könntest du dich wohl gewöhnen, ne?» Er kicherte heiser und starrte die beiden an. Detlef lehnte sich tief in die weisse Ledersitzgruppe zurück, er hatte ein halb volles Glas Champagner in der Hand, sein Hemd war aufgeknöpft, den Lacoste-Pullover trug er um die Schulter geknotet. Er schien zufrieden zu sein.

Abuu konnte noch nicht fassen, was alles in so kurzer Zeit geschehen war. Sein Leben war bisher so gleichförmig abgelaufen wie eine Melodie, die nur aus einem lang anhaltenden Ton bestand.

«Mein Fahrer fährt euch zurück.» Detlef drückte den beiden Frauen die versprochenen Noten in die Hand.

Simone und ihre Kollegin zogen ihre kurzen Röcke zurecht und brachten ihre Frisuren in Ordnung.

Detlef versetzte seiner Begleitung einen Klaps auf den Po, bevor sie laut kichernd und etwas unsicher auf ihren hohen Absätzen davonstolzierte. Simone küsste Abuu zum Abschied sanft auf die Wange und flüsterte ihm etwas Unverständliches ins Ohr. Beim Hinausgehen warf sie ihm einen vielsagenden Blick zu.

«Oh, oh, so wie’s aussieht, hast du ihr nicht gerade den Hengst gemacht. Hey, Abuu, du kennst die Weiber nicht. Glaub mir, die machen alles, um so wenig wie möglich für die Kohle tun zu müssen. Ich staune immer wieder, wie die Kuscheltour so manchen daran hindert, es ihr einfach richtig zu besorgen, sodass sie ein paar Tage breitbeinig läuft. Glaub mir, meine wird in drei Tagen fluchen, wie hart sie ihr Geld verdienen musste. Nix mit Kuscheln für so viel Kohle.»

Abuu sagte nichts.

«Sag wenigstens, dass es dir Spass gemacht hat.»

«Ja.»

«Mensch, du bist schon speziell, weisst ja selber, na ja …» Detlef leerte sein Glas in einem Zug und kratzte sich im Schritt. «Los, lass uns in ein Hotel fahren. Ich zahl dir ein Einzelzimmer.»

Am nächsten Morgen, nachdem Detlef ein kräftiges Frühstück im Speisesaal verdrückt hatte – er ass eine Riesenportion Rührei mit gebratenem Schinken und trank Unmengen schwarzen Kaffee dazu –, begann er: «Also, Abuu, ich habe eine Firma in Deutschland, die, sagen wir es mal so, heikle Aufträge bei anderen Firmen ausführt. Die Kunden können und wollen das Risiko in gewissen Geschäftsprozessen nicht tragen – und da komme ich ins Spiel. Ich übernehme das Risiko und werde dafür bezahlt, quasi als Freelancer. Der Kunde in deinem Fall ist die EMS-Research AG