Mareike Nieberding

Wie mein Vater und ich
wieder zueinanderfanden

Suhrkamp

Für meine Familie

Prolog

Wir sind ganz normal. Wir sind keine Minderheit, nicht verfolgt, haben keine Schicksalsschläge erlitten, wir sind nichts Besonderes. Was nicht heißt, dass wir nicht verwundet sind. Nicht verunsichert und verwirrt. Wir sind Tochter und Vater. Eine Familie. Und alles, was dazugehört: Mutter, Brüder, Omas, Opas, Freunde, Partner. Männer und Frauen. Von uns handelt dieses Buch.

Davon, warum die meisten Tochter-Vater-Beziehungen nach der Pubertät nicht mehr dieselben sind. Davon, ob man als Mädchen mit seiner Mutter anders erwachsen wird als mit seinem Vater. Und was das mit der Emanzipation zu tun hat. Und davon, wie man sich wieder nahekommt, wenn man sich schon fast verloren hat — obwohl das niemals jemand zugeben würde. Ist doch alles o. ‌k. Ganz normal. Familie halt.

1

Er hat mich nicht geweckt. Aber seine Geräusche im Bad. Auch zehn Jahre nach meinem Auszug erkenne ich noch jedes Geräusch im Haus meiner Eltern — den energischen Gang meiner Mutter, ihre klatschenden Tritte auf der Steintreppe. Ich höre, ob sie rauf- oder runtergeht. Ob mein Bruder die Tür vom Bad schließt (mit einem dumpfen Rums) oder mein Vater (mit tief runtergedrückter Klinke, sodass man ganz leise das Schloss einhaken hört). Jedes Familienmitglied hat seinen eigenen Sound. Unser Haus klackert. Unser Haus macht große Schritte. Unser Haus poltert. Unser Haus singt leise vor sich hin. Unser Haus hustet. Letzteres besorgt mein Vater.

Ich wache auf, mein erster Gedanke: Er hat mich nicht geweckt. Um fünf Uhr morgens soll es losgehen. Freitags. Richtung Freiburg. Eine Reise in seine Vergangenheit. Und vielleicht eine Reise in eine neue Gemeinsamkeit. »Pack deinen Koffer am besten schon heute Abend, spätestens halb sechs müssen wir los, damit wir noch vor dem Berufsverkehr an den großen Autobahnkreuzen vorbei sind«, sagt Papa am Abend zuvor, zehn nach zehn, er sitzt nach vorne gebeugt in einem der zwei graubeigen Wohnzimmersofas, die Arme auf den Oberschenkeln abgestützt, vor ihm eine Tasse Kaffee auf einem Untersetzer mit dem Spruch »Keep calm, drink coffee«. Er schaut kaum auf beim Sprechen. Im Super-HD-45-Zoll-Fernseher referiert Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gerade bei Maybrit Illner über Erdoğans Spione. Vor meinem Vater und mir liegen 629,9 Kilometer. Von seinem Wohnort, meinem Elternhaus in Steinfeld, Landkreis Vechta, Niedersachsen, nach Freiburg im Breisgau, in seinen Studienort, der auch der Ort ist, an dem wir vor fast dreißig Jahren unsere ersten Familienurlaube verbrachten. Denke ich an Freiburg, denke ich an Leberkässemmel, Berner Sennenhunde, Schlittenfahren, Rummikub, Eichenholz, inmitten der Erinnerungen steht ein grüner Kachelofen. Es war einmal in Freiburg.

Es gibt ein Foto von Papa und mir, wie wir in blau-weiß karierter Bettwäsche in einem Einzelbett aus Lärchenholz liegen. Uns beiden steht der Mund offen. Ich bin vielleicht vier, blond und krank — Grippe — und schlafe auf Papas ausgestrecktem Arm. Als wir das Bild zusammen anschauen, sagt er: »Es war einmal ein Vater und seine Tochter.« Präteritum.

Am Abend vor der Abreise gehe ich aufgeregt ins Bett. Ich, 29, Journalistin, seit zehn Jahren in Berlin, tippe in die Notizfunktion meines Handys: »Ich weiß nicht, ob ich dem Ganzen gewachsen bin.« Mein Vater und ich, wir waren noch nie zu zweit weg. So lange zusammen unterwegs ohne Mama oder meine Geschwister. Früher waren wir mal ein Team. Heute stehen wir uns manchmal in der Küche gegenüber, als würden wir uns zufällig auf der Straße begegnen, »Ach, du auch hier!«. Wir streiten nicht. Wir lieben uns. Aber wir sind sprachlos. Schon lange, bestimmt zehn Jahre. Über was sollten wir auch sprechen? Wir wissen ja kaum etwas voneinander. Wir kennen uns schon ein Leben lang, wer wir sind und wie wir miteinander umgehen sollen, wissen wir trotzdem nicht. Wir trauen uns ja kaum einander in die Augen zu schauen.

Er hat mich nicht geweckt. Dabei hat er mich immer geweckt: morgens vor der Schule. Wenn wir in den Urlaub fuhren. Als ich das erste Mal in Bremen in ein Flugzeug steigen sollte, mit 15, um die nächsten Monate in einer Gastfamilie in Chardon, Ohio, USA, zu verbringen. Am Weckruf waren meine Eltern gut auseinanderzuhalten. Der meiner Mutter kam vom Flur, »Aufstehen«, ein paar Sekunden später flog die Tür meines kleinsten Bruders auf, dann meine, dann die meines mittleren Bruders, der Zimmerfolge entsprechend, ihre rechte Hand knallte auf den Lichtschalter, drei Schritte zum Fenster, vier schnelle Armzüge, rechts, links, rechts, links, die Jalousie hoch, dann sperrte sie das Fenster weit auf.

Wenn mein Vater mich weckte, sagte er tastend in die Dunkelheit, »Molly, aufstehen!«. Wie er auf den Namen Molly kam, weiß er nicht mehr. Ich weiß nur, solange ich klein war, nannte er mich Molly Malone. Und solange ich Molly war, weckte er mich nicht nur, bevor wir in den Urlaub fuhren, sondern trug mich danach im Schlafanzug, samt Decke und Kissen ins Auto. Ich erinnere mich genau daran, ich schlief ja gar nicht mehr, ich stellte mich nur schlafend, meinen Kopf an seine Schulter gelegt, ließ ich einen Arm baumeln und blinzelte noch einmal in Richtung Haustür, bevor wir mit der ganzen Familie gen Süden fuhren. Vor kurzem saß ich mit meinem Bruder in einer Pizza-Kneipe in Berlin, und während wir aßen, schuckelte immer wieder ein älterer Mann mit einem Baby auf dem Arm an uns vorbei. Das Kind war wach, ließ sich aber komplett fallen. Wir schauten es an und wussten beide sofort, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie sich diese Geborgenheit anfühlt. Schwerelos.

Um 5 Uhr morgens komme ich die Treppe runter. In schwarzen Socken. Bei genauem Hinhören hätte man ein »Swoosh« vernommen, das meine Hand beim Hinuntergleiten des metallenen Geländers gemacht hat. Papa ist seit Viertel vor 4 Uhr wach. Er sitzt am Küchentisch. Er hat schon Brötchen geholt, BILD-Zeitung gelesen, sich rasiert. Er ist ein großer Mann, über 1,90, trotzdem kommt er mir an diesem Morgen klein vor. Als liege ihm das kommende Wochenende auf den Schultern. Mein Vater ist 60, aber in meiner Vorstellung ist er nie älter geworden als Mitte 40 und sieht für immer aus wie auf diesem Urlaubsfoto, das ich auf Sylt von ihm gemacht habe: Er, in schwarzem T-Shirt am Tisch, der Hintergrund liegt im Dunkeln, er hat die Hände unter dem Kinn verschränkt, legt den Kopf ein bisschen schief. Seine Haare sind noch braun und ziemlich kurz, er ist sonnengebräunt, seine Lippen umspielt ein Lächeln, sein Blick ist zärtlich, fast ein wenig wehmütig.

Obwohl wir uns nicht sehr ähnlich sehen, sehe ich in diesem Gesicht uns alle, mich und meine zwei kleinen Brüder: das schelmische Lachen und die Katzenaugen, die wir alle drei von ihm haben. Als ich das Bild wieder herauskrame, schießen mir sofort Tränen in die Augen. Er ist wir. Er ist ich. Und ich kann nichts dagegen tun.

Manchmal frage ich mich, ob ich in zwanzig Jahren noch immer diesen großen dunkelhaarigen Mann mit den dicken Oberarmen und den vielen Sommersprossen sehe, wenn ich an meinen Vater denke. So hat er sich mir eingebrannt. Vielleicht, weil es die Zeit war, in der ich mich am stärksten gegen meine Eltern aufgelehnt habe. Vielleicht, weil es die Zeit war, in der mein Vater und ich anfingen, uns voneinander zu entfernen. Als mein Vater Mitte 40 war, saß er noch am Kopfende des Tisches, ich war ein Teenager und saß an der langen Seite zu seiner Rechten. Ihm am nächsten. Der Platz zu seiner Linken blieb frei, für Besucher. Der Tisch steht nicht mehr da, wo er früher stand. Die Sitzordnung ist abgeschafft. Das Kopfende bleibt frei. Mein Vater hat den Vorsitz abgetreten. Ich sitze nicht mehr zu seiner Rechten. Man isst nun flexibel.

Ich setze mich ihm gegenüber. Er schmiert zwei Brötchen für meinen Bruder. Mein Bruder ist 23. »Wenn du Kaffee willst, musst du dir den noch mal kurz in der Mikrowelle warm machen«, sagt er. Und: »Der ist von gestern, vom späten Abend.« Sein Gesicht versteckt er hinter den Schlagzeilen des Tages: »Gerhard (100) sucht eine Frau fürs Leben«, »Mieter verklagt Raab«, »Neues Gesetz: So erfahren Sie, was Ihre Kollegen verdienen«. Er atmet durch die Nase. Er hustet. Ich frage, wann er das letzte Mal in Freiburg war. Mit meinem kleinen Bruder auf dem Rückweg nach einem Termin in Mailand, um in Ingos Löwenkeller Schweinshaxe mit Sauce béarnaise zu essen. »Wie früher im Studium, da hatte der Löwenkeller immer bis 3 Uhr nachts auf. Mmmhh, lecker!« Früher war Papa auch für mich der Typ Mann, der für eine Schweinshaxe einen Umweg von ein paar hundert Kilometern in Kauf nimmt. Einfach so, der Unvernunft wegen. Unseren ersten Hund Trenk, einen kniehohen schwarzbraunen Mischling mit struppigem Fell, hat er in der Kneipe für sechs Mark einem Nachbarn abgekauft. An einem Schnürsenkel hat er ihn nach Hause geführt und später seinen Jagdfreunden erzählt, dieser kleine Mischling sei ein sibirischer Jagdhund, Papiere habe er auch, ja klar, die könne er nur nicht lesen, die seien schließlich auf Kyrillisch. Danach hat er so lange mit dem falschen Jagdhund apportieren geübt, bis er es genauso gut konnte wie die edlen Rassetiere der anderen. Wieso treffe ich diesen wunderbar unvernünftigen Mann nur noch so selten?

Kurz bevor es losgeht, kommt Mama in die Küche, in einem hellblauen Bademantel aus Flausch: »Ich dachte schon, ihr wärt gefahren, ohne euch zu verabschieden!« Natürlich nicht! Sie umarmt erst Papa, dann mich. Als sie mich drückt, wird mein Hals trocken, die Wehmut kriecht in meine Kehle. Die Angst, dass wir mit der Einsicht von dieser Reise zurückkommen, dass da nichts mehr ist. Dass wir uns auseinandergelebt haben. Dass wir Tochter und Vater bleiben, weil wir es nun mal sind, weil wir eine Familie sind, aber eben nur zu den dafür vorgesehenen Terminen: an Weihnachten und Ostern und wenn Mama und er mich in Berlin besuchen. Weil wir den Rest des Jahres gut ohne einander zurechtkommen. Vielleicht sogar besser.

Es ist 5:34 Uhr. Vor uns liegen 629,9 Kilometer, ein Wochenende zu zweit, eine Fahrt nach Freiburg, eine Reise zu meinem Vater.