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Der Bergpfarrer
– Jubiläumsbox 3 –

E-Book 11-16

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-786-8

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Der Reiterhof – ein Abenteuer?

Sandra geht aufs Ganze

Roman von Toni Waidacher

Das schrille Klingeln an der Haustür riß Sandra Haller aus ihren schönsten Träumen. Unwillig richtete sie sich auf und warf einen Blick auf den Wecker neben ihrem Bett. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel und lief hinaus auf den Flur, weil es schon wieder klingelte. Diesmal noch länger.

»Ruhe!« tönte es aus Ninas Zimmer. »Heute ist Samstag, und ich will endlich mal ausschlafen.«

Sandra konnte die Freundin gut verstehen. Es war gestern abend ziemlich spät geworden. Auf ihrem Weg zur Tür kam die junge Studentin an der Küche vorbei. Darin stapelte sich der Abwasch – der traurige Rest der gestrigen Fete.

»Ich komm’ ja schon«, rief sie, als es zum drittenmal laut schrillte und öffnete die Haustür.

Draußen stand der Briefträger.

»Einen wunderschönen guten Morgen«, wünschte er. »Ich habe hier ein Einschreiben für Frau Sandra Haller.«

Dabei hielt er den Brief in die Höhe.

Das junge Madel gähnte verstohlen.

»Das bin ich«, nickte sie.

»Bitte, hier unterschreiben.«

Der Mann hielt ihr einen Zettel hin, und seinen Kugelschreiber.

Immer noch halb verschlafen unterschrieb die Studentin und nahm den Umschlag in Empfang. Sie steckte ihn achtlos in die Tasche ihres Morgenmantels.

Der Briefträber wünschte noch einen guten Tag und ging die Treppe hinunter. Sandra hörte hinter sich eine Tür klappen. Nina Kreuzer kam aus ihrem Zimmer.

»Was ist denn los?« fragte die schwarzhaarige Mitbewohnerin. »Solch ein Höllenlärm am frühen Morgen!«

Sandra unterdrückte ein erneutes Gähnen und winkte ab.

»War bloß der Postbote«, sagte sie. »Einschreiben. Ich geh’ erstmal unter die Dusche, und dann wird aufgeräumt.«

Nina warf einen Blick in die Küche und verdrehte die Augen.

»Na, ich koch’ erst ’mal Kaffee«, meinte sie und nickte dann auf die Tür neben ihrem Zimmer. »Die Kleine hat offenbar nichts gehört, was?«

Sie meinte Anja Burger, die dritte Mieterin ihrer Wohnung in der Nürnberger Altstadt. Vor einem Jahr hatten sie sich kennengelernt. Es war kurz vor Semesterbeginn, und die jungen Studentinnen waren auf Zimmersuche gewesen. Die kleineren Wohnungen und günstigen Zimmer waren alle schon vergeben, und so hatten sie sich zu dritt hier eingemietet. Und es hatte auf Anhieb mit ihnen geklappt. Die jungen Frauen verstanden sich prächtig. Nicht nur, daß sie sich gegenseitig beim Lernen halfen, sie gingen auch sonst durch dick und dünn.

Als Sandra wieder aus der Dusche kam, duftete es schon verlockend nach frisch gekochtem Kaffee.

»Ich gehe Brötchen holen«, rief sie Nina zu, die eben ins Bad huschte.

»Und ich werde gleich Anja aus den Federn schmeißen«, gab diese zurück.

Sandra schmunzelte.

»Aber sanft!« mahnte sie und schnappte sich den Einkaufskorb.

Fröhlich summend lief sie die Treppe hinunter und trat auf die Straße. Es war zwar erst kurz vor acht, aber trotz der frühen Stunde waren schon zahlreiche Leute unterwegs. Kein Wunder bei dem Wetter! Jetzt, Ende März, konnte man schon den nahenden Frühling erahnen. Die Sonne schien am wolkenlosen Himmel, und der Wetterbericht versprach ein warmes Wochenende mit frühlingshaften Temperaturen. Sandra war sicher, die beiden Freundinnen, nach einem ausgiebigen Frühstück – und dem dringend notwendigen Abwasch – zu einem Einkaufsbummel überreden zu können. Samstag war auch gleichzeitig Markttag, und auf dem Wochenmarkt vor dem Rathaus würden bestimmt schon die ersten, jungen Frühlingsgemüse angeboten werden.

Der Bäcker war gleich um die Ecke, und die Studentin kam schon nach wenigen Minuten wieder zu Hause an. Inzwischen war auch Anja aufgestanden. Die Wohnung besaß einen Balkon, zwar nicht groß, aber ausreichend für drei Personen. Nina und Anja hatten, angesichts des schönen Wetters, hier gedeckt. Nun saßen die drei Mädel gemütlich in der Sonne und ließen es sich schmecken.

Sandras Vorschlag zu einem Stadtbummel wurde einstimmig angenommen, und mit Feuereifer machten sie sich daran, die Küche wieder auf Vordermann zu bringen. Eine Stunde später waren sie fertig und liefen die Treppe hinunter.

»Sagt mal, was war denn das für ein Lärm heute morgen?« wollte Anja wissen, als sie aus der Haustür traten.

»Hast du es doch gehört?« meinte Nina. »Wir dachten, du würdest noch schlafen.«

»Bei dem Krach? Was war denn los?«

»Der Brief!« entfuhr es Sandra.

Anja sah die beiden entgeistert an.

»Welcher Brief?«

Sie wurde ungeduldig.

»Der Postbote hat ein Einschreiben gebracht«, antwortete Nina. »Für Sandra.«

»Und was steht drin?«

Das Madel zuckte die Schultern.

»Ich weiß es net«, sagte sie.

»Wie, du hast es noch gar nicht gelesen?« fragten die Freundinnen, wie aus einem Mund.

»Zu blöd«, murmelte Sandra. »Ich hab’s einfach vergessen.«

Sie drehte sich um und ging ins Haus zurück. Der Brief steckte natürlich immer noch in der Tasche des Morgenmantels. Das Madel nahm den Umschlag und las den Absender darauf.

Es war der Name eines Rechtsanwalt!

Du liebe Güte, was habe ich denn mit einem Rechtsanwalt zu tun? durchfuhr es die Einundzwanzigjährige.

Aufgeregt öffnete sie das Kuvert und zog das Schreiben heraus. Sie überflog es, stutzte und las noch einmal.

»Das gibt’s doch gar net!« entfuhr es ihr.

Sie zwang sich, das Schreiben erneut zu lesen, diesmal langsam und Zeile für Zeile, doch immer noch konnte sie es nicht fassen, was sie da las – sie wurde gebeten, sich in einer Erbschaftsangelegenheit in der Anwaltskanzlei zu melden…

*

Montagmorgen. Sandra hatte das ganze Wochenende überlegt, wer sie wohl in seinem Testament bedacht haben könnte. Aber so sehr sie sich auch den Kopf zerbrach, es wollte ihr niemand einfallen. Ihre Eltern lebten nicht mehr, und außer ein paar Verwandten, von denen sie in all den Jahren nichts mehr gehört hatte, gab es keine näheren Angehörige, von denen sie etwas wußte.

Jetzt war sie auf dem Weg in die Anwaltskanzlei, um die Angelegenheit zu klären. Möglicherweise war es ja auch ein Namensverwechslung, und der Brief war gar nicht für sie bestimmt gewesen.

Das Büro befand sich in der Bäckerstraße, in der Nähe des Markplatzes. Sandra wurde von einer freundlichen Sekretärin empfangen.

»Dr. Weber wird gleich Zeit für Sie haben«, sagte die Frau und führte die Besucherin in einen Raum, der mit Schreibtisch, Sitzecke und einer Unmenge von Aktenordnern ausgestattet war.

Die Studentin setzte sich in einen der Sessel und wartete ab. Schon nach wenigen Minuten erschien der Rechtsanwalt und Notar, ein älterer, sehr ergrauter Herr.

»Frau Haller, nicht wahr?« begrüßte er sie. »Ich bin Dr. Weber. Schön, daß Sie so rasch herkommen konnten.«

Er setzte sich zu ihr.

»Worum geht es eigentlich?« erkundigte sich Sandra. »In dem Scheiben steht etwas von irgendeiner Erbschaftsangelegenheit, ich weiß gar nicht…«

»Warten Sie«, sagte der Anwalt. »Ich habe den Vorgang hier auf meinem Tisch liegen.«

Er holte einen Ordner und schlug ihn auf.

»Sagt Ihnen der Name Waltraud Brunnengräber etwas?« fragte er, während er sich wieder setzte.

»Brunnengräber?«

Sandra dachte angestrengt nach. Ja, da war etwas, ganz tief unten in ihrem Gedächtnis verborgen. Tante Waltraud, die irgendwo einen Bauernhof besaß. Aber war die net schon ganz lange tot…?

»Nun ja«, meinte der Anwalt. »Ihre Tante ist vor etwa einem halben Jahr gestorben, und da sie keine Nachkommen hatte, hat sie Sie in ihr Testament als Erbin eingesetzt.«

Sandra schluckte unwillkürlich. Ich habe wirklich geerbt? dachte sie und konnte es noch immer nicht fassen.

»Ihre Frau Tante hinterläßt Ihnen den Hof, mit allem lebenden und toten Inventar, sowie mehrere Morgen Land. Das ganze Anwesen befindet sich in der Nähe von St. Johann.«

St. Johann – langsam dämmerte es ihr. Sandra erinnerte sich, als kleines Kind öfter mal auf dem Hof gewesen zu sein. Aber das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Waren da nicht auch Pferde gewesen?

»Ponys«, erklärte Dr. Weber. »Das Anwesen ist ein Ponyhof. Die Tiere werden dort gezüchtet, und soviel ich den Unterlagen entnehmen kann, ist das ganze auch so eine Art Ferienpension.«

Der Anwalt beugte sich vor und musterte das junge Madel eindringlich.

»Meine liebe Frau Haller«, sagte er. »Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß es mit dem Hof nicht zum besten steht. Es gibt erhebliche Lasten, finanzieller Art, und ich weiß nicht, ob Sie nicht besser beraten sind, wenn Sie sich dazu entschließen könnten, den Hof zu verkaufen.«

Er lächelte und hob dabei die Hände.

»Sie sind jung, Sie studieren, nicht wahr. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ihr ganzes Leben auf einem Bauernhof in den bayerischen Alpen verbringen wollen.«

Sandra war völlig ratlos. Sie wußte beim besten Willen nicht, wie sie sich entscheiden sollte.

»Natürlich müssen Sie die Erbschaft erst einmal annehmen, bevor Sie sich zu diesem Schritt entscheiden. Selbstverständlich können Sie diese allerdings auch ausschlagen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.«

*

»Grüß’ dich, Resi«, grüßte Sebastian Trenker die alte Magd vom Ponyhof. »Ich wollt’ mich mal wieder erkundigen, wie’s euch so geht.«

Seit dem Tod der Besitzerin war das Anwesen verwaist. Der Nachlaßverwalter war immer noch bemüht, die Anschrift der Nichte herauszufinden, die Waltraud Brunnengräber als Alleinerbin in ihr Testament eingesetzt hatte.

Resi Angermeier, die seit mehr als vierzig Jahren auf dem Hof war, freute sich, den Geistlichen zu sehen.

»Das ist aber schön, Hochwürden, daß Sie sich nach uns erkundigen.«

Sie schaute über den Hof, auf die Weiden dahinter. Es sah alles ein wenig heruntergekommen aus.

»Der Hubert wird wohl draußen bei den Ponys sein«, sagte sie.

»Wie viele Tiere sind’s denn eigentlich?«

»Zwölf«, antwortete die Magd. »Aber wenn net bald die Erbin auftaucht, dann seh’ ich schwarz für den Hof und die Tiere.«

»Hat sich der Nachlaßverwalter denn noch net gemeldet?«

»Doch. Letzte Woch’ war er hier. Er hat jetzt einen Anwalt aus Nürnberg beauftragt, nach dem Fräulein zu suchen. Angeblich soll’s dort studieren.«

Sebastian Trenker machte ein nachdenkliches Gesicht. Resi schien zu wissen, was er dachte.

»Gell, Hochwürden, Sie denken dasselbe wie ich – so ein junges Madel wird den Hof kaum behalten wollen. Noch dazu, wo er in so einem Zustand ist. Überall in den Ställen klaffen Löcher, das Dach vom Haus müßte neu gedeckt werden, und Geld ist auch keins mehr da. Und das Madel studiert – da wird’s kaum Lust haben, hier einen heruntergekommenen Ponyhof zu leiten.«

Der Pfarrer schmunzelte, als er die klaren Worte hörte. Resi Angermeier war dafür bekannt, daß sie sagte, was sie dachte.

»Allerdings tät’s mir schon leid, wenn ich nach all den Jahren, die ich nun hier bin, irgendwo andershin sollte«, fuhr die alte Frau fort. »Ich hab’ immer gedacht, daß ich eines Tag’s hier sterben würd’.«

»Na, na, bis dahin ist’s hoffentlich noch weit«, meinte Sebastian. »Und wer weiß – vielleicht ist es ja ein ganz patentes Madel, das genau weiß, was es an solch einem Hof hat. Er war ja mal ein Schmuckstück und könnt’s wieder werden. Wart’ erst einmal ab, ob der Anwalt in Nürnberg etwas herausfindet.«

Wann immer es sich einrichten ließ, verzichtete der Seelsorger von St. Johann darauf, sein Auto zu benutzen. Entweder ging er zu Fuß, oder er fuhr mit dem Rad, so wie heute. Auf dem Rückweg vom Ponyhof ins Dorf, war er mit seinen Gedanken bei der alten Resi und dem Hubert Bachmann, der wohl schon genauso lange in den Diensten der Verstorbenen gestanden hatte wie die Magd. Natürlich würde es für die beiden alten Leute schwer werden, irgendwo neu anzufangen, sollte sich die Erbin entschließen, den Hof gleich wieder zu verkaufen. Sebastian konnte nur inständig hoffen, daß die junge Frau – sollte sie gefunden werden – den Hof behielt.

Das würde nicht leicht für sie werden. Wie Resi schon ganz richtig gesagt hatte, war das Anwesen in einem maroden Zustand, der einen Fremden schon abschrecken konnte. Waltraud Brunnengräber war nach langer Krankheit gestorben, einer Krankheit, die ihr die Kraft geraubt und verhindert hatte, daß sie sich so um ihren Ponyhof kümmern konnte, wie sie es früher getan hatte. Irgendwann waren dann die Gäste ausgeblieben, und damit fehlte natürlich auch das Geld, um so ein Unternehmen am Leben zu erhalten.

Sollte die Erbin gefunden werden, und sie sich entscheiden, hier zu bleiben, dann würde sie es nur mit tatkräftiger Unterstützung schaffen können! Dann war da noch das Gerücht, das seit Wochen in St. Johann umging – daß der reiche Bauunternehmer Friedrich Oberlechner ein Auge auf den Hof geworfen hatte. Er wollte, so hieß es, aus dem heruntergekommenen Anwesen eine elegante Seniorenresidenz machen.

Aber, darüber war das letzte Wort noch nicht gesprochen, dachte Sebastian, als er das Ortsschild von St. Johann passierte.

*

Die Freundinnen trafen sich in einer gemütlichen Kneipe, in der Nähe der Wohnung. Mittlerweile war sie zu ihrem Stammlokal geworden, und Ritchy, wie der Wirt von den Gästen genannt wurde, drückte öfter mal ein Auge zu, wenn es kurz vor dem Ersten war. Er hatte früher selbst mal studiert, und wußte, wie knapp das Geld bei den Studentinnen war.

Da das schöne Wetter angehalten hatte, standen draußen auf der Straße Tische und Stühle, die beinahe alle besetzt waren. Ritchy wirbelte zwischen ihnen herum, bediente, kassierte und machte seine Sprüche. Die drei Madeln gehörten zu seinen Lieblingsgästen, und ganz besonders gefiel ihm die schwarzhaarige Nina…

»Nun, meine Damen, was darf ich euch bringen?« fragte er, nachdem die drei sich gesetzt hatten.

Tee und Kaffee wurden bestellt, dann schauten die beiden Madeln die Freundin erwartungsvoll an.

»Nun schieß schon los«, forderte Nina Sandra ungeduldig auf. »Was hast du denn nun geerbt?«

Die junge blonde Studentin war immer noch wie erschlagen. Sie versuchte zu lächeln.

»Ihr werdet es nicht glauben«, begann sie. »Meine Tante, von der ich annahm, sie wäre schon vor Jahren verstorben, hat mir ihren Bauernhof vererbt. Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich mich nie um sie gekümmert habe. Es sind mindestens achtzehn Jahre vergangen, seit ich dort gewesen bin. Und heute habe ich erfahren, daß sie vor einem halben Jahr gestorben ist.«

»Einen Bauernhof?«

Nina grinste Anja unverschämt an.

»Kannst du dir unsere Sandra als Bäuerin vorstellen, die morgens um vier die Kühe melkt?«

Beide lachten.

»Das werde ich auch kaum«, gab Sandra zurück. »Kühe gibt es dort nämlich nicht. Nur Ponys.«

»He, das ist doch prima!« rief Anja, die eine ausgesprochene Pferdenärrin war. »Bestimmt haben wir da Gelegenheit auszureiten.«

»Ich weiß nicht«, meinte Sandra skeptisch. »Möglicherweise werde ich das Erbe gar nicht annehmen. Der Anwalt schien jedenfalls nicht begeistert von dem Hof zu sein. Aus seinen Worten war zu hören, daß es mit dem Anwesen nicht so rosig aussieht. Mehr werde ich allerdings erst von dem Nachlaßverwalter meiner Tante erfahren. Ich möchte mir das ganze erst einmal ansehen, bevor ich mich entscheide. Im Moment sind keine Klausuren, und ich denke, ich kann mir ein paar Tage freinehmen, um nach St. Johann zu fahren.«

»Wohin?« fragte Nina.

»Nach St. Johann«, wiederholte Sandra. »Das ist ein kleines Dorf in den Alpen, und dort in der Nähe steht der Ponyhof.«

»Na, da kommen wir natürlich mit«, riefen Anja und Nina gleichzeitig.

Sandra fühlte, wie ihr Herz einen Hüpfer tat.

»Wirklich?« fragte sie. »Ich hatte es insgeheim gehofft, aber gar nicht zu fragen gewagt.«

»Na, hör’ mal«, antwortete Nina in gespielter Empörung. »Glaubst du etwa, wir lassen dich alleine in dein Unglück rennen?«

Auch Anja war sofort Feuer und Flamme.

»Natürlich kommen wir mit!«

Sie hob ihre Kaffeetasse.

»Laßt uns anstoßen, Mädels«, rief sie. »St. Johann – wir kommen!«

*

Alois Sonnenleitner schaute überrascht auf, als seine Sekretärin ihm den Besuch eines Herrn Trenker, Pfarrer aus St. Johann ankündigte. Der Rechtsanwalt überlegte kurz, was den Geistlichen wohl in seine Kanzlei in die Kreisstadt brachte. Er wußte sich aber keinen Reim darauf zu machen. Der Seelsorger hatte zwar keinen Termin, aber der Anwalt war dennoch bereit, ihn zu empfangen. Er hatte ihn während einiger geschäftlicher Besuche, die ihn nach St. Johann geführt hatten, kennengelernt.

»Ich danke Ihnen vielmals, daß Sie sich die Zeit nehmen«, sagte Sebastian, nachdem die Männer sich begrüßt hatten.

»Was kann ich denn für Sie tun, Pfarrer Trenker?«

Alois Sonnenleitner hatte Kaffee angeboten, den die Sekretärin gleich darauf hereinbrachte. Der Anwalt selber übernahm es, die Tassen einzuschenken.

»Weniger für mich«, antwortete Sebastian und nahm dankend die Tasse entgegen. »Es geht um den Ponyhof.«

Der Nachlaßverwalter der verstorbenen Waltraud Brunnengräber nickte. Sebastian hob die Hände.

»Ich möcht’ Sie, um Himmels willen, net ausfragen«, fuhr der Geistliche fort. »Es geht mir um die beiden alten Leut’, die noch auf dem Hof sind.«

»Die Teresa Angermeier und den Hubert Bachmann…«

»Richtig. Wissen S’, Herr Sonnenleitner, ich hab’ vorgestern mit der Resi gesprochen. Sie hat Sorge, daß sie und Hubert vom Hof müssen, wenn die neue Besitzerin gefunden ist. Ich wollt’ Sie bitten, für die beiden ein gutes Wort einzulegen, wenn Sie die Erbin gefunden haben.«

Der Rechtsanwalt lehnte sich in seinem Sessel zurück. Einen Augenblick sah er den Seelsorger nachdenklich an.

»Ich glaube, ich verstoße nicht gegen meine Schweigepflicht, wenn ich Ihnen verrate, daß für die beiden alten Leute gesorgt ist«, sagte er dann.

Sebastian richtete sich interessiert auf.

»Ist das wahr?«

»Aber ja«, nickte der Anwalt. »Frau Brunnengräber hat in ihrem Testament verfügt, daß die Magd und der Knecht ein lebenslanges Wohnrecht auf dem Ponyhof haben.«

Er hob entschuldigend die Hände.

»Du liebe Güte, wenn ich gewußt hätte, daß die beiden keine Ahnung davon hatten und sich solche Sorgen um ihre Zukunft machen, dann hätte ich es ihnen natürlich schon längst gesagt.«

»Das ist ja eine gute Nachricht«, freute sich Pfarrer Trenker.

Alois Sonnenleitener machte trodzem ein nachdenkliches Gesicht. Sebastian blieb diese Miene nicht verborgen.

»Gibt’s sonst etwas, das…?«

»Leider ja.«

Der Anwalt zuckte die Schultern.

»Ja, also, wie soll ich es sagen? Es ist ja kein großes Geheimnis, daß es mit dem Hof nicht zum besten steht. Genauer gesagt – es ist das reinste Fiasko, in finanzieller Hinsicht. Die Bank wartet seit Monaten auf ihr Geld und droht mit Zwangsversteigerung. Die Erbin, eine Frau Haller, die in Nürnberg wohnt, hat mir, über einen dortigen Kollegen, ihren Besuch für die kommende Woche angekündigt. Ich weiß nicht, ob ich ihr raten soll, den Hof zu behalten, oder lieber zu verkaufen. Zumal es ein attraktives Angebot gibt, das ein vernünftiger Mensch, angesichts des Zustandes, in dem sich der Ponyhof befindet, kaum ausschlagen kann.«

Pfarrer Trenker machte ein mißmutiges Gesicht.

»Vom Bauunternehmer Oberlechner, nehme ich an.«

Der Rechtsanwalt sah ihn überrascht an.

»Sie wissen davon?«

»Man munkelt so etwas daheim in St. Johann.«

Sebastian er hob sich.

»Eines noch, bevor ich mich verabschiede«, sagte er. »Wie ist es denn geregelt, für den Fall, daß die Erbin den Hof verkaufen wird? Wo werden Resi und Hubert dann bleiben?«

Alois Sonnenleitner war ebenfalls aufgestanden. Er brachte seinen Besucher zur Tür.

»Für diesen Fall muß aus dem Erlös jeweils ein Platz in einem Altenheim für die beiden alten Leute bezahlt werden, oder – wenn sie nicht in ein Heim wollen – wird der Betrag an die beiden ausgezahlt.«

Der Geistliche nickte. Eine schlechte Lösung, wenn man bedachte, wie sehr die beiden an dem Hof hingen, der seit Jahrzehnten ihre Heimat war. Aber immer noch besser, als von heute auf morgen auf der Straße stehen zu müssen.

Er verabschiedete sich von dem Anwalt und fuhr mit dem beruhigenden Gefühl nach Hause, daß zumindest für Resi und Hubert gut gesorgt war.

*

Beim Abendessen im Pfarrhaus sprach Sebastian mit Max darüber. Der Polizist von St. Johann ließ sich schmecken, was die Haushälterin seines Bruders aufgetragen hatte. Sophie Tappert hatte eine extra große Portion Sülze für Max Trenker hingestellt. Sie wußte ja, wie gerne er sie aß.

Überhaupt bemutterte sie ihn gerne – schließlich hätte er ihr Sohn sein können – und kochte oft extra seine Lieblingsspeisen. Sebastian registrierte es immer mit einem Schmunzeln. Allerdings konnte seine Perle manchmal auch sehr skeptisch dreinschauen, wenn Max mit am Tisch saß. Meistens handelte es sich dann um eines der gebrochenen Herzen, die der junge, gutaussehende Polizist wieder einmal irgendwo hinterlassen hatte. Nicht selten kam es vor, daß sich das betroffene Madel bei Sophie Tappert ausweinte…

»Das ist aber sehr anständig von der Frau Brunnengräber gewesen, daß sie für die Resi und den Hubert gesorgt hat«, sagte Max Trenker zu seinem Bruder. »Die beiden werden sich darüber freuen, daß sie bleiben können.«

»Das ist es wirklich«, nickte der Geistliche. »Aber leider sieht’s net gut aus mit dem Ponyhof. Eine erhebliche Schuld lastet auf dem alten Gehöft, und noch ist’s ungewiß, ob die Erbin net vielleicht verkauft. Sie ist jung und studiert noch, ich weiß net, ob sie sich da solch einen Klotz an’s Bein binden wird, und ein Klotz ist er allemal, der Ponyhof.«

Sebastian legte das Besteck auf seinen leeren Teller und schob ihn beiseite. Max nickte, als er ihm von dem Bier anbot, das auf dem Tisch stand.

»Ich bin wirklich auf dieses Madel gespannt«, fuhr der Pfarrer fort, während er einschenkte. »Sollte es verkaufen wollen, dann müssen die beiden Alten vom Hof… aber noch ist ja net aller Tage abend…«

Max Trenker sah seinen Bruder forschend an. Wenn Sebastian so geheimnisvoll redete, dann brütete er mal wieder etwas aus. Der junge Polizeibeamte wußte ja, daß Sebastian sich um jedes seiner Schäfchen sorgte. Und, als guter Hirte von St. Johann würde er nicht eher ruhen, bis er eine Lösung für dieses Problem gefunden hatte!

*

Stephan Rössner warf die Tür so wütend hinter sich zu, daß sie mit einem lauten Knall ins Schloß fiel. Mit finsterer Miene lief er durch die Halle der elterlichen Villa, die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo er in seinem Zimmer verschwand.

Walter und Ingrid Rössner, Stephans Eltern, blieben konsterniert im Salon zurück.

»Ich weiß wirklich net, was in den Jungen gefahren ist«, schluchzte die Frau und suchte nach einem Taschentuch in ihrer Kostümjacke.

»Ein Sturkopf ist er«, schnaubte Walter Rössner.

Er ging zu der Anrichte und goß sich ein Glas Cognac ein. Es war nicht seine Art, so früh am Morgen zu trinken, doch die Auseinandersetzung mit seinem Sohn hatte ihn so sehr erregt, daß er den Schnaps zur Beruhigung brauchte.

»Stur und uneinsichtig!« knurrte der Fabrikant, nachdem er den Inhalt des Glases hinuntergestürzt hatte.

Seine Frau schaute ihn an. Von wem er das wohl hat, dachte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie schüttelte den Kopf. Der Morgen hatte so schön begonnen. Nachdem das frühlingshafte Wetter angehalten hatte, war für das Frühstück auf der Terrasse gedeckt worden. Ingrid Rössner hatte sich gefreut, endlich wieder einmal gemeinsam mit Ehemann und Sohn ein Wochenende verbringen zu können. Stephan, der in München studierte, ließ sich kaum noch zu Hause blicken, allenfalls in den Semesterferien, dann aber auch nur für ein paar Tage, und ihren Mann bekam Ingrid bestenfalls am Sonntag zu sehen – wenn er dann nicht auch noch irgendwelche geschäftlichen Termine hatte.

»Was ist bloß mit dem Bengel los?« murmelte Walter Rössner, der der Chef einer Fabrik für elektronische Geräte war.

Er steckte sich eine Zigarette an, was ihm einen mißbilligenden Blick seiner Frau eintrug. Sie sah es überhaupt nicht gerne, wenn er rauchte, zumal ihm sein Arzt besorgt geraten hatte, von diesem Laster zu lassen. Nervös drückte er die Zigarette wieder aus. Er wußte ja selber, wie schädlich das Rauchen war, aber nach dem Streit mit Stephan brauchte er irgend etwas, um sich wieder zu beruhigen.

Noch bevor der Fabrikant sein Frühstücksei geköpft hatte, teilte ihm sein Sohn mit, daß er nicht weiter studieren werde. Er denke überhaupt nicht daran, den Rest seines Lebens für die Fabrik aufzuopfern.

»Da fällt dem Burschen eine gutgehende Fabrik, in einer Wachstumsbranche, in den Schoß, und er will sie nicht«, schüttelte er den Kopf. »Was soll man bloß dazu sagen?«

Ingrid Rössner hatte ihre Tränen getrocknet und das Taschentuch wieder eingesteckt.

»Vielleicht solltest du noch einmal mit ihm reden«, schlug sie vor. »Aber nicht so wie eben.«

Er sah sie verblüfft an.

»Wie meinst du das – wie eben?«

»Naja, net, wie ein Vater zu seinem ungehorsamen Sohn spricht, sondern eher so von Mann zu Mann. Stephan ist vierundzwanzig Jahre alt und kein kleiner Bub mehr.«

Walter Rössner runzelte die Stirn.

»Aber er benimmt sich manchmal so«, knurrte er.

Seine Frau nahm ihn in den Arm und schaute ihn liebevoll an.

»Nun komm, alter Sturkopf«, sagte sie zärtlich. »Gib deinem Herzen einen Stoß. Er ist doch unser einziger Sohn.«

Walter küßte sie sanft.

»Also gut«, gab er nach. »Du hast ja recht, wie immer. Ich gehe gleich hinauf zu ihm. Vielleicht kommt er ja zur Vernunft.«

Er verließ den Salon, durchquerte die Halle und ging die Treppe hinauf. Vor der Tür zu Stephans Zimmer zögerte er einen Moment. Wenn der Bengel doch nur mal gesagt hätte, was er denn eigentlich vorhatte, aber nicht einmal das!

Schließlich klopfte er an.

»Stephan, ich bin’s«, rief er, nachdem drinnen alles still blieb.

Er klopfte noch einmal und bekam wieder keine Antwort. Als er die Klinke herunterdrückte, schwang die Tür nach innen auf.

»Stephan…?« rief Walter Rössner noch einmal.

Gleichzeitig fiel sein Blick auf die weit geöffneten Türen des Kleiderschranks. Die meisten seiner Sachen hatte Stephan in seiner Münchener Studentenwohnung, doch wenn er nach Hause kam, brachte er schon eine Reisetasche voller Kleidung mit.

Aber jetzt war der Schrank leer. So leer, als wäre Stephan nie hier gewesen…!

Der Fabrikant griff sich erschrocken an die Brust, als er erkannte, was dies bedeutete – sein Sohn hatte das Elternhaus verlassen!

*

Gleich nachdem er in sein Zimmer gestürzt war, packte Stephan sämtliche Kleidungsstücke aus dem Schrank in die Reisetasche. Dann schlüpfte er in seine Lederjacke und die festen Schuhe. Maria, das Hausmädchen, sah ihn verwundert an, als er die Treppe wieder herunterkam.

»Müssen S’ schon wieder abreisen?« fragte sie erstaunt.

»Allerdings«, gab er knapp zurück. »Hier wird’s mir nämlich zu eng.«

Mit diesen Worten ging er zur Tür hinaus. Vor einer der beiden Garagen stand sein Wagen. Der Student ließ das Fahrzeug unbeachtet. Statt dessen holte er sein altes Geländerad aus dem Schuppen, schnallte die Reisetasche hinten auf den Gepäckträger, und radelte los.

Tief atmete er die frische Luft ein. Wie lange war es her, daß er sich so frei gefühlt hatte? Frei von allen Zwängen, die seit Jahren auf ihm lasteten, seit jener Zeit, in der ihm bewußt geworden war, was man von ihm erwartete.

Betriebswirtschaft sollte er studieren, um später einmal die väterliche Fabrik zu übernehmen. Dabei hätte er viel lieber etwas gelernt, wobei er draußen in der freien Natur arbeiten konnte. Schon immer war er lieber im Freien gewesen, als irgendwo drinnen eingesperrt zu sein. Mehr aus familiären Zwängen als aus freier Entscheidung hatte er sich damit abgefunden, zu studieren. Doch immer wieder spürte er, daß es ein Fehler war, und endlich hatte er sich entschlossen, diesen Mißstand zu beenden. Zunächst einmal wollte er nur fort, dann würde er schon entscheiden, wie sein weiterer Lebensweg aussehen sollte. Eine Arbeit wird sich schon finden lassen. Und wenn’s sein mußte, dann würde er sich auch als Knecht auf einem Bauernhof verdingen. Daran sollte es nicht scheitern.

Ohne Ziel war er losgeradelt. Nach einer guten Stunde machte er Rast. Unterwegs hatte er sich mit Saft und Brot versorgt, nun saß er am Wegesrand und überlegte, wohin er sich wenden sollte. Die Semesterferien hatten gerade begonnen, vielleicht gelang es ihm, seinen Studienfreund dazu zu bewegen, ihn für ein oder zwei Wochen auf einen Urlaubstrip in die Berge zu begleiten. Markus Reinders wohnte gar nicht weit entfernt von hier. Die beiden hatten schon viel zusammen unternommen und genauso wie Stephan, war auch Markus ein begeisterter Wanderer und Kletterer.

Ein Hoch auf die Technik, dachte Stephan, während er auf dem Handy Markus’ Telefonnummer wählte.

Dabei verschwendete er allerdings keinen Gedanken daran, daß auch dieses Mobiltelefon aus der Fabrik seines Vaters stammte…

»Grüß’ dich, altes Haus«, rief er, nachdem Markus sich gemeldet hatte.

»Hey, Stephan«, gab der Freund zurück. »Wo steckst du denn?«

»Ganz in deiner Nähe. Eigentlich bin ich auf dem Weg zu dir, wollte bloß erstmal hören, ob du überhaupt daheim bist. Ich hab’ dir nämlich einen Vorschlag zu machen.«

»Laß hören.«

»In einer halben Stunde, bei dir.«

»Okay, mein Alter, ich freu’ mich. Bis gleich.«

Stephan steckte das Handy ein und stieg wieder aufs Rad. Der Gedanke an einen Wanderurlaub durch die Alpen ließ ihn kräftig in die Pedale treten. Bestimmt würde Markus von der Idee genauso begeistert sein, und wer wußte schon, was sie unterwegs alles erlebten…

*

Bei den zwei Bewohnern des Ponyhofes herrschte helle Aufregung. Gestern war der Anruf des Nachlaßverwalters gekommen, der den Besuch der Erbin ankündigte. Die beiden konnten sich gar nicht vorstellen, jemals woanders zu arbeiten. Immerhin hatte Pfarrer Trenker eine gute Nachricht überbringen können, wenngleich immer noch die Möglichkeit bestand, daß das Fräulein Haller den Hof doch nicht behalten wollte. Aber daran mochte Resi gar nicht denken. Seit dem Tode der alten Frau Brunnengräber hatten sie und Hubert in banger Erwartung weitergemacht, ohne zu wissen, was der nächste Tag für sie bringen würde. Lohn gab es keinen mehr, aber beide waren, da sie sparsam gelebt hatten, überein gekommen, erstmal von diesen Ersparnissen zu leben. Dr. Sonnenleitner hatte dagegen keine Einwände gehabt. Es war ihm sogar ganz lieb gewesen, daß die beiden alten Leute sich dazu bereit erklärten, auf dem Hof zu bleiben. So hatte der Nachlaßverwalter jemanden vor Ort, der sich auskannte, und dem er vertrauen konnte.

Resi hatte in der Küche den Kaffeetisch gedeckt und sah ungeduldig auf die Uhr. Gleich drei, und von Hubert war immer noch nichts zu sehen. Endlich hörte sie ihn durch die Tür kommen. Wenig später stand Hubert Bachmann in der Küche. Der alten Magd fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.

In den vierzig Jahren, die sie gemeinsam auf dem Ponyhof verbracht hatten, gab es gerade mal eine handvoll Anlässen, an denen Hubert sich so hergerichtet hatte, wie heute!

Nicht nur, daß er seinen besten Anzug, dunkelbraun mit Streifen, trug, offenbar hatte Hubert sogar ein Bad genommen, sich rasiert und – sich mit soviel Kölnisch Wasser eingeduftet, daß in Sekunden die ganze Küche danach roch. Die alte Magd stand einen Moment völlig verdattert da, bevor sie ihn anfuhr:

»Sag mal, bist’ auf Freiersfüßen, oder was ist los?«

»Wieso?« fragte der Knecht und deutete auf Resis gutes Kleid und die saubere weiße Schürze. »Du hast dich doch auch fein gemacht.«

Das stimmte zwar, Hubert übersah aber die Tatsache, daß Resi schon immer Wert auf ihr Äußeres gelegt hatte, ob es nun ein besonderer Tag war oder nicht. Was man von ihm nicht behaupten konnte.

Die Magd bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick, den der Alte allerdings ignorierte. Mit zwei Schritten war er am Küchentisch und streckte seine Hand nach dem Teller mit dem frisch gebackenen Napfkuchen aus.

Erst Resis scharfe Stimme ließ die Hand zurückzucken.

»Finger weg!« sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Der ist für das Fräulein.«

»Nun hab’ dich doch net so«, maulte Hubert und setzte sich gekränkt auf die Eckbank. »Das merkt doch keiner.«

»Doch«, erwiderte Resi. »Ich.«

Kleine Zankereien gehörten zu den beiden, wie das Salz in die Suppe. In den gemeinsamen Jahren auf dem Hof hatten sich beide aber so gründlich kennengelernt, daß jeder von ihnen wußte, wann die Grenze vom Spaß zum Ernst überschritten war. Und etwas in Resis Blick hielt Hubert davon ab, sich dennnoch von dem Kuchen zu bedienen.

»Wie spät ist es denn?« wollte er schließlich wissen. »Die müßte doch längst hier sein.«

»›Die‹ ist Fräulein Haller«, antwortete die Magd spitz.

»Und wenn wir Glück haben, unsere neue Chefin. Was weiß ich, wo’s bleibt. Vielleicht hat’s sich verfahren.«

»Glaubst’ wirklich, daß hier alles beim Alten bleibt?«

Resi antwortete nicht. Sie stand am Fenster und schaute hinaus. Alles beim Alten? Sie hätte es selber gerne gewußt, aber wenn sie sich den Hof so anschaute… Das alte Haus, dessen Anstrich schon vor Jahren hätte erneuert werden müssen, dann das kleine Gästehaus, das auch nicht mehr besser aussah, die Ställe mit den maroden Dächern, der zerbrochene Zaun, der Geräteschuppen, der einzustürzen drohte…

Resi hätte die Liste beliebig fortsetzen können. Konnte man all dies einem jungen Madel zumuten? Konnte man wirklich von ihm erwarten, sein Studium aufzugeben und hier in den Bergen einen heruntergewirtschafteten Ponyhof zu übernehmen und in eine ungewisse Zukunft zu führen?

Die alte Magd war realistisch genug, sich zu sagen, daß dies eigentlich unmöglich sei. Aber dennnoch – seit sie von dem bevorstehenden Besuch erfahren hatte, hoffte sie in banger Erwartung auf ein Wunder.

Resi wurde aus ihren Gedanken gerissen, als ein Auto in die Einfahrt des Hofes bog. Das mußte Fräulein Haller sein.

*

Der VW-Golf war Sandras ganzer Stolz. Zwar hatte er bereits etliche Jahre auf dem Buckel, aber er war immer noch gut in Schuß. Sandra hatte ihn bereits vor zwei Jahren, gleich nachdem sie ihren Führerschein gemacht hatte, günstig gekauft. Der Vorbesitzer hatten den Wagen sehr gepflegt und später mit einem Katalysator nachrüsten lassen, um der Umwelt einen Dienst zu erweisen.

Die drei Freundinnen waren am späten Vormittag aus der Kleinstadt losgefahren, nachdem sie Dr. Sonnenleitner einen Besuch abgestattet hatten. Staunend fuhren sie durch die wunderschöne Landschaft, und mehr als einmal hielten sie an, um sich etwas genauer umzusehen.

»Mensch, ist das schön hier!« hatte Nina einmal gesagt und dabei auf das atemberaubende Panorama der Berge gezeigt.

Sandra und Anja konnten ihr nur zustimmen.

»Da hat man solch eine Natur vor der Haustür und weiß nichts davon«, meinte Anja. »Ich muß gestehen, ich habe ja schon oft etwas von der Schönheit der Alpen gehört, aber hier gewesen bin ich noch nie. Eigentlich eine Schande.«

Sandra konnte nur nicken. Sie versuchte sich zu erinnern. Damals – wie war es da gewesen? Irgendwo tauchte das Bild der Frau in ihrem Gedächtnis auf. Das gütige Gesicht der Tante Waltraud. Große Tiere fielen ihr wieder ein, die Ponys. Zumindest waren sie ihr damals, als kleines Madel, riesengroß erschienen.

Die drei Madeln beugten sich über die Straßenkarte, die sie auf der Motorhaube des Wagens ausgebreitet hatten.

»Hier sind wir jetzt«, deutete Nina auf einen Punkt. »Da hinten war ein Schild, St. Johann 3 km, stand drauf. Also müssen wir in diese Richtung.«

Sie fuhr mit dem Finger auf der Karte entlang und deutete auf einen kleinen roten Punkt, der das Bergdorf kennzeichnete.

»Kann ja nicht mehr lange dauern«, sagte Sandra und faltete die Karte wieder zusammen. »Dann mal los.«

*

Nach einer halben Stunde passierten sie das Ortsschild. St. Johann machte genau den Eindruck, den sie sich vorgestellt hatten. Ein kleines hübsches Bergdorf, mit einer Kirche in der Mitte, kleinen Häuschen mit gepflegten Gärten und einigen wenigen Geschäften.

»So, das ist also St. Johann«, stellte Anja fest und nickte zufrieden. »Sieht nett aus.«

»Und wo ist der Ponyhof?« fragte Nina.

»Der liegt etwas außerhalb«, antwortete Sandra. »Wir müssen in Richtung der Jenner-Alm fahren. Vielleicht noch fünfzehn Minuten.«

Sie schaute auf die Uhr.

»Wir sollten uns beeilen«, sagte sie. »Wir werden schließlich erwartet.«

Es dauerte wirklich nur noch gut zehn Minuten, bis sie das Hinweisschild sahen, das ihnen den Weg zum Ponyhof wies. Langsam bog Sandra in die Hofeinfahrt.

»Das gibt es doch nicht!« entfuhr es ihr.

»Wie sieht es denn hier aus?« rief Nina entsetzt, während Anja nur stumm dasaß und den Kopf schüttelte.

Sandra schaltete den Motor aus und stieg aus. Die zwei Freundinnen folgten ihr. Ratlos sahen sie sich um, und der Anblick war wirklich trostlos.

»Da kommt jemand«, deutete Anja auf die Tür zum Haus hinüber.

Theresa Angermeier stand in der Tür und lächelte den Madeln zu.

»Willkommen auf dem Ponyhof«, sagte sie.

Hinter ihr schob sich Hubert Bachmann ins Bild. Er fuhr sich verlegen über das Haar.

Sandra, Nina und Anja gingen die Stufen hinauf. Resi sah die drei fragend an.

»Wer von Ihnen ist denn…?«

»Ich bin Sandra Haller«, begrüßte die Studentin die Magd und reichte ihr die Hand. »Sie müssen Frau Angermeier sein.«

»Resi, wenn’s recht ist«, nickte die Magd. »Sagen S’ einfach Resi zu mir. Das haben S’ ja früher auch getan.«

Das Madel zuckte entschuldigend die Schulter.

»Es ist so lange her. Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern.«

Die alte Frau nickte verständnisvoll. Sie zeigte auf den Knecht.

»Und das ist der Hubert.«

»Grüß’ Gott«, sagte der Alte und machte einen braven Diener.

Sandra gab auch ihm die Hand, und Resi bat alle ins Haus hinein, nachdem die frischgebackene Besitzerin des Ponyhofes ihre Begleiterinnen vorgestellt hatte.

»Setzen S’ sich doch«, bat die Magd. »Ich hab’ ein bissel Kaffee und Kuchen vorbereitet.«

»Hm, frischer Napfkuchen«, schwärmte Anja, die eine heimliche Naschkatze war. »Dafür sterbe ich.«

Sie nahmen Platz, und Resi schenkte den Kaffee ein.

»Also, dann noch mal willkommen«, sagte sie, nachdem auch sie sich gesetzt hatte. »Langen S’ nur tüchtig zu. Nachher führe ich Sie herum, damit Sie sich alles ansehen können.«

»Also, der Kuchen schmeckt himmlisch«, schwärmte Anja, die schon das zweite Stück aß.

Sandra hingegen bekam kaum einen Bissen herunter. Resi, die sie aufmerksam beobachtete, wandte sich an das Madel.

»Es ist wirklich eine Ewigkeit her, daß Sie hier waren«, meinte sie. »Ich glaub’, Sie gingen noch gar net zur Schule, als Sie das erstemal die Ferien bei Ihrer Tante verbracht haben.«

»Meine Großtante«, verbesserte Sandra. »Sie war die Tante meiner Mutter, und eine Schwester meines Großvaters. Ja, ich denke, so achtzehn Jahre ist es her. Wie gesagt, ich erinnere mich kaum.«

Sie dachte an das Bild auf der Diele, das sie beim Eintreten flüchtig gesehen hatte.

»Das Gemälde draußen…«, deutete sie zur Tür.

»Ja«, nickte Resi. »Das Bild hat ein bekannter Kunstmaler gemalt. Wenige Wochen bevor…«

Die alte Magd brach ab und kramte nach einem Taschentuch in ihrer Schürze. Sandra stand auf und ging hinaus in die Diele. Das Gemälde hing über einer Anrichte, auf der eine Vase mit frischen Blumen stand. Zwar war alles hier alt, doch man konnte die Mühe sehen, die Resi und Hubert sich gegeben hatten, alles ein wenig herzurichten und wohnlich zu machen.

Sandra betrachtete das Bild. Es zeigte Tante Waltraud mit ihrem vertrauten Lächeln, das einzige, woran die junge Frau sich erinnerte. Im Hintergrund erkannte man Teile des Hofes und die Berge dahinter. Offenbar war das Gemälde auf der Veranda entstanden. Rechts unten hatte der Maler seinen Namen gemalt. Robert Demant, entzifferte Sandra. Sie war erstaunt darüber, daß ihre Tante diesem wirklich bekannten Künstler Modell gesessen hatte.

Eine Weile blieb sie stehen, dann ging sie in die Küche zurück. Resi wartete schon darauf, den drei Madeln das Anwesen zu zeigen.

*

Der Rundgang war alles andere als erbaulich. Natürlich hatte Hubert in den letzten Tagen so gut es eben ging, aufgeräumt und kleinere Schäden beseitigt. Aber es ließ sich nicht verleugnen, daß es am nötigen Geld fehlte, dringend notwendige Reparaturen durchzuführen. Mit jedem Stück, das Sandra zu sehen bekam, wurde ihr Gesicht lang und länger. Nina und Anja begleiteten sie, enthielten sich aber jeglichen Kommentars. Allerdings war an ihren Mienen abzulesen, was die beiden dachten.