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Rhita Sam

Leben auf Umwegen

© 2017 Rhita Sam

Autor: Rhita Sam

Umschlaggestaltung, Illustration: Rhita Sam

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN:978-3-99070-020-4 (Paperback)

ISBN:978-3-99070-021-1 (Hardcover)

ISBN: 978-3-99070-022-8 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

„Freundschaft, das ist eine Seele in zwei Körpern.“

Aristoteles

Prolog

Wie in jeder anderen Nacht auch, plagte sie wieder dieser altbekannte Traum.

Der Albtraum fing damit an, dass sie mit ihren Eltern im Auto saß. Ihre Mutter lachte über einen Witz, den ihr Vater soeben zum Besten gegeben hatte. Chloé selbst saß im hinteren Teil des Wagens. Sie trug ihre Kopfhörer und hörte Musik, während sie aus dem Fenster blickte und die Landschaft bestaunte. Für einen Augenblick schien das Familienglück vollkommen zu sein, als plötzlich ein Lkw in ihren Wagen preschte. Chloé saß nun nicht mehr im Auto, wie noch einige Minuten zuvor, sondern befand sich außerhalb des Wagens, während ihre Eltern noch im inzwischen brennenden Auto festsaßen. Das Schlimmste an diesem Traum war die Erkenntnis, dass ihre Eltern nicht mehr lebend geborgen werden konnten.

Als sie ihre Augen öffnete, lag sie schweißgebadet im Bett. Obwohl sie wusste, dass es sich nur um einen Traum handelte, hatte sie jedes Mal aufs Neue das Gefühl, vor lauter Aufregung keine Luft mehr zu bekommen. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie ihre Eltern nicht auf die Reise begleitet hatte, da sie sich einbildete, sie hätte es verhindern können.

England

Kindheit

Das Wetter zeigte sich schon eine ganze Weile von seiner verregneten und stürmischen Seite. Obwohl es Sommer war, wollte die graue Wolkendecke nicht aufbrechen, um ein paar Sonnenstrahlen freizugeben.

Dies schien die Bewohner des großen Herrschaftshauses jedoch nicht zu stören. Das geräumige Haus war voller Leben, obwohl den Sommer über nur drei Personen darin wohnten: ein kleines Mädchen, genannt Chloé, ein gleichaltriger Bub namens Christopher und dessen Großvater James.

Chloé war ein aufgewecktes kluges Mädchen. Sie hatte dunkelbraune Haare, welche sie stets zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Ihre honigbraunen Augen bildeten den passenden Kontrast zu ihrem dunklen Haar.

Bei Christopher, von seiner Familie Chris genannt, handelte es sich um einen nicht minder aufgeweckten Buben. Sein kindlicher Kopf war von schwarzem, zerzaustem Haar überwuchert. Seine freudestrahlenden blauen Augen, die er von seiner Mutter geerbt hatte, glichen ebenso denen seines Großvaters, der ebenfalls mit von der Partie war, ein hochgewachsener Mann mit einem warmen Lächeln, das die Sonne vom Himmel herunterzuholen vermochte.

James hatte sich dazu bereit erklärt, die Tochter von guten Freunden über den Sommer bei sich zu behalten. Das kleine Mädchen fühlte sich außerordentlich wohl bei ihnen, was höchstwahrscheinlich mit der Anwesenheit seines Enkels zu tun hatte. Da beide Kinder keine Geschwister hatten, genossen sie es, miteinander Zeit zu verbringen und all dies zu spielen, was sie alleine nicht im Stande waren.

Die vergangenen Wochen waren für die beiden ein großes Abenteuer gewesen. Sie hatten miteinander gelacht, gespielt und mit weitaufgerissenen Augen und großem Erstaunen den Geschichten von Chris‘ Großvater gelauscht.

„Wow, du warst auf dem großen Schiff und hast mit dem Wasser gekämpft?“, fragte ihn sein Enkel, dem die Faszination in seinem kindlichen Gesicht geschrieben stand.

„Und hattest du da gar keine Angst?“, fragte ihn das Mädchen, dem man die Verblüffung anhörte.

„Ja, ich habe dagegen angekämpft, dass das Wasser aufs Schiff kommt – sonst wären wir untergegangen –, aber Angst hatte ich trotzdem für kurze Zeit“, antwortete er mit gespieltem Ernst.

James erzählte ihnen gern Geschichten aus seinem Leben. Als er selbst noch jung gewesen war, hatte er auf hoher See gearbeitet. So war es dazu gekommen, dass er einiges erlebt hatte, bevor er Chris‘ Großmutter kennenlernte. Seine Erlebnisse schilderte er den Kindern so, dass sie es in ihrem zarten Alter auch verstanden. Chris und Chloé kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus und löcherten James weiter mit Fragen. Es freute ihn, dass ihnen seine Erzählungen so gut gefielen, also beantwortete er die Fragen der Kinder mit großem Vergnügen. Zeit schien für sie alle keine Bedeutung mehr zu haben. Sie waren gut abgeschirmt von der Kälte außerhalb des Hauses und verbrachten den Sommer zurückgezogen und glücklich miteinander.

Obwohl der Regen immer noch andauerte, baten Chris und Chloé eines Tages darum, ein wenig außer Haus zu dürfen. Sie hielten es nicht länger im Inneren aus, da ihr kindlicher Übermut sie dazu antrieb, die Welt entdecken zu wollen. James war damit einverstanden, mit ihnen im Garten hinter dem Haus zu spielen – unter der Bedingung, dass sie sich warm anziehen und einen Regenschutz tragen würden.

Er schnappte sich die beiden und führte sie zur Hinterseite des Hauses. Der Garten bot genügend Platz zum Austoben, denn dort gab es nicht nur einen riesigen Platz zum Spielen, sondern auch eine kleine Schaukel. James selbst hatte sie damals seinem kleinen Mädchen zum Geschenk gemacht. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sich in Erinnerung rief, wie seine Tochter als kleines Kind auf ihr geschaukelt hatte.

Die Stunde verging wie im Flug und James bat die Kinder wieder ins Haus zu kommen. Anfangs hatten sie sich geweigert, als er ihnen jedoch eine heiße Tasse Schokolade versprach willigten sie sofort ein.

Eines Tages, während sie miteinander spielten, hielt Chloé Chris an den Händen fest.

„Wir werden immer füreinander da sein, nicht wahr?“, fragte sie ihn ganz plötzlich mit aufgeregter Stimme. Ganz plötzlich war ihr diese Frage in den Sinn gekommen. Es schien ihr überaus viel daran zu liegen, dass Chris sie zu ihrer Zufriedenheit beantwortete. Chris ging auf sie zu, hob seinen kleinen Finger an und versicherte ihr damit, dass sie immer auf ihn zählen können werde.

„Versprochen ist versprochen…“

„…und wird auch nicht gebrochen“, ergänzte Chloé den Schwur.

Sie hakte ihren Finger unter seinen und begann zu kichern. James beobachtete seinen Enkel, wie er seiner kleinen Spielgefährtin sein Versprechen gab. Er war stolz auf den jungen Buben.

James genoss die Zeit, die er mit den beiden Kindern verbrachte. Doch so schön sie auch war, er wusste, dass sie nicht mehr lange andauern würde, denn der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu. Er ahnte bereits, dass der bevorstehende Abschied für die zwei Kinder schwer sein würde.

Es klingelte. Die beiden Kinder sprangen wie auf Kommando auf und rannten zur Tür, öffneten sie aber nicht, sondern warteten auf Chris‘ Großvater. Sie waren beide aufgeregt und es tat ihm leid, da er wusste, dass es Chloés Eltern waren, die nun kamen, um sie mit sich nach Hause zu nehmen. James öffnete die Tür und Chloé war überglücklich, als sie ihre Mutter und ihren Vater erblickte. Sie sprang in die Arme ihrer Mutter und kuschelte sich an sie. Es war deutlich zu sehen, dass sie ihre Eltern vermisst hatte.

Sie vergaß aber ihren Spielkameraden, den sie inzwischen so liebgewonnen hatte, trotzdem für keine Sekunde: Als sie sich aus der Umarmung gelöst hatte, ging sie zu Chris, nahm seine Hand und zog ihn zu ihren Eltern. Chloé stellte Chris den beiden als ihren neuen besten Freund vor. Dieser war verlegen von ihrer Geste. Für einen kurzen Augenblick schien alles perfekt zu sein, bis Chloés Vater die für die beiden Kinder schockierenden Worte aussprach:

„Los, komm mein Schatz, beeil dich, wir wollen nach Hause fahren!“

Chloé war zu erstarrt, um etwas zu sagen. Sie hatte sich so gefreut, ihre Eltern wiederzusehen, wollte allerdings nicht nach Hause. Die zwei Kinder verharrten eine Weile in ihren Positionen. Sie wollten nicht voneinander getrennt werden. Chris‘ Großvater schaffte es schließlich, die Situation zu entschärfen.

Er kniete sich nieder, bis er auf Augenhöhe mit ihnen war, und schaute sie eindringlich an.

„Chris, Chloé, ihr müsst mir jetzt gut zuhören. Ihr beide habt einander doch versprochen, immer füreinander da zu sein, nicht wahr? Und das könnt ihr auch, wenn ihr an verschiedenen Orten seid. Ihr seid nämlich durch das Band der Freundschaft miteinander verbunden.“

Dann richtete er sich ausschließlich an Chloé: „Außerdem kannst du uns nächsten Sommer wieder besuchen kommen, wenn deine Mama und dein Papa damit einverstanden sind.“

„Wirklich Großvater?“, fragte sie mit Tränen in den Augen.

Sie tat es Chris nach und hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, James ebenfalls „Großvater“ zu nennen.

„Wirklich, mein kleiner Engel!“, versicherte ihr James, der das Mädchen inzwischen ebenso lieb gewonnen hatte.

Er wischte ihr die nicht enden wollenden Tränen aus dem Gesicht und drückte sie fest an sich. Ihr kleiner Körper fühlte sich so verletzlich in seinen Händen an, dass er sie am liebsten nicht mehr losgelassen hätte.

Auch ihre Mutter meldete sich nun zu Wort: „Nicht weinen mein kleiner Engel! Du kannst nächsten Sommer wieder herkommen!“

„Und vielleicht möchte Chris auch einmal zu uns kommen und uns besuchen, was meinst du mein Schatz?“, fragte ihr Vater sie.

Chloé nickte nur, brachte jedoch kein Wort heraus.

Daraufhin rückte Chris näher an Chloé heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr, das nur für sie bestimmt war. Er schirmte sie von den anderen ab, sodass keiner mithören konnte, was er ihr mitteilte. Es schien sie zu besänftigen, woraufhin sie ihn mit ihren kleinen Ärmchen umschlang. So verweilten sie einige Minuten, bis sie sich beide bereiterklärten, nachzugeben und sich dem Willen der Erwachsenen zu beugen.

Chloés Vater wandte sich nun an James und bedankte sich dafür, dass er sich den ganzen Sommer über, um seine Tochter gekümmert hatte. Die beiden kannten sich von der Arbeit. Sie übten beide selbstständige Berufe aus. James half ihm, als er noch am Anfang seines Unternehmens stand und verschaffte ihm die Kontakte, die er benötigte, um sein Business zu starten. Trotz des großen Altersunterschieds, entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen den beiden Männern. Da Chloés Mutter sich entschlossen hatte, ihren Beruf aufzugeben und ihren Mann in seinem Unternehmen zu unterstützen, hatten sie sich dazu entschlossen ihre Tochter den Sommer über bei James zu lassen, der wie der Zufall es so wollte seinen gleichaltrigen Enkel bei sich zu Besuch hatte.

Chloé packte ihre Sachen zusammen und zog sich warm an, um der Kälte zu trotzen. Schließlich ging sie widerwillig an den Händen ihrer Eltern aus dem Haus. Sie drehte sich noch einmal um, das Bild von Chris und seinem Großvater aufsaugend, das sie niemals vergessen wollte. Auch Chris sah ihr nach und behielt sie auf diese Weise für immer in seinem Herzen.

Eine Stunde später stand Chris erneut an der Haustür und blickte in den Regen hinaus, der mittlerweile wieder stärker geworden war. Er hoffte darauf, Chloé wiederzusehen, wenn er nur lange genug in der Tür ausharrte.

Chris sah Chloé nicht wieder, da sich die beiden Familien aus den Augen verloren. Der kleine Junge hatte somit an diesem verregneten Abend seine allerbeste Freundin verloren.

Teil 1

Die kürzesten Wörter, nämlich „Ja“ und „Nein“, erfordern das meiste Nachdenken.

Pythagoras von Samos

Frankreich

1

Chloé war mittlerweile 20 Jahre alt und somit zu einer jungen Frau herangewachsen.

Sie lag in ihrem Bett und träumte davon, auf einer großen Wolke zu liegen, die sie an alle Orte brachte, die sie gern bereisen wollte. Sie träumte oftmals davon, ferne Länder zu bereisen. Auf ihrer Wolke liegend, genoss sie es, über die ganze Welt zu schweben. Von oben konnte sie die Spitze des Eiffelturms berühren, der Freiheitsstatue zuwinken sowie den schiefen Turm von Pisa bestaunen. Auf ihrer Reise durch die Welt war sie gerade dabei, ein neues Ziel zu bestimmen, als sie von einem ohrenbetäubenden Geräusch in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Ihr wundervoller Traum zerplatzte so schnell, wie er begonnen hatte.

Der Schlag mit ihrer Hand auf den Wecker brachte diesen zum Verstummen. Chloé starrte auf die Uhr, und obwohl sie wusste, dass es Zeit war, aufzustehen, blieb sie noch in ihrem Bett liegen und genoss die Wärme ihrer Decke für weitere fünf Minuten. Diese fünf Minuten gönnte sie sich jeden Tag, nachdem ihr Wecker geklingelt hatte. Das war ihr persönliches Morgenritual, um den Tag zu beginnen.

Beim Gedanken daran, wie stressig ihr Tag heute werden würde, beschloss sie, ausnahmsweise noch etwas länger als üblich liegenzubleiben, nur um noch ein wenig Energie zu sammeln. Das tat sie, indem sie ihr Lieblingsplakat betrachtete, welches sich auf der Wand gegenüber ihres Bettes befand.

Auf diesem Bild war ein Strand mit zwei gigantischen Palmen abgebildet. Der Hintergrund zeigte einen Sonnenuntergang, wie man ihn sonst nur aus Filmen kannte. Er spiegelte sich im Meer wider. Beim Betrachten der Fotografie wurde es Chloé warm ums Herz. Was hätte sie dafür gegeben, in dieser Hängematte zu liegen, die zwischen den beiden Palmen angebracht war – umgeben von Sand, Meer und dem wunderschönsten Sonnenuntergang, den sie jemals gesehen hatte.

Der Herbst ließ dieses Jahr nicht lange auf sich warten. Die Blätter verfärbten sich bereits in einer Farbpalette aus den verschiedensten Gelb-, Grün- und Rottönen, was Chloé ein kleines Lächeln entlockte. Sie liebte die Farbenpracht, die sich zeigte, kurz bevor die Bäume kahl in der Gegend herumstanden, sich die Tiere für den Winterschlaf wappneten und die Nächte früher als gewöhnlich anbrachen.

Nachdem sie ihren inneren Schweinehund überwunden hatte, schaffte sie es schließlich doch, aus ihrem heißgeliebten Bett zu steigen, sich dem Wetter entsprechend warm anzuziehen und ihren Weg Richtung Uni anzutreten.

Sie studierte mittlerweile seit einem Jahr und fand sich schon ganz gut zurecht, wobei es immer wieder neue Herausforderungen zu bewältigen gab. Die große Schwierigkeit bestand für Studenten vor allem darin ihr Leben in die Hand zu nehmen, um selbstständig und erwachsen zu werden.

Chloé meisterte ihr Studium ganz passabel, wie sie fand. Aus diesem Grund hatte sie sich vor Kurzem dazu entschlossen, nebenbei ein wenig arbeiten zu gehen, um ihr eigenes Geld zu verdienen. Sie lebte zwar noch bei ihren Eltern, weshalb sie sich keine Sorgen um anfallende Kosten wie Wohnungsmiete und Lebensmittel machen musste. Trotzdem hatte sie vor, auf Reisen zu gehen, welche sie sich selbst zu finanzieren gedachte. Ihr Aushilfsjob als Kellnerin ließ sich gut mit der Uni vereinbaren.

Die Vorlesung hatte bereits begonnen. Chloé war zu spät, doch das stellte kein Problem dar. Sie hatte ihre Studienkollegin und Freundin Emma darum gebeten, einen Sitzplatz für sie freizuhalten.

Am Fuße des Hörsaals stehend, blickte Chloé sich um und hielt Ausschau nach ihr. Nach kurzem Suchen entdeckte sie diese unter den vielen anderen Studenten, die brav über ihre Blöcke gebeugt saßen und sich Notizen machten. Emma hingegen starrte in die Luft, was untypisch für sie war. Sie schien einem Tagtraum nachzuhängen, weshalb es Chloé nicht schwer gefallen war, sie in der Menge auszumachen.

Emma war äußerlich das komplette Gegenteil von Chloé: Ihr Gesicht war von unzähligen blonden Locken eingerahmt. Die blauen Augen trugen dazu bei, dass sie unschuldiger aussah, als sie es tatsächlich war. Sie glich einem Engel auf Erden, bis man sie kennenlernte und feststellte, dass man es eher mit einem kleinen aufgeweckten Teufelchen zu tun hatte. Emma quasselte unentwegt, war für kindische Streiche zu faszinieren und lachte in beinahe jeder Situation. Es kam selten vor, dass man sie betrübt antraf, denn sie hatte die Einstellung, das Leben einfach genießen zu wollen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, für ihre Ziele zu kämpfen, denn sie war ein überaus ehrgeiziger Typ, der es außerdem verstand, andere zu motivieren und mit sich zu reißen. Ebenso wie Chloé liebte sie Literatur, weshalb sie wie ihre Freundin Literaturwissenschaften studierte. Die beiden hatten ihre Leidenschaft zu ihrer Ausbildung gemacht.

Es ging sogar so weit, dass sie sich einmal im Monat in einer Gruppe mit anderen Studierenden trafen, um ein Buch zu besprechen. Zuvor wählten sie einen Roman aus, den sie zu lesen hatten, um sich anschließend bei dem Treffen darüber auszutauschen. Ziel war es, dass jeder von ihnen seine eigenen Ideen und Interpretationen mit den anderen Anwesenden teilen konnte und somit einen Einblick in andere Sichtweisen erhielt.

Chloé setzte sich zu ihrer Freundin, die so freundlich war, ihr einen Platz freizuhalten. Emma nahm ihre Jacke von dem Sessel neben sich, um Chloé Platz zu verschaffen. Sie hatte sie schließlich nur deshalb dort deponiert, damit kein anderer auf die Idee kam, sich neben sie zu setzen.

Beide umarmten einander und Emma begrüßte ihre Freundin mit einem Grinsen, das verriet, dass sie Neuigkeiten hatte, die keinen Aufschub erduldeten.

Chloé wusste sofort: Sie wollte ihr unbedingt etwas mitteilen:

„Ich merke doch sofort, dass du mir etwas erzählen möchtest!“ schoss es aus Chloé hinaus.

„Wer sagt denn, dass ich Neuigkeiten habe?“, erwiderte Emma ein wenig verwundert.

Ihr war nicht bewusst, dass sie die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd strahlte.

„Die Vorlesung hat begonnen und du hast nichts mitgeschrieben, was sehr untypisch für dich ist, du kleine Streberin.“

Emma streckte ihr die Zunge entgegen.

„… und außerdem strahlst du wie verrückt“, ging Chloé weiter auf die Frage ihrer Freundin ein.

Sie war so neugierig, dass sie keine weitere Minute vergeuden wollte.

„Schon gut, ich spann dich nicht weiter auf die Folter. Wir sind endlich zusammen. Ist das nicht toll?!“, platzte es aus ihr heraus.

„Wer jetzt? Wir zwei? Davon wusste ich ja noch gar nichts.“

„Hahaha, sehr witzig, nein Mathéo und ich.“

„Nein, nicht dein Ernst? Ihr habt es endlich geschafft? Wie lange hat das noch mal gedauert?“

„Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen!“

Emma schmollte ein wenig.

„Ich freu mich für dich, ehrlich!“, versicherte Chloé Emma nun in versöhnlichem Ton.

Emma war nun schon seit einem halben Jahr in Mathéo verschossen und wollte unbedingt mit ihm zusammenkommen, nur da sie in Punkto Liebesangelegenheiten sehr schüchtern war, hatte es ein paar Wochen gedauert, bis sie sich durchringen konnte, ihn überhaupt anzusprechen.

Emma konnte Chloé nicht lange böse sein. Sie schenkte ihr ein Lächeln und fuhr fort:

„Ja ich kann’s selbst kaum glauben und ich will ihn dir unbedingt vorstellen. Du hast mir die ganze Zeit beim Jammern zugehört und mir unentwegt Mut gemacht…. und ich weiß sehr wohl, dass ich anstrengend war …“

Chloés Mundwinkel zogen sich leicht nach oben, doch sie hielt den Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, zurück.

„…deswegen will ihn dir vorstellen – natürlich nur, wenn’s dir recht ist.“

„Aber das ist ja wohl das Mindeste, dass du ihn mir vorstellst… Spaß beiseite: Ich würde ihn gerne kennenlernen“, antwortete ihr Chloé.

Zufrieden über diese Antwort, nahm Emma ihre übliche Haltung ein und gab für den weiteren Verlauf der Stunde keinen Mucks mehr von sich. Für sie war die Tratschstunde vorbei und würde sich während einer Vorlesung nicht sobald, wiederholen. Emma war dermaßen konzentriert auf den Vortrag, dass ihr sogar entging, dass Chloé kein einziges Wort notierte.

Sie war mit ihren Gedanken bereits über alle Berge, konnte an nichts anderes mehr denken, als an eine Geschichte, die ihr nun schon seit geraumer Zeit im Kopf herumschwirrte. Chloé war schon vor Längerem in den Sinn gekommen, sie niederzuschreiben. Kein Wunder, war es doch schon immer ihr Wunsch gewesen, Kurzgeschichten oder sogar Romane zu verfassen.

Emma fuchtelte seit einigen Sekunden vor Chloés Gesicht herum, um deren Aufmerksamkeit zu ergattern.

„Was ist denn los?“

„Die Stunde ist vorüber, wir können endlich essen gehen.“

„Ist gut, ich komm schon“, gab sie ihr zur Antwort, sodass Emma aufhörte.

Das Restaurant war gerammelt voll, was nicht verwunderlich war, da gerade Mittagspause für die meisten Berufstätigen herrschte. Chloé und Emma hatten leider nicht das Glück, zu den früheren Gästen zu gehören, weshalb kein Platz mehr für sie übrig war. Sie entschlossen sich daher kurzerhand, etwas zum Mitnehmen zu bestellen, was Emma für sie übernahm.

Chloé blickte sich währenddessen im Restaurant um. Ganz in der Nähe der Kasse befand sich ein Tisch, den eine junge Mutter mit ihren zwei Kindern besetzte. Ein Mädchen sowie ein Bub, im selben Alter, spielten miteinander, während deren Mutter Zeitung las. Hin und wieder kicherten sie miteinander, nur um anschließend weiter zu plaudern. Chloé kam nicht umhin, den Kindern genauer zuzuhören.

„Versprochen ist versprochen…“

…und wird auch nicht gebrochen.“

Das Mädchen fing wieder an zu kichern und der Bub setzte ebenfalls ein. Chloé fand den Anblick der beiden herzzerreißend und musste beim Geben ihres Versprechens schmunzeln. Unwillkürlich schoss ihr eine Erinnerung aus ihrer eigenen Kindheit durch den Kopf – eine Erinnerung, in der es ebenfalls um ein Versprechen ging. Sie war damals noch ein kleines Mädchen gewesen und hatte den Sommer in England verbracht, bei Freunden der Familie. Ihre Eltern hatten ihr die Geschichte erzählt, als sie sie auf einen Buben angesprochen hatte, von dem sie sich verabschieden hatte müssen und den sie danach nie wieder gesehen hatte. Chloé konnte sich nicht mehr genau ins Gedächtnis rufen, wie lange sie damals dort gewesen war. Sie wusste nur, dass es eine wunderschöne Zeit gewesen war. Die zwei Kinder von damals hatten sich das Versprechen gegeben, einander baldig wiederzusehen, konnten es aber bis zu dem heutigen Tag nicht einlösen. Chloé ging dieses Erlebnis nie aus dem Kopf und hin und wieder musste sie daran denken, sowie auch heute.

Nachdem sie und Emma ihr Mittagessen verspeist hatten, trennten sich ihre Wege.

Es war mittlerweile später Nachmittag, als Chloé das Schloss zur Wohnung öffnete.

„Hallo, ich bin wieder zu Hause!“, rief sie in die Wohnung hinein.

„Mama, Papa, ist irgendjemand da?“, versuchte sie es erneut, doch es kam noch immer keine Rückmeldung.

Als sie ins Wohnzimmer kam, erblickte sie einen handgeschriebenen Zettel auf dem Essentisch. Chloé erkannte die Schrift ihrer Mutter sofort:

Wir sind heute Abend im Kino und anschließend essen. Es wird spät werden.

Falls du was brauchst, weißt du ja, wie du uns erreichen kannst.

Schönen Abend, mein Schatz! Bussi, Mama und Papa

Chloé hatte demnach die ganze Wohnung für sich alleine und fasste sogleich den Entschluss, die Geschichte, die ihr schon die ganze Zeit durch den Kopf ging, zu Papier zu bringen.

Zunächst schälte sie sich aus einem Hosenbein ihrer Jeans, die sowohl eine Herausforderung beim An- als auch beim Ausziehen darstellte. Sie war dermaßen überdreht und überglücklich, Zeit für sich zu haben, dass sie beim Versuch, sich aus ihrem zweiten Hosenbein zu befreien, auf ihr Steißbein fiel. Obwohl sie wusste, dass sich an der Stelle ein großer blauer Fleck bilden würde, konnte sie nicht aufhören, über ihre Dummheit zu lachen. Nach ihrem Sturz rappelte sie sich auf und befreite sich aus ihrer Weste und sämtlichen Schichten, die sie übergezogen hatte, da sie immer so schnell fror. Nur in ihrer Unterwäsche bekleidet, eilte sie zu ihrem Kasten und suchte sich eine karierte Schlabberhose, Socken und ihren braunen Kuschelpulli hervor, der zum Honigbraun ihrer Augen perfekt harmonierte, wie sie fand. Nachdem sie endlich fündig wurde, setzte sie sich an ihren Schreibtisch, knipste die Lampe an und schrieb die Kurzgeschichten nieder, die sie schon den Tag über im Kopf hatte.

Es war bereits Mitternacht, als Chloé ihre Geschichte beendete. Sie hatte solange durch geschrieben, bis ihre Erzählung fertiggestellt war.

Ihre Hauptprotagonistin war für die damalige Zeit sehr wagemutig, was zum Teil auch damit zu tun hatte, dass ihr ihre Familie frühzeitig genommen worden war. Aus diesem Grund hatte sie das Gefühl, nichts mehr verlieren zu können. Chloé war zufrieden damit, dass sich sowohl Drama als auch ein Happy End in ihrer Geschichte fanden. Sie fand es realistischer, wenn die Hauptperson auch Rückschläge in ihrem Leben erlitt. Auf diese Weise würde es dem Leser eher gelingen, sich mit dem Charakter zu identifizieren.

Chloé war dermaßen müde, dass sie sich in ihr Bett legte, ohne einen weiteren Blick auf ihr Werk zu werfen. Einerseits erschöpft und andererseits überglücklich, schlüpfte sie unter ihre warme Bettdecke und glitt sofort ab ins Reich der Träume.

England

2

Das Wetter war regnerisch und trüb, wie an fast jedem Tag in England. Chris saß an seinem Schreibtisch und lernte für eine Prüfung. Er wollte einen kleinen Vorsprung bekommen, da er in einer Woche zu seinen Eltern reisen würde, um die beiden zu besuchen, wie er es versprochen hatte. Obwohl er sie gelegentlich vermisste, wollte er nicht aus England fort. Er hatte das Gefühl, hierher zu gehören. Jedes Mal, wenn er fort musste, tat es ihm im Herzen weh.

Nachdem er die Schule abgeschlossen hatte, zog er deshalb nach England, um dort zu studieren. Er wollte an dem Ort sein, an dem er sich am wohlsten fühlte: bei seinem Großvater, in dem großen Herrschaftshaus. Als er noch ein Kind gewesen war, hatten seine Eltern selten Zeit für ihn gehabt, da sie ständig ihrer Arbeit nachgingen, also hatten sie beschlossen, ihren Sohn in die Obhut des Großvaters mütterlicherseits zu geben. So war es dazu gekommen, dass der kleine Chris jeden Sommer bei seinem Opa verbrachte.

Chris hatte sich dazu entschlossen, Geschichte zu studieren. Schon als kleiner Bub hatte er sich für die Kreuzzüge interessiert, die zwischen großen Königen ausgetragen worden waren, für die Ländereien, die dabei verloren und gewonnen worden waren, sowie für die unterschiedlichen Kulturen, die dabei unvermeidlich aufeinandergetroffen waren. Es erstaunte ihn, dass die Menschen kaum aus ihren Fehlern lernten und von Generation zu Generation dieselben Entscheidungen zu denselben Ergebnissen führten. Oftmals wurden Kriege aus Macht- und Religionsgründen begonnen, Geistliche bildeten hierbei keine Ausnahme. Das Leben unzähliger Menschen wurde gefordert. Außerdem brachten Kriege Hass und Verachtung mit sich, die größtenteils bis zur heutigen Zeit bestehen.

Chris war dermaßen in seine Lektüre vertieft, dass er die Schritte seines Großvaters nicht vernahm.

„Stör ich?“, meldete sich eine tiefe, rauchig-warme Stimme am Ende des Zimmers.

„Natürlich nicht, Großvater.“

Er setzte ein Lächeln auf und wandte sich dem großen Mann hinter sich zu.

„Ich bin zwar schon etwas älter, mein Junge, doch trotzdem bemerke ich immer noch, wenn du Kummer hast.“

Er sah Chris mit seinen graublauen Augen an, die seinen eigenen so ähnlich waren, und hob dazu fragend seine Augenbrauen an.

Chris sah seinem Großvater so ähnlich – wie aus dem Gesicht geschnitten. Er war genauso groß wie er und abgesehen von seinem ergrauten Haar strahlte er nach wie vor eine Vitalität aus, die selten an älteren Menschen zu beobachten war.

„Nicht doch, es geht mir gut, ich bin nur etwas erschöpft und meine baldige Abreise bessert es nicht gerade.“

„Wie du meinst. Falls du dich doch entschließen solltest, mit mir reden zu wollen, weißt du ja, wo du mich findest.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und Chris saß wieder alleine an seinem Schreibtisch in seinem Zimmer, das ihn wie alle anderen Räume hier an seine Kindheit erinnerte.

Später lag Chris in seinem Bett – zu erschöpft, um zu lernen, jedoch nicht zu müde, um sich seinen Gedanken zu widmen. Er würde bald seine Eltern wiedersehen, worauf er sich sehr freute. Er wollte jedoch seinen Großvater nicht alleine lassen. Chris war so glücklich darüber, in England zu studieren, bei dem Menschen, der immer Zeit für ihn gehabt hatte, der ihn in und auswendig kannte, besser noch als er sich selbst. James war Chris‘ großes Vorbild.

Es dauerte noch ein Weilchen, bis Chris es endlich schaffte, einzuschlafen.

Chris wollte heute noch ausgehen, da die Uni bereits zu Ende war. Er wollte noch einen letzten erholsamen Abend mit seinem besten Kumpel Jack verbringen, ehe er am nächsten Tag den Flieger zu seinen Eltern nehmen würde. Die beiden kannten sich seit Beginn des Studiums und gingen hin und wieder in ihrem Lieblingspub herum, um sich von den Strapazen des Tages zu erholen.

Beide saßen an der Theke, jeder mit einem frisch gezapften Bier in der Hand.

„Also du fährst in den Ferien zu deinen Eltern?“, fragte ihn Jack.

Ja, ich hab sie schon seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. In den Sommerferien hatte ich keine Zeit, sie zu besuchen, weil ich durch ganz Europa gereist bin.

„Und was hast du geplant?“, stellte Chris nun die Frage an Jack.

„Ich fahr nach Schottland zu Rosalies Eltern.“

Jack hatte Chris Rosalie bereits vorgestellt. Sie war ein typisches schottisches Mädchen mit langen, roten Haaren und unzähligen Sommersprossen im Gesicht. Sie hatte einen freundlichen Eindruck auf Chris gemacht. Er kannte sie jedoch zu wenig, um sich ein richtiges Urteil über sie bilden zu können.

Du lernst ihre Eltern kennen?“

„Ich kenne sie schon. Sie waren schon mal bei uns zu Besuch, aber ich noch nie bei ihnen.“