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Jutta Michelbach

ALS ICH AUSZOG, DAS FÜRCHTEN
ZU VERLERNEN

MEMOIREN EINER ANGSTHÄSIN

Viel Dank für ihre Unterstützung gilt meiner Freundin und ehemaligen Klientin, Frau Maria Grandegger!

© 2017, Jutta Michelbach

Autorin: Jutta Michelbach

Umschlaggestaltung, Illustration: Vorname, Name oder Institution

Lektorat, Korrektorat: Vorname, Name oder Institution

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99070-007-5 (Paperback)

ISBN: 978-3-99070-009-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Zur Autorin:

Jutta Michelbach geb. Krupitz kam im Februar 1944 als Zwillings-Schwester und letztes von fünf Kindern in einer Arztfamilie in Wien zur Welt. Die Mutter starb elf Tage nach der Geburt und die Neugeborenen kamen in ein Säuglingsheim, dessen Belegschaft sich damals ständig auf der Flucht befand, und die Großmutter flüchtete mit den drei anderen Kindern in die damalige Tschechoslowakei. Die Kriegswirren und traumatischen Erlebnisse jener Zeit machten Jutta – sehr im Gegensatz zu ihrer stark extrovertierten Zwillingsschwester – sehr in sich gekehrt, ängstlich und verschlossen.

Erst in der Schule fand sie mit dem Lesen- und Schreiben-Lernen eine für sie passendere Ausdrucksform und Kommunikationsmöglichkeit als mit dem Reden. Sie kultivierte und praktizierte ihre musischen Begabungen – u.a. das Schreiben von Kurzgeschichten, Gedichten und Tagebüchern zeit ihres Lebens in ihrer Freizeit. Das Schreiben zum Beruf zu machen vermied sie, um in der Abgeschiedenheit des Arbeitens nicht in Einsamkeit abzudriften.

Nach der Matura 1962 arbeitete sie in der Bundeskammer der Gewerblichen Wirtschaft als Sekretärin bis zu ihrer Eheschließung 1966. Sie brachte zwei Töchter und einen Sohn zur Welt. Nach dem Tod ihres Sohnes knapp nach seiner Geburt 1972 ließ sie sich scheiden. Als Alleinverdienerin um ein stabiles Einkommen bemüht, arbeitete sie dann als Fremdsprachensekretärin für sowjetische Klassik-Künstler. In der Zeit machte sie auch ihr Fußpflege-Diplom mit entsprechend später anschließender Meisterprüfung und eröffnete 1988 ihre eigene Praxis, in der sie bis zu ihrer Pensionierung 2004 sehr erfolgreich arbeitete.

Nach interfamiliärer Alten- und Krankenbetreuung für ihre Stiefmutter (2005) und Zwillingsschwester (2015), findet sie nach deren Ableben endlich Zeit, ihre künstlerischen Ambitionen auszuloten und weiterzuentwickeln.

KARWENDELGEBIRGE URLAUB AUGUST 1991

Autozug, Sa. 24. August 1991 (7 Uhr 15)

Lieber Ferdinand!

Verzeih, dass ich gestern am Telefon keine angenehme und erfreuliche Gesprächspartnerin war! Jetzt, da die Räder rollen habe ich meine Fassung wiedergewonnen und fange an meinen Urlaub zu genießen. Wahrscheinlich ist das ein Fehler von mir, den ich mein ganzes Leben nicht loswerde, dass ich im Alleingang dermaßen ängstlich sein kann, wenn die Dinge nicht so laufen wie geplant. Aber zum Teil ist es auch eine Sache des Älterwerdens. Man bildet sich ein, ohne eine bestimmte psychische Sicherheit nicht leben zu können, will unbedingt wissen wie, wann und wo man am nächsten Tag landet oder schläft. Ich ärgere mich selbst, denn ich bin immer so „vernagelt“. So habe ich mir immer wieder vorgesagt: Jutta, lockerlassen, nicht verkrampfen…und nun habe ich sie wieder, die gesunde, innere Gelöstheit, um der veränderten Situation zu begegnen. (Mist – der Zug wackelt ein bisschen zu viel um leserlich schreiben zu können. Dafür ist die Schrift grösser als sonst, dass du keine Lupe brauchst!)

Da wünsche ich mir dauernd: hinaus in die „große, weite Welt“, raus aus der Silbergasse! Und wenn es so weit ist, kriege ich Angst, weil ich’s unvorhergesehen allein tun muss. Dumme Jutta, dummes Kind! (Hübsch, wie der Morgennebel milchig in den Tälern hängt und die Sonne langsam hochsteigt!) Meine Gunda ist ja auch bloß mit einem Rucksack bewaffnet nach Kolumbien losgezogen und hatte keine Angst! Na, die hat ja auch Alex! Dafür habe ich mehr Erfahrung (und mehr Geld). Ich brauche nicht unbedingt einen Fixpunkt wie die Selbstversorgerhütte von Annemarie, in die ich mich jederzeit wie in ein Mauseloch flüchten kann! Ich werde schön brav „weltoffen“ bleiben und mein Hirn einmal nicht ausschließlich zur Lösung von Fußproblemen benützen. (Stift Melk ragt da gerade aus dem Morgennebel heraus und verschwindet gleich wieder). Mir ist ein bisschen kalt - ich habe nur den dünnen Regenanorak mit in das Zugabteil genommen; na, macht nichts. Wahrscheinlich werde ich in dieser Woche noch öfter und noch ärger frieren.

Jetzt ist er da, der große Gegenschlag – nach einer Woche totaler Überarbeitung: die Lider sind bleischwer. Also will ich schlafen. Zu diesem Zweck habe ich ja den Reisezug genommen, sonst hätte ich gleich einfach so mit dem Auto von daheim losfahren können.

Speisewagen, (10 Uhr)

Nun sitze ich beim Frühstück Nr. 2! Filterkaffee (nicht Lavazza), weiches Ei und Müsli. Na, da soll ich mich nicht mit meinem Schicksal aussöhnen? Bestens geschlafen in meinem Abteil, zumal ich die Sessel aufklappen konnte. Allein sein ist nicht nur Nach-, sondern fallweise auch unschätzbarer Vorteil! Es ist herzerfrischend, wie anders ich mich nach diesem Stunden-Tiefschlaf fühle. Wie ausgewechselt. Mir ist sogar wieder warm und ich will noch einen zweiten Kaffee. Das genügt dann bis Innsbruck. Übermüdung ist eine gute Ausrede für meine vorherige giftspeiende Überreizung, aber doch nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn man in letzter Minute vor der Abfahrt von der Urlaubspartnerin und Hüttenbesitzerin im Stich gelassen wird. Nun merke ich, dass langsam aus meinem Unterbewusstsein immer mehr die „Selbstverständlichkeit des Landstreicherlebens meiner Kindheit“ in mein Bewusstsein hochsteigt. Wie war das denn damals mit Sechzehn, Achtzehn, Zwanzig? Da war das Rucksackleben und Heustadelschlafen an der Tagesordnung. Haare waschen im Wildbach, geräucherter Anorak, versengte Augenbrauen, blutige Fersen und Laufblasen – „nixi“ Filterkaffee und Müsli auf weiß gedecktem Tisch. Aber damals auch „nixi alleini“. Dafür habe ich jetzt mehr Grips, mehr Geld und mehr Jahre am Buckel. Nur an greifbarem Schreibpapier mangelt es. Ich nehme, wie schon andere große Geister vor mir, mit Servietten als Ersatz vorlieb.

Mein Unternehmungsgeist wird immer munterer, die Neugierde wird wach: wo werde ich heute abends landen? Eine reizvolle Spontanurlaubsversion wäre, aus dem „Zimmer-Küche-Kabinett-Programm“ meines vollgeladenen Autos das „Existenzminimum“ in meinen Tourenrucksack zu packen und den Karwendel-Rundgang in Angriff zu nehmen. (Jawohl, Wimperntusche ist wirklich lebensnotwendig – ohne Schönheit kein Selbstbewusstsein!) Dafür kann ich alle weisen Bücher, die ich auf Annemaries Selbstversorgerhütte hätte lesen wollen, getrost im Auto lassen. Auch Pelzpatscherln und Gesundheitsschlapfen sind unnötiger Ballast. Wichtiger sind Handschuhe und platzsparend eng gewickeltes Klosettpapier (mit rosa Blümchen drauf, und wird vorher als Schneuztuch oder Serviette verwendet, bevor es seiner eigentlichen Bestimmung zugeführt wird). Konserven bleiben auch im Auto….Brot, Käse, Wurst und Kaugummi kommen mit….der Rest ist auf den Hütten zu erwerben.

Ein dickbäuchiger Generaldirektor nimmt an meinem Tisch Platz, während ich im Geist schon meine Route plane. Ich zahle, und zurück in meinem Abteil falte ich die Landkarte auf, um zu studieren wie ich mich am besten von Hütte zu Hütte hanteln könnte.

Innsbruck, Jahnstraße (14 Uhr)

Bravo! Meine Freundin Annemarie hat in ihrem überstürzten Übersiedlungstohuwabohu sogar Kaffee und Kuchen, Salzstangerln und Cottage-Cheese und einen Strauß Rosen für mich hergerichtet. Und während wir tratschen und Erlebnisse austauschen von Weihnachten bis zur Gegenwart und dann hochkonzentriert die Wanderkarte studieren, weiß ich endlich, wie ich weitermachen kann. Wie gut, dass ich zu Weihnachten nicht gleich mit den Schiern in die Axamer Lizum gesaust, sondern vorher noch „sanft“ ins Hall-Tal hineingewandert bin. Von damals weiß ich, dass man da ziemlich weit hineinfahren kann. Fast bis ans „Ende der Welt“. Hinter St. Magdalena liegen noch die sogenannten „Herrenhäuser“ bei einem aufgelassenen Salzbergwerk. Annemarie ist als Einheimische eine brauchbare Organisationshilfe, denn sie liefert mir die Telefonnummer von der dortigen Jugendherberge: O5213/52517. Matratzenlager und sogar ein Einzelzimmer ist vorhanden. Also bin ich „Dame von Welt“ und reserviere das Zimmer. Somit bin ich mitten drin „in dem Karwendel“, wenn auch nur unten und nicht auf 2000 Meter Seehöhe. Um 17 Uhr muss ich mich dann doch von Annemarie verabschieden, denn vom letzten Parkplatz aus muss ich noch eine halbe Stunde zu Fuß hinauf, und ich muss den Kofferinhalt noch in den Rucksack umpacken. Außerdem beziehe ich mit ein, dass ich im Alleingang nicht sofort hinfinde, was sich dann auch tatsächlich bewahrheitet.

Chambre separé (20 Uhr)

Verdammt fremd ist dieses „Hüttenleben“ für mich geworden! Da sitze ich mit allen anderen in der „Knappen-Küche“, trinke Tee, lehne Bier, das für die ganze Runde gezahlt wird, ab und komme fast um vor Schüchternheit, weil ich die einzig „Fremde, Zua’graaste“ aus der „Stood“ bin, halte mich an meiner Zigarette fest und warte ab. Oh ja, Amerikaner aus Visconsin sind auch da. Drei Mal ums Eck kann ich mich da hin und wieder ins Gespräch einschalten, um mit meinem Englisch auszuhelfen, und irgendwie habe ich dann auch plötzlich den Mut, eine mir „sympathische“ Frau (die Kassiererin vom Museum? Die Frau vom Bruder von der Wirtin?) namens „die Lies‘“ anzusprechen. Und damit habe ich die richtige Insiderin erwischt, um die kommenden Touren in Angriff zu nehmen. Ich hole hoffnungsfroh meine Wanderkarte, und wir stellen auf kleinen Rechnungszettelwischen drei Ein-Tagestouren zusammen, bis dass „die Lies’ wieda kimmt“. Also sehe ich klar für die nächste Zeit! Ich ziehe mich nur zu gern in meine Kemenate zurück und esse von meinem verderblichen, mitgebrachten Futter. Aber zur Einladung zum supermusikalischen Abend mit Geige und Klarinette kann ich mich nicht mehr entschließen, auch wenn ich mich dadurch zur Außenseiterin stemple. Ich habe Sehnsucht nach der Wärme des Bettes, nach ein paar Keksen mit Schokolade und nach meinem Buch, auch wenn es erst zwanzig Uhr ist. Genug der Selbstbehauptung für einen Tag. Ach wie gut, dass ich meine Bleistifttaschenlampe aus der Praxis in der Handtasche habe, da kann ich in der Nacht problemlos die Wendeltreppe hinunter aufs Klosett tapsen.

Sonntag, 25. August 1991

Um halb acht Uhr früh macht mir der Hausbursche Sigi mutterseelenallein das Frühstück. Ich bin geschniegelt und gestriegelt wie ich es gewöhnt bin: Haare frisch gewaschen, gefönt, geschminkt – ha, das Parfum habe ich vergessen! Von der heiteren Bierrunde vom Vorabend keine Spur. Ich nehme meinen ersten Rechnungs-Käsewisch-Tagestour-Zettel, mache eine Abschrift, die ich bei Sigi hinterlasse - für den Fall, dass ich verloren gehe, soll man wissen, wo nach mir zu suchen wäre - und ziehe etwas bange los.

Nach hundert Metern bleibe ich schon zum ersten Mal stehen und schaue zweifelnd zurück.

Also, erst mal ´rauf zum Iss-Jöchl. Ja, wo ist das denn eigentlich? Irgendwie halbrechts hinauf, vorbei an dem Schild „Achtung Lebensgefahr“ neben der Wildwasserrinne, die ins Tal donnert. Vor mir ein paar Leute mit Schistecken, hinter mir eine Tirolerin – auch mit Schistecken, mit der ich ins Gespräch komme. An und für sich bin ich nicht sehr tratschbegeistert, doch für den Augenblick ist sie mir gerade willkommen. Ich „hänge mich dran“, wir gehen gemeinsam. Und da alle, die da des Weges kommen auf die sonnenbeschienene Seite des Iss-Anger gehen, gehe ich ohne zu denken mit.

Jutta, das Schaf in der Herde. Die Sonne steigt hoch und noch höher, ich frohlocke insgeheim, dass mich ein großartiger Tag erwartet und bleibe zurück, weil ich mir ungestört das Unterhemd ausziehen will, denn ich gerate beim Aufstieg ins Schwitzen. Pünktlich, als ich mit nacktem Oberkörper dastehe, kommen Mountain-Biker um die Kurve gescheppert. Mir bleibt die Spucke weg, dass man in diesem Gelände hier oben überhaupt fahren kann! Eine völlig hirnrissige Idee! Die drei Burschen grinsen mich vielsagend an. Mir egal! Dann hole ich meine „Schistecken-Tirolerin“ wieder ein. Aber nun komme ich drauf, dass ich laut Bierrechnungszettel gar nicht auf den Lafatscher will, sondern vom Iss-Jöchl links zum Wildangerspitz hinüber müsste. Ich soll mich ja an die Tour halten, die ich bei den Herrenhäusern hinterlegt habe, sonst findet man mich nicht, sollte ich irgendwo hängen bleiben und gesucht werden müssen. Wieder eine dreiviertel Stunde zurück – welch wertvolle Zeit ich da verloren habe, und das scheußlich beängstigende Gefühl, dass ich mich nun als einzige in eine andere Richtung bewege als die große Meute, die Richtung Lafatscher und Hallerangerhaus zum hochprozentigen „Enzian“ unterwegs ist. Ich muss endlich akzeptieren, dass ich allein bin und bleiben werde! Sei nicht so feig, du Angsthase! Ein kurzes Waldstück, dann öffnet sich der Blick auf das Schotterfeld unter der Wildangerspitze. Mein Weg geht Richtung Törl, die Hälfte davon liegt in einer grauweißen Nebelsuppe, und noch viel dichterer Nebel wuselt vom Tal herauf. Und da soll ich blindlings hinein, ganz allein und ohne zu wissen was dahinter ist? Eine viertel Stunde sehe ich die Nebelwand noch vor mir, dann bin ich mitten drin. Ich sehe in keiner Richtung mehr weiter als zwei Meter. Weder nach vorn noch nach hinten, nach oben oder nach unten! Nach hinten – da weiß ich wenigstens woher ich komme! Brrrrrrrr- Angst…..! Kurz entschlossen drehe ich um, gehe zehn Meter durchs Geröll zurück. Jutta, schon wieder feig? Du bist noch nicht einmal zwei Stunden auf den Beinen und willst schon wieder umdrehen? Wenn andere unterwegs sind, dann kannst du es doch wohl auch. Ja, aber die wissen, wie es weitergeht, ich gehe ins total Unbekannte! Schluss mit der Angst. Jetzt gehst du mal zum Törl hinauf. Retour kannst du immer noch! Schau, dass du weiterkommst!

Und siehe da, nach einer halben Stunde „Waschküche“ geht ein Sonnenloch für fünf Minuten auf und gibt die Sicht frei. In der Ferne das dunkle Holzkreuz vom Törl und – ich traue meinen Augen nicht - ein paar Schritte vor mir die Silhouette zweier wohlgenährter Kühe! Toll. Das nenne ich „Bergromantik“.

Die Erleichterung, die ich verspüre als ich wohlbehalten beim Törl ankomme, ist grenzenlos. Tapfere Jutta, tapferes Kind, du hast dich todesmutig durch den Nebel durchgekämpft. Als Lohn sehe ich auf der anderen Seite vom Törl in der Ferne bei Scharnitz ein weites Gipfelpanorama. Kaum beginne ich zu fotografieren, schließt sich das Nebelloch. Per Zufall entdecke ich noch den Richtungspfeil zur Kaisersäule. Kaiser… klingt für mich majestätisch hoch oben, doch „Törl“ lehrt mich, dass es dahinter natürlich wieder bergab geht. Und wie bergab erzählen mir meine Knie. Die Wildangerspitze streiche ich aus meiner Tour – die ist ja nicht einmal zu sehen! Also existiert sie für mich erst gar nicht. Mir reicht der Nebel, ich muss mich nicht unbedingt im Alleingang bei dermaßen schlechter Sicht auf Wege begeben, die in der Karte als „nur für Geübte“ eingezeichnet sind. Zwar hat die Lies’ gesagt ich schaue danach aus, dass ich die Wildangerspitze „machen“ kann, doch die Lies’ sah mich in der Knappenküche und nicht in der Nebelsuppe.

Ein hübscher, für mein architektonisch ungebildetes Auge angenehm anzusehender, harmonisch himmelwärts strebender Spitz, dieser Kaiserturm! Zeit eine Wasser- und Zigaretten- und Orientierungspause zu machen. Käsewischzettel: nächstes Ziel ist die Thaurer Alm. Noch tiefer hinunter. Almen liegen doch nicht so hoch wie man vom Tal aus betrachtet annehmen würde – umgedrehte Perspektive. Runter, runter, runter, das geht in die Knie. Ein Querweg kreuzt meinen Trampelpfad. Rechts oder links oder geradeaus? Rucksack runter, Karte heraus, nachschauen. Mensch, wo ist die Karte? Herz, bleib nicht steh‘n, nicht nervös werden, nochmals suchen! Nichts… Karte futsch. Jutta, ohne Karte kannst du nicht weiter. Egal wie weit hinauf, du musst zurück. Zurück zur Kaisersäule, im schlimmsten Fall zurück bis zum Törl, denn da hattest du die Karte noch. Hoffentlich fressen Kühe kein Papier – als ich noch ein Kind war, hat eine Kuh auf der Gerlitzen einmal meinen Dirndlrock genüsslich zermalmt, den ich zum Trocknen aufs Gatter gehängt hatte. Merde, verdammter Mist, schon das zweite Mal, dass ich wieder zurück muss….

Kurz vor den Kühen kommen mir zwei Burschen entgegen. Einer von ihnen bückt sich im Gehen „Jö, schau!“ „Hallo, die Karte gehört mir“, rufe ich ihm entgegen und atme erleichtert durch. Das war knapp! Der zweite Zeitverlust an einem Tag – sowas hat die Lies‘ sicher nicht in meine Tour eingebaut. Gut, dass ich die Wildangerspitze ausgelassen habe. Schlag 12 Uhr mittags betrete ich die Gaststube der Thaurer Alm. Ein göttliches Mineralwasser, ein Käsebrot – der Käse schmiert sich unangenehm klebrig in meinem Mund. „Spuck erst mal den Kaugummi aus, wäre das eine Idee? Nur eine viertel Stunde Pause, ich muss verlorene Zeit wieder einbringen. Fast im Laufschritt zur Vintlalm. Von Alm zu Alm, das wird ein Spaziergang, da liegt kein wie immer geartetes Jöchl oder Törl dazwischen. In der Tat, da wandere ich wirklich leichten Fußes hinüber. Aber dann liegt das Kreuzjoch vor mir. Joch – nicht Jöchl. Auf der Karte ist es mit einem Zentimeter von Grün-Weiß auf Dunkelgrau gezeichnet. Uff, das heißt sau-steil. Ich kann ja Pausen einlegen so viel ich will! Und das tue ich anfangs auch. René, mein Fußre-flexzonen-Guru, hast du in Wien mein Herz-Chakra genügend liebevoll gestreichelt, oder droht mir in Bälde ein Herzinfarkt? Eine aufgesplitterte Mannschaft von zehn rotstutzigen Berg-Fexen kommt mir entgegen. Brav grüßen, wir sind nicht in der Stadt, wo man grußlos und stumm aneinander vorbeirennt. „Grüß Gott…“, “Bon jour…“, „Bon jour…“, „Griaß di“, wie auch immer ich die Sprache zu wechseln versuche, kriege ich eine andere zur Antwort. Ganz offensichtlich multikulti! Etwas später kommt ein älterer Mann und verwickelt mich in ein Gespräch: woher und wohin, und zum Schluss „na, sans eh guat drauf, gelt jo?“ „Ja, ja, freilich“! Später frage ich mich dann, warum er das wohl gesagt hat. Mir schwant Böses. Es ist wieder einmal an der Zeit mir eine Angstwelle über den Rücken rieseln zu lassen! Habe mich schon viel zu lange sicher gefühlt. Doch dieses Angstgefühl ist so kraftraubend, dass ich es dann doch wieder sein lasse. Nach einer Stunde spüre ich, dass ich etwas essen muss, wenn ich das Kreuzjoch tatsächlich erreichen will. Gleichzeitig fängt es ziemlich kalt zu blasen an: nimmst du den dicken Anorak oder die dünne Windjacke? Schwarze Wolken ziehen über das Joch, aber da bin ich auch schon oben. Ich glaube, ich bin gar nicht so „schlecht drauf“, denn laut angegebener Geh-Zeit ist mein Timing perfekt. Endlich – drüber überm Joch. Jetzt brauche ich mich nur noch bis zur nächsten Wegkreuzung „hinunterfallen“ zu lassen, wo es rechts zum Stempeljoch hinaufgeht und links, ziemlich nah – so schaut es von hier oben zumindest aus, sehe ich die Pfeisalm. Also von Kaffee und Kuchen auf der Pfeisalm halte ich schon sehr viel! Als Ansichtskarten- und Hüttenstempel-Sammlerin will ich diese Jausen-Pausen-Möglichkeit nicht auslassen.

Beim Hinunterjubeln steckt aber trotzdem ständig im Köpfchen: den ganzen Weg musst du nachher wieder hinauf!

War ich ein kluges Kind, zwischen Kreuz- und Stempeljoch Kuchenappetit gekriegt zu haben, auch wenn mich das einen beträchtlichen Höhenverlust gekostet hat. Kaum Mineralwasser, Milchkaffee und Schokotorte bestellt, fängt es an zu schütten. Das eisige Schneelüfterl hat mich ja schon beim Kreuzjoch zur Warnung umsäuselt. Welche wohlige Geborgenheit in dieser Gaststube, während es draußen wie aus Schaffeln gießt. Doch so schnell der Regen kam, so rasch ist er auch wieder versiegt. Ich brauche mir gar nicht den Kopf zerbrechen, ob ich über Nacht bleibe, oder ob ich heute noch ins Tal absteige. Andere Bergsteiger sammeln sich bereits, um weiter zum Goetheweg zu gelangen und auch ich packe meine sieben Sachen wieder in den Rucksack und mache mich auf den Weg. War meine „Vorschuss-Angst“ unbegründet? Ein längerer Spaziergang über sanfte Almmatten wiegt mich in trügerischer Sicherheit. Ich bin ziemlich rasch wieder bei der Weggabelung, die zum Stempeljoch führt. Und dann blicke ich der knallharten Realität wieder ins Auge, als ich vor dem Einstieg ins Joch wieder die Tafel lese „Trittsicherheit erforderlich“. Wie auf Befehl Adrenalin-Stoß, Dröhnen in den Ohren, erhöhter Puls – das Herz fällt mir ins schwarze Spitzenhöschen. Ein Blick in den „Abgrund“, dio mio! Da soll ich hinunter? Meine Trittsicherheit verflüchtigt sich vorübergehend. Ich erinnere mich an eine Bergtour in den Julischen Alpen, als meine Zwillingsschwester die Panik bekam und sich weigerte den Razor zu erklimmen. Doch damals waren wir zu fünft, jetzt bin ich mutter-seelen allein, niemand ist da, an dem ich mich seelisch festhalten könnte.

Also los, nur keine Hemmungen, die Zeit vergeht, hinunter musst du, da führt kein Weg dran vorbei, und am besten noch bevor es finster wird! Verfolge die Politik der kleinen Schritte: immer nur bis zum nächsten Haken denken. Los, geh schon, geh schon. Du hast einen Vorteil, du hast nur achtundvierzig Kilo und bist kein Fettwanst. Mein Mantra „Brave Jutta, trau dich nur“, „Brave Jutta, trau dich nur“… Ich bin noch im halsbrecherischen Steilstück mit StahlseilSicherung und sehe fast wie es weitergeht, als hinter mir ein greller Blitz vom Himmel niederzuckt. Das macht Eis in meinen Adern. Ich zähle mit bis zum nachfolgenden Donner. Acht. Also relativ weit weg. Doch was ist hier oben relativ? Viertel Stunde, halbe Stunde, fünf Minuten? Keine Ahnung. Kind, mach dich nicht schwächer als du bist. Zähl immer fleißig mit, dann weißt du wie du dran bist, und je ruhiger du bleibst umso weiter kommst du runter, und umso eher bist du aus den Seilen raus, bevor es wirklich losgeht. Blitzzz – tschinnnn-bumm-krach … fünf, sechs ..., noch vier Minuten? Das Gewitter nähert sich rasch, Blitz und Donner geben einen ohrenbetäubenden, konzertanten Widerhall zwischen den Felswänden. Aber mittlerweile habe ich mich wieder in der Hand und setze konzentriert einen Fuß trittsicher vor den anderen, nicht zu zögerlich, aber auch nicht zu hastig. Meine Knie machen folgsam mit. Fotoapparat, und Armbanduhr kommen in den Rucksack, denn ich kann kein Baumeln um den Hals herum gebrauchen. Blitzzzz – tschinnn – bummm – krach –vier, fünf…. Vielleicht schaffe ich‘s bis zum Schotterkegelanfang. Das weitere „Abfahren“ ist dann kein Problem mehr. Blitzzzz…. Die ersten schweren Tropfen klatschen auf den Fels, als ich den Couloir erreiche. Ähnlich wie beim Schifahren hacke ich mit den Fersen in den Schotter und rutsche laufend den Hang hinunter den Latschen entgegen, während sich schon Hagel in den strömenden Regen mischt. Bäuchlings unter den Latschen liegend lasse ich dem Zähneklappern freien Lauf. Es mischen sich auch Tränen der Erleichterung hinein, aber ich habe es geschafft. Außer pudelnass werden und eventuell eine Verkühlung kriegen kann mir nichts mehr passieren.

Komisch, warum habe ich mich beim Aufstieg in diesen Höhen so unsicher gefühlt, wenn beim Abstieg die gleiche Höhe Rettung und Geborgenheit versprach? Ich werde schlafen wie ein Bär im Winterschlaf! Um neun Uhr früh bin ich weg von den Herrenhäusern. Zehn Stunden später bin ich als gebadete Maus, aber nicht mehr als Hasenfuß zurück. Und in der gemütlichen Liederrunde in der Knappen-Küche bin ich fast wieder achtzehn Jahre jung. Damals war dieses Hüttenleben für mich ganz selbstverständlich. Heute habe ich meinen Mund nicht aufgebracht, um mitzusingen. Vielleicht wird es noch. Ich werde ja langsam immer mutiger und ich habe noch eine ganze Woche vor mir. Wahrscheinlich sind die weiteren Tage halb so aufregend für mich, weil diese „Solo-Erfahrung“ in den Bergen nicht mehr so neu sein wird. Mal sehen, wie ich morgen aufwache.

Mo., 26. Aug. 1991

Um sechs Uhr früh kitzelt mich die Sonne aus dem Bett. Aber erst um acht Uhr gibt’s Kaffee. Wie soll ich so lange durchhalten? Ich stopfe ein Stück Schokolade in den Mund, nehme den Fotoapparat und schleiche auf leisen Sohlen hinaus, den Sonnenaufgang fotografieren. Den Holzbohlen vor dem „Notausgang“ ohne Lärm zu machen, wegzuschieben, ist nicht einfach, aber ich schaffe es. In Schlapfen komme ich hinauf bis zum „Wasserhaus“, d.h. eine halbe Stunde Tautreten. Ein herrliches Schauspiel: Die Felsgrate werden immer heller, rosa Wolkenfetzen segeln drüber hin. Ich knipse, knipse, knipse - und mein Herz wird so weit, dass es schon wieder einmal weh tut mit niemandem dieses Erlebnis teilen zu können. Wettermäßig scheint mir da ein großartiger Tag bevorzustehen. Also sehe ich zu, dass ich um halb neun wieder beim Frühstück sitze. Mampf…. Heute will ich dort hinauf, wo gestern die Sonntags-Völkerwanderung stattgefunden hat. Bis zum Issanger kenne ich mich schon aus. Und dort, wo es steil und schier endlos zum Lafatscher hinaufgeht, verhalte ich den Schritt und hebe den Blick. Ich erkenne in gleißendem Sonnenschein „mein“ Stempeljoch. Hochachtung, liebe Jutta. „Glatte, grifflose Wand“ à la Onkel Herbert in den „Julischen“ – ist nichts dagegen. Hätte ich vorher gewusst wie das Stempeljoch in Wirklichkeit aussieht, ich wäre nie und nimmer allein losgezogen! Während ich schwitzend in Richtung Lafatscher stapfe, schaue ich „zig“ Mal zum Stempeljoch zurück – ich zähle gar nicht mit, wie oft – jedes Mal das erhabene Gefühl auskostend „Jutta, das hast du ganz und gar allein toll geschafft!“ Diese Selbstbewunderung hält mich jedoch nicht davon ab heimlich zu stöhnen, weil das „Lawat-scherjoch“ – Insider sprechen das „F“ wie ein „W“ aus – natürlich wieder verdammt steil und endlos, dafür aber tröstlich ungefährlich fast im Himmel oben endet. Um halb zwölf habe ich’s geschafft. Weit und breit nichts zum „stolz drauf sein können“. Dennoch war’s ein Hatscher, zum „Lawatscher“! Ich bin gewitzt: wenn eine Seite vom Joch ungefährlich ist, dann lauern wahrscheinlich die Gefahren auf der anderen Seite. Auf der Karte ist der Abstieg zum Hallerangerhaus mit „Durchbruch“ bezeichnet und hellgrau gefärbt. Nach einer viertel Stunde weiß ich mehr. Guter, „alter On-kel“, ach wärest du doch hier um mir Mut zu machen! Doch der Durchbruch ist nur steil, nicht ausgesetzt, und mir ist nur mulmig, weil ich diesen Felsendurchschlag am Rückweg auch wieder hinauf muss. Zumal es hier nicht „von Stahlseilen wimmelt“, brauche ich nicht einmal vor möglichen Gewittern bangen. Solange die Sonne so strahlt und mein Blick durch keine Nebelwand eingegrenzt wird, bin ich herzerfrischend furchtlos und selbstsicher. Fehlt gerade noch, dass ich zu singen beginne! Fast im Handumdrehen habe ich den Durchschlag durchstiegen und wandere genüsslich heißem Milchkaffee und frischem Topfenstrudel entgegen. Beim Hallerangerhaus komme ich mit einem kontaktfreudigen Münchner ins Gespräch. Als ich ihm von meinem Erlebnis mit dem Hagelgewitter im Stempeljoch erzähle, weiß er offenkundig genau, welche Probleme eine dampfbeschlagene Brille in sich birgt. Doch klüger als er aussieht! Er bietet sich an mich zu fotografieren. Bitte gern, bitte gleich! Er setzt seinen Weg Richtung Karwendel-hütte fort, ich muss zurück aufs Joch „aufi“. Nicht müssen, aber wollen, denn ich will noch weiter bis zur Bettelwurfhütte, wenn es geht, dann steil hinunter nach Buchenwald und über St. Magdalena wieder „nach Hause“ in die Knappen-Küche. Ich habe den Rucksack so gepackt, dass ich eventuell auf der Bettelwurfhütte übernachten kann, denn ich bin laut Anregung von der Lies’ statt um sieben erst um neun Uhr weg. Wie denn, wenn es vorher kein Frühstück gibt? Ihro Gnaden wird doch nicht ohne Frühstück aufbrechen! Ade lieber Münchner, ich mache noch einen Abstecher auf die Hallerangeralm! Als ich von dort zurückkomme, sitzt er noch immer auf der Terrasse. Den Durchbruch retour schaffe ich fast ohne Schnaufen, nur eine „lässige“ Stunde brauche ich. Ich hatte befürchtet der Rückweg könnte sich wie Kaugummi ziehen. Ich passiere reichlich viel Kreuze von Verunglückten: Fritz Müller gest. 2.11. 1968… die anderen Kreuze tragen keine Namen. Der Himmel bezieht sich wieder, und ich mache mich ohne Pause vom Joch auf den Weg zur Bettelwurfhütte. Eine viertel Stunde marschiere ich munter drauf los, denn die Zeit verrinnt. Es ist schon halb drei als ich mich wieder einmal nach dem Stempeljoch umdrehe. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen, aber ich tat es eben: da kam schon wieder ein Gewitter von der Pfeisalm herüber gewölkt. Von allen Seiten: Lafatscher, Wildangerspitze sind fast nicht mehr zu sehen. Es zieht rasant zu! Noch ist die Bettelwurfhütte frei und zu sehen Jutta; auch wenn das Gewitter hinter dir ist, es ist auf alle Fälle schneller als du. Dreh‘ um, bis zur Schutzhütte ist’s noch länger als eine Stunde. Die Entscheidung fällt echt schwer… gehe ich weiter, drehe ich um und „laufe“ ins Tal? Ich bin so schön hoch oben, der Bettelwurf ist sonnenbeschienen, es ist keine Trittsicherheit verlangt…. Aber das gestrige Gewitter hat die Steige teilweise weggerissen, die Markierungen sind weit auseinander und ziemlich verblasst und schlecht zu finden, denk an die Kreuze im Durchbruch, so viel Glück und so viele Schutzengel wie gestern im Stempeljoch hast du nicht alle Tage. Geh‘ zurück in bekannte Gefilde, du bist keine „germanische Alpen-Jämse“! Nicht jeden Tag ein Bravourstück! Doch dann bedarf es keiner weiteren VernunftsArgumente mehr, die ersten schweren Tropfen fallen. Ich verspüre Wehmut, die Bettelwurfhütte war so verlockend, so greifbar nah. Ich kann ja jederzeit wieder raufkraxeln – morgen oder übermorgen!

Anfangs nur zögernd gehe ich zurück, prüfe ständig den Zug der Wolken, ob nicht vielleicht doch….wer wird mich auslachen… vielleicht hätte ich’s ja doch „derlaufen“… nixi, nixi Jutta, bleib vernünftig…! Unten beim Issjöchl ist alles „bumm-fest“ zu, aber weiterhin nur Tröpfeln. Bei den Herrenhäusern begrüßt mich Günther herzlich und schmunzelnd: “Gor net noss heint?“ „Naaaaa!“ Dafür gehe ich noch zum Auto hinunter „einkaufen“. Ich hole mir meinen Löskaffee, die Trockenmilch und meinen Tauchsieder. In einer Stunde bin ich wieder da! Salút!

Wie sonderbar, mein Auto wieder zu sehen. Nach nur zwei Tagen gehört dieses Zivilisations-Vehikel gar nicht mehr richtig zu mir. Also, Prinzessin, schnapp dir deinen Kaffee und die Milch und einigen anderen Luxus! Beim Bergauf-Straßenhatscher retour bricht das Unwetter los. So überraschend und so vehement, dass ich den Anorak gar nicht erst aus dem Rucksack ziehe. Ich „schwimme“ förmlich zu den Herrenhäusern zurück. Ausziehen, trocken rubbeln und ab ins Bett. Fünf Uhr Nachmittag und ich schlafe tief und fest. Dafür habe ich morgen meinen Sechs-Uhr-Morgenkaffee!

Di., 27. Aug. 1991

Also doch losgezogen, obwohl der Himmel total wolkenverhangen ist. Hinauf bis zum mittlerweile altvertrauten Issjöchl und links hinüber zum Einstieg Richtung Törl. Diesmal sehe ich ausreichend, und ich kenne den Weg. Das stimmt mich wohlgemut. Aber nicht lange, dann spüre ich wie die Angst wieder hochkommt beim Queren der Schotterhalde. Die ist ja wahnwitzig steil! Schwindelfrei ist Pflicht. Bloß nicht hinunterschauen, immer nur nach vorn, da kommen irgendwann wieder die Latschen! Herzjagen – der fußbreite Steig ist vom Regen weggeschwemmt. Wo ist der nächste gelbe Punkt? Und wie soll ich bis dorthin kommen ohne abzurutschen? Schuhkanten in den Schotter hacken und pick dich an den Berg ran. Pick dich ran und bete! Du musst zu diesem verdammten gelben Punkt, dann denkst du weiter. Das sind keine zwanzig Meter…. Der Schotter rutscht… verkanten! Stampf dir den Tritt halbwegs fest, du hast jede Menge Zeit, niemand jagt dich. Kein Nebel, kein Gewitter, kein eisiger Wind. Wie hab ich das vorgestern geschafft, als ich dieses Schotterfeld gequert habe? Da war tiefer Nebel und der Steig war noch vorhanden. Jetzt siehst du den Abgrund und du trittst auf Neuland. So viele Sünden habe ich gar nicht begangen, wie ich auf diesen zwanzig Metern abbüße. Endlich, endlich bin ich am Ziel. Da kommt ein Tiroler Student aus der Gegenrichtung. Dem steht die Angst auch ins Gesicht geschrieben. Weiter vorn/hinten ist noch solch ein weggerissenes Wegstück. Ich beruhige ihn, dass hinter mir keine weiteren Gefahren lauern und bewache seinen BalanceAkt, bis er heil drüben angekommen ist. Urig, kleines JuttaMädchen beschützt ein gestandenes Mannsbild, nicht umgekehrt. Dann rutsche ich weiter bis ich wieder in den Legeföhren bin, auch wenn sich mir der Magen zusammenzieht. Wie sehr ich die Latschen doch lieben gelernt habe. Als ich dann übers Törl drüber schaue, kommt mir die Jodler-Familie von vor zwei Abenden entgegen. Ich heimse bewundernde Blicke und ausgesprochene Tapferkeitsbelobigungen ein. Ich bin offenbar zur Insiderin avanciert, und ich gehe, schon wieder voll in Nebel gehüllt, zur Kaisersäule weiter. Man ruft mir noch nach, ich solle abends rechtzeitig wieder daheim sein, man brauche mich und meine Flöte für die abendliche Unterhaltung, da ich über ein beträchtliches Folklore-Repertoire verfüge.

Locker in den Hüften wedle ich federnden Schrittes zur Thaurer Alm. Eine aggressive Kuh steht ausgerechnet auf meinem Weg und will mich partout nicht vorbeilassen. Um nicht nur Felsen sondern auch etwas Lebendiges zu fotografieren, benütze ich die Kuh als Model, während sich schon wieder einmal Donnergrollen bemerkbar macht, der Wind auffrischt und die Wolken um einige Nuancen dunkler werden. Doch da es nicht zu regnen beginnt, gehe ich zur Vintlalm weiter. Außer zwei Lawinenkegeln begegne ich nichts Bedrohlichem, und beim Vintlhaus ist ein Klo-Häuserl, in dem ich mich unterstellen kann, wenn es doch noch losregnen sollte. Überraschenderweise geht es ständig bergab. Doch da die Sonne wieder hervorkommt, will ich gar nicht talwärts. Trotzdem ist nach oben hin alles schwarz verhangen, also beschließe ich, lustlos nach Hause zu tippeln.

Um zwanzig Uhr bin ich von meiner Almenwanderung reichlich müde zurück und setze mich mit meinem Tourentagebuch in den Gastraum. Elfeinhalb Stunden mit nur zwei kurzen Pausen, das spüren meine Beine! Doch diese sanfte Almwiesentour hat mich nicht „hellauf“ begeistert: doch, doch, wohl, wohl, ja, ja, es war sehr schön, sehr friedlich, sehr ausgiebig, sehr bequem.

Aber schon nach drei Tagen fühle ich mich bei den Latschen oben und noch drüber wohler als auf den touristischen Wanderrouten für rotkarierte Hemdenträger. Himbeeren, Erdbeeren, Schwammerln – gut und schön, das ist etwas für einen Beeren-Urlaub in Fischbach. Hier interessiert mich das nicht. Hier bin ich nicht als Sammlerin unterwegs! Schon dem Bau der Hütten sieht man an, dass man sich dem Fremdenverkehr in Innsbruck nähert, und die Leute, denen ich begegne, reden anders. Das heißt, sie reden eben. In den oberen Regionen spricht kaum einer – ein „grüaß di“, mehr nicht. Man braucht die Energie für den Auf- oder Abstieg, nicht für „hast du jehört…“, „wat sacht man dazu…“. Ein bisschen Grant mischt sich in meine Wanderfreude – genau, da ist der Hund begraben. Das ist kein Bergsteigen mehr. Das macht den Unterschied, der mir nicht gefällt. Ich spüre nicht, dass ich mir diesen Tag erkämpfe und erobere! Oberhalb der Latschen freue ich mich irgendwie, wenn ich zu einer Schutzhütte und wieder einmal zu Menschen komme. Und begegnet mir dort oben jemand, wirkt es beruhigend „da gibt es doch noch andere….“. Tiefer unten weiche ich den Hütten aus, kein Hunger, kein Durst, kein Bedürfnis nach Geborgenheit zwischendurch. Eine meiner Patientinnen hat mir während einer Behandlung vom „Goethe-Weg“ erzählt. Da oben wäre ich zurzeit wohl glücklicher.

Als ich bei der Hungerburg eintreffe, werde ich auf Anhieb richtig kratzbürstig, weil mich eine „jermanische Berch-Jämse“ mit roten Kniestrümpfen und Sandalen fragt, ob ich von den „hohen Felsen-Zinnen“ käme und auch auf dem Hafelekar gewesen sei. Im Tal renne ich blindlings und frontal in ein vorbeirollendes Auto. Der Bumser bringt mich wieder auf den Boden der Fremdenverkehrsrealität.

Nach fünf Minuten Verkehrschaos bin ich fest entschlossen, sofort zum Bahnhof zu fahren und mein Autozug-Ticket um einen Tag vor zu buchen, weil mir klar wird, dass ich nach diesem Bergurlaub in Wien einen Rückgewöhnungstag brauchen werde, bevor das Arbeitsleben wieder beginnt. Ich gönne mir also ein Taxi zum Bahnhof, um meine Zeit in Innsbruck so kurz wie möglich zu halten. Mich umgibt ein Ameisenhaufen von gesichtslosen Gestalten. Wahnsinn, dieser Verkehrswirbel und diese Unzahl von Menschen. Umbuchen, Annemarie von meinem Sinneswandel in Kenntnis setzen, Busverbindung nach Absam-Eichat finden und für die viertel Stunde, die mir vor der Abfahrt bleibt, eine Eistüte kaufen. Die erste und letzte in diesem Sommer! Während der Busfahrt esse ich meine mitgeschleppte Kraftnahrung, der Fußmarsch zu den Herrenhäusern wird sich noch ordentlich ziehen. Um diese Uhrzeit fährt kein Wagen, den ich stoppen könnte, mehr ins Tal hinein. Dafür düsen noch zwei Autos Staub aufwirbelnd und Luft verpestend von St. Magdalena her aus dem Tal heraus. Ein Tiroler Mountainbiker tratscht mit mir, weil einmal ich ihn, dann wieder er mich überholt. Bevor er sich entschließt umzukehren und aus dem Tal wieder hinauszufahren, machen wir uns bekannt. Jockl – Jakob will morgen wiederkommen… Tritschtratsch…. Aber doch irgendwie anders als auf der Hungerburg. Vielleicht liegt’s am Dialekt, dass mich dieses Blabla weniger stört. Da uns keiner jagt, habe ich noch Doppelbrot und Apfel für beide und er teilt seinen „Red Bull“ mit mir. Kräfte und Wetter halten bis zu meiner Ankunft in den Herrenhäusern durch.

Erich, der Schüchterne, strahlt mich an, als ich um halb neun im Dämmerlicht der Knappen-Küche aufkreuze. Gitarre und Ziehharmonika sind schon da, „endlich Jutta, dei Flötn!“der Rotwein fließt und Stimmen werden laut, einige wollen „a Schnapsal, Marlene! Und für die Jutta den Tee, kumm, huck di her do“!

Nein, dieser mit „Enzian“ aufgeheizte Abend ist einfach zu laut! In dem Wirbel kann ja kein ja kein zivilisierter Mensch Tourenbuch schreiben! Ich denke nach, wen von meinen Freunden ich jetzt wohl am liebsten neben mir hätte. Nicht dich, Freund Ferdinand, dich kenne ich nur gepflegt, gestylt, über alle Maßen „Wohlstandsbürger“. Klaus-Wilhelm? Die Inkarnation des „Allround-Großstadtmenschen“? Der braucht Asphalt unter seinen Sohlen. Armin wäre das richtige Kaliber. Nicht einmal Max. Max gehört auch schon zur verweichlichten Wohlstandsgesellschaft mit Villa, BMW und Jet-Set-Urlaubs-Zielen. Also Armin, der ursprünglich bodenständige, noch immer kraftstrotzende „Lausmensch“. Seine verstädterten Minderwertigkeitsgefühle würden hier sehr schnell abbröckeln und der altbekannte „sten“ wieder zum Vorschein kommen: Verschwitztes Hemd, unrasiert mit Haarsträhnen wild in der Stirn und ein freies Lachen von einem Ohr bis zum anderen und die Gitarre unterm Arm. Mit Armin würde ich mich auf wirklich schwere Klettersteige wagen, um die letzten Spitzen und Gipfel zu erreichen.

Hier im Halltal gehe ich als alleinstehende, Tee trinkende, Flöten spielende Wienerin in die Geschichte ein.

Mi., 28. August 1991

Heute früh habe ich verdammt lange gebraucht um den richtigen Kampfgeist zu entwickeln! Erst beim Wilde Bande Steig, also fast schon oben beim Lafatscherjoch, war ich wieder voll drin. Der Weg zur Bettelwurfhütte ist ja nahezu ein Luxussteig: halbmeter-breit, – so denke ich – am Anfang. Nicht lang, die Herzklopf-Passagen setzen bald ein. „Dies ist kein Weg. Und wer ihn dennoch geht zahlt mit dem Leben Strafe!“ Hundert Schritte vor, fünfzig wieder retour. Alle Augenblicke verliere ich den Weg und weiß nicht vor noch zurück. Obwohl der Wind eisig bläst, schwitze ich unter dem Anorak. Trittsicher stürme ich auf dieser halbmeter-breiten Chaussée vorwärts, bis wieder der Weg abreißt. In dieser Höhe werden eben doch keine Luxuspromenaden gebaut. Ich breche mir einige Fingernägel ab, als ich die Hände zum Weiterkommen zu Hilfe nehmen muss. Bis knapp vor der Bettelwurfhütte sind mir nur zwei Ehepaare begegnet. Ich komme gerade zum Mittagessen zurecht. Speckknödelsuppe. Mein Tischnachbar, natürlich Einheimischer – mit Germanen lasse ich mich gar nicht erst ein - dokumentiert diese Schlemmerei mit meinem Fotoapparat. Und dann hänge ich länger als vorgesehen auf der Hütte herum. Schon eine ganze Stunde – welche Zeitvergeudung! Denselben Weg zurückgehen mag ich nicht, und geradeaus der Nase nach geht’s natürlich sausteil und Trittsicherheit fordernd, mit Kletterpassagen durchwirkt, bergab. Noch ein Kaffee, noch eine Zigarette, noch ein Schluck Wasser, noch einmal Fernsicht genießen. Irgendwann muss ich mich aber aufraffen! Am Montag habe ich mich geschämt, weil ich wegen Gewitter auf dem Weg zur Bettelwurfhütte umgekehrt bin. Heute weiß ich, dass es klug war. Regennasse Felssteige sind rutschig wie der Wiener Eislaufverein. So, der Himmel reißt kurzfristig zur Gänze auf, somit nehme ich die Gelegenheit wahr das erste Seilstück hinter mich zu bringen.

Die ganze Vorschussangst hat sich nicht gelohnt. Erstens strahlt jetzt die Sonne nach Herzenslust, und wenn ich nicht weiterkomme, dann deshalb, weil mein Blick ständig in die Ferne schweift statt sich auf den Abstieg zu konzentrieren. Die Lies‘ hat das Gefälle ja als hochprozentig vorausgesagt. „Mit festem Tritt bergab wippen“ geht einmal gar nicht. Das sind zweieinhalb Stunden bergab „steigen“. Welches Panorama! Warum kann es nicht pausenlos so sonnig sein? Die verseilten Stücke sind so problemlos, dass ich vor den ungesicherten weggeschwemmten Wegstrecken aber schon viel mehr Bammel habe. Wenn ich bei guter Sicht wie heute schon im Voraus prüfen kann wo’s langgeht, müsste ich viel weniger zittern und bangen. Ein „Blödel-Foto“ gelingt mir in den Seilen, ich fotografiere meinen Schatten so, als „hinge ich in der glatten, grifflosen Wand“ – Selbstbildnis - ich werde übermütig, und Übermut kommt vor dem Fall, also besser wieder aufpassen.

Annemarie, du hast mir mit dem Karwendel-Urlaub nicht zu viel versprochen und prophezeiht. Der Wunsch wieder zu kommen wird immer stärker. Als ich in die Schotterreuse zwischen großem Bettelwurf und Fürleg einsteige, sehe ich das ganze romantische Halltal mit der Salzstrasse vor mir. Man könnte meinen, ganz hinten drinnen hört die Welt auf. Mir wird ganz weh ums Herz, so schön ist dieser Anblick und ich danke Gott, dass er mich auf die Idee gebracht hat hier für eine Woche meine Zelte aufzuschlagen. Das ist Welt! Welt, wie man sie sich wünscht! Ich habe noch keinen Heimatfilm gesehen, der an landschaftlicher Schönheit diesen Teil der Welt übertroffen hätte. Nicht kitschig, doch erschütternd in seiner Großartigkeit. Gerade so, dass ich’s noch ertragen kann, allein diese Schönheit in mir aufzunehmen. Mir geht wieder einmal das Teilen können ab, doch anderseits würde mich Gesellschaft jetzt auch stören. Das Herz ist weit offen, eine Glückseligkeit, Ausgeglichenheit und Ruhe ist in mir, die ich nicht beschreiben und zerpflücken will, weil sie mir ganz allein gehören soll. Ein Lebensgefühl, das man sich nur selbst erkämpfen kann, wo niemand anderer mehr Platz oder Zutritt haben kann. Ich merke, dass dieser Bergurlaub im Alleingang ein ganz wichtiger Meilenstein in meinem Leben und völlig unwiederholbar ist. Auch wenn ich wiederkommen sollte. Die wilde Aufregung des mich Vertraut- Machens mit den Bergen und den Menschen hier - ohne Unterstützung anderer - kann nie wieder auf diese Weise stattfinden. Ich gewinne da etwas fürs Leben, was mir bisher gefehlt hat, von dem ich wusste, dass es mir fehlte, ohne es in Worte fassen zu können. „Die Entwicklung der inneren Reife“ klingt exaltiert, trifft dennoch genau ins Schwarze.

Ich genieße die Anerkennung, die mir entgegengebracht wird. Schön, diese mittlerweile vertraute Herzlichkeit, mit der ich empfangen werde, wenn ich abends beim Dunkeln in die Knappen-Küche komme. Ich freue mich über das Aufblitzen der Augen „na, endlich, da ist sie ja“… man wartet auf mich. Ein paar neue Gesichter schauen mich neugierig an mit dem Ausdruck „aha, das ist also die Jutta, von der erzählt worden ist.“ Dieser Abend ist weniger lautstark, aber dennoch sind wir einander wieder nähergekommen. Zwei deutsche Wohlstandsbürger sind dazu gestoßen. Deren Fachsimpelei über ihre Superautos wird einfach abgewürgt. Solche Themen gehören nicht hierher. „Wo ist der Günther und der Sepp“? De Depp’n hab’n bis drei Kart’n g’spielt, de ham den Abstieg verpasst“! Dafür kommt Erich heute voll in Fahrt.

Do., 29. August 1991

Die Lies‘ hat mir per Telefon weitere Touren für den Rest der Woche zusammengestellt: In der Morgensonne hinunter nach St. Magdalena zu gehen war ein ausgesprochen erfrischender Tagesanfang und den Hochmahdkopf zu bezwingen kein „Welt-Ereignis“. Dafür ist der Blick hinüber zum Lafatscher, Bettelwurf etc. ein Bild für Götter. Die ganze Tour von gestern liegt panorama-breit vor mir und erwartet von mir noch einmal bestaunt und klassifiziert zu werden. Hochachtung? Nicht wirklich, war ja alles gut gesichert…. Zwei mittelalterliche, bayrische Dauerredner nerven mich gewaltig. Nach einer halben Stunde „Berieselung“ steht mein Entschluss fest: die zwei kann ich nur abhängen, wenn ich über mich selbst hinauswachse und auf den Lattenspitz entfliehe. Kriterium für den Steig laut Tafel: “Nur für Geübte“, und die Lies’ gab dazu folgende Beschreibung ab: „Da is a Stückl, des mag I gar net! Aba im schlimmsten Fall drahst hoit um.“