image
Image

Das Geheimnis des schwarzen Diamanten

Die Abenteuer von Kimmi Jambo

©Mary Alff, Lena-Marie Alff

Image

© 2007 Mary M. Alff, Lena-Marie Alff Umschlag, Illustration: Mary Alff Übersetzung: Christina Fritsch

Verlegung Druck: Tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7439-1441-4
Hardcover:978-3-7439-1442-1
e-Book:978-3-7439-1443-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für die Waisenkinder Afrikas

-KAPITEL EINS-

Wie alles begann

In einem Dorf im wunderschönen Kenia erwachte Kimmi Jambo und war mit einem Sprung aus dem Bett. „Feuer! Feuer!“, schrie jemand in die Stille der Morgendämmerung.

Mama! Mamaaa!“, schluchzte Kimmi unter Tränen. Seine Eltern warfen hastig ein paar Dinge in einen Sack. „Sie sind da, und sie werden uns alle töten!“, hörte er seinen Vater mit gedämpfter, ängstlicher Stimme zu seiner Mutter sagen. „Woi! Woi!“, jammerte Kimmis Mutter laut. „Wo ist mein Junge?“, Sie schlang den vierjährigen Kimmi Jambo fest in ihre Arme, und die Familie rannte aus dem brennenden Haus. Gerade noch rechtzeitig, wie sich zeigte, denn in dem Moment brach das Grasdach mit einem riesigen dumpfen Schlag in sich zusammen. Auch aus den Nachbardörfern liefen Familien schreiend in die weiten Kaffee- und Bananenplantagen der Umgebung. Mütter schrieen besorgt nach ihren Kindern. „Sie schießen! Sie schießen! Rennt!“, rief Kimmis Vater den anderen Dorfbewohnern zu. Und auch er rannte um sein Leben, seine Familie immer schützend vor sich her treibend. Kimmi sah Männer und Frauen zu Boden fallen. Er wusste, dass gerade etwas Fürchterliches passierte, aber er war zu klein, um die anschließenden Ereignisse zu verstehen. Nicht einmal als seine Mutter und später auch sein Vater stürzten, und er selbst in dichtes Buschwerk hineinrollte, wusste er, was los war. Jetzt war nur noch eine Stimme zu hören: „Lauft, Kinder, lauft!“ Ein lauter Knall, dann verstummte auch diese Stimme. Ängstlich begann Kimmi Jambo zu laufen. Er rannte weiter und weiter in die Bananenplantagen hinein so schnell seine kleinen nackten Beine nur konnten.

Vier Tage später…

Kimmi fand sich auf einer Autobahn wieder – einem Highway irgendwohin.

Er betrachtete die großen und die kleinen Autos, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorbei rasten. Große Lkws hupten ihn an: „Tuuuuut!“ und kleine: „Biiiiiiiip! Biiiiiiiip!“ Sie erschreckten ihn so, dass er schnell zurück in den Buschwald lief. Er begann zu weinen und schrie nach seiner Mutter. Wo waren seine Eltern? Er hatte Angst und außerdem knurrte sein Magen grimmig vor Hunger. Wieder schrie er laut und durchdringend. Warum war er allein? Plötzlich tauchten ein Junge und ein Mädchen aus dem nahe gelegenen Dickicht auf, über und über mit rotem Staub bedeckt. Es waren Sara und Tony aus dem Nachbardorf, und sie kannten Kimmi Jambo ziemlich gut. Sie hatten oft zusammen gespielt. „Kimmi Jambo!“, rief Sara, froh ihn zu sehen, „Komm her und hör auf zu schreien. Die bösen Männer könnten uns hören und zurückkommen.“ Ihre gedämpfte Stimme klang besorgt. Sara war sechs und Tony war drei. Mit einem ernsten Runzeln zwischen den Augenbrauen sah sie auf die beiden kleinen Jungen, ohne so recht zu wissen, was nun. Es war nur vier Tage her, dass diese schrecklichen Männer in ihre Dörfer eingefallen waren, alles niedergebrannt und dann alle Erwachsenen getötet hatten. Bei der Erinnerung an dieses grauenvolle Geschehen, begann sie zu zittern. Weder Sara noch die beiden anderen wussten, wie viel Glück sie gehabt hatten, lebend davonzukommen. Man muss nämlich wissen, dass es einen machtvollen Fluch gab in Verbindung mit den „Kuzikuzi“, einem rätselhaften Stamm, aus dem niemand wirklich schlau wurde. Für Sara war das allerdings noch ein Geheimnis, schließlich war sie noch ein Kind. Sie zuckte mit den Achseln, jetzt hatte sie an Wichtigeres zu denken: zwei kleine hungrige Jungen. Sie musste etwas zu essen für sie alle finden – und zwar sehr schnell. „Bleibt hier, unter diesem Baum versteckt! Bis ich zurückkomme!“, sagte sie den Jungen eindringlich. Ihre zierlichen, nackten Füße wirbelten roten, heißen Staub auf, als sie los rannte.

Es war nicht schwer, einen kleinen, belebten Markt zu finden - ungefähr acht Meilen von ihrem Versteck entfernt. Die Nachricht von dem Angriff hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und Sara sah, wie die Leute die Köpfe zusammensteckten.

„Sie haben in den Dörfern mit diesen verrückten Kuzikuzitypen jeden getötet, sogar die Kinder sind verschwunden. Zum Glück, muss ich hinzufügen. Ich konnte ihre merkwürdige Sprache nie verstehen“, erzählte eine Frau umringt von aufmerksamen Zuhören. „Man sagt, dass komische Dinge passieren, wenn irgendeiner von ihnen in dieser verdrehten Sprache spricht…“

„Die Regierung bestreitet diesen Überfall natürlich. Niemand hat irgendetwas gesehen, und niemand hat etwas gehört!“, fügte jemand anderes hinzu. „Es ist vier Tage her und nicht einmal der Polizeichef hat die Region besucht. Wer will schon gern als Freund der Kuzikuzi angesehen werden?“,

Sara hörte mit Tränen in den Augen zu. Ihr kleines Herz raste vor Wut. Über den Hass, den sie in diesen Stimmen vernahm, und über die Männer, die in nur wenigen Minuten ihr ganzes Leben zerstört hatten. Sie rückte näher an eine auf dem Boden sitzende, alte Frau heran, die ihre Früchte und ihr Gemüse in Behältnissen verschiedener Größe irgendwie so zurechtrückte, dass Käufer angelockt würden. „Mama!“ Das ist eine respektvolle Art in Kenia, Frauen anzureden, die älter sind als man selbst, „bitte gib mir ein paar Bananen, ich habe seit Tagen nicht gegessen!“, bat sie kläglich. „Was?“, fragte die alte Frau und schaute sie misstrauisch von der Seite an. „Warum hast du nichts gegessen? Wo sind deine Eltern?” Sie sprach mit einer keifenden, ungeduldigen Stimme. Sie hasste es, von ihrem Geschäft abgelenkt zu werden.

„Ich komme aus dem Dorf der Kuz…“, gerade noch rechtzeitig unterbrach sie sich selbst, aber ihr Finger zeigte noch in die gefürchtete Richtung.

„Stopp, Hör auf! Niemand hat den Angriff überlebt!“, herrschte die alte Frau sie zornig an. „Wie kannst du es wagen so zu lügen. Hau ab! Keiner von diesen Zungenverdrehern hat überlebt!“

„Aber Mama, ich wollte doch nur…“

„Kein aber! Ich bin nicht deine Mutter. Hau ab!“

Sara ging zügig weiter. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie musste bald etwas zu essen finden, schließlich hatte sie auch noch einen langen Rückweg zu den Jungen vor sich.

Einige Stunden später… Es war kurz vor sechs, als sich die riesige, rote Sonne verschlafen an den Horizont anlehnte. Sara beobachtete verstohlen, wie die Frauen ihre Waren in Sackleinen einrollten und nach und nach den Markt verließen. Den ganzen Tag hatte sie gebettelt. Und niemand hatte ihr etwas gegeben. Warum hassen die Leute die Kuzikuzi bloß so sehr, dachte sie. In dem Moment sah sie eine Frau ihren Haufen reifer Apfelsinen und Bananen unbeaufsichtigt zurücklassen und in einen nahegelegenen Laden gehen. Offensichtlich wollte sie Lebensmittel einkaufen, um sie mit nach Hause zu nehmen. Sara sah sich um. Sie sah, dass niemand sie beachtete. „Jetzt!“, sagte eine leise Stimme in ihrem Kopf. Und ohne dass sie wusste, was passierte, fixierten ihre Augen eine große Staude reifer Bananen. Die Staude erhob sich in die Luft und bewegte sich auf sie zu, ungefähr in Augenhöhe. Als die Bananen sie erreichten und ihr beinahe an den Kopf flogen, schnappte sie sie mit beiden Händen und flüchtete über den Marktplatz. So schnell ihre dünnen Beine konnten und bevor irgendjemand wagte, sie zu stoppen.

„Hey! Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!“ Es hatte doch jemand den sonderbaren Vorfall bemerkt und schrie plötzlich, so dass alle anderen aufschreckten. Reife Bananen, Mohrrüben, und Kartoffeln bombardierten sie aus jeder Richtung. Sara wünschte nur, sie müsste nicht so eilig verschwinden! Das ganze Essen hätten sie so gut gebrauchen können... Aber egal, sie musste jetzt einfach ganz schnell wegkommen von hier und hoffentlich lebendig. Zwei kleine Jungen verließen sich schließlich auf sie. Und dem Himmel sei Dank – schaffte sie es gerade so vom Marktplatz zu stürmen.

Zwei Stunden später schlangen Kimmi Jambo und Tony fast ohne zu kauen die Bananen hinunter. Am Ende waren sie immer noch erstaunlich hungrig und starrten mit großen Augen auf den Haufen Bananenschalen vor sich. „Wir müssen uns daran gewöhnen, nicht immer genug zu bekommen“, sagte Sara viel zu vernünftig für ihr Alter und dachte mit Bedauern an das, was sie getan hatte. Dass sie Bananen geklaut hatte. Doch sie schüttelte den Gedanken ab und sagte zu den anderen: „Lasst uns jetzt ein bisschen schlafen!“ Sie kuschelten sich zusammen, um genug Wärme zu erzeugen, denn die Temperatur fiel stark ab, wenn die Nacht den Tag ablöste. Es war nicht einfach einzuschlafen, und Sara lag wach mit weit geöffneten Augen. Sie konnte die aufsteigenden Tränen jetzt nicht mehr unterdrücken, und das erste Mal, seit alles passiert war, weinte sie hemmungslos. Ohne darauf zu achten, eine tapfere Miene zu wahren. Es tat so weh, und sie vermisste ihre Mutter und ihren Vater und all die vielen hundert Kinder! Wo waren sie hingebracht worden? Einen Moment lang hatten die Kinder sich ängstlich aneinandergedrängt. Und dann? Dann verschwanden sie im Sonnenaufgang und mit ihnen die seltsam aussehenden Männer! Oder hatte sie das vielleicht alles ganz falsch beobachtet, dachte sie traurig.

„Weinst du, Sara?“,

„Nein“, log sie, „leg dich wieder hin und schlaf, Kimmi Jambo.“

Es war zu kalt zum Schlafen und sein Magen sehnte sich nach heißem Milchbrei. „Was werden wir jetzt tun?“, fragte er.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht sollte ich mir einen Job suchen. Aber zuerst müssen wir einen Platz finden, wo wir bleiben können.“

„Aber wo?“, fragte er. „Uns will doch keiner haben.“

„Ich wünschte, ich wüsste es!“, antworte sie, und bemerkte dass sie selbst Hunger auch hatte.

„Versuchen wir es in der großen Stadt“, meldete sich Tony, der die ganze Zeit vorgegeben hatte zu schlafen. „Meine Tante Muna wohnt dort. Sie arbeitet für einen sehr wichtigen Mann.“

„Wirklich?“, entgegnete Sara und war jetzt richtig begeistert. Sie wollte immer schon mal in die große Stadt.

„Ich war einmal mit meinem Vater in der großen Stadt“, fuhr Tony fort, „und ich habe noch nie in meinem Leben so viel Autos gesehen! Und auf den Straßen schwirrten so viele Menschen umher wie Bienen in einem Bienenstock!“

Sara sah den Dreijährigen plötzlich bewundernd an. Immerhin war er schon in der großen Stadt gewesen und sie nicht.

„Meine Tante wohnt in einem hübschen Apartment in einem Haus mit vielen Stockwerken“, erzählte er stolz weiter. „Ich erinnere mich, wie wir in ihrer großen, warmen Küche saßen, und sie mir einen riesengroßen Becher heiße Schokolade gemacht hat. Und die leckersten Marmeladenpfannkuchen, die ich jemals gegessen habe“, berichtete er schwärmend.

Es war lange still, denn jedes der Kinder war in Gedanken versunken. Sara war sich sicher, dass sie eine Lösung für ihr Problem gefunden hatten. Sie mussten unbedingt in die große Stadt. Logisch, dass Tante Muna‘s Pfannkuchen auch einen gewissen Reiz ausübten. Schon bei dem Gedanken lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

-KAPITEL ZWEI-

Fahrt in die große Stadt

Früh am nächsten Morgen stellten sie sich an die ziemlich staubige Autobahn, die sich bis zum Horizont schlängelte und sahen zu wie Autos, LKW und Busse vorbeirasten. Diese Stelle war jedoch viel zu gefährlich, und Sara begann nach einem besseren Platz Ausschau zu halten. Nicht weit entfernt entdeckte sie eine Gruppe Menschen. Erst langsam wurde ihr klar, dass sie warteten. Auf irgendeine Art von Transportmittel.

„Kommt, beeilt Euch!“, rief sie den Jungen zu, „Ich glaube, die Leute da warten auf einen Bus. Da müssen wir auch hin!“

„Ein Bus? Wohin?“, fragte Tony beim Loslaufen.

„Wir fragen, wenn wir da sind!“, antwortete Sara, die bereits ein Stück voraus gelaufen war. Im Moment war jeder Bus gut genug.

Keuchend und nach Luft schnappend waren sie gerade noch rechtzeitig, um in einen staubigen und verrauchten Bus zu springen, der gleich darauf wieder abhob. Der Mann auf dem Sitz neben dem Eingang, rauchte eine übelriechende Zigarre. Sara war sich sicher, dass sie aus gepressten und getrockneten Bananenblättern gedreht war. Sie hatte ihren Vater schon mal bei besonderen Gelegenheiten so eine drehen sehen. Der strenge Geruch von getrocknetem Fisch und lebenden Tieren hing so schwer im ganzen Bus, dass die wenige Frischluft, die durch das schmale Busfenster hereindrang, kaum Linderung verschaffte.

Sie quetschten sich auf den hintersten Sitz in der Hoffnung, der Schaffner, der schon dabei war, nach Fahrkarten zu fragen, würde irgendwie blind werden und sie nicht sehen. Aber das wäre zu schön gewesen, um wahr zu sein… „Ihr drei da!“ Er streckte seine große, dunkle Handfläche nach Geld aus. Sie sahen auf zu seiner Hand, dann wanderten ihre großen, ängstlichen Augen weiter an ihm hoch. „Wenn ihr kein Geld habt, dann steht gefälligst auf! Lasst die Sitze für die, die zahlen können!“, polterte er. Sara kletterte schnell aus der Ecke gefolgt von Tony und schließlich Kimmi. Nun standen sie im Mittelgang des großen, schaukelnden Busses, froh, dass der Schaffner den Fahrer nicht gestoppt hatte und sie nicht rausgeschmissen hatte. Kimmi schaute gespannt umher. Er war noch nie vorher in einem Bus gewesen! „Ich dachte in einem Bus fahren nur Menschen“, sagte Kimmi aufgeregt zu Tony, „guck mal, all die Hühner und Schweine da drüben!“

„Hmm…“, sagte Tony, „ich glaube, die bringen sie zum Markt in der großen Stadt.“ Kimmi Jambo schaute verblüfft zu, wie der Besitzer der Hühner versuchte, eines wieder einzufangen, das gackernd im ganzen Bus herumflatterte. Es belästigte die anderen Fahrgäste und schubste mit seinem hektischen Geflatter losen Gepäck herunter. Schließlich ließ es einen dampfenden Klecks grünlicher, stinkender Masse auf die Bananenzigarre fallen, die damit ein für allemal ausging. Zur Genugtuung und Erleichterung vieler Mitreisender!

Der Bus brauste davon, manchmal in der Luft fliegend, manchmal über die holperigen Straßen jagend. Die drei Freunde schauten sich hoffnungsvoll an, und eine freundliche Frau auf dem Sitz neben ihnen gab jedem von ihnen eine Scheibe getoastetes Brot aus ihrem prall gefüllten Korb. „Wo wollt ihr hin, Kinder?“, fragte die nette Frau.

„In die große Stadt“, erwiderte Sara stolz.

„Nanu…so weit?“, sagte die Frau.

„Meine Tante Muna wohnt da“, erklärte Tony und kaute schmatzend sein Brot.

„Ah…, ich verstehe, das ist also ein Familienbesuch“, schlussfolgerte die Frau lächelnd.

In dem Augenblick stoppte der Bus mit kreischenden Bremsen.

„Ich steige hier aus…“, sagte die freundliche Frau, während sie sich von ihrem Sitz erhob und sich den Weg in den vorderen Teil des Busses frei kämpfte. Durch die Hühner, Schweine, Ziegen und übervollen Fischkörbe – zum einzigen Ausgang.

„Sind wir bald da, Tony?“, fragte Kimmi vier Stunden später. Er konnte nicht mehr stehen, ihm war schwindelig und allmählich wurde ihm schlecht. Er rieb seine kleine Nase, die vom Sauerstoffmangel schon ganz heiß und rot war. Der Bus, jetzt wieder zurück auf der Straße, schwankte hin und her und bremste abrupt und viel öfter als notwendig.

„Nein, nicht bevor wir große Gebäude und viele Autos sehen“, sagte Tony mit wichtiger Mine, glücklich gefragt zu werden.

„Achtung! Aufpassen!“, unterbrach Sara plötzlich erschrocken. Und da! Eine übergroße Ziege hatte ihren Strick zerrissen und kam direkt auf sie zu geflogen. Sie duckten sich schnell zwischen die Sitzbänke unter die Beine der Leute, als die Ziege an ihnen vorbeisauste und mit ihren gewaltigen Hörnern durch die Heckscheibe krachte. Glasscherben flogen überall umher als endlich frische Luft hereinwirbelte. Die Passagiere kreischten und der Fahrer verlor fast die Kontrolle über den sowieso schon überladenen, fliegenden Bus. Das Tier flog einige sekundenlang durch die Luft und schlug dann auf die Straße, mit einem lauten „Flatsch!“ Blutige Eingeweide quollen hervor. Die Passagiere sahen schockiert wie der Verkehr hinter ihnen verrückt spielte. Autos kamen mit den Hinterrädern hoch in der Luft quietschend zum Stehen, andere fuhren gegen die Bäume am Straßenrand… „Krässssch!“ Ein Laster flog über den breiten Fluss, „Wuuuiiie!“, und krachte wunderlicherweise drüben auf die andere Seite, „Kraaaatsch!“, wo er in tausend Stücke brach.

Der aufgebrachte Besitzer der Ziege, der jetzt auf dem Rücken von irgendjemandem stand und Gift und Galle spuckte, schrie den Fahrer an: „Stopp! Anhalten! Können Sie nicht sehen, dass meine Ziege aus dem Bus gesprungen ist?“

„Nein, ich halte meinen Bus nicht an!“, gab der Busfahrer ärgerlich von vorne zurück. In hastigen, wütenden Kreisen fuchtelte er mit den Händen um das Lenkrad, so dass es fast so aussah als würde er mit diesem kämpfen. Er hasste Verspätungen, insbesondere wenn sie durch diese Leute verursacht waren, die einfach nicht begriffen, dass sie ihre Sachen ordentlich festbinden mussten, und zwar vor der Fahrt. Jetzt musste er sich auch noch Gedanken über eine neue Rückscheibe machen! Blöde Ziege! Er kochte vor Wut.

Heftiger Wind rauschte in den Bus durch das große Loch, dass einmal das Rückfenster gewesen war, und der kleine Kimmi Jambo musste sich fest – zu Tode geängstigt – an den Metallrahmen eines Sitzes klammern, um nicht von seinen tapsigen Füßen gepustet zu werden. Tony quetschte seinen rundlichen Körper unter einen Sitz und schlief auf der Stelle ein. Sara stand da und wehrte sich gegen den Schlaf, der sie zu überwältigen drohte. Plötzlich stoppte der Bus: „Endstation!“, bellte der Schaffner laut.

„Äh? Aber das ist nicht die große Stadt!“, rief eine große, dicke Frau überrascht.

Tony glitt eilig unter dem Sitz hervor, denn ihm wurde plötzlich bewusst, dass etwas nicht stimmte, und Kimmi fing an zu weinen. „Weine nicht“, sagte Sara ängstlich, während sie dem wütenden Streit zuhörte, der zwischen dem Zigarrenraucher und dem Busschaffner entbrannte. „Sie wollen in die große Stadt? Dann warten Sie doch auf den nächsten Bus, der kommt in zwei Stunden“, sagte der Schaffner schließlich und warf dabei seine Hände ungeduldig in die Luft. Alle Passagiere stiegen aus. Stinksauer, dass der Busfahrer sie nicht an ihr eigentliches Reiseziel gebracht hatte. „Das ist Diebstahl am helllichten Tag!“, hörte Kimmi einen Mann aufgebracht schimpfen und dabei eine große, schwarze Faust in der Luft schwingen.

„Was ist Diebstahlamhellichtentag?“, fragte er unschuldig.

„Ich glaube, es bedeutet…äh, der Fahrer und der Schaffner haben die Leute um das betrogen, was sie für ihr Geld erwartet haben. Sie haben sie nicht dahin gefahren, wo sie hinwollten“, antwortete Sara froh, dass sie kein Fahrgeld bezahlt hatten.

Der Bus raste zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren und hinterließ dabei dicke Wolken aus schwarzem, stinkendem, rußigem Qualm. Niemand war sich sicher, ob der andere Bus wirklich zu der Zeit kommen würde, die der unverschämte Schaffner genannt hatte. Die Gruppe wütender Passagiere warteten und ebenso die Kinder, ohne die Hoffnung zu verlieren.

Kurz vor sechs Uhr kam ein anderer Bus angeflogen. Und alle sprangen winkend und rufend auf die Straße, um ihn anzuhalten. Mit quietschenden Bremsen und qualmenden Rädern schaffte es der Busfahrer gerade noch, den bereits vollen Bus zu landen, ohne jemanden zu töten. Alle Sitze waren besetzt und selbst Erwachsene standen im Mittelgang des Busses. So blieb kein Platz für Kimmi Jambo und seine Freunde.

„Leg sie oben auf den Dachgepäckträger und binde sie ordentlich fest! Hier ist genug Platz für jeden, Mann – nicht dass mein Bus in Verruf gerät!“, befahl der Fahrer dem Schaffner. Bevor sie wussten, wie ihnen geschah, fanden sich Kimmi Jambo und seine Freunde gebündelt auf dem Dach des Busses wieder. Mit einem dicken Seil in aller Eile festgeschnürt an Mangokörbe und Holzkohlesäcke. Es schien, als dürfe man keine Zeit verlieren. Kimmi ließ seine Augen umherschweifen. Irgendjemand im Bus schien umzuziehen! Er entdeckte glücklich eine ganze Möbelgarnitur. Sessel, Tische, Betten zu ihrer Verfügung, das war gar nicht schlecht. Und schon war der Bus wieder auf dem Weg. Er sah aus wie ein großes, fliegendes Monster mit mehreren Köpfen.

Als die Dunkelheit hereinbrach und das Land bedeckte, erreichte der Bus die große Stadt, in der immer noch großer Betrieb herrschte. Selbst jetzt noch, wo es schon stockdunkel war. Sara realisierte, dass sie angekommen waren. Die hohen Gebäude, die hellen Lichter und die vielen Menschen, die sich immer noch durch die Straßen schoben, waren ein sicheres Zeichen. „Aufstehen! Steht auf!“, rief sie den Jungen aufgeregt zu. Die beiden waren tief vergraben unter Säcken und Körben und fest eingeschlafen, nachdem sie jeder ein Dutzend Mangos und ein Dutzend reife Bananen gegessen hatten. „Wir sind in der großen Stadt!“

In null Komma nichts hatten alle anderen Passagiere die Bushaltestelle, wer weiß wohin, verlassen. „Nun zeig uns den Weg zu Tante Muna, Tony“, sagte Sara hoffnungsvoll. Tony schaute sich sprachlos um, er wirkte plötzlich überwältigt von den Ausmaßen dieser riesengroßen Stadt. Die Straßen schienen weiter und immer weiter zu gehen! Und die Dunkelheit war bei der Suche auch nicht gerade hilfreich.

„Äh…äh, ich kann nicht so genau sagen, wo es war. Es war nicht so dunkel damals!“, stammelte er den Tränen nahe.

„Oh, okay“, seufzte Sara. Sie war zu müde um ärgerlich zu sein und der kleine Kimmi sah still zu ihr hoch, „dann versuchen wir morgen, deine Tante Muna zu finden.“ Sie gähnte laut. Unter einer überdachten Haltestelle kuschelten sich zusammen und schliefen tief und fest ein. Wie hätten sie ahnen können, dass von diesem Moment an nichts wieder so werden würde, wie es war.

-KAPITEL DREI-

Der seltsame Straßen Junge

Sechs Jahre später…

Nach monatelangem Suchen mal in diesem Mal in jenem Viertel, hatte Tony immer noch nicht sagen können, wo seine Tante Muna wohnte. Die drei Freunde hatten beschlossen, dass es sinnlos war, weiter zu suchen. Schließlich gab es so viel zu lernen in der großen Stadt. Zum Beispiel die Straßen zu überqueren ohne tot gefahren zu werden! Kimmi Jambo war mittlerweile zehn Jahre alt. Er war zu einem schlaksigen, hübschen Jungen herangewachsen; mit großen braunen Augen und strahlend weißen Zähnen in einem Schokoladengesicht. Sein Haar bestand aus tausenden federnden, dunklen Dreadlocks. Er hatte lange Arme, die in große Handflächen und lange Finger übergingen. Seine Füße waren vielleicht das Eigenartigste an ihm; lang und muskulös, so dass er, wenn er ging, nicht anders konnte als auf und ab zu wippen. Auf seinen Lippen war fast unentwegt ein fröhliches Lächeln zu sehen.

Er hatte sich in der Zwischenzeit schon gut an das Leben auf der Straße angepasst. Eine ganze Menge Menschen kannten den gutmütigen Jungen vom Sehen, und die meisten wussten sogar seinen Namen. Allerdings konnte niemand sagen, woher er kam oder wo er wohnte. Das war ein gut gehütetes Geheimnis! Ja, in der Tat ausgesprochen gut gehütet.

Die Stadt war riesengroß. So viele Menschen, die geschäftig hierhin und dorthin liefen. So viele Autos in zahlreichen Farben und Größen, die drohten, einen umzufahren, wenn man nur ein bisschen unaufmerksam war. So viele Häuser – so viele hohe Gebäude, manche grau, manche braun, manche mit grünen Dächern und manche sogar mit roten Dächern. Die unerreichbare Tante Muna könnte in irgendeinem von ihnen leben, daran musste Kimmi immer wieder denken, wenn er seine Augen über die Dachgiebel gleiten ließ. Für ihn war die Stadt ein aufregender Ort und es passierten so viele interessante Dinge in den Straßen. Als er nun seine Lieblingsstraße entlang blickte - die 3rd Long Avenue - sah er Holzschnitzer, die dabei waren alles zu schnitzen, was auf der Erde herumlief; die Maler, die leidenschaftlich ihre Träume auf große, wehende Leinentücher malten; die Blumenverkäufer, die alle erdenklichen Blumen verkauften, einschließlich der beängstigenden „Roten Vampirodessy“, einer riesigen, roten Rose, die jeden Tag einen Tropfen menschliches Blut brauchte, um zu gedeihen. Sein Blick fiel auf das große Schlagloch in der Mitte der Straße, in dem kleine Autos für eine ganze Minute verschwanden, bevor sie auf der anderen Seite schnaufend wieder herauskamen! Kein Wunder also, dass er das Gemisch der Farben und Geräusche liebte. Und die Staubwirbel, die, wie es schien, von jedem kleinsten Windstoß aufgeweht wurden. Wenn jemand es wagte, ihn zu fragen, wie lange er schon auf der Straße lebte, antwortete er: „So lange ich mich erinnern kann.“ Er konnte sich nämlich nicht an den Überfall bei den Kuzikuzi erinnern, denn er war zu klein gewesen, als das alles passiert war.

„Hallo, da bist du ja, Kimmi Jambo“, rief Mr. Paresh, der indische Juwelier, der Kimmi immer auf sein Auto aufpassen und wenn nötig mit Seifenwasser abwaschen ließ, während er geschäftlich in der First National Bank in der Nähe zu tun hatte. Es war in den letzten Monaten wirklich gefährlich geworden auf den Straßen durch die vielen Obdachlosen und noch mehr Armen. Autos wurden geknackt. Sogar am helllichten Tag, um Stereoanlagen zu klauen oder auch alles andere, was so aussah als könnte man es für ein paar Kenianische Schillinge verkaufen. Es war wichtig, ständig jemanden in der Nähe des Autos zu haben. Und so saß Kimmi Jambo jetzt neben dem Auto von Mr. Paresh und sah die belebte Straße hinunter. Jetzt Ende des Monats war jeder, der einen Lohn oder ein Gehalt in Nairobi erhielt, unterwegs, um etwas davon auszugeben. Oder vielleicht auch alles. Die Menschen drängten sich mit prall gefüllten Einkaufstüten beladen durch die Geschäfte und Supermärkte. Die Schuhputzer saßen an jeder Ecke in jeder Straße und riefen den Passanten ihr Sprüchlein zu: „Jambo Bwana, Jambo Bibi! Hallo Sir, hallo Madam, ich bringe Ihre Schuhe auf Hochglanz! Ich bringe Ihre Schuhe auf Hochglanz!“ Die Zeitungs- und Zeitschriftenverkäufer breiteten ihre Ware auf großen Teilen des Bürgersteiges aus, so dass es unmöglich war, vorbei zu kommen, ohne tatsächlich auf eine der Zeitschriften oder Zeitungen zu treten. Und danach musste man sie dann natürlich kaufen! Geschäft war Geschäft!

Obednego war zu hören, der glühende Straßenprediger, der auch als der Täufer bekannt war, denn er taufte Leute während der Regenzeit im großen Schlagloch. Von irgendwo drei Straßen weiter hörte man ihn mit seiner durchdringenden Stimme rufen: „Ihr hoffnungsloser Haufen…wisst Ihr denn nicht…GOTT liebt die Welt so sehr…dass ER seinen eigenen, leiblichen SOHN sandte…, so dass wer auch immer…“, Kimmi Jambo grinste, Nairobi war lebendig und mitreißend.

Die Minibusse, das öffentliche Transportsystem der Stadt, füllten die Straßen. Man konnte keinen Schritt in welche Richtung auch immer machen, ohne einem von ihnen zu begegnen. Kimmi Jambo liebte es, den Fahrern zuzusehen, wie sie sich gegenseitig Konkurrenz machten. Ein ziemlich gefährliches Spiel, herauszufinden, wer die meisten Mitfahrer aufgabeln konnte und die meisten Fahrten egal wohin machte. Und dazu noch die lauteste oder neueste Hip Hop Musik spielte. In dieser Zeit war es besser, nicht so nah an die Fahrbahn heran zu gehen, sonst konnte es passieren, dass man sich selbst in einen dieser Minibusse hineingestopft wiederfand und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit davonfuhr, ohne zu wissen, wohin. Ganz zu schweigen von geplatzten Trommelfellen und hämmernden Kopfschmerzen, die man unweigerlich davontrug. Kimmi grinste belustigt als er Gozidani, den blinden Bettler, bei seiner routinierten Arbeit sah. Er schrieb seinen ganzen Namen „Wazizi Gozidani Mushambazi“ auf ein einziges Reiskorn und verkaufte es an einen Passanten, der dem blinden Mann sprachlos zugesehen hatte.

Obednego, der Täufer, der ziemlich verhasste Straßenprediger, fuhr fort wie gewohnt Feuer und Asche herauf zu beschwören: „Lasst ab von eurer Torheit, ihr Hexen und Zauberer! Wie lange wollt ihr noch weiter eure Feinde in Frösche verwandeln!“ Es war nicht weiter verwunderlich, dass alle Leute, die an ihm vorbeigingen, ihn ignorierten oder jedenfalls so taten als ob. Magie war die afrikanische Art zu leben. Irgendjemand sollte Obednego das irgendwann einmal sagen! Obednego hingegen sah das anders. Er dachte, etwas von Gott zu erfahren, könnte ein Weg für jeden sein, ob Afrikaner oder nicht. Es war allgemein bekannt, dass die großen Zauberer des Landes sich gelegentlich zusammengesetzt hatten und schon öfter versucht hatten, den Täufer in einen exotischen Schmetterling zu verwandeln. Um ihn ein für allemal ins Nationalmuseum von Nairobi verschwinden zu lassen. Es hatte nie geklappt! Irgendetwas Unheimliches, etwas äußerst Machtvolles, etwas Übernatürliches war an ihm. Das verunsicherte die Zauberer, bereitete ihnen schlaflose Nächte, und sie baten berühmte Zauberer in Europa und Amerika um kraftvollere Zaubersprüche. Im Moment jedoch rief Obednego ungestört weiter seine Botschaft aus und fuchtelte dabei wild umher, als hätte er einen frechen Floh in seiner alten, sackartigen Robe.

Mr. Paresh war bald zurück. „Und wie läuft das Geschäft, Kimmi Jambo?“, fragte er.

„Nicht so gut, Sir. Das ist das einzige Auto, auf das ich in dieser Woche aufgepasst habe“, sagte Kimmi. „Der Wirtschaft muss es wirklich schlecht gehen!“, fügte er hinzu und brachte den Inder zum Lachen. „Hier hast du 50 Schillinge für einen guten Job“, sagte Mr. Paresh. „Wir sehen uns nächste Woche, junger Mann.“ Noch während er das sagte, stieg der Inder in seinen dicken Mercedes Benz, brauste davon und verschwand in der Menschenmasse und dem Lärm der 3rd Long Avenue.

„Auf Wiedersehen und danke, Sir!“, gab Kimmi zurück und rieb den groben Geldschein zwischen seinen Fingern. Er genoss das Gefühl von schwer verdientem Bargeld und war froh, dass Mr. Paresh so ein zuverlässiger Kunde war. Dann machte sich Kimmi Jambo auf den Weg zur nächsten Bäckerei, um sich einen dicken, süßen, heißen Donut zu kaufen. Am liebsten einen, der vor Schokolade triefte. Sein Magen grummelte als warte er schon sehnsüchtig, diesen Leckerbissen zu verdauen. Danach wollte er noch zur Müllgrube hinter den Büros der Generaldruckerei gehen und nachsehen, ob er mehr interessante Zeitungsausschnitte finden konnte. Kimmi Jambo konnte nicht lesen. Es verwunderte ihn immer wieder aufs Neue, wie Leute überhaupt lesen konnten. Ihm war das wirklich ein großes Rätsel. Aber er liebte es, sich die Bilder anzusehen, und wenn er meinte, etwas genauer verstehen zu müssen, fragte er einfach Gozidani, ob er es ihm erklären konnte. Gozidani war der intelligenteste Mensch, den Kimmi kannte. Er redete von Amerika, Europa und Südafrika, als wären es kleine Hügel hinter seinem Heimatdorf. Er las jede Zeitung. Und zwar einfach so mit leeren Augenhöhlen! Von manchen Dingen wusste er sogar schon, bevor sie passiert waren! Kimmi war glücklich einen so faszinierenden Freund zu haben, und sogar einen mit solch einer…äh…seherischen Begabung.

„Hey, du da!“, fuhr plötzlich eine harte, kalte Stimme mitten in Kimmis angenehmen Gedankenfluss auf dem Weg zur Bäckerei. Kimmi schaute sich über die Schulter, sein Gesicht verdunkelte sich und das Herz rutschte ihm in die Hose. Da stand Zaku mit den drei Zehen! Zaku war der älteste Straßenjunge, und er war nie in seinem ganzen 17jährigen Straßenleben einer ehrlichen Arbeit nachgegangen. Er lungerte herum und pirschte sich an jüngere und schwächere Straßenkinder heran, um ihnen gewaltsam das abzunehmen, was sie sich mühevoll auf den extrem harten Straßen von Nairobi verdient hatten. Unter den Leuten, die auf der Straße lebten, wurde gemunkelt, dass er auch mit gefährlichen Schlägertypen zu tun hatte. Solchen, die mit Drogen handelten, und dass die Polizei nach ihm suchte. Jeder hatte Angst vor Zaku mit den drei Zehen! Er war ein ausgesprochen schlechtes Vorbild und allen Kindern wurde geraten, sich vor ihm in Acht zu nehmen!

Seine roten Augen fixierten Kimmi ohne zu blinzeln und er stieß ein Knurren hervor. Dabei zeigte er einen Unterkiefer voller brauner, fauliger Zähne und einen Oberkiefer, in dem alle vorderen fehlten. Sehr wahrscheinlich bei einem Kampf ausgeschlagen. Seine Haare, ungefähr zehn Zentimeter lang, standen von seinem Kopf ab, als hätte er kurz bevor er herkam auf dem elektrischen Stuhl gesessen. „Gib die 50 Schillinge her! Oder dachtest du etwa, die könntest du selbst behalten?“, knurrte er boshaft und holte schon mit seiner großen Faust aus.

„Keine Panic, Man-Zaku! Hakuna matata, kein Problem, du kannst alles haben“, antwortete Kimmi Jambo ruhig und passte auf, dass er seinen Feind auch mit seinem Straßentitel anredete. Gleichzeitig händigte er seinem Angreifer den 50-Schillig-Schein aus. Zaku schnappte das Geld und sah zu, dass er wegkam. In seiner komischen Art zu gehen, denn an beiden Füßen hatte er nur drei Zehen.

Siehst du, genauso hatte Kimmi Jambo die verhängnisvollen Angriffe von Zaku all die Jahre vermieden indem er ihm jedes Mal das Geld gegeben hatte. Allerdings passierte etwas sehr Rätselhaftes: Wenn Zaku das Geld erst einmal behaglich in seine hintere Hosentasche gesteckt hatte, löste es sich in Luft auf! Natürlich würde der fiese Zaku denken, er hätte es verloren, denn all seine Shorts hatten Löcher in unterschiedlichen Größen. Kimmi beschloss, dass er sich seine Pläne von Zaku nicht verderben lassen würde und setzte seinen Weg zur Bäckerei fort, um zu seinem wohlverdienten Donut zu kommen. Er hatte sich so darauf gefreut, einen Donut zu essen, und sein Magen knurrte, als würde er ihm zustimmen. Während der ganzen Zeit rieb er den 50-Schilling-Schein zwischen seinen Fingern. Er hatte nie wirklich seine Hand verlassen! Bei dem Gedanken an Zakus Schock, wenn er bemerkte, dass das Geld schon wieder verschwunden war, kicherte er schadenfroh in sich hinein. Irgendetwas Besonderes war an Kimmi Jambo. Er wusste auch nicht, wie er es machte, ihn selbst überraschte es auch jedes Mal aufs Neue.

„Hallo Mister, kann ich so einen Großen mit Schokolade haben?“, sagte Kimmi zum Bäcker und zeigte durch die Glasscheibe.

„Na klar, Kimmi Jambo. Das Geschäft scheint ja für dich heute gut gelaufen zu sein?“, schmunzelte der Bäcker und seine übergroße Bäckermütze rutschte beinahe über sein linkes Auge.

„Nur einer von meinen Stammkunden“, gab Kimmi wichtig zurück. Die Spucke lief ihm aus den Mundwinkeln. Sogar in seinen Zähnen war das Verlangen zu spüren, als der Bäcker ihm den riesigen Donut reichte. Er triefte vor heißer Schokolade, genauso wie sein junger Kunde es mochte. Tränen traten in seine Augen, als er in das süße Teilchen biss.

„Hier, junger Mann“, der Bäcker reichte ihm eine große braune Tüte gefüllt mit anderen leckeren Süßigkeiten. „Geht aufs Haus!“, sagte er mit einem Lächeln. Er liebte es, wenn Menschen seine Backwaren liebten. Kimmi verließ glücklich die Bäckerladen und hoffte, er würde Zaku nicht wieder treffen. Er war sich nämlich nicht sicher, ob er ihn genauso wirkungsvoll täuschen konnte, wenn es um Donuts ging. Das war noch nie vorher vorgekommen, und schließlich brauchte man für alles ein bisschen Erfahrung. „Oh!“, rief er plötzlich aus, das hätte er fast vergessen! Sara, Tony und Nadii würden schon darauf warten, dass er zur Nacht in ihr Haus und Versteck kommen würde. Besser ich beeile mich, dachte er. Du musst wissen, sie waren die einzige Familie, die er hatte. Naja, und nicht zu vergessen natürlich Mino die orange Katze mit den gelben Augen.

Schnell er ging auf die Gebäude der Generaldruckerei zu. Es war Viertel vor sechs am Abend, und es herrschte die normale Hektik der Menschen, die sich beeilten nach Hause zu kommen. Und natürlich gab es den vierstündigen „Nichts-geht-mehr“ Stau, der jeden Tag zu genau der gleichen Zeit auftrat, und selbst der Verkehrspolizei ein Rätsel war.

Kimmi beobachtete amüsiert wie einer dieser Polizisten unter einer Palme saß und sich einen gekühlten Longdrink aus einer riesigen Kokosnuss schmecken ließ. Während er darauf wartete, dass die vier Stunden vorbei krochen. Er ignorierte erfolgreich die wütenden Ausrufe und Flüche der Autofahrer, die im Stau feststeckten.

„Oh nein!“ Kimmi Jambo erstarrte plötzlich. Jetzt war ein rasant schneller Rückzug angesagt, und er sprang in die nächste und größte Mülltonne. Samt Donuts und allem, so dass die Tonne unter seinem Gewicht gefährlich zur einen und zur anderen Seite ins Schwanken geriet. Er hoffte, sie möge halten und nicht umfallen. Wenn sie ihn genau vor Simpson, dem „Russen“, auskippte, wäre das die Katastrophe des Jahres! Normalerweise war es nämlich so, dass der Polizist Simpson seine Abendrunde frühestens in einer Stunde entlang dieser Seite der Straße machte. Aber heute war er irgendwie früh dran.

Simpson marschierte an der schwankenden Tonne vorbei und schaute stur geradeaus, die Brust aufgebläht. Und seine Orden stießen die jedes Mal aneinander, wenn seine Stiefel auf den Boden traten, „Wupp! Wupp! Wupp!“ Seine gestreckten Beine fielen bei jedem Schritt aus einem Meter Höhe herab, daher hatte er seinen Spitznamen: „der Russe“. Er war der am meisten gefürchtete Gesetzeshüter, und es war allgemein bekannt, dass er Kinder hasste. Jedes Mal wenn ihm eines der Straßenkinder über den Weg lief, nahm er sich die Zeit, sich ein bisschen zu vergnügen. Kimmi Jambo würde nie den verhängnisvollen Nachmittag vergessen. Vor vier Jahren als er Simpson das erste Mal traf. Es hatte seit Tagen ununterbrochen geregnet. Dann stoppten die heftigen Regenfälle abrupt, und die Sonne erschien hoch am Himmel wie ein tanzender Feuerball und erfüllte die Stadt mit Licht und Wärme. Kimmi, gerade mal sechs zu der Zeit, schlich sich aus dem geheimen Unterschlupf, den er mit Sara, Nadii und Tony teilte, während die anderen schliefen. Barfuss in einem zu kleinen, durchlöcherten T-Shirt lief Kimmi Jambo die Straße entlang und freute sich über die Sonne. Die Schmetterlinge, Vögel und alle Mücken waren ebenfalls wieder draußen. Sie flogen übermütig umher und alle waren glücklich endlich wieder einen heißen Tag zu erleben. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Kimmi Jambo froh und aufgeregt ein bisschen zu weit wanderte…

„Halt! Wer geht da!“, hörte Kimmi eine laute, strenge Stimme. Er schaute sich um und sah Simpson in großen Schritten über die Straße auf ihn zu marschieren. Er hatte ihn erreicht, bevor sein Verstand ihm sagen konnte, „Lauf!“, und er seine dünnen Beine in Bewegung setzen konnte.

Der hünenhafte Polizist erwischte Kimmis Fuß und hob ihn zwei ganze Meter hoch über den Boden. Kimmi fühlte wie das Blut in seinen Kopf schoss, das machte ihn schwindelig und Schnodder tropfte aus seiner Nase in langen, schleimigen Fäden. Seine Augen fielen fast heraus. Er war panisch vor Angst! „Lass mich runter! Lass mich runter!“, kreischte er und sein Herz jagte, fast sprengte es seine Brust. „Wer bist du denn?“, fragte Simpson bedrohlich und ließ ihn näher an seine blutunterlaufenen Augen heran schwingen. Seine Augen bewegten sich hin und her bei dem Versuch mit dem Pendel mit zu kommen, dass Kimmi war.

„Äh…äh…Kimmi Jambo.“

„Wer hast du gesagt?“, knurrte er mit feuchter Aussprache.

„Äh…Kim…Kim…“, stammelte er, hielt inne. Und dann passierte es. Er pinkelte los. Über Simpsons Gesicht, die glänzenden Orden und alles. Er zappelte wie wild geworden, um sich zu befreien und schrie: “Lass’ mich runter! Lass’ mich runter!“ Damit erregte er die Aufmerksamkeit einer Menge untätig herumstehender Zuschauer zu Simpsons großer Verärgerung. Die Situation verwirrte sich zusehends, als es urplötzlich aus heiterem, blauem Himmel blitzte und donnerte. Dann begann die Stelle auf dem Simpson stand, unkontrollierbar zu beben, so dass er den Halt verlor und heftig ins Taumeln geriet.

„Uuurg! Kleiner Satansbraten!“, fluchte Simpson und ließ dabei den Fuß los. Und Kimmi fiel in die eklige Matschpfütze zu Simpsons Füßen. Er wäre ertrunken, wäre er nicht sofort abgehauen und vor dem ärgerlichen, bepinkelten Polizisten geflohen…

Heute allerdings hatte Simpson, der Russe, kein Glück. Kimmi Jambo war jetzt älter und schlauer als je zuvor. Der riesengroße Polizist starrte zum Himmel, kratzte seine schwitzenden Augenbrauen und marschierte schließlich davon.