Andreas Izquierdo

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen

Roman

Insel Verlag

Fräulein Hedy träumt vom Fliegen

Für Pili

Timbuktu

1

Gegen drei Uhr in der Früh erwachte Fräulein Hedy aus einem herrlichen Traum und verlor den Verstand. Da war ein Kichern in ihrem Kopf und ein Kitzeln in ihrem Bauch, als sie mit einem lausbübischen Grinsen aus dem Bett stieg, auf Zehenspitzen zum Fenster tippelte, barfuß auf die Brüstung ihres französischen Balkons im Dachgeschoss stieg und die Arme weit von sich streckte. Da stand sie dann: ein fliegendes Nachthemd mit Dutt im bleichen Mondlicht.

Es war ganz still oben auf dem Hügel, auf dem ihre Villa stand, während sich die kleine Stadt zu ihren Füßen fast schon in mittelalterlicher Ehrfurcht vor ihr zu verbeugen schien. Dabei war es so kalt, dass die Luft klirrte und man die leisen Seufzer derer zu hören glaubte, die sich im Schlaf die Decken über die Köpfe gezogen hatten.

Fräulein Hedy kannte ihre kleinen und großen Wünsche, ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Niederlagen. Nichts war ihr in den vergangenen achtundachtzig Jahren verborgen geblieben, sie hatte sie alle überlebt, und jetzt flog sie über sie hinweg, und ihr war, als würde sie die kleinen Schluchzer und Stöhner mit sich nehmen auf ihrem Flug durch die Nacht, und je mehr sie davon sammelte, desto gewaltiger baute sich ein Ruf in ihren Lungen auf.

»TIM-BUK-TUUU! TIM-BUK-TUUU

Das Herz einer alten Frau hatte viele Geheimnisse.

Einen Moment später schon riss ihre Haushälterin Maria die Schlafzimmertür auf, stürmte zu ihr, umfasste mit kräftigen Armen ihre Taille und zog sie vom Balkon herunter, zurück ins Zimmer. Dann schloss sie die Fenster und rieb sich fröstelnd die nackten Arme.

»Was ist passiert?!«, rief sie besorgt.

Hedy sah sie lächelnd an.

»Sind Sie wach?«, fragte Maria und wedelte mit den Händen vor ihren Augen herum.

Hedy zog mürrisch die Brauen zusammen: »Was machen Sie denn da?«

»Ihr Leben retten.«

»Das ist doch Unsinn!«

»Draußen sind es minus zehn Grad. Und Sie stehen in der Kälte und heulen den Mond an!«

»Nichts dergleichen!«

»Ich bin davon wach geworden, Fräulein Hedy!«

»Dann gehen Sie jetzt wieder schlafen!«

»Und es ist alles in Ordnung?«, hakte Maria nach.

»Aber natürlich!«

»Sie sind nicht verrückt geworden?«

»Nein.«

»Und was soll dann dieses Geschrei?«

»Was für ein Geschrei?«

»Dieses ›Timbuktuuu! Timbuktuuu!‹.« Maria fuhr mit den Händen durch die Luft, um den absurden Vorgang zu unterstreichen.

Hedy zuckte mit den Schultern: »Eine Stadt in Afrika. Mali, genauer gesagt.«

»Und?«

»Nichts: und. Ich war nie dort.«

»Dann haben Sie geträumt?«

»Bestimmt.«

Maria fixierte sie noch einen Moment, dann seufzte sie leise und fragte: »Wollen Sie etwas essen?«

»Jetzt?«

»Essen hält Leib und Seele zusammen!«, beharrte Maria.

Hedy schüttelte den Kopf: »Gute Nacht, Maria!«

Sie kehrte ihr den Rücken und wartete, bis Maria leise das Zimmer verlassen hatte. Eine Weile starrte sie noch durch das Fenster in den Nachthimmel. Da dachte sie ebenso wirr wie schelmisch: Die Königin war erwacht, ein Spatz hatte an ihrem Haar gezupft. Lass ihn ein in den großen Irrgarten der unerzählten Geschichten.

Öffne das Fenster und biete ihm die Welt.

2

Am nächsten Morgen deutete nichts mehr darauf hin, dass Fräulein Hedy den Verstand verloren haben könnte, denn sie begann diesen Morgen, wie sie jeden Morgen begann: Sie nutzte den Treppenlift, um ins Parterre zu fahren, wo Maria bereits auf sie wartete, weil sie dort immer auf sie wartete, und es war, als schwebte ihre Hoheit aus dem Himmel herab zu ihren Untertanen.

Sie ließ sich aus dem Sitz helfen, schlüpfte in einen dicken Wintermantel, ging noch vor dem Morgengrauen zur Tür hinaus und marschierte dann die lange, beleuchtete Auffahrt ihres Anwesens genau sieben Mal auf und ab. Mit geradem Rücken und durchgedrückten Knien und für eine Dame ihres Alters mit erstaunlicher Geschwindigkeit.

Obwohl Tauwetter eingesetzt hatte, zitterte Maria vor Kälte, während sie bei den Stufen zum Anwesen auf Hedy wartete und die Zeitung vom Boden aufhob. Sie beobachtete Fräulein Hedy bei ihrem morgendlichen Ausdauertraining: Atemwölkchen stiegen aus ihrem Mund wie Dampf aus einer Lokomotive, als sie dort die Auffahrt hoch- und runterschnaubte. Hedy hatte Schmerzen in den Knien, Fußgelenken und im Rücken, und Maria bewunderte sie jeden Morgen für ihre Disziplin und ihre Härte gegen sich selbst, denn Hedy verzog keine Miene beim Marschieren, und hätte man sie gefragt, wie es ihr ginge, hätte sie Blendend! gerufen und abgewunken.

Pünktlich zur siebten Runde ging Maria Hedy ein Stück entgegen und bot ihr den Arm, den Hedy beiläufig annahm. Sie war erschöpft, Maria sah es in Hedys Augen, aber sie sagte kein Wort, sondern stieg mit Maria langsam die Treppe zur Eingangstür hinauf, wo der Rollstuhl wartete, in den Hedy sich setzte, um sich fortan von Maria durch die Villa schieben zu lassen.

»Ins Bad!«, ordnete Hedy an.

»Sehr wohl!«, antwortete Maria.

Später schob sie die wie aus dem Ei gepellt aussehende Hedy in die Küche, wo ein karges Frühstück und ein starker Kaffee auf sie warteten. Sie aß und trank langsam und ließ sich von Maria die wichtigsten Neuigkeiten aus dem Lokalteil der Zeitung vorlesen, die sie hier und da mit spöttischem Schnauben oder wohlwollendem Lächeln kommentierte.

»Was ist mit der Zeitung?«, fragte Hedy, als Maria gerade einen Beschluss des Stadtrats vorlas, der Kürzungen im Kulturhaushalt vorsah.

Maria blickte auf: »Was soll mit ihr sein?«

Hedy nickte kurz – Maria knickte mit einem Finger eine Ecke des Papiers um und kommentierte die Dreckschlieren darauf knapp mit: »Der Zeitungsjunge.«

Hedy nickte düster.

»Wie geht es Ihnen heute?«, fragte Maria.

»Blendend.«

»Ich meine … nach gestern Nacht!«

Hedy setzte die Kaffeetasse ab und tupfte sich die Mundwinkel: »Es war ein Traum.«

»Vielleicht sollten wir einen Arzt konsultieren?«

»Mir fehlt nichts, Maria.«

»Vielleicht der Mond?«

Hedy runzelte die Stirn.

»So etwas kommt vor!«, bekräftigte Maria.

Hedy schwieg eine Weile.

Und sagte dann: »Nein.«

»Nein?«

»Nein. Ich habe nur viel zu lange geschlafen. Aber jetzt bin ich wach.«

Maria sah sie unverwandt an.

»Und Sie sind sicher, dass es Ihnen gut geht?«, fragte sie misstrauisch.

Hedy lächelte sanft: »Ich bin wach. Nach all der Zeit endlich wach …«

Maria stand auf und sagte: »Ich rufe Dr. Weyers an.«

»Setzen Sie sich hin!«, befahl Hedy und beschied mit einer Geste, dass Maria mit der Lektüre fortzufahren habe. Die nahm nach kurzem Zögern wieder Platz, griff nach der Zeitung und begann zu lesen. Die Mittel für die Kammerkonzerte sollten gesenkt werden. Im Gegenzug hoffte man auf private Gönner, um die liebgewonnenen Auftritte der Musiker auch weiterhin finanzieren zu können.

Hedy trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Küchentisch und starrte auf die Zeitung.

»Genug!«, befand sie.

Maria sah sie über die Zeitung hinweg an.

»Wir fahren in die Stadt!«

»Jetzt? Es ist gerade mal halb acht! Wo wollen Sie denn hin?«

»Wir fahren zur Redaktion!«

»Wir könnten doch anrufen?«

»Bestellen Sie ein Taxi!«, gab Hedy zurück und schob sich mit dem Rollstuhl vom Tisch. »Es ist höchste Zeit!«

Was so drängte, sagte sie nicht, aber sie fuhren zum Pressehaus, doch nicht, um sich über den Zeitungsjungen zu beschweren. Und da wusste Maria, dass Hedy den Verstand verloren haben musste. Dass die letzte Nacht kein Zufall gewesen war, sondern allenfalls der Auftakt zu einer ganzen Reihe galoppierender Verrücktheiten, die nichts als Ärger einbringen würden.

Fräulein Hedy gab eine Anzeige auf.

Und diese Anzeige würde das brave, protestantische, münsterländische Städtchen, das die alte Dame so verehrte, in seinen Grundfesten erschüttern.

Denn Fräulein Hedy wollte zum Strand.

3

Der Tag hatte also kaum begonnen und schon bestand sein Sinn nur noch darin, dass er endlich vorüberzog, um einem neuen Platz zu machen, der einem Skandal Bühne bieten würde, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte. Jedenfalls war das Marias feste Überzeugung.

Hedy hingegen ging ihrer Arbeit völlig ungerührt nach, bestritt den Tag wie jeden anderen, beginnend mit der Bearbeitung der Post, den üblichen Telefonaten und der Organisation der von ihr begründeten Stiftung für begabte Kinder, der sie als Stiftungsratsvorsitzende vorstand.

Seit Jahrzehnten hatte sie unzähligen Talenten den Weg in eine bessere Zukunft geebnet, ganz gleich, auf welchem Feld ihre Begabungen lagen: Literatur, Kunst, Musik, Mathematik oder Wissenschaften. Die Stiftung prüfte, Fräulein Hedy entschied – nach Konsultation mit ihrem Stiftungsrat, dem auch ihre Tochter Hannah angehörte. Viele ihrer Kinder hatten es weit gebracht, fast ausnahmslos hatten sie einen Beruf gefunden, der sie glücklich machte, und sie wussten alle, wem sie dies zu verdanken hatten. Und ihre Eltern und Großeltern wussten das auch, was Fräulein Hedy zur unangefochtenen Herrscherin der Stadt machte, respektiert und auch ein bisschen gefürchtet von jedermann.

Aus diesen Gründen war Hedy sehr empfindlich, was Kürzungen in den Etats für Kultur und bildende Künste betraf, denn sie wurde nicht müde zu erklären, dass sie den furchtbarsten aller Kriege nicht überlebt hatte, um anschließend dabei zuzusehen, wie Verrohung und Dummheit einen möglichen weiteren heraufbeschworen.

So rief sie den Bürgermeister an und verabredete mit zuckersüßer Stimme für den nächsten Kammermusikabend ein Gespräch mit ihm. Da wusste Herr Schmidtke genau, was die Stunde geschlagen hatte, und verfluchte bereits den Beschluss der Fraktionen im Stadtrat, denn er saß ebenfalls im Stiftungsbeirat und hatte oft genug erlebt, wie unnachgiebig Fräulein Hedy war, wenn ihr irgendetwas gegen den Strich ging.

Danach prüfte sie Bewerbungen.

Ihre Stiftung verlangte eine Reihe von Vorgaben, um in den Genuss einer Förderung zu kommen, und schon die äußere Form der Bewerbung verriet Hedy viel über den Geist, der sie verfasst hatte. So wies sie schon mal Bewerber ab, die formvollendet, aber vollkommen blutleer um ein Stipendium baten, und zog andere vor, deren chaotische Gedankengänge sie interessierten. Junge Menschen, von denen sie sich erhoffte, dass sie der Gesellschaft eines Tages mehr zurückgeben würden als gute Noten und Konformität.

Dennoch liebte sie Regeln und irrte sich selten in Menschen.

Und wenn, dann gab sie es nicht zu.

Am Mittag ließ sie sich von Maria zwei Spiegeleier mit Spinat machen und ruhte anschließend eine Stunde.

Den Rest des Tages verhielt sie sich völlig unauffällig, erledigte wie immer diszipliniert und effizient Telefonate, schrieb Briefe, kleine Meisterwerke in geschliffenem Deutsch und mit intelligenten Pointen, auf die sie mit Recht sehr stolz war. Briefe, die Sponsoren an ihre Großzügigkeit oder ehemalige Stipendiaten an ihre Verantwortung zukünftigen Generationen gegenüber erinnerten. Briefe, die so geschickt formuliert waren, dass der Adressat nach der Lektüre tatsächlich glaubte, es wäre seine Idee gewesen, der Stiftung unter die Arme greifen zu müssen.

Hedy schrieb an diesem Nachmittag zwei oder drei ihrer berühmten Briefe, und nichts deutete darauf hin, dass sie sich auch nur eine Sekunde weiter mit ihrer Anzeige beschäftigt hatte, während Maria ihr stiller Schatten war und dabei das Gefühl hatte, als würde sie wie gelähmt auf den Einschlag einer Bombe warten.

Sie aßen zusammen zu Abend und gingen ins Bett.

Hedy erwachte um sechs Uhr aus einem tiefen Schlaf.

Sie öffnete die Fenster, atmete die kalte Morgenluft ein und dachte, dass es ein ausnehmend schöner Tag werden würde. Dann legte sie etwas Schminke auf und richtete den Dutt neu, denn sie leistete sich niemals Nachlässigkeiten, nicht einmal, wenn es dunkel war und es niemand sehen konnte. Mit der gleichen Haltung beendete sie auch jedes Bewerbungsgespräch – gleichgültig, ob der Kandidat genommen wurde oder nicht – mit den Worten: »Vergessen Sie bitte nie: Sie wissen erst, wer Sie sind, wenn Sie wissen, was Sie tun, wenn niemand hinschaut!«

Hedy liebte diesen Satz und lebte ihn gleichermaßen.

Gerüstet für einen neuen, aufregenden Tag schwebte sie mit dem Treppenlift hinab ins Erdgeschoss, wo Maria bereits strammstand und nervös die dicke Winterjacke knetete, die sie in den Händen hielt.

Hedy verließ das Haus und marschierte los.

Bei ihrer fünften Runde hörte sie hinter sich eine Fahrradklingel, im nächsten Moment schon schoss ein Bengel von vielleicht sechzehn Jahren auf einem Mountainbike an ihr vorbei, eine dicke Zeitungstasche auf dem Rücken und die heutige Ausgabe der Westfälischen Nachrichten in der Hand. Kurz bevor er Maria erreichte, riss er das Rad herum und warf in derselben Bewegung die Zeitung im hohen Bogen Richtung Treppe, die er, wie schon am Tag zuvor, um einen halben Meter verfehlte.

Sie landete vor Marias Füßen im Dreck.

Der Junge hingegen war schon wieder auf dem Weg zurück und raste jetzt auf Hedy zu, die sich ihm in den Weg stellte, die Arme in die Hüften gestemmt. Er schrammte grinsend an ihr vorbei, die Auffahrt hinab, zum Tor hinaus.

Hedy sah ihm nach: nicht gerade eine Hochbegabung, der Bursche. Sie hatte seine Bewerbung abgelehnt. Und die wütenden Proteste der Eltern – ebenfalls keine Hochbegabungen – mit Grandezza ertragen.

Sie beendete zwei Runden später ihre morgendliche Übung, nahm Marias Arm und ließ sich die Treppen hinauf in den Rollstuhl helfen.

»Ins Bad!«, befahl sie.

»Sehr wohl!«, antwortete Maria.

Erfrischt nach einer ausführlichen Morgentoilette nahm sie elegant gekleidet zusammen mit Maria am Frühstückstisch Platz. Endlich nickte sie Maria zu, aus der Zeitung vorzulesen, zuvor jedoch den Anzeigenteil zu prüfen. Marias Blick wanderte die kleinen Blöcke hinab und fand das Inserat auf Anhieb. Sie sog scharf die Luft ein: Das war alles noch viel schlimmer, als sie es sich ausgemalt hatte. Keine Chiffreanzeige!

Fräulein Hedy hatte wirklich den Verstand verloren!

Maria reichte ihr die Zeitung rüber und tippte mit dem Finger auf die betreffende Stelle.

Hedy las und nickte zufrieden.

Später ging Hedy ihrer täglichen Routine nach, beginnend mit der Post, während Maria den Haushalt versorgte, unkonzentriert und mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Die Hälfte der Einwohner hatte die Anzeige bestimmt schon gelesen, die andere Hälfte würde es nach der Arbeit tun. Oder vorher angerufen werden. So oder so: Bald würden es alle wissen.

Alle!

Gegen neun Uhr klingelte es an der Haustür.

Maria fuhr erschrocken hoch und dachte Guter Gott! Sie standen bereits vor der Tür, die Zeitung in den Händen. Doch als sie öffnete, wartete dort nur Jan, Hedys neuer Physiotherapeut.

Mit einer leeren Tupperdose in der Hand.

4

Ob Hedys Extravaganzen mit Jan begonnen hatten, ließ sich im Nachhinein nicht mehr so genau sagen, da sie schon immer ihren sehr eigenen Kopf hatte, in jedem Fall aber war es das kürzeste und seltsamste Bewerbungsgespräch, das ein Physiotherapeut je hatte. Und vor allem war es eines, um das Jan gar nicht gebeten hatte, aber bei Hedy wurde jede Unterhaltung über kurz oder lang zu einem Bewerbungsgespräch. Selbst wenn er nur mit ihr plauderte und dabei ihre Muskeln lockerte, hatte er stets das Gefühl, sich um ihre Gunst bemühen zu müssen und vor allem aber: nichts Dummes zu sagen!

Seit vier Wochen kam Jan fast täglich, um mit Mobilisations- und Koordinationsübungen Hedys Bewegungsapparat zu trainieren, doch wenn er ehrlich war, hatte sie diese Übungen kaum nötig. Sie war schlank, erstaunlich gelenkig und bis auf altersbedingte Arthrose in den Beinen und Wirbeln vollkommen gesund. Dennoch bestand Hedy auf Gymnastik, was Jan einerseits freute, denn er liebte die Gespräche mit ihr sehr, ihm andererseits ein schlechtes Gewissen bereitete, denn Hedy bezahlte ihn privat, und da kam im Monat schon einiges zusammen.

Rätselhafter als die eigentlich unnötigen Besuche war jedoch, wie Jan zu seinem Job gekommen war. Die Stadt, in der er lebte, war klein genug, um nach ein paar Jahren alle wichtigen Personen darin zu kennen, aber nicht so klein, dass jeder jeden kannte. Jan wusste daher, wer Hedy von Pyritz und die Von-Pyritz-Stiftung für begabte Kinder war, weil alle wussten, wer Hedy von Pyritz war, aber Hedy konnte Jan eigentlich nicht kennen. Jedenfalls nicht, weil er der einzige Physiotherapeut der Stadt war. Oder der beste. Es gab einige, die meisten davon in großen Gemeinschaftspraxen, die einen guten Ruf genossen und in aller Regel erster Anlaufpunkt für diejenigen waren, die eine Therapie brauchten. Jan hatte nicht einmal eine Praxis, sondern besuchte seine Patienten in deren Häusern, was ihm ein regelmäßiges, aber kein üppiges Einkommen bescherte.

Es gab also keinerlei Berührungspunkte zwischen den beiden, und doch stand Fräulein Hedy eines Tages vor ihm. Vielmehr saß sie vor ihm. Im Rollstuhl – dahinter Maria. Sie sah ihn so lange an, bis Jan sich unter ihrem Blick zu winden begann und sich automatisch fragte, was er falsch gemacht hatte, aber es fiel ihm nichts ein, denn es gab auch nichts, was dafür in Frage gekommen wäre. Er saß einfach nur im Stadtpark auf einer Bank und wärmte sich die Hände an einem heißen Kaffee. Gerade als er allen Mut zusammennehmen wollte, um Hedy darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Starren sehr wohl als unhöflich gelten konnte, wandte die sich Maria zu und ließ sich ein weißes Blatt Papier von ihr geben.

Sie reichte es ihm und sagte: »Falten Sie mir bitte einen Flieger!«

Jetzt war es Jan, der erst sie, dann das Papier anstarrte, das sie ihm entgegenhielt.

»W-was?«

»›Wie bitte‹, heißt es, und jetzt falten Sie mir bitte einen Flieger!«

Jan war so perplex, dass er das Papier griff und Sehr wohl! murmelte und damit nicht nur Maria ein Lächeln aufs Gesicht zauberte, sondern auch in diesen allerersten Momenten ihres Kennenlernens ihr Herz gewann.

Jan faltete also einen Flieger.

Und er tat es sehr gewissenhaft: Messerscharfe Kanten und ein kompliziertes Muster formten einen schneidigen, aerodynamischen Jäger, den er Hedy zurückreichte.

Die forderte: »Lassen Sie ihn fliegen, junger Mann!«

Jan stand auf und warf den Flieger, der rasch an Höhe gewann und dann in langen, eleganten Bögen Kreise zog, getragen von einer leichten Böe. Er hielt sich sehr lange in der Luft, während Hedy ihm versonnen nachsah, auch dann noch, als er bereits sanft auf dem Boden gelandet war.

Da erst drehte sie sich zu Maria um, ließ sich von ihr eine Visitenkarte geben und sagte knapp: »Sie sind engagiert! Morgen um neun Uhr?!«

Es klang wie eine Frage, doch Jan ahnte, dass sie allenfalls rhetorischer Natur war. Also nickte er einfach, während Hedy Maria ein Zeichen gab, weiterzuziehen.

Sie rollte davon, und Jan hatte einen neuen Job.

Natürlich fragte er sich, wie sie auf ihn gekommen war. Woher sie wusste, wer er war, was er beruflich tat und vor allem: warum sie ausgerechnet ihn engagiert hatte. Aber Hedy gab keine Erklärungen ab, und nach den ersten Stunden spielte es auch keine Rolle mehr. Sie verstanden sich gut, und Jan besuchte die alte Dame fast täglich und lockerte ihre Verspannungen.

Und auch für Maria wurden Jans Besuche bald schon liebgewonnene Gewohnheit, denn er alarmierte geradezu mütterliche Instinkte in ihr, und so zwang sie ihn, sich nach der Arbeit mit Hedy an den Küchentisch zu setzen und zu essen, weil sie ihn für viel zu dünn befand. Anfangs protestierte Jan dagegen, mit dem Ergebnis, dass Maria nur umso mehr kochte und es ihm dann in Tupperware mitgab für den Abend.

Da stand Jan nun und drückte ihr die leere Plastikbox in die Hand.

»O Gott, Jan, ich habe dich ganz vergessen!«, rief Maria erschrocken.

Jan grinste und hoffte, dass sie seine Enttäuschung nicht bemerkte. Es war erstaunlich, in welch kurzer Zeit man sich an gutes Essen gewöhnen konnte.

Sie zog ihn zu sich und sagte leise: »Du musst mit ihr sprechen, Junge! Sie hat den Verstand verloren!«

»W-was?«, fragte er verwirrt.

»Wie bitte!«, schallte es korrigierend in ihrem Rücken.

Er blickte über Marias Schulter, und da stand sie, Hedy, und lächelte fein. Sie war klein und schmal, doch niemand nahm sie so wahr, denn elegante Schuhe mit Absätzen, gerade Haltung und der strenge Dutt ließen sie groß und stolz wirken. Und ständig hatte man das Gefühl, dass sie wohlwollend auf einen herabblickte, selbst wenn man zwei Köpfe größer war.

»Wirklich, Jan, Sie sollten es langsam besser wissen, nicht wahr?«

»Natürlich, Fräulein von Pyritz, ich war nur … überrascht.«

»Kommen Sie!«

Sie wandte sich um, nicht ohne Maria einen kleinen, warnenden Blick zuzuwerfen: Maria war ihre treueste Verbündete, aber Neuigkeiten aller Art hatte sie noch nie gut für sich behalten können.

Sie betraten zusammen den Salon.

Alles in diesem Raum war von altertümlicher Eleganz. Die vier riesigen Flügeltüren erlaubten nicht nur einen beeindruckenden Blick in einen im Sommer überbordenden Garten, sondern fluteten den Raum auch mit Licht. Parkett und Stuck an den Decken rundeten das Bild ab.

»Was ist passiert?«, fragte Jan.

Er öffnete einen kleinen Koffer, gefüllt mit Ölen und Salben, und breitete eine gerollte Bodenmatte aus.

Hedy winkte ab: »Nichts.«

Und schon öffnete Maria die Tür, trat unaufgefordert in den Raum und wedelte mit den Westfälischen Nachrichten.

»Das ist passiert!«, rief sie fast schon empört.

»Ich glaube, wir sprachen bereits mehrmals darüber, dass Lauschen an der Tür ein grauenhafter Verstoß gegen die Etikette ist.«

»Dann sagen Sie ihm doch, was Sie gemacht haben!«, hielt Maria trotzig dagegen.

Hedy seufzte und gab Maria zu verstehen, dass sie ihr die Zeitung geben sollte. Sie schlug den Anzeigenteil auf und reichte ihn dann Jan. Der nahm die Zeitung entgegen und starrte hinein.

Sehr lange.

Dann blickte er auf und fragte: »Sie wollen einen Bundeswehrspind kaufen?«

Hedy runzelte die Stirn: »Unsinn!«

Sie rupfte ihm die Zeitung aus der Hand und sah hinein: »Nicht die Anzeige mit dem Foto. Die daneben!«

Damit gab sie ihm die Zeitung zurück.

Jan kniff die Augen zusammen, dann lächelte er entschuldigend: »Die Schrift ist ziemlich klein. Und ich hab meine Lesebrille nicht dabei …«

Maria nahm die Zeitung und las laut und überdeutlich vor: »›Dame in den besten Jahren sucht Kavalier, der sie zum Nacktbadestrand fährt. Entgeltung garantiert!‹ Inklusive Name und Adresse. Nicht einmal eine Chiffreanzeige!«

Jan schluckte: »Das ist nicht Ihr Ernst?!«

»Natürlich ist das mein Ernst!«, gab Hedy zurück.

»Was werden nur die Leute sagen?«, fragte Maria besorgt.

Hedy zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Vielleicht liest es ja niemand?«, wandte Jan ein. »Die Anzeige ist ziemlich klein, und wer liest schon regelmäßig Anzeigen?«

»Es muss nur einer diese Anzeige lesen«, Maria hob den Zeigefinger: »Nur einer! Dann garantiere ich dir, dass es innerhalb eines Tages die ganze Stadt weiß!«

»Wenn schon«, antwortete Hedy ruhig.

»Was ist denn nur los mit Ihnen?!«, schimpfte Maria. »Erst dieser Irrsinn in der Nacht und jetzt das hier!«

Hedy sah sie kühl an: »Danke, Maria, aber Sie werden jetzt nicht mehr gebraucht.«

Maria seufzte tief, dann verließ sie den Raum.

Jan stand etwas ratlos herum.

Hedy lächelte ihn an: »Was sorgt Sie, Jan?«

»Nun«, begann er vorsichtig, »die Anzeige …«

»Haben Sie moralische Bedenken?«

Er schüttelte den Kopf: »Das ist es nicht, Fräulein von Pyritz. Es ist nur … ich finde sie ein wenig unglücklich formuliert!«

Augenblicklich fiel die Zimmertemperatur um mehrere Grad.

Hedy ging es ziemlich gegen den Strich, kritisiert zu werden, aber dass jemand wagte, an ihren Formulierungen herumzudeuteln, kam beinahe einer Kriegserklärung gleich.

»So, so«, antwortete sie kalt. »Was gefällt Ihnen denn nicht?«

Jan wusste, dass es vollkommen gleichgültig war, ob er jetzt noch antwortete oder sich lieber gleich entschuldigte: Seine Position war hoffnungslos.

»›Entgeltung garantiert!‹«, brachte er leise heraus.

»Was ist damit?«, fragte Hedy ungeduldig.

Er begann, sich unter ihrem stahlblauen Blick zu winden. »Es ist … ich meine … diese Formulierung … ist … unglücklich.«

»Ist sie das?!«

»Nun ja, ein bisschen!«

Hedy starrte ihn einen Moment an.

Schnaubte kurz.

Dann hob sie das Kinn, wandte sich um und ging in den Garten hinaus. Eine Dame strafte mit Nichtbeachtung.

Und Hedy war eine Dame.

5

Drei Tage lang begegnete Hedy Jan mit eisigem Schweigen.

Einmal ließ sie Maria das Treffen sogar kurzfristig absagen, die anderen Male sagte sie kein Wort. Jan hatte einige Patienten, die wenig bis gar nicht sprachen, und er erledigte bei ihnen gewissenhaft und umsichtig seinen Job, ohne dass es ihn gekümmert hätte. Im Gegenteil: Es war auch zuweilen ganz erholsam, nicht plaudern oder sich endlose Gesundheits- oder Familiendramen anhören zu müssen.

Unter Hedys Nichtbeachtung litt er.

Der Einzige, der unglücklich formuliert hatte, war er selbst, und wenn Hedy wüsste, wie absurd die Situation tatsächlich war, dass ausgerechnet er ihr Ungenauigkeiten im schriftlichen Ausdruck vorwarf … Jan mochte gar nicht daran denken!

Drei Tage lang blieb es allerdings auch sonst ruhig. Niemand rief Hedy wegen der Anzeige an, niemand sprach mit Maria darüber, kein Klatsch schaffte es bis auf das Grundstück der Stiftung, so dass Hedy bereits annahm, dass niemand diese Anzeige gelesen hatte. Denn auch Post kam keine, jedenfalls keine, die sich auf ihre Anzeige bezog. Hedy war enttäuscht über die ausbleibende Reaktion, Maria hingegen höchst erfreut.

»Das ist gut, Fräulein von Pyritz! Sehr gut sogar!«

Hedy schwieg dazu, was Maria als Zustimmung wertete. Zukünftig würde es keine Mondsüchteleien mehr geben, keine Papierflieger und vor allem: keine Anzeigen. Es kehrte sich doch noch alles zum Guten.

Am Morgen des vierten Tages klingelte es an der Haustür.

Maria öffnete und wusste in dieser Sekunde, dass sie zu früh gejubelt hatte. Vor ihr stand der Postbote.

»Guten Morgen! Ich hab das nicht alles in den Briefkasten bekommen«, erklärte er, überreichte ihr einen gewaltigen Packen Briefe und legte die Tageszeitung obendrauf. Sie war besonders dreckig heute – es hatte in der Nacht geregnet.

»Guter Gott!«, rief Maria entsetzt.

»Fräulein von Pyritz schreibt wirklich gerne, was?«, fragte er unschuldig.

Maria antwortete nicht, sondern schob nur mit dem Fuß die Tür wieder zu.

Das konnte alles nicht wahr sein!

Sie kehrte um und erreichte die Treppe in dem Moment, in dem Hedy mit dem Lift zu ihr herabschwebte. Schon auf halber Strecke sah sie die Briefe und konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. Sie sah aber auch die dreckige Zeitung, und schon verschloss sich ihr Mund zu einem schmalen Strich.

»Was haben Sie nur getan, Fräulein Hedy!«, jammerte Maria.

»Bringen Sie alles in mein Büro!«, wies Hedy an und begann den Tag wie die anderen auch: mit einem knappen Frühstück und Maria, die ihr aus der Zeitung vorlas.

Als Jan am Vormittag die Villa betrat, hatte Hedy ihr Büro immer noch nicht verlassen, während sich Maria murmelnd und kopfschüttelnd in die Küche zurückgezogen hatte. Sie kochte, denn Kochen beruhigte, und besah man die Menge an gluckernden Töpfen auf dem Herd, musste sie sehr aufgewühlt sein.

Jan klopfte an die Tür von Hedys Büro und hörte von drinnen ein Herein!

Hedy saß an ihrem Schreibtisch, hatte fast alle Briefe geöffnet und das Papier zu einem großen Stapel zusammengelegt. Gerade schob sie den letzten gelesenen Brief zur Seite und trommelte unzufrieden mit den Fingern auf die Tischplatte.

Jan räusperte sich als Zeichen dafür, dass er noch in der Tür stand.

Hedy sah auf und fragte: »Wie haben Sie das gemeint? Mit der ›unglücklichen Formulierung‹?«

»Sie reden wieder mit mir?«

Hedy zog mürrisch die Augenbrauen zusammen: »Ich schätze es überhaupt nicht, wenn man eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet!«

»Verzeihung.«

»Kommen Sie näher!«, befand Hedy.

Jan schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

»Und?«, hakte sie nach.

»Ich befürchte, dass die Kombination Dame in den besten Jahren mit Entgeltung garantiert möglicherweise Missverständnisse provozieren könnte.«

»Was ist daran eigentlich misszuverstehen?«, rief Hedy beinahe schon empört. »Mit Entgeltung sind selbstverständlich Kost, Logis, Fahrtkosten sowie ein angemessenes Honorar gemeint!«

Jan zuckte mit den Schultern: »Die Menschen haben sich geändert, Fräulein von Pyritz.«

Hedy winkte genervt ab: »Die Menschen sind immer noch dieselben. Dummköpfe gab es zu jeder Zeit. Aber offenbar scheinen Anstand und Erziehung von den schönen neuen Medien vollkommen hinweggeschwemmt worden zu sein!«

»Ich vermute fast, Sie haben eine ganze Reihe von ungebührlichen Angeboten bekommen?«

»Eine ganze Reihe?! Hier ist nicht ein einziger Ehrenmann darunter. Nicht einer!«

»Tut mir leid.«

»Kretins!«, schnaubte Hedy.

Sie sammelte sich einen Moment, dann stand sie auf, ging zur Tür ihres Büros und rief Maria. Die kam, sich die Hände an der Schürze abwischend, aus der Küche.

Hedy zeigte auf den Papierstapel: »Verbrennen Sie die Post!«

»Ich habe Essen auf dem Herd stehen!«, protestierte Maria.

»Sie können Sie auch auskochen, mir einerlei! Und dann holen Sie mir diesen Lokalchef der Westfälischen ans Telefon!«

»Sehr wohl!«, antwortete Maria.

Sie wandte sich Jan zu: »Kommen Sie, an die Arbeit!«

Und um ein Haar hätte Jan vor lauter Erleichterung, dass Hedy ihren Groll gegen ihn begraben hatte, auch mit Sehr wohl! geantwortet.