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Als Kind war Minnie Panis allen ein Rätsel, ihrer Mutter, den Lehrern, dem Arzt, der sie schon als Säugling behandelt hat: das Baby, das nicht schreien wollte. Mit Ende zwanzig ist sie immer noch zurückhaltend, nur scheinbar zerbrechlich, auf jeden Fall bezaubernd anders – und gleichzeitig ein Star in der niederländischen Kunstszene. Unerschrocken und mit leidenschaftlicher Neugier legt Minnie das eigene Leben unters Mikroskop, stellt in ihren Werken gewagte Fragen nach dem Verschmelzen von Leben und Kunst, der Lust, aus dem eigenen Dasein zu verschwinden. Der Fotograf, mit dem sie eine lose sexuelle Beziehung verbindet, kommt ihr als Partner bei ihrem neuen Projekt gerade recht. Doch die Konsequenzen lassen sich nicht absehen. Und die Frage ist: Wer manipuliert wen?

 Eine junge, eigensinnige, berückende Protagonistin. Ein rasanter Roman mit einem ironischen Blick auf die internationale Welt der Kunst. Und eine Autorin, die mit lakonischem Humor und einer Menge Menschenkenntnis besticht.

 

Niña Weijers, geboren 1987 in Nijmegen, studierte Literaturwissenschaften in Amsterdam und Dublin. Sie schreibt für De Groene Amsterdammer und arbeitet als Redakteurin für die Literaturzeitschrift De Gids. Ihr erster Roman, Die Konsequenzen, stand 2015 auf der Shortlist für einen der wichtigsten niederländischen Literaturpreise, den Libris-Literaturpreis, und wurde u. ‌a. mit dem renommierten Anton-Wachter-Preis (2014), dem Opzij-Literaturpreis und dem Publikumspreis der Gouden Boekenuil (beide 2015) ausgezeichnet.

 

 

Niña Weijers
Die Konsequenzen

Roman

Aus dem Niederländischen
von Helga van Beuningen

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
De consequenties bei Uitgeverij Atlas Contact, Amsterdam / 
Antwerpen. Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung für die Förderung der Übersetzung.

 

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2014 Niña Weijers

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: plainpicture/cultura/SebOliver

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

 

eISBN 978-3-518-74776-6

www.suhrkamp.de

 

 





I really like that moment when
the performance becomes life itself.

 

Marina Abramović

Prolog

AN dem Tag, an dem Minnie Panis zum dritten Mal aus ihrem eigenen Leben verschwand, stand die Sonne tief und der Mond hoch am Himmel. Es war der 11. Februar 2012, der Tag war klar und kalt, aber nicht kalt genug: Schon am frühen Morgen hatte sie die Wärme der Sonne auf der blassen, rauen Haut ihres Gesichts spüren können. Es war Samstag.

Tage nacheinander hatte es kräftig gefroren. Die Schleusen in der Amsterdamer Innenstadt waren geschlossen worden, und zum ersten Mal seit Jahren wurde auf den Grachten Schlittschuh gelaufen. Touren wurden organisiert und wieder abgesagt, man spekulierte über eine Elfstädtetour, ja, nein, ein winterlicher Rhythmus, der das Land in seinem Griff hielt, als ginge es um Kurse und jeder besäße Aktien. Dann ließ der Frost nach. Der Himmel wurde grau und feucht, und er wirkte nicht weicher, sondern härter und leerer. Gelbliche Eisschollen ragten aus der Herengracht empor, Bierdosen und Chipstüten trieben an der Oberfläche, und es war, als begännen alle die Kälte erst jetzt zu spüren und die Schwere des Winters.

Der menschliche Körper ist von einer merkwürdigen Kurzsichtigkeit, wenn es um Verliebtheit und um Witterungsverhältnisse geht: Er denkt, dass der momentane Zustand für immer anhalten wird, und lernt nichts, aber auch gar nichts von der Vergangenheit, die möglicherweise etwas ruft, allerdings genau gegen den Wind. Als folglich an jenem Samstagmorgen im Februar die Sonne durchbrach, hatte niemand mehr mit dieser Möglichkeit gerechnet. Tausende von Augen blinzelten erstaunt beim Anblick des unwahrscheinlichen, grandiosen Lichts, das plötzlich auf die Welt herabgesunken war und die Atmosphäre blau tönte. An solchen Tagen hat man wenig Wahl. Man kann die Vorhänge geschlossen lassen, doch draußen hat die Welt sich ausgedehnt, und alle Dinge dehnen sich mit, aufwärts und aufwärts Richtung Sonne.

Es bleibt die Frage, warum Minnie gegen zwei Uhr mittags mutwillig das zu dünne Eis betrat und dort stehen blieb, während es brach, lediglich leicht erstaunt, als sie sich unter ihren Füßen vollzog, diese Transformation von fest zu flüssig. Warum sie die Bäume nicht nur sah, sondern sie betrachtete und genau wusste, es waren Platanen. Warum sie aus einem Reflex heraus mit den Armen ruderte wie eine Persiflage auf einen Seiltänzer, und warum das alles um Himmels willen nicht das geringste Geräusch machte.

2012

 





MINNIE saß ihrer Mutter gegenüber in einem großen Mittagsrestaurant am Wasser. Es war ein lärmender Ort mit einer erwartbaren und zu teuren Karte, einem nichtssagenden Interieur und einem Bedienungspersonal, das die Bestellungen in Apparate eingab, mit denen Augenkontakt zu einer Reliquie aus der Vergangenheit geworden war. Es war der Ort, an dem sie sich immer trafen.

An diesem Morgen hatte ihre Mutter sie in aller Frühe angerufen. Ein seltenes Ereignis, nicht nur wegen des Zeitpunkts, sondern auch, weil ihr Kontakt hauptsächlich über E-Mail verlief und darauf angelegt war, sich ohne allzu viele Abschweifungen zu ihrem dreimonatlichen gemeinsamen Mittagessen zu verabreden, während welchem sie sich gegenseitig in möglichst groben Zügen über den Stand der Dinge in Kenntnis setzten. Ihre Mutter verstand wenig von Minnies Leben und Minnie genauso wenig von dem ihren. Dass zwei so verschiedene Menschen dennoch Blutsverwandte waren, hatte sie schon gewundert, als sie noch ein kleines Mädchen war und sich, auf die albernen Glow-in-the-dark-Sterne an ihrer Zimmerdecke starrend, fragte, ob man auch versehentlich in jemandes Bauch landen konnte.

»Ein Glück«, hatte ihre Mutter ohne Umschweife gesagt, als Minnie an jenem Morgen den Hörer abnahm. »Du lebst noch.«

»Natürlich lebe ich noch«, sagte Minnie. »Warum sollte ich nicht leben?« Einen Moment blieb es still.

»Ich habe gerade von dir geträumt«, sagte ihre Mutter. »In meinem Traum ging ich in dein Schlafzimmer, es war dein Kinderzimmer, aber du warst schon erwachsen. Du lagst neben dem Bett, von Kopf bis Fuß in ein Laken gewickelt, ganz stramm, wie eine Mumie. Ich ging schnell zu dir, um dir das Laken vom Gesicht zu ziehen, aber es war schon zu spät, deine Lippen und Augenlider waren blau, und deine Haut spannte sich weiß und straff über den Knochen. Obwohl ich es gar nicht wollte, berührte ich dein Gesicht mit der Fingerspitze. Es war hart und kalt wie, was weiß ich, ein Paket Fischstäbchen im Tiefkühlfach. Es war so … so schrecklich … realistisch.«

Erstaunt hatte Minnie dem Bericht ihrer Mutter gelauscht. Sie kannte niemanden, der so nüchtern war wie sie, so unempfänglich für alles, was nicht zur konkretesten, sichtbarsten Wirklichkeit gehörte. Außerdem war ihre Mutter völlig unsentimental. Noch nie hatte Minnie sie ausgelassen lachen oder weinen oder vor Wut schreien sehen; ihre Emotionen wurden in minimalen Dosierungen bemessen, die sie nie überschritt. Das Leben ihrer Mutter, dachte Minnie manchmal, spielte sich entlang den Linien eines Mondrian-Gemäldes ab: horizontal und vertikal und absolut ohne Frivolitäten. Kurz und gut, sie war wohl die Letzte, von der man erwarten würde, dass sie etwas so Geheimnisvollem wie einem Traum Bedeutung beimaß.

»Ich weiß nicht, warum ich dich eigentlich anrufe«, sagte ihre Mutter, die sich nun hörbar wieder fasste. »Jetzt, wo ich es laut ausspreche, klingt es schlichtweg lächerlich und überhaupt nicht realistisch.«

»Na ja«, sagte Minnie. In einem Impuls, vielleicht um ihrer Mutter Unbehagen zu zerstreuen, hatte sie ihr vorgeschlagen, mittags zusammen zu essen, und jetzt saßen sie hier. Eigentlich war es rührend, dachte sie, ein Traum, der unversehens bei ihrer Mutter den Panzer der Rationalität durchbrochen hatte.

Es war der erste Tag im Februar, und sogar für diese Jahreszeit war es extrem kalt. Bei einer Schlittschuhfahrt am Tag zuvor hatte Minnie sich einen gehörigen blauen Fleck an der Hüfte geholt, der alle paar Stunden seine Farbe wechselte und auf den sie zwanghaft drückte, um zu spüren, ob es noch weh tat – was es tat.

»Entschuldige bitte, was ich da am Telefon verzapft habe«, sagte ihre Mutter, noch bevor sie ihren Mantel ausgezogen hatte. Sie klang wieder wie sie selbst, klar und sachlich. »Ich war gerade erst aufgewacht, ich habe nicht nachgedacht.«

Minnie verfolgte die routinierte Art und Weise, wie sie sich ihres Mantels entledigte, den Schal sorgsam in den Ärmel steckte, den Rock glatt strich und sich setzte. Sie war hübsch, auf unauffällige, aber gut konservierte Weise. Ein Profi. Minnie erinnerte sich, wie ihre Mutter früher auf sie gewartet hatte, wenn sie aus der Schule kam, wie anders sie gewesen war als die übrigen Mütter, die einfach in diese Rolle hineingeboren schienen und auf vollkommen natürliche Weise mit dem Schulhof, ihren Kindern, den anderen Müttern verschmolzen. Ihre eigene Mutter schien jedes Mal wieder erstaunt dazustehen, als wäre sie nur kurz um den Block gegangen und versehentlich auf dem Schulhof gelandet.

Schon dreißig Jahre arbeitete sie beim KWF, wo sie sich als rechte Hand jedes Direktors unersetzlich machte, der dort für eine Weile tätig war. Über Krebsbekämpfung sprach sie mit fast so etwas wie Leidenschaft, wenngleich es Minnie nie ganz klar war, ob diese Leidenschaft von der Vorstellung angestachelt wurde, eine Krankheit zu bekämpfen, oder weil es ihrer Mutter regelmäßig gelang, große Geldbeträge für die Stiftung zu beschaffen.

Als sie saß, blickte sie ihre Tochter einen Moment lang forschend an. »Du siehst anders aus. Nicht schlechter, aber anders«, sagte sie. »Hast du zugenommen?«

Minnie begriff, dass sie das als Kompliment auffassen sollte. Von Geburt an war sie zu klein für ihr Alter gewesen, und ein deutlicher Wachstumsschub war nie erfolgt. Als Erwachsene war sie noch immer auf fast kindliche Weise zart, was sie für einen bestimmten Männertyp unendlich anziehend machte. Das und ihr asymmetrisches Gesicht, in dem alles leicht aus dem Lot war. Menschen, Männer, sahen darin gern etwas Wildes und Unzähmbares. Vielleicht war das nicht unrichtig. Vielleicht passte man sein Leben dem Gesicht an, mit dem man geboren wurde.

»Wie läuft's mit dem Krebs?«, fragte sie und drückte fest auf den blauen Fleck. Alles war eine Wiederholung desselben, ewige Fragen, ewige Antworten.

»Nicht so toll«, sagte ihre Mutter. »Immer mehr Menschen werden krank. Sie rauchen zu viel und essen schlechtes Zeug, darauf läuft es hinaus. Inzwischen gibt es eine bahnbrechende Behandlungsmethode nach der anderen, aber tja, wenn die Leute sich erst mal mit all den schlechten Angewohnheiten so ungefähr selbst in den Tod treiben … Manchmal denke ich, es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der Krise und dem Wuchern dieser Krankheit. Eine Gesellschaft, die, wohin man auch schaut, allmählich aufgezehrt ist oder so … na ja. Mein Kollege hat dich neulich in einer Zeitschrift gesehen, ich weiß nicht mehr, in welcher.«

Eine Kellnerin mit einem Apparat nahm ihre Bestellung auf, indem sie wild auf das Display einhämmerte. »Entschuldigung«, murmelte sie, ohne aufzuschauen, und dann noch einmal, schon im Gehen, »Entschuldigung.«

Jetzt würde ihre Mutter fragen, wie es mit ihrer Arbeit lief. Minnie würde etwas Vages zur Antwort geben, ihre Mutter würde abwesend murmeln und dann von etwas anderem anfangen. Danach würden sie ihre Suppe essen und jede auf ihre Weise schweigen.

Als Teenager hatte Minnie sich eine Zeitlang Spekulationen in Bezug auf ihren Vater hingegeben. Minutenlang konnte sie in den Spiegel starren, auf der Suche nach einem Gesicht hinter ihrem Gesicht, einer Erklärung, die sie von ihrer Mutter nicht erhielt und selbst auch nicht einforderte. Diese Phase war vorbeigegangen.

»Bist du noch mit, wie heißt er, diesem Künstler zusammen?«

»Nein, Mama«, sagte Minnie. »Schon seit einem halben Jahr nicht mehr.« Ich habe ihn betrogen, wollte sie hinzufügen, ich habe ihn betrogen, ohne das kleinste bisschen Schuldgefühl, offenbar bin ich jemand, der das sehr gut kann. Sie dachte an den Fotografen. Genauer gesagt, war er ständig als summender Grundton in ihren Gedanken anwesend, das hatte verschiedene Ursachen, die nicht alle von gleich großer Bedeutung waren. Für den Moment galt es, vor allem projektbezogen an ihn zu denken, beschloss sie, sofern das überhaupt möglich war.

Nach ihrer Mutter Liebesleben fragte Minnie nie. Ihres Wissens hatte sie schon zehn Jahre lang keinen Freund mehr gehabt, und sie nahm nicht an, dass sich das ändern würde. Ihre Mutter trug etwas Hartes in sich, wie einen Kieselstein, der in ihren Körper eingenäht war. Vielleicht war er einmal weich gewesen, mit der Zeit jedoch einfach erstarrt. Vielleicht war Liebe etwas, was man irgendwann in eine Schublade stecken konnte, zusammen mit anderen Dingen aus der Vergangenheit, die man nicht mehr brauchte.

»Und deine Arbeit?«, fragte ihre Mutter.

»Nichts Neues«, sagte Minnie. »Eine Phase der Besinnung.«

»Ich habe neulich etwas über eine amerikanische Künstlerin gelesen, die farbige Flüssigkeiten schluckt, um sie danach auf eine Leinwand zu kotzen. Diese Bilder werden für viel Geld verkauft. Ich verstehe nicht, dass man so etwas als Kunst bezeichnet. Dass Leute dafür Tausende von Dollar bezahlen.«

»Nein«, sagte Minnie, »das klingt wirklich nicht nach Kunst.«

Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter nur still genickt hatte, als sie mit achtzehn ankündigte, an die Kunstakademie zu wollen. Auch in den Wochen danach hatte sie nichts dazu gesagt, was Minnie rasend und nur noch entschlossener gemacht hatte. Eines Abends, wenige Tage bevor der Unterricht anfangen und Minnie in ein winziges Dachzimmer in Amsterdam-West ziehen sollte, fand sie ihre Mutter am Küchentisch vor einem Glas Wein. Sie schob einen Umschlag über den Tisch mit fünfhundert Euro, fremde, neue Währung, die aussah wie Spielgeld. »Für dein Material«, hatte sie gesagt, und das war's. In den Jahren danach war sie treu zu allen Vernissagen gekommen, und obwohl Minnie von ihr nie ein Wort über die Kunst selbst vernommen hatte, schien sie auf ihre eigene unergründliche Weise stolz oder doch zumindest nicht allzu ablehnend.

 

Vor dem Lokal verabschiedeten sie sich. Minnie sehnte sich immer nach dem Moment kurz danach, wenn jede von ihnen in anderer Richtung davonging, zurück in ihr eigenes Leben. Gerade als sie sich abwenden wollte, legte ihre Mutter ihr eine Hand auf die Schulter.

»Minnie«, sagte sie, wieder mit diesem forschenden Blick. »Du sollst wissen, dass ich es immer möglichst gut machen wollte, mit dir. Du warst so klein, früher … manchmal hatte ich Angst, die Welt würde dich einfach schlucken und nie mehr zurückgeben. Ich wollte, dass du dafür gewappnet bist. Dieser Traum heute Nacht war natürlich Unsinn, aber … na ja, pass gut auf dich auf.« Sie schien noch etwas sagen zu wollen, besann sich aber.

Schnell gab Minnie ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, die weiche Haut einer Frau, die schon lange nicht mehr jung ist. Während sie von ihr wegging, spürte sie, dass ihre Mutter dort stehen blieb und zusah, wie ihre Tochter die Straße hinunterging, kleiner und kleiner werdend, bis sie um die Ecke bog und aufhörte zu existieren.





ES war ein prekäres Unterfangen, ein Projekt, das auf zahllose Weisen scheitern konnte, und das war wahrscheinlich genau der Grund, weshalb sie es begonnen hatten. Obwohl Minnie ihn im Grunde kaum kannte, hatte sie die starke und obendrein empirisch gestützte Vermutung, dass sie aus demselben Holz geschnitzt waren, sie und der Fotograf.

Ein Jahr zuvor hatte man sie einander bei der Ausstellungseröffnung eines gemeinsamen Bekannten vorgestellt, der seine Bilder in Chemikalienbäder legte und damit einen bedeutenden Preis gewonnen hatte. Seltsame Bilder waren es, mit öligen Flecken, die ihre Form veränderten, wenn man an ihnen vorbeiging. »Ein Horizont, ein Fenster«, sagte ein Galerist mit einem Glas Weißwein in der Hand zu Minnie, »und gleichzeitig der beunruhigende Schein einer Laterne auf das Innere der Seele.«

Sie trafen sich die nächsten Male im Apartment des Fotografen, in dem kein einziges Foto an der Wand hing. Das war eine Eigentümlichkeit nach Minnies Geschmack, genauso wie die Tatsache, dass er siebzehn Jahre älter war als sie, nie verheiratet gewesen war, keine Kinder hatte, kein eigenes Haus, keine Hausratversicherung und nichts Essbares im Kühlschrank.

Ein Mann ohne Schatten.

Die Verabredungen verliefen nach einem mehr oder weniger festen Muster: Minnie rief ihn an, sie kam zur vereinbarten Zeit in sein Apartment, sie hatten Sex, und danach bestellten sie thailändisches Essen oder aßen einen halben Liter Ben & Jerry's Chunky Monkey, je nach Tageszeit und Bedürfnis.

Ihre Gespräche waren an sich nicht signifikant und wenig überraschend, aber sie waren Teil des Rhythmus, und daher bedeuteten sie etwas. Später, als alles vorbei war, kam Minnie nicht um die Erkenntnis herum, dass das Reden im Grunde die physischste Erinnerung war, die sie an die Monate mit dem Fotografen hatte. Als ob dies der eigentliche Grund ihres Zusammenseins gewesen wäre: dahinplätschernde Gespräche, nichts sagen auf eine Weise, die nur unter ganz bestimmten Umständen möglich ist, Worte, die etwas bedeuten, weil sie nichts bedeuten und auf diese Weise, frei von Substanz, in dem Bereich zwischen Brust und Unterleib zurückbleiben, in dem der Körper Berührungen speichert.

Es war eine unausgesprochene Abmachung, dass sie nicht über Nacht blieb. Minnie wusste, auch für den Fotografen galt, dass die Begegnungen Unterbrechungen in ihrem Leben waren und keine Fortsetzungen davon. Stummgeschaltete Werbeblöcke, die die Exzesse der Konsumgesellschaft in einer stillen Karawane vorbeiziehen ließen.

 

Der Fotograf war ein interessanter Bettpartner, der leise knurrte, während er Minnie in den Nacken biss, und in hohe Erregung geriet, wenn sie ihm eine Fingerspitze in den Anus steckte. »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als ein Dobermann zu sein«, seufzte er einmal, während er sich bäuchlings neben sie fallen ließ. »Den ganzen Tag den Schwanz hoch und den Arsch im Wind.« Sie liebte die unfehlbare Intuition, mit der er seinen Körper und ihren einschätzen konnte. Die schamlose Gier, mit der er ihre Achseln küsste, ihren Rücken, die Innenseite ihrer Schenkel. Wie er seine Nase zwischen ihren Schamlippen vergrub und über ihre Poritze leckte, als wäre es ein Umschlag, den er sorgfältig zukleben musste. Manche Männer blieben ganz und gar Mensch, wenn sie vögelten, weil sie es überwiegend mit dem Kopf taten. Dieser Mann fiel nicht in die Kategorie.

»Du hast seltsame und wertvolle tierische Eigenschaften«, sagte sie eines Nachmittags zu ihm, während sie auf dem Bauch lag und er sie nicht gerade sanft, aber auch nicht unbedingt grob von hinten bei den Hüften packte.

»So?«, sagte er und knurrte, worauf er sie ziemlich fest in die Schulter biss.

Sie war sich nur allzu bewusst, wie klischeehaft die Situation war, und es gab Momente, in denen sie sich plötzlich zutiefst für dieses drollige Beißen und Keuchen schämte, die Finger, die Zungen, ganz zu schweigen von den riesigen Eisportionen hinterher. Dennoch hatte sie sich keinen Moment schuldig gefühlt, und zu ihrer Verwunderung war Lügen (Unterlassen, die Wahrheit zu sagen) so einfach, dass sie sich weismachen konnte, es gebe überhaupt nichts, was verschwiegen werden sollte. Es war eine Sucht. Das war eine Schlussfolgerung, die vorläufig keiner Fragezeichen bedurfte.

 

Die ganze Affäre hätte sich wahrscheinlich in Stille weiter vollzogen, um langsam zu erlöschen, wie die meisten Dinge erlöschen, wenn Minnie sich strikt an die eigenen Regeln gehalten hätte. Das Problem bei Regeln ist, dass die Menschen sich gern einreden, sie seien dehnbar. Am meisten gilt dies für selbst auferlegte Regeln, wobei die regulierende Macht sich hoffnungslos mit derjenigen verstrickt, die sie einzuhalten hat. Daraus erwächst nichts Gutes, wenngleich auch das nur eine Frage der Wahrnehmung ist.

 

Minnie brach ihre Regel an einem jener Tage zwischen Hochsommer und Spätsommer, jenem letzten Höhepunkt des Sommers, so gesättigt von Hitze, dass der Kontrast zwischen Schatten und Sonne als Einziges noch von Belang war. Am Abend hatte alles noch heißer geschienen oder vielleicht nicht heißer, sondern drückender, das Dunkel schwerer als das Licht.

Minnie und der Fotograf hatten sich dumm und dösig geschwitzt, quatschige Körper, die die Feuchtigkeit des anderen absorbierten und rotweiß gefleckt zurückblieben, ausgewrungen wie Spüllappen, hingegossen in äußerster Körperlichkeit, so lagen sie da. Vielleicht, dachte Minnie, waren es diese paar Minuten zwischen Sex und Aufstehen, die das Verlangen rechtfertigten, die alles lohnend machten. Diese paar Minuten vollkommener Erschöpfung, in denen der Körper exakt mit der Welt zusammenfällt und man genau weiß, die Schwerkraft ist stark genug, alles an seinem Platz zu halten.

Als sie kurz darauf triefend von einer kalten Dusche zurückkam, fragte er, ob sie über Nacht bliebe, und warf ihr ein hauchdünnes seidenes Schlafhemdchen zu.

»Einfach eine Gabe, Kiddo. Nichts Besonderes.«

Sie wusste, er log. Er hatte die alten Spielregeln gebrochen und machte jetzt den Eröffnungszug eines neuen Spiels. Aber welches?

»Weißt du, warum ich so vernarrt in dich bin?«, sagte er, ohne auf ihre Antwort zu warten. »Dieser Blick, genau dieser Blick. Ich kann beinahe hören, wie sich die Räder in diesem Kopf drehen.«

Warum war sie geblieben? Vielleicht um des Gefühls der glatten Seide zwischen ihren Fingern willen, der unvorstellbaren Leichtigkeit dieses Dings, des kühlen Zyans. Vielleicht um der Wärme willen, die wie ein Deckel auf allem lag und den Sauerstoff aus der Luft sog, wie man den Geschmack aus einem Wassereis saugen kann, um der Zeit willen, die dadurch so träge und lustlos geworden war, dass sogar das Bimmeln der Straßenbahnen draußen nur als schwaches Echo von Ungeduld existierte und längst seine Dringlichkeit verloren hatte. Oder vielleicht einfach um dieses Wortes willen, Gabe, dem immer etwas gegenüberstand, weil alle Wörter eine geheime Agenda kennen und einige noch etwas mehr als andere.

Gewiss, es gibt Momente, in denen Ja zu sagen keine Flucht ist vor dem Neinsagen. In denen es um Mut geht und nicht um Feigheit, um Bestätigung, um Entschlossenheit, ein großes inneres Jasagen, doch dieser gehörte nicht zu jenen seltenen Momenten. Schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass Minnie okay sagte, und okay ist, das weiß jeder, lediglich eine andere Art, nichts zu sagen.

 

Sie hatte sofort gewusst, dass es keine gute Idee war. Das Apartment des Fotografen war nicht zum Schlafen oder zum Frühstücken gedacht oder zu irgendetwas sonst, was mit Wohnen zu tun hat. Das Apartment des Fotografen war ein Ort, den man verließ.

Eine Eigenschaft falscher Entscheidungen besteht darin, dass sie, einmal getroffen, bereits in dem Moment unumkehrbar geworden sind, in dem sie noch umkehrbar sind. Da lag Minnie also, ein Hund in den Tropen, nicht imstande, sich zu rühren. Die Luft drückte sie still und schwer in die Matratze, und die geöffneten Fenster hatten nichts durchzulassen. Ich werde erdrückt, dachte sie. Ich werde erdrückt, und es ist meine eigene Schuld.

Am nächsten Morgen erwachte sie unbegreiflich spät aus einem tiefen Schlaf. Neben ihrem Kissen lag ein Zettel. Bin schnell ins Atelier. Gleich wieder da. Bleib. Rasch hatte sie ihre Kleider zusammengerafft. Das seidene Schlafhemdchen, Lanvin, sah sie auf dem Etikett, stopfte sie in ihre Handtasche. Als sie die Straße überquerte, sah sie sich noch einmal um und dachte: Ich sehe mich noch einmal um. Das Gebäude flimmerte in der Hitze, als gäbe es jetzt preis, dass es die ganze Zeit eine Luftspiegelung gewesen war.

Was wusste sie von dem Fotografen, an jenem letzten, glutheißen Vormittag im August 2011, als sie sich nach dem Hologramm seines Hauses umsah und wusste, sie würde nicht mehr dorthin zurückkehren? So gut wie nichts. Ja, dass er Modereportagen machte. Dass er Gauloises rauchte und dass sie das an ihren allerersten Freund erinnerte, der auch Gauloises rauchte und sie immer Gallewases nannte, »eine Schachtel Gallewases bitte«. Dass er den Mund weit aufriss, wenn er kam, lautlos, ein Schrei in einem Stummfilm. Dass er sie irgendwie hintergangen hatte, wenngleich sie nicht wusste, wie, und dass es ihr nie gelingen würde, ihm genug Widerstand entgegenzusetzen. Dass er ein Mann war, der Lanvin für seine Geliebte kaufte, ach, du lieber Himmel.

Sie stieg auf ihr Fahrrad und fuhr sofort zu ihrem Liebsten, einem ziemlich zerquälten Künstler, der sich schon seit zehn Jahren als Versprechung auf dem Markt zu platzieren versuchte, berichtete von ihrer Affäre, bekam einen Pinsel an den Kopf geschleudert, und das war's. Drei Tage lang kam sie nicht aus dem Bett. Sie hatte etwas verloren, und sie wusste, es war nicht der zerquälte Künstler.





2006, nicht lange nach ihrem Abschluss, hatte Minnie in einem Interview mit einer Wochenzeitung gesagt, sie sei Künstlerin, weil man sie als solche bezeichne. »Künstlerin wider Willen« lautete die Überschrift. Darunter ein grobkörniges Foto, das ihr Gesicht auf eine Schwarzweißskizze reduzierte, ein Kopf wie ein Findlingsblock, grob, stolz und völlig schmucklos. Es kam ihr etwas übertrieben vor, so entschieden hatte sie es nun auch wieder nicht gemeint, doch ihr Agent hatte sie jubelnd angerufen.

»This is it, baby! Das wird dein Durchbruch. Eine Künstlerin, die keine Künstlerin sein will, das ist brillant, verdammt noch mal.«

Sie hatte den Agenten einige Monate zuvor bei der Eröffnung einer Gruppenausstellung mit dem Titel Shared history: decolonising the image im ehemaligen Post-CS-Gebäude an der Oosterdokskade kennengelernt. Der Kurator der Ausstellung hatte ihre Abschlussarbeit Existiert Minnie Panis? gesehen und war der Meinung, sie passe perfekt zum Thema. Minnie fragte sich, was das Thema überhaupt beinhalte, vermutete aber, ihre Arbeit hätte genauso perfekt gepasst, wenn das Thema »Hühner und andere Tiere vom Bauernhof« gelautet hätte. Fünf Minuten vor dem offiziellen Beginn der Ausstellung kam der Agent schnurstracks auf Minnie zu. Er schüttelte ihr die Hand und schaute dann minutenlang auf ihr Werk, nachdenklich, als überlege er sich den nächsten Zug in einer Schachpartie. Er war ein magerer Mann mit feinen, scharfgeschnittenen Gesichtszügen, glänzendem schwarzem Haar und leicht getönter Haut. Eine Mischung von irgendwas, wenngleich Minnie nicht sagen konnte, wovon genau. Das Auffälligste an ihm waren seine Augen, die extrem weit auseinanderstanden, fast schlampig, als seien sie einfach in sein Gesicht geklebt.

»Das hier ist nett«, sagte er. »Aber deine acte de présence taugt nichts. Du stehst hier verdammt noch mal rum, als würdest du dich entschuldigen. Entschuldigst du dich für das, was du machst?«

Er hatte den Blick nicht von ihrer Arbeit gelöst, während er mit ihr sprach. Das war auch nicht nötig, dachte Minnie, sie war sich sicher, dass er mit diesen Augen einen Dreihundertsechzig-Grad-Rundumblick hatte.

»Nein«, antwortete sie, aus der Fassung gebracht, »nicht unbedingt.« Als sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, es stimmte nicht. Eine eigene abgeschlossene Arbeit hatte in ihren Augen immer etwas Lächerliches, als wäre es zu wenig und zu viel zugleich, und sie, die Künstlerin, müsse auf unmögliche Art und Weise gleichzeitig etwas ergänzen und wegnehmen.

»Existiert Minnie Panis?«

»Da bin ich mir noch nicht im Klaren.«

»Genau das meine ich. Hör zu. Du brauchst mich. Das könnte was werden. Die Bildsprache ist interessant, und mir gefällt die Frechheit. Jetzt nimm mal den Kopf hoch und tu so, als hättest du ein, wie war das noch mal, decolonised image gemacht, okay?«

Drei Jahre später waren ihre Werke unter anderem im Museum der bildenden Künste Leipzig, im MACBA in Barcelona, in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel und im Louisiana in Humlebæk, Dänemark, gezeigt worden. Mit ihrer Arbeit Nothing Personal gewann sie den Prix de Rome 2008, worauf sie von einem Korrespondenten der ArtReview zu »one of the most promising Dutch artists of her generation« ausgerufen wurde, was ihr mehr oder weniger direkt ihre erste internationale Einzelausstellung eintrug, bei Arndt & Partner in Berlin. Dort, in Berlin, aß sie an einem regnerischen Tag mit Sophie Calle zu Mittag, die (zufällig, nicht zufällig) die Ausstellung gesehen und Matthias Arndt angerufen hatte, ob die Künstlerin noch irgendwo greifbar sei. Es war Calle, die sie in einem Englisch, das wie Französisch klang, fragte, ob sie sich selbst als Künstlerin betrachte, worauf Minnie geantwortet hatte: je ne sais pas, je ne sais vraiment pas, eine pathetische Antwort, aber das Einzige, was nicht nach einer regelrechten Lüge klang.

 

Die Wahrheit war, dass Minnie nicht so sehr mit ihrer Künstlerschaft zusammenfiel als vielmehr mit ihrer Kunst: mit den Dingen, die sie schuf, den Dingen, die eine Existenz als Kunst erhielten, weil sie sonst kein Existenzrecht gehabt hätten. Die Künstlerschaft war Minnies Pass, ein Ausweis, der ihr einen Platz in der Welt gab, in der alles legitimiert werden musste. Sie war ihr von einem Zeichenlehrer an der höheren Schule verliehen worden, danach folgten die Dozenten an der Kunstakademie, die Sammler, die Journalisten, die Konservatoren, die Galeristen. Sie hatten in Minnie eine Künstlerin gesehen, weil sie ihre eigenen Ausweise besaßen, die sie dazu ermächtigten, sie sogar dazu verpflichteten, die und die zu sein, die Passinhaber von den Akademien, den Instituten, den Stiftungen, den Fonds, den Kunstbeilagen, den Talkshows, den Museen, den Galerien, den Vernissagen, den Zeitschriften, den Unternehmenssammlungen.

Anfangs hatte Minnie dem erstaunt gelauscht, was man über ihr Werk zu sagen hatte (dass man etwas über ihr Werk zu sagen hatte), doch allmählich begriff sie, dass jede Form von Legitimation ihr eigenes Vokabular hatte und dass sich die Sprache des Künstlertums aus Worten wie Identität, Engagement, Vision und Unbehagen zusammensetzte. Ohne diese Wörter würde das Bauwerk einstürzen, der Künstler ein staatenloser Bürger, Illegaler und Idiot.

Auf einer Messe war Minnie einmal zwei Künstlerinnen begegnet, Zwillingsschwestern, beide so mager, dass sie gräulich geworden waren. Die Schwestern machten Videoinstallationen von der Essstörung, an der sie gemeinsam festhielten. Sie waren mit den Installationen weltberühmt und reich geworden, die die Auswüchse des weiblichen Schönheitsideals zeigten, Kritik an der Konsumgesellschaft übten, Fragezeichen hinter sowohl Individualismus als auch Kollektivität setzten etc. In Wirklichkeit, dachte Minnie, ließ sich für manche Verrücktheiten keine andere Bezeichnung finden als Kunst.

Dass sie ihren Künstlerpass erhalten hatte, indem sie ihn verweigerte, mehr noch, dass jede Verweigerung ihrerseits eine neue Bestätigung ihres Status als Künstlerin zu sein schien, war eine Diskrepanz, die sie nach wie vor interessierte. Nicht selten hatte sie beim Anblick ihrer eigenen Werke in einer Galerie oder bei der Entgegennahme eines Preises das Gefühl, sich über sich selbst zu beugen wie ein Leichenbeschauer über seine eigene Leiche: das weiße Rauschen der Ursachen reduziert auf Folgen, die nicht weniger banal waren als ein Knochenbruch hier und ein blauer Fleck da. Kunst als Tod, aber na ja, wer kam denn noch mit so etwas an?