Das Buch

Reymer Klüver, Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, lebt mit seiner Familie in der amerikanischen Hauptstadt Washington. Dort möchte er unbedingt Barack Obama treffen. Doch das ist gar nicht so einfach. Erst mal entdecken die Klüvers und ihr Hund Dakota ihre neue Heimat. Sie staunen über Barbecue-Grills im Kleinwagenformat, über Baseball, Slurpees und andere sonderbare Leidenschaften der Amerikaner – und bekommen unversehens Besuch vom FBI. Und dann ist Mr. President beim jährlichen Correspondents-Dinner endlich in greifbarer Nähe. Die lustigen Abenteuer einer deutschen Familie im Land der großen Freiheit.

Der Autor

Reymer Klüver ist Politik-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Washington, DC. Davor war er für dieselbe Zeitung in Berlin, Hamburg und München tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter im Teenageralter, einen jüngeren Sohn und einen Hund namens Dakota.

REYMER KLÜVER

Allein unter
Doppel-Whoppern

UNSER JAHR IN AMERIKA

Ullstein

Unseren amerikanischen Freunden

1.

Waiting on the World to Change

Es ist zwei Uhr nachmittags. Eastern Time. Sechs Zeitzonen trennen uns nun von Deutschland. Und ich schwitze. Ich schwitze wie der Teufel.

Eben haben wir den Zoll passiert. Den Beamten bestätigt, dass wir kein Obst und kein Gemüse, keine Insekten, Schnecken, keine Zellkulturen oder andere lebende Tiere im Gepäck mitführen – und den ersten Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt.

Martina boxt mich erleichtert in die Seite.

»Juhu«, ruft sie freudestrahlend, »wir haben es geschafft! Ich glaub es nicht! Hey, Kinder, welcome to the United States

Wir haben es tatsächlich geschafft. Endlich sind wir da, wo wir schon so lange hinwollten. Wir sind in Amerika! Nun also brechen wir auf in unser neues Leben: vor unserer Nase zwei Gepäckwagen mit gefährlich schwankenden Koffertürmen und drei händchenhaltende Kinder im Schlepptau.

Scheppernd gleitet die gläserne Schiebetür der Ankunftshalle des Washingtoner Flughafens vor uns auf und – wumm. Wir laufen in eine Wand aus tropischer Luft.

»Wow, ganz schön heiß hier!« Martina schnappt nach Luft. Mit einer Hand versucht sie sich fächelnd Kühlung zu verschaffen. Gerade sind wir noch im Terminal auf Eisschrank-Temperaturen heruntergekühlt worden, und nun stehen wir unvermittelt in grellem Sonnenschein. Meine Frau sagt erst einmal nichts weiter, was durchaus ungewöhnlich ist. Schweigen ist ansonsten nicht ihre Art. Im Gegensatz zu mir fällt ihr in der Regel immer ein Kommentar zum Stand der Dinge ein. Jetzt aber kommt nichts mehr. Stille.

»Kinder«, werfe ich da mit bemüht heiterer Stimme ein, »ist es nicht herrlich hier? Die Sonne scheint. Es ist endlich warm. Was wollen wir mehr?«

Die drei schauen mich nur entgeistert an. Anna, ganz die Große, macht es wie ihre Mutter und sagt kein Wort. Katherina und Christopher entziehen sich ebenfalls jeglicher familiärer Kommunikation, hocken sich nur stöhnend in den spärlichen Schatten neben den überladenen Kofferkulis und blähen die Wangen. Ich blicke mich hilfesuchend um.

An so vieles habe ich im Vorhinein gedacht, nur an die Hitze nicht, die uns in unserer neuen Heimat unweigerlich um diese Jahreszeit erwarten würde. Aber hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Selbst ich.

Doch das will ich jetzt natürlich um keinen Preis zugeben. Vielleicht hätte ich einfach mal auf die Landkarte gucken sollen, bei all den Großplanungen für unseren Treck über den Atlantik. Ein kurzer Blick nur. Vor der Abreise. Mit dem Finger wäre ich von Washington aus einmal schnell quer über den großen Teich gewischt – und wäre dann erst wieder in der Straße von Gibraltar auf Land gestoßen, in der Nähe von Tanger, oder ein Stückchen weiter östlich, auf der Höhe von Algier. In Nordafrika. So ungefähr jedenfalls.

Dieses winzige Detail allerdings habe ich schlicht vergessen. Oder erfolgreich verdrängt, wie Martina es vielleicht etwas präziser formulieren würde. Die letzten Wochen und Monate waren in der Tat hektisch. Punkt für Punkt hakte ich meine Liste ab. Schleppte die Familie ins amerikanische Generalkonsulat nach Berlin, wo wir alle fünf vor dem Schalter der Visastelle brav anstanden. Schwor, dass wir keine Terroristen sind und auch nicht HIV-positiv. Letzteres muss man heute zum Glück nicht mehr, wenn man ein Visum für die USA bekommen will. Besorgte die Flugtickets, verkaufte unseren alten Volvo und bestellte die Umzugsfirma.

Aber den Atlas aufzuschlagen hielt ich nicht für nötig. Weiß doch jeder, wo Washington liegt. Oder?

Dabei hätte ein einziger Blick auf Christophers blauen Spielzeug-Globus gereicht! Amerikas Hauptstadt befindet sich nicht etwa auf der Höhe von London und Paris – oder gar auf dem Breitengrad von Hamburg, wo wir heute Morgen aufgebrochen sind. Washington liegt vielmehr ein gutes Stück südlicher.Mehr als zweitausend Kilometer, um genau zu sein. Bald anderthalbmal die Strecke Hamburg–Rom. Das ist in ungefähr so, wie vom nasskalten Elbsand unvermittelt in die glühenden Saharadünen zu treten.

Verloren wie in der heißen Wüste steht unsere Familie nun da, auf dem flirrenden Asphalt vor dem Flughafen, wo die Minibusse für die Mietwagenfirmen ihre Kunden einsammeln. Und, wie kann es anders sein, ständig kommen Busse der anderen Mietwagenfirmen. Nur von unserer nicht. Fünf endlose Minuten vergehen. Mir ist auch nicht mehr zum Reden zumute.

Als Martina und ich vor fast drei Monaten zum ersten Mal hier waren, um nach einer Bleibe für uns zu suchen, herrschte Frühling. Angenehme Temperaturen, um die zwanzig Grad, und eine leichte Brise ging. Die Kirschen blühten. Wer hätte da an die subtropische Lage von Washington denken sollen? Achtunddreißig Grad, dreiundfünfzig Minuten nördlicher Breite?

In Hamburg, Berlin oder München ist es jetzt längst Abend. Tagesschau-Zeit. Hier jedoch ist es noch mitten am Tag. Eigentlich müssten wir alle fünf todmüde sein und völlig geschafft. Aber selbst die Kinder haben den ersten Hitzeschock überwunden und sind aufgedreht. Das liegt entweder an der herrlichen Kühle in unserem Mietwagenbus, der dann doch irgendwann herangeruckelt kam. Oder vielleicht auch an den Unmengen Coke, die die drei während des achtstündigen Transatlantik-Flugs munter in sich hineingeschüttet haben. Irgendwann habe ich den Überblick darüber verloren. Was soll’s. Take it easy. Schließlich ist heute kein ganz gewöhnlicher Tag.

Fünfzehn Stunden zuvor sind wir bei Nieselregen in Hamburg – es ist schließlich Juli – ins Großraumtaxi und dann in den Flieger nach Paris gestiegen. Sind mit fünf Handkoffern, vier Rucksäcken und zwei Computertaschen durch die langen Korridore von Charles-de-Gaulle gehetzt. Haben den Anschluss nach Washington gerade noch erwischt. Um Haaresbreite. Wir waren die letzten Passagiere, die an Bord gingen. Nicht alle Mitreisenden schauten uns nach der kleinen Verzögerung, an der wir zweifellos Schuld waren, so freundlich an. Auch Martina hasst es, wenn wir spät dran sind. Und das sind wir oft.

»Können wir nicht ein einziges Mal pünktlich sein? Immer diese Hetzerei«, fragt sie mich regelmäßig, wenn ich mit hängender Zunge zu einer gemeinsamen Verabredung komme oder wir fünf Minuten vor Konzertbeginn unsere hinterlegten Karten abholen – ganz entspannt, versteht sich. Doch diesmal konnte ich wirklich nichts dafür. Ehrenwort.

»Geschafft!«, verkündete ich nur und ließ mich in den Sitz fallen, nachdem wir alle Handkoffer und Rucksäcke in die Gepäckfächer gequetscht und unsere Kinder auf ihre Sitze verfrachtet hatten – Christopher natürlich auf den Fensterplatz, er ist schließlich der Jüngste, was Katherina, gerade mal zwei Jahre älter, nur widerwillig einsehen will. Eltern sind schon manchmal ungerecht. Das kann ja heiter werden, dachte ich mir.

Doch kaum waren wir in der Luft, stand auch schon Champagner vor uns. In durchsichtigen Plastikbechern, aber immerhin. Martina und ich sahen uns an.

»Santé«, sagte Martina.

»Cheers«, sagte ich erleichtert.

»Prost«, tönte es vom Fensterplatz.

Acht Stunden und etliche Filme und Softdrinks später kam unsere Maschine auf dem Dulles International Airport an, vierzig Kilometer westlich von Washington. Für Christopher mit seinen sechs Jahren hätte es genauso gut der Mars sein können, auf dem wir gelandet waren. Oder bei Familie Feuerstein. Vor Staunen bekam er jedenfalls den Mund nicht zu.

Wir bestiegen ein merkwürdiges, weiß-graues Ungetüm, das aussah wie ein monströses Amphibienfahrzeug. Washingtoner Flughafenbusse sind keine gewöhnlichen Busse. Nein, wie ein Aufzug fahren sie auf und nieder und bringen die Passagiere laut brummend und heftig ruckelnd zur Passkontrolle.

»Ist das Barnie?«, fragte Christopher unvermittelt und eindeutig zu laut, als er den Fahrer in der Steuerkabine erblickte. Wir hatten kurz zuvor eine DVD der Familie Feuerstein erstanden. Gott sei Dank kann er noch kein Englisch, und Deutsch verstand der Fahrer offenkundig nicht. Aber er sah schon ein bisschen wie Barnie Geröllheimer aus.

Amerikaner, das merken wir rasch, sind die freundlichsten Menschen auf der Welt. Na ja, bis auf die immigration officers bei der Passkontrolle. »Willkommen«, stand aufmunternd in vielleicht einem Dutzend Sprachen auf der Längsseite des Abfertigungsraumes in Washington. Unser Grenzer aber vermittelte einen etwas anderen Eindruck. Sein barscher Ton erinnerte eher an Guantánamo als an das Gelobte Land.

»Sie wollen hier arbeiten?«, bellte er. Und es klang, als hätte er mich auf frischer Tat beim illegalen Grenzübertritt erwischt. Hatte ich etwas falsch gemacht?

»Yes«, antwortete ich schnell, ohne noch viel zu überlegen, ob das die richtige Antwort war, und fügte wie aus der Pistole geschossen ein »Sir« hinzu. Das war gut. »Yessir«. Offenbar war er zufrieden.

Doch zu früh gefreut. »Für wen wollen Sie arbeiten?«, fragte er nun streng. Als stünde nicht ohnehin alles in dem Visum in meinem Pass, der vor ihm lag. Ausdrücklich war da die Sueddeutsche Zeitung vermerkt. Ich fühlte, wie Schweiß meine Nackenhaare feucht werden ließ. Stimmte etwas nicht mit dem Visum? Irgendwo hatte ich gelesen, bei der Vorbereitung auf den neuen Job, dass die amerikanischen Grenzer seit 9/11 darauf geschult werden, die Reisenden genau zu beobachten bei der Kontrolle. Ob sie bei Fragen wegschauen. Ob sie plötzlich übermäßig zu schwitzen beginnen.

Ich schwitzte noch stärker.

»Süddeutsche Zeitung«, sagte ich hastig, »ich bin als US-Korrespondent hier, Sir.« Kracks machte es da. Der Stempel mit dem Einreisedatum sauste in meinen Pass. Viermal noch Kracks – dann hatten wir es alle geschafft. Was kann jetzt noch passieren?, dachte ich. Da hatte ich von Washingtons Keulenschlag-Hitze noch keine Ahnung.

Irgendwann erreichen wir mit dem Bus die Mietwagen-Station.

»Puh«, kräht Chris, als wir ein paar Minuten später in unseren Wagen steigen, und wedelt mit der Hand vor seinem Gesicht, ganz so, wie er es bei seiner Mama gesehen hat.

»Ich hab so ’nen Durst«, jammert Katherina, mit acht Jahren die Mittlere, und schließt effektheischend die Augen. Sie schlägt ein bisschen ins Theatralische. Anna, ihre zwei Jahre ältere Schwester, schnallt sich wortlos an. Sie gibt die Vernünftige. Martina dreht sich um und fächelt ihnen mit den Unterlagen für den Autoverleih heiße Luft zu. Langsam setzt nun doch die Erschöpfung nach der langen Reise ein.

Keiner sagt mehr etwas. Anna starrt wortlos auf die flache Hügellandschaft links und rechts der zwölfspurigen Autobahn vom Flughafen in Richtung Washington, auf die grünen Wäldchen, die an uns vorbeiziehen, und auf die grauen oder braunen Bürokomplexe. Selbst dicke Trucks und lange schwarze Limousinen begeistern Chris nicht mehr. Wie seine Schwester Katherina nickt er ein. Ich schleiche mit exakt fünfundfünfzig Meilen dahin, knapp neunzig Stundenkilometern, das ist hier die Höchstgeschwindigkeit. Daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Aber ein Strafzettel gleich am ersten Tag muss ja nicht sein.

Im Autoradio säuselt John Mayer. Waiting on the World to Change. Martina strahlt wieder. Sie mag John Mayer.

Dann kommt die Meldung, dass in Washington heat alert ausgelöst wurde – Hitzealarm. Auf einhundertzwei Grad Fahrenheit soll das Thermometer morgen klettern.

Einhundertzwei Grad! Oops, wie war das noch mal mit Fahrenheit und Celsius? Mathe ist nicht unbedingt meine Stärke. Mir geht es für einen Moment wie dem kleinen Jungen in einer Story von Hemingway, die ich vor ewig langer Zeit einmal gelesen und nie vergessen habe. Der arme Kerl hatte einhundertzwei Grad Fieber und glaubte felsenfest, sterben zu müssen. Wie der kleine Fieberpatient habe ich Schwierigkeiten, Fahrenheit und Celsius auseinanderzuhalten – und erst recht, °F in °C umzurechnen.

Später lerne ich, wie das geht – einhundertzwei Grad Fahrenheit sind neununddreißig Grad Celsius. Später werde ich auch erfahren, dass die Briten in ihren besseren Zeiten Washington offiziell zur Tropenkapitale erklärt haben, zumindest im Sommer. Was den Diplomaten erlaubte, auch im Dienst kurze Khakihosen zu ihren akkurat hochgezogenen Socken zu tragen – ganz so wie die Offiziere Seiner Majestät in Hinterindien oder Hongkong. Jetzt aber kapiere ich nur, dass es morgen höllisch heiß sein wird.

»Ist doch super«, frohlockt Martina, als hätte ihr die Radiomeldung neue Energie eingeimpft. »Kinder, das ist Flip-Flops-Wetter. Endlich!«

Von hinten kommt keine Reaktion. Alle schlafen. Zu Martina hinübergebeugt flüstere ich grinsend: »Du hast recht. Sieht ganz so aus, als ob wir die Windjacken einmotten könnten. Nicht schlecht, oder?« Meine Frau hat sich ohnehin nie mit dem Schmuddelwetter in der norddeutschen Tiefebene anfreunden können. Washington wird sie entschädigen. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Gedankenverloren schaue ich auf die großen grünen Hinweistafeln entlang der Autobahn. Nach Washington geht es immer geradeaus. Martina träumt vor sich hin; sicher täuscht es nur, dass ihr Kopf ein bisschen zur Seite kippt. Während der Rest der Familie schlafend die Grenze des District of Columbia passiert, reift in mir ein kühner Plan. Nun sind wir also angekommen im Land der Freiheit. Und wenn es für den Anfang nur die Beinfreiheit ist. Morgen, so beschließe ich, wenn wir ausgeschlafen haben, werde ich mir sofort eine kurze Hose kaufen. Die erste seit der Lederhose zu meinem sechsten Geburtstag.

2.

What a Wonderful World

Manchmal wirken bacon & eggs Wunder. Bei unseren Kindern auf alle Fälle. Dazu hash browns und pancakes mit Sirup, kleine Frühstückswürstchen und Cornflakes und Frosties in Miniaturpackungen. Bei allen dreien quillt der Teller über. Und sie strahlen. Amerika hat den ersten Test bestanden – beim Frühstücksbuffet in unserem Hotel. Von Jetlag ist bei den Kleinen an unserem ersten Morgen in der Neuen Welt keine Spur, sie sind putzmunter – im Gegensatz zu ihren Eltern, denen der amerikanische Hotelkaffee nicht so recht auf die Sprünge hilft.

»Können wir jetzt endlich unser neues Haus sehen?«, drängt Katherina ungeduldig. Sie freut sich, dass sie ein eigenes Zimmer bekommt. In unserer Hamburger Altbauwohnung musste sie das Zimmer mit ihrem kleinen, nervigen Bruder im Stockbett unter ihr teilen. In Amerika aber, so hatten wir ihr den Umzug schmackhaft gemacht, sind die Häuser groß genug, dass wir die Stockbetten auseinanderbauen können und jeder ein eigenes Reich beziehen kann. Katherina drängt zum Aufbruch. Unverzüglich.

Also gondeln wir fünf wenig später im Glitzerlicht der Vormittagssonne die baumbestandene Massachusetts Avenue hoch. Ein Bilderbuchtag. Die Mass Avenue ist eine dreißig Kilometer lange, ziemlich gerade und ziemlich breite Straße, die quer durch DC führt, vom bitterarmen schwarzen Südosten der Stadt hinauf in den wohlhabenden, fast nur von Weißen bewohnten Nordwesten. Dort säumen vornehme Botschaftsbauten die Straße; die National Cathedral ist nicht weit, mächtig wie die alten gotischen Kathedralen im einstigen britischen Mutterland. »DiCi« – so wird Washington in Amerika oft genannt, um die Stadt vom Bundesstaat Washington im Fernen Westen zu unterscheiden.

Noch ist die Zimmerfrage nicht restlos geklärt. »Ich will aber das größte Zimmer«, krakeelt natürlich der Kleinste auf der Rückbank.

Martina neben mir spielt am Autoradio herum.

»Oh, Mama, lass das, das ist gut«, ruft Katherina, die Mittlere, in dem Moment von hinten, als hätte sie ihren Bruder nicht gehört. Martina hat gerade einen neuen Sender im Suchdurchlauf gefunden. 99.5 FM. »Hot 99.5«, genauer gesagt, wie der Moderator zwischen den Werbeblocks verkündet. Oder fürs spanischsprachige Publikum: »Caliente noventanuevepuntocinco«. Das werde ich mir noch merken müssen, auch wenn ich es noch nicht weiß in diesem Moment. Aber dies ist der Beginn einer neuen Ära. Fortan werden die Kinder bestimmen, welche Musik gespielt wird im Auto.

Neue, mir bis dahin völlig unbekannte Namen werden in mein Leben treten. Avril Lavigne oder Jay-Z. Von Chris Brown hatte ich ehrlich gesagt auch noch nie etwas gehört. Und wenn ich Jordan Sparks mal wieder mit Rihanna verwechsle, stöhnen meine Mädchen nur auf ob der Ignoranz ihres Vaters. Ein bisschen werde ich verstehen, warum meine Mutter es nie richtig für nötig hielt, sich zu merken, dass es »die Stones« heißt und nicht »die Rollings«. Bald werde ich sogar wissen, wer der Rapper FloRida ist, und wir werden alle im Auto »Low, low, low« singen und mit der Stimme immer tiefer, tiefer, tiefer gehen, und ich muss aufpassen, dass ich nicht im Rapper-Rhythmus das Bremspedal drücke.

Doch jetzt fahren wir erst einmal beschwingt in die grünen Hügel vor die Tore Washingtons. Dort befindet sich Bethesda, unser neuer Wohnort. Es ist, als würden wir durch den Englischen Garten in München oder auf der Elbchaussee in Hamburg kutschieren: mitten durch einen grünen Park mit ein paar Villen drin. Je weiter wir kommen, desto grüner wird es. So sattgrün, wie eben nur Unmengen von Dünger und Wasser den Rasen halten können. Überall stecken patriotisch korrekt kleine Sternenbanner neben den Garageneinfahrten.

»So viel Flaggen auf einem Haufen hab ich ja noch nie gesehen«, sagt Martina staunend, als wir in unser künftiges Stadtviertel einbiegen. »Stell dir das mal in Deutschland vor!«

Sie hat recht. Bei uns käme keiner auf die Idee, am 3. Oktober Plastikfähnchen in alle Vorgärten zu stecken. Hier aber scheint das gang und gäbe zu sein.

Ausgerechnet den 4. Juli haben wir uns ausgesucht, den Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, Independence Day. Das ist einer der ganz großen Feiertage im amerikanischen Jahr.

Erst sehr viel später werden wir herausfinden, dass die Mini-Flaggen nicht im Mindesten Ausdruck spontanen Patriotismus sind, sondern eine ungefragte Demonstration vaterländischer Gesinnung eines kleinen Maklerbüros in Bethesda. Worüber sich manche Anwohner aufregen, die lieber selbst entscheiden wollen, wann und wie sie ihr Fähnchen in den Wind hängen.

»Ob das so eine gute Idee ist mit der Wohnungsübergabe am vierten Juli?«, frage ich mich auf dem Weg. Schließlich wollen Makler auch einmal freihaben. Doch die Sorgen muss ich mir hier nicht machen. Das werde ich ebenfalls bald herausfinden. Wenn es sein muss und dem Kapitalismus im Allgemeinen sowie dem eigenen Einkommen im Besonderen dient, arbeiten Makler auch an Weihnachten oder an Silvester um Mitternacht oder eben am Independence Day.

Unser Haus ist gar nicht so schwer zu finden. Auf der Karte. Die Mass Avenue einfach nur ganz runter bis ans Ende, dann rechts, die nächste links, dann wieder rechts. Gut, dass wir ein bisschen Zeit eingeplant haben, denn natürlich verfahren wird uns. Nach der kurzen Hose kaufe ich mir als Zweites ein Navigationssystem, schwöre ich mir.

Doch schließlich stehen wir vor unserer Villa auf dem grünen Hügel. Ein rotes Backstein-Einfamilienhaus ist es, mit einer Veranda und einem Erker im Dach, und einem Vorgartenrasen, der leicht zur Straße hin abfällt. In Deutschland müssten wir für so einen Schuppen bestimmt Millionärssteuer zahlen. Hier gilt das Haus mit vier Toiletten, drei Badezimmern und nur einer Garage als eher bescheiden. Mit Baujahr 1962 rückt es zudem schon verdächtig nahe an die Haltbarkeitsgrenze, auf die Neubauten heutzutage in den USA konzipiert werden – ein halbes Jahrhundert, zwei Generationen. Was mich an anderen Tagen in eine Sinnkrise gestürzt hätte: Schließlich liegt mein Jahrgang schon jenseits dieser Grenze, sozusagen kurz vorm Abriss. Aber nicht heute. Heute bestimmt nicht!

Die Schlüsselübergabe klappt reibungslos. Nach zehn Minuten ist die Maklerin wieder fort. Da stehen wir also in der Diele unseres neuen Zuhauses. Alles scheint bestens in Schuss zu sein. Die Wände sind frisch geweißelt, wie versprochen – was offenbar keine Selbstverständlichkeit ist, wenn man in Amerika eine Wohnung bezieht. Gas und Strom funktionieren. Was darauf schließen lässt, dass unsere Vormieter ihre Rechnungen pünktlich bezahlt haben.

»Waren also doch alles nur Schauergeschichten, die mir die Kollegen am Telefon erzählt haben«, sage ich erleichtert. Vor Fenstern, die sich nicht öffnen lassen, haben sie mich gewarnt, oder, wenn doch, dass sie sich dann nicht wieder schließen lassen. Von stinkenden Teppichböden haben sie erzählt und schimmelnden Kellern und lebensgefährlichen Steckdosen.

Alles Unfug!

»Mir ist soo heiß«, sagt Chris in diesem Moment. Er sagt damit nichts als die reine Wahrheit. Obwohl es noch einigermaßen früh am Tag ist, wird es schon fast unerträglich stickig in dem leeren Haus, in dem bei jedem Schritt die Holzfußböden knarzen – und es, ich merke es erst jetzt, etwas hölzern ungelüftet riecht.

Wir schieben im Wohnzimmer die Fenster hoch – lässig, so wie wir es aus den amerikanischen Filmen kennen, den schwarz-weißen. Die Fenster funktionieren sogar, keines klemmt, aber die Luft, die nun durch die feinen Fliegengitter hereinströmt, bringt nicht wirklich Linderung. Draußen ist es inzwischen genauso heiß und stickig wie drinnen! Bald werden wir auch verstehen, warum vor jedem Fenster ein Drahtgeflecht hängt: Da draußen sind Myriaden von Mücken unterwegs, die nur auf ein Menschenopfer warten.

»Mir ist soo heiß.« Herrje, irgendwo muss doch der Schalter für die Klimaanlage sein!

Jetzt wird auch mir heiß. Ich laufe die Treppe hoch in den ersten Stock. Schaue in jedes der vier Schlafzimmer, ins Eltern- und ins Kinderbad. Nichts. Ich laufe die Treppe hinunter ins basement, das ausgebaute Kellergeschoss. Nichts. Wie angenehm kühl es hier unten ist. Da werde ich meinen Schreibtisch aufbauen und den Laptop, dazu einen Fernseher, ein paar Regale für Zeitungen und Zeitschriften und Bücher, das Fax und ein Telefon, kurz: das Büro der Süddeutschen Zeitung in Washington.

Hinter einer weißen Schiebetür ist der Heizungsraum. Mehrere graue Kästen stehen darin. Sehen aus wie Heizungskessel. Ist das die Klimaanlage? Ich weiß, dass in den USA viele Häuser eine zentrale Anlage haben, die im Winter warme, im Sommer kalte Luft in die Räume fächelt. Aber so eine kombinierte Heiz- und Klimaanlage habe ich noch nie gesehen. Jedenfalls habe ich nicht darauf geachtet, wie eine aussieht. Ich kenne nur die Kühlapparate, die in Hotels und Motels vor den Fenstern hängen und fürchterlich brummen. Hier aber hängt nichts vor den Fenstern. Komplizierte neue Welt!

Warum habe ich bloß die Maklerin nicht nach der Klimaanlage gefragt?, schießt es mir durch den Kopf. Ich kann die Frau doch nicht gleich wieder anrufen. Außerdem, führe ich innerlich zu meiner Verteidigung an, in Hamburg braucht man wirklich keine Klimaanlagen. Da kann man solch eine Frage schon einmal vergessen.

Ich laufe wieder hoch. Suche noch einmal das Erdgeschoss von vorn bis hinten ab. Klappe endlich die Flügeltür im Wohnzimmer zur Seite. Dahinter ist ein Kästchen an der Wand. Das schönste Kästchen im ganzen Land. »Cool. Off. Heat«, steht neben dem Schalter – Kühlung, Aus, Heizung. Der Schalter für die Klimaanlage und die Heizung. Der Schalter steht auf »off«. Ich schiebe ihn wortlos nach links, auf »cool«. Augenblicklich geht ein Raunen durch die Wohnung, ein Luftzug streicht durchs Zimmer. Sie läuft!

So, denke ich und atme erleichtert auf, auch das ist geritzt. Ich schaue Martina an.

»War doch gar nicht so schwer«, neckt sie mich, während ich mir den Schweiß auf der Stirn trockne.

Jetzt also sind wir in unserem Sehnsuchtsland. Nach Amerika als Korrespondent zu gehen, das hat mir schon lange vorgeschwebt. Und hat Martina seit Teenager-Zeiten nicht gar an einer Art Heimweh gelitten? Zumindest hat sie einst einen langen, wohl sehr schönen Sommer in New York verlebt. Jahre später haben wir beide dann eine ausgedehnte Tour quer durch die USA unternommen, nachdem sie mich gefragt hatte: »Könntest du dir vorstellen, mal nach Amerika zu gehen?« Ich konnte.

Damals waren wir mit backpack und Schlafsack unterwegs. Heute wuchte ich schwere Koffer aus dem Auto – und packe wieder die Schlafsäcke aus, dazu unsere zwei alten Isomatten. Mehr haben wir jetzt nicht. Unsere Möbel sind noch nicht da. Kein Bett, keine Couch, kein Schreibtisch, nicht einmal ein simpler Stuhl.

Was wir besitzen, steckt in einem einzigen rostroten Vierzig-Fuß-Container. Alles hat hineingepasst: Bücher, Klavier, Geschirr, Schaukelstuhl, zum Schluss sogar die Fahrräder. Unser ganzes bisheriges Leben. Das ist nun seit sechs Wochen unterwegs auf dem großen Wasser, von Hamburg nach Baltimore. Eigentlich müssten die Sachen schon da sein. Jedenfalls hat uns das die Spedition versichert. Deshalb haben wir die Möbelpacker schließlich bereits Mitte Mai bestellt und seither aus dem Koffer gelebt, damit wir uns gleich in der neuen Bleibe einrichten können.

»Kommt, das machen wir später«, rufe ich, als die Kinder ihre Schlafsäcke ausrollen und anfangen über die zwei Isomatten zu streiten. Dabei waren die eigentlich für die Eltern vorgesehen. Die Zimmerfrage haben sie inzwischen wundersamerweise ohne unser Zutun gelöst: Anna als die Älteste durfte das größte haben. Katherina bekam das hellste. Und Christopher, na klar, das beste. So waren sie alle zufrieden. Bis die Isomatten auftauchen.

»Kinder, das könnt ihr nachher klären«, rufe ich also, um die Situation zu entspannen, »wir fahren jetzt zur Parade.«

Martina hat am Morgen in der Hotellobby eine Washington Post besorgt, die Hauptstadtzeitung, und im Lokalteil gelesen, dass über Mittag ein Umzug zum Independence Day stattfindet. Und zwar im feinen Stadtteil Palisades, gleich unten am Potomac, dem breiten Fluss, der keine Meile vom Weißen Haus entfernt durch Washington strömt.

Palisades liegt nicht weit von unserem neuen Zuhause entfernt – das verspricht uns jedenfalls die Karte. »Zehn Minuten höchstens«, sage ich, als wir uns anschnallen. Nach einer halben Stunde sind wir da. Noch einmal so lange brauchen wir bei brüllender Hitze, Christopher auf meinen Schultern, um von unserem Parkplatz hinunter zum MacArthur Boulevard zu gelangen, dorthin, wo der Umzug stattfindet. Alle Straßen sind kilometerlang vollgeparkt. Wir sind offensichtlich nicht die Einzigen, die zur Parade wollen.

Kein Wunder. Eine Riesenparty ist hier in Gang. Ein bisschen ist es wie beim Karneval in Rio, jedenfalls was die Temperaturen angeht. Wenn auch die Frauen in Palisades deutlich mehr Kleider anhaben als ihre Geschlechtsgenossinnen an der Copacabana. Bunt ist’s aber allemal: Die D. C. Different Drummers Marching Band, ein schwuler Spielmannszug, trommelt hinter der Abordnung der katholischen Kirche her. Republikaner folgen einträchtig Kandidaten der Demokraten. Stinkende Oldtimer knattern vorbei. Schottische Dudelsackspieler marschieren, und bolivianische Folkloretänzer schwirren über den Asphalt. Bei allen läuft der Schweiß in Strömen. Schließlich rollt, laut hupend, die riesige Engine 29 der Feuerwehr von DC heran. Christopher kriegt den Mund vor Staunen nicht mehr zu. Alle schwenken kleine US-Fähnchen, Tänzer, Musiker, Feuerwehrleute. Sie werfen Bonbons und goldene Schokoladentaler und grüne Perlenketten in die Luft. Anna und Katherina und Christopher stürzen wie alle Kinder auf den heißen Asphalt, um sich die Beute zu sichern.

»Das nächste Mal müssen wir unbedingt auch Plastiktüten mitnehmen«, ruft Anna begeistert. Alle anderen Kids haben nämlich Taschen dabei, um die Süßigkeiten zu sammeln.

»Wir werden daran denken«, verspreche ich. »Bestimmt!« Und schon haben wir den ersten Programmpunkt für den Independence Day im nächsten Jahr.

Am Ende schließen wir uns der Menge an, die zu einem großen weißen Festzelt strömt, auf einer Wiese direkt neben dem Potomac. Es ist ein Giga-Picknick. Anna, Katherina und Chris greifen sich einen der roten Plastikbecher mit Zitronenlimonade und essen dicke Scheiben riesiger Wassermelonen, die weißhaarige Damen im Akkord aufschneiden. In einer langen Schlange stehen die Kinder für Hot Dogs an, als würden sie längst dazugehören an ihrem ersten Tag in ihrer neuen Heimat. Der Bürgerverein gibt alles kostenlos aus. Schließlich ist es Amerikas birthday party.

Eine Band spielt die Kracher vergangener Tage. Ein bisschen Country, ein bisschen Rock’n’Roll, und irgendwann singen sie auch »What a wonderful world«. Ein paar Unentwegte tanzen nun sogar in der Affenhitze.

Abends sitzen wir dann zum ersten Mal auf unserer porch, der Veranda, vor der Haustür. Glücklich und müde und erschöpft. Die Kinder schlafen längst – auf ihren Schlafsäcken. Zudecken muss man sich hier wirklich nicht. Martina und ich schauen versonnen über die Baumkronen, wo es hin und wieder dumpf wummert und ein bunter Raketenstern vom Independence-Day-Feuerwerk aufgeht.

»Wow, was für ein Tag«, flüstere ich und setze hinzu, Romantiker, der ich bin: »What a wonderful world.«

»Haben wir eigentlich Autan dabei?«, flüstert Martina ebenso romantisch zurück und klatscht sich zum hundertsten Mal auf die Arme. Sie hat einen Sinn fürs Praktische im Leben. Zweifellos.

Morgen werde ich als Erstes Mückenspray kaufen. Die Shorts und das Navigationsgerät müssen warten.

3.

Good Vibrations

Am nächsten Morgen steht Besuch vor unserer Tür. Eine forsche Person von vielleicht sechzig Jahren in einem pinkfarbenen T-Shirt und Khaki-Shorts, mit blondem Kurzhaarschnitt und einem Gesicht wie ein wandelndes Fragezeichen: große, weit aufgerissene, kullerrunde tiefbraune Augen unter gewölbten, schwarz geschminkten Brauen und ein wie staunend leicht geöffneter Mund. Es ist Laureen, unsere Nachbarin.

Unwillkürlich muss ich an Katherine Hepburn denken – wenn irgendjemand noch etwas damit anfangen kann –, wie sie in dem Hollywood-Klassiker African Queen dem alten Schluckspecht Humphrey Bogart den Whisky abknöpft und die Flasche, zu allem entschlossen, bis zum letzten Tropfen in den Kongo leert. Auch mit dieser Frau ist nicht zu spaßen, sagt mir mein siebter Sinn.

Ihr an den Rändern zerfledderter Strohhut, so einer, wie ihn Pablo Picasso in Südfrankreich getragen hat, ist ein weiteres, unmissverständliches Signal. Laureen, das werden wir bald erfahren, ist Künstlerin und weiß Gott nicht stromlinienförmig.

»I was just wondering«, beginnt sie – »Ich hab mich nur gefragt …« Das sagt sie eigentlich immer, egal ob sie eine ihrer wundersamen Eingebungen hat oder einen ihrer verrückten Vorschläge machen will. Oder auch einfach nur, wenn sie ein paar Worte mit uns wechseln möchte.

Laureen wird uns durch unser neues amerikanisches Leben führen. Und immer ist es dasselbe: Sie taucht unangemeldet auf, redet nicht lange um den heißen Brei herum und hat stets ein paar gute Tipps für die Greenhorns aus Deutschland parat.

Aber das alles wissen wir da noch nicht. Obwohl, ahnen könnten wir es eigentlich schon.

»Hi«, sagt sie nun, »ich bin Laureen. Ich wohne nebenan, im Haus an der Ecke. Wir kennen uns schon.« Große Anstrengungen, sich umständlich bekannt zu machen, unternimmt sie nicht. Sie stellt sich gleich mit dem Vornamen vor, wie die meisten Amerikaner das tun. Wenn es nicht gerade eine offizielle Angelegenheit ist im Büro oder in einer Amtsstube oder beim Einkaufen, wo der Kunde stets »Sir« ist und die Kundin immer »Ma’am«, haben die Amerikaner wenig Sinn für Förmlichkeit. Und Laureen hasst Steifheit sowieso.

Tatsächlich haben wir uns bereits kennengelernt. Das stimmt. Kurz, aber immerhin. Vor einem Vierteljahr, als ich mit der Maklerin vor dem Haus letzte Details besprach und im Vorgarten stand, da kam eine Person mit einem zotteligen sandfarbenen Hund an der Leine auf uns zu. Ihr Ascot-reifer, wagenradgroßer rosafarbener Hut ist mir gut in Erinnerung geblieben. Stimmt, auch die Bemerkung, die sie mir, dem völlig Unbekannten, wie im Vertrauen zugeraunt hat: »Ihre Vorgänger habe ich nie so richtig kennengelernt.«

Das war Ausdruck ihrer strengsten Missbilligung der armen Menschen, die vorher in diesem Haus gewohnt haben, wie mir jetzt aufgeht. Offenbar habe ich damals, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, Laureens erste Prüfung bestanden. Da hatte ich den Mietvertrag noch gar nicht unterzeichnet.

»Hi«, erwidere ich an der Tür und vergesse prompt, unseren ersten Gast ins Haus zu bitten. Das macht aber ohnehin keinen großen Unterschied. In der kleinen Eingangsdiele ist es ja genauso leer wie draußen auf der porch, unserer Veranda vor der Tür, die von zwei verschnörkelten cremeweiß lackierten Ziergittern gerahmt ist, was dem roten Backsteinhaus einen Hauch von Südstaaten-Flair verleiht.

»Ich heiße Reymer«, füge ich rasch hinzu.

Laureen klappt kurz die Augenlider runter, als wolle sie mir sagen, ich müsse keine Zeit verschwenden. Einen Namen könne sie gerade noch behalten. So alt sei sie auch nicht.

Das bewundere ich an den Amerikanern ohnehin uneingeschränkt. Sie können sich wirklich Namen merken. Wenn man ihnen vorgestellt wird, zum Beispiel auf einer Party oder einem Empfang, erinnern sie sich auch noch eine halbe Stunde später mühelos daran. Selbst nach zwei Monaten, wenn man ihnen zufällig wieder über den Weg läuft, begrüßen sie einen mit der größten Selbstverständlichkeit. »Hi Reymer«, sagen sie, während ich fieberhaft und meist vergebens in meinem Gedächtnis nach ihrem Namen krame und verlegen stammelnd nur ein armseliges »Hi« hervorbringe.

»Das sind Anna, Katherina und Chris«, sage ich und verweise auf das Pyjama-Knäuel, das sich an die Flügeltür zum Wohnzimmer kuschelt und kein Wort hervorbringt.

»Und das ist meine Frau Martina«, füge ich hinzu, als sie in dem Moment aus den Tiefen unserer neuen und leeren Bleibe auftaucht. »Martina, das ist Laureen, unsere Nachbarin.«

»Pleased to meet you – sehr angenehm, how are you, Laureen?«, sagt Martina und legt ihr bestes Doris-Day-Was-für-ein-herrlicher-Tag-Lächeln auf. Sie jedenfalls weiß, was man bei solchen Gelegenheiten tut.

»Ich hab mich nur gefragt«, hebt Laureen also an und mustert kurz den kleinen Haufen der Neuankömmlinge, »ob ihr morgen Abend nicht Lust hättet, zum BBQ zu uns zu kommen. Um sechs.« BBQ – Barbecue, das ist nichts als die amerikanische Variante eines Grillabends. Irgendwo haben wir gelesen, dass es eine alte Tradition ungezwungener Gastfreundschaft in den USA ist. Schon George Washington, der erste Präsident, ist zum Barbecue eingeladen worden. Und nun also auch wir.

Martina und ich gucken uns an. »Klar«, sage ich, »wir kommen gerne.«

Am nächsten Abend macht Ron uns allen fünf die Tür auf. Ron ist ein grauhaariger, gut aussehender älterer Herr. Martina findet, er ist eine Mischung aus James Stewart und George Clooney, nur zwanzig Jahre älter. Ich sage dazu gar nichts. Haben James Stewart und Katherine Hepburn eigentlich auch mal gemeinsam in einem Film mitgespielt?

In jedem Fall hat Ron die tiefe, sonore Stimme eines Hollywood-Stars, der sich in jeder Situation zurechtzufinden weiß. Ron ist, so erfahren wir bald, von Beruf Onkologe. Dafür muss man sicher ein gelassener Mensch sein. Sonst stünde man wohl die seelische Anspannung im Behandlungszimmer nicht durch. Ron unterhält eine Privatpraxis in Washington.

Dass Laureen wirklich Künstlerin ist, bemerken wir schon in ihrem Vorgarten. Dort steht eine metallene, knallrot lackierte Skulptur, die an ein Stabile von Calder erinnert. Ron schickt uns ungezwungen gleich weiter in die Küche. Auf dem Weg sehen wir an den Wänden im Wohnzimmer gewaltige Blumenbilder von Laureen. Expressionistisch, ohne Zweifel.

Für die Deutschen haben die beiden natürlich Bier kalt gestellt. Was auch sonst? Schließlich haben sie – wie die meisten Amerikaner – vom Oktoberfest gehört und davon, dass der gemeine Deutsche dort gleich literweise Bier in sich hineinschüttet. Die Verwunderung ist dementsprechend groß, dass die neuen Nachbarn – nach dem Anstandsbier – lieber kalifornischen Chardonnay trinken. Eiskalt gekühlt, so wie Laureen und Ron es lieben.

Eigentlich wissen die Amerikaner nicht wirklich viel über die Deutschen, außer eben dass sie Bier in Unmengen vertragen, im Zweifel fiese Nazis sind und super Autos bauen. Ron fährt selbst einen deutschen Sportwagen, einen silbergrauen Audi. Den hat er geleast, allerdings gesteht er mir noch an diesem Abend fast schuldbewusst, als hielte ich persönlich ein dickes Portefeuille an Audi-Aktien, dass er nun zu einem silbergrauen Japaner wechseln will, weil die Leasing-Kosten deutlich niedriger lägen.

Laureen nimmt es jedenfalls aufmerksam zur Kenntnis, dass ich nach dem Bier ein Glas Wein trinke. Damit haben wir, ich merke es wohl, ohne es zu wollen, eine weitere Prüfung bestanden.

Ehrlich gesagt, ertappe ich mich in dem Moment dabei, dass ich unsere ersten amerikanischen Gastgeber ebenfalls einer Prüfung unterziehe.

Ron geleitet mich nach draußen. »Ihr seid bestimmt hungrig«, sagt er – ein unmissverständliches Zeichen, dass es nun losgehen soll mit dem dinner. BBQ ist Männersache, in Amerika genauso wie in Deutschland. Wir legen chicken auf den Grill. Bei Ron und Laureen gibt es immer Hühnchen. Aber das wissen wir an dem Abend noch genauso wenig wie das Geheimnis der wunderbaren Grillsauce, die Ron gerade umgerührt hat und mit der er nun das Fleisch bestreicht. Es nimmt eine köstlich bernsteinfarbene Bräune an und bekommt einen leicht süßlich-rauchigen Geschmack, obwohl es auf einem Gasgrill zubereitet ist, ohne einen Hauch von Rauch. All das ist neu für uns.

Ein solches Gerät habe ich noch nie gesehen. Es ist kein runder Holzkohlegrill, wie ich ihn aus Deutschland kenne, den man über Stunden befächeln muss, ehe man die Kohle zum Glühen gebracht hat, und der, wenn es eine besonders luxuriöse Variante ist, mit einem kuppelförmigen Deckel ausgestattet ist. In Rons Garten steht vielmehr ein silberfarbenes Monsterteil, so breit, dass ein Mann die Enden kaum berührt, wenn er die Arme zur Seite ausstreckt. Mit einem chromglänzenden Klappdeckel über der Grillfläche, auf der ein halbes Wildschwein Platz fände. Das Beste an dem Ding ist der Zünder, den man kurz betätigt, und klickerdiklick brennt die Gasflamme unter dem Grillrost.

»Da brauchst du nicht zu blasen und zu wedeln«, sagt Ron mit der Stimme eines Mannes, der weiß, wovon er redet. »Du drückst einfach auf den Knopf – and here you go.« Schon läuft’s.

Das ist Amerika. Big and easy. Klotzen statt kleckern. Nicht schlecht, denke ich mir.

Auch das Essen sieht lecker aus. Wer sagt, die Amerikaner verstünden nichts vom Kochen? Nur Fast Food und Tiefkühl-Einerlei? Nicht bei unseren Nachbarn! Da wird noch selbst gekocht. Auf dem Grill garen Hühner in hausgemachter Sauce. In der Küche, das habe ich vorhin gesehen, rösten Rosmarin-Kartoffeln im Ofen, und auf dem Herd habe ich einen Topf mit Ratatouille erspäht.

Natürlich ist dies das Land des processed food, der vollendet vorbereiteten Speisen, in zwei Minuten aus der Mikrowelle fix und fertig auf den Tisch. Und alles gibt es im Großpack. Chicken wings, marinierte Hühnerteile zum Beispiel, die man nur noch auf den Grill legen muss. Für Hamburger kauft man kein Hack ein und formt daraus mühselig flache Fleischklöpse. Warum auch? Jeder Supermarkt führt vorgestanzte paddies, bierdeckelgroße, platte Fleischkreise, die man ebenfalls nur noch auf den Grill werfen muss (wo sie so zusammenschnurren, dass sie mühelos in die buns passen, die absolut geschmacksneutralen, flauschig weichen Hamburger-Brötchen).

Nur die Hälfte aller Amerikaner plagt sich noch in der eigenen Küche ab, Tendenz weiter fallend. Jahr um Jahr belegen das Studien über die Essgewohnheiten der US-Bürger. Die andere Hälfte geht essen oder deckt sich mit Fertiggerichten für die Mikrowelle ein. Sogar von denjenigen, die sich noch selbst in die Küche stellen, glaubt ein Großteil, dass es genauso gesund sei, vorgekochte Tiefkühlkost oder vorgewaschene Salatmischungen zu verwenden, als alles in Eigenregie zu garen oder den Salat eigenhändig zu zupfen. Schneller ist es allemal.

Bei Laureen aber ist das anders. Da habe ich keinen Zweifel.

»It’s delicious«, schwärmt Martina, als wir zum Essen draußen auf der Terrasse sitzen und uns verstohlen hin und wieder auf die Knöchel oder die bloßen Arme klatschen. Die Mücken fallen auch in Nachbars Garten über uns her!

»Sag, Ron«, fährt Martina fort, »wie hast du nur diese Sauce hinbekommen, scharf und süß zugleich?« Das sagt sie nicht nur so dahin. Martina kocht für ihr Leben gern. Sie liebt Kochbücher, und ständig ist sie auf der Suche nach neuen Rezepten.

Laureens Augen blitzen. »Das ist Rons Geheimrezept«, sagt sie. »Vielleicht willst du es Martina und Reymer ja verraten, honey

Ron ist ein Typ, der nicht gerne widerspricht, zumindest nicht seiner Frau.

»Well«, sagt Ron, »ganz einfach. Ihr geht in den Supermarkt, kauft euch eine Kansas-City-BBQ-Sauce, irgendeine, ist wirklich egal welche, und dann rührt ihr ein bisschen flüssigen Honig drunter, im Verhältnis eins zu drei. Das ergibt den Geschmack.«

Einen kurzen Moment müssen wir ein wenig komisch dreingeschaut haben. Das also ist Rons Spezialrezept? Nun, Kansas City ist schon mal ein guter Hinweis. Kansas City ist die BBQ-Kapitale Amerikas. Mehr als einhundert Grill-Restaurants werden im städtischen Gourmet-Register geführt. Der American Royal ist der größte Grill-Wettkampf des Landes. Da wundert es nicht wirklich, dass die Kansas-City-BBQ-Sauce im ganzen Land Berühmtheit erlangt hat. Zumal, wenn man berücksichtigt, was alles in diese tomatig-süßliche, mit Cayenne-Pfeffer angeschärfte Tunke hineingehört. Martha Stewart, Amerikas geschäftstüchtige Kochpäpstin, listet elf Zutaten auf, die auf dem Herd langsam garend zu der unverwechselbaren Geschmackskombination verkochen müssen. So eine langwierige Prozedur spart sich Ron.

»Oh«, sagt Laureen und strahlt. »Ihr müsst unbedingt noch Platz lassen für das Dessert. Es ist eine Crème brûlée. Ich hoffe, ihr mögt das.« Was für eine Frage!

Martina und ich blicken uns an. Crème brûlée lieben wir, seitdem Martina zum Studium in Paris war. Und so etwas als Nachtisch bei Amerikanern? Paris in Washington. Französische Lebensart in Toquevilles Amerika! Nicht einfach nur Eiscreme oder dicken, dunklen, süßen, schweren fudge. Sondern klassisch elegante Cuisine. Laureen hat sich die Mühe gemacht, für uns Crème brûlée zuzubereiten! Wer das schon einmal versucht hat, weiß, wie aufwendig es ist.