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Der Bergpfarrer
– Box 1 –

E-Book 375 - 380

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-845-2

Weitere Titel im Angebot:

Von der Liebe geblendet?

Was ist Wahrheit – was ist Lüge?

Roman von Toni Waidacher

»Bist du traurig?« Die vierjährige Hanna Birkner blickte ihre Tante fragend an.

Ingrid Brammer wischte sich über die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein«, schwindelte sie, »bloß ein bissel müd.«

»Du schaust aber so traurig«, ließ das Madel nicht locker. »War’s denn net schön, gestern Abend, mit dem Thomas?«

Der Tante gelang ein Lächeln. »Doch, doch«, erwiderte sie und setzte sich aufrecht. »Was wollen wir denn heut unternehmen?«

Hanna schaute sehnsuchtvoll aus dem Fenster. Draußen herrschte schönster Sonnenschein – ganz klar, was sie da machen wollte!

»Also gut, geh’n wir zum Schwimmen.«

Ingrid machte sich daran, die Badesachen zu packen. Dabei musste sie die Tasche mehrmals wieder aus- und einpacken, denn irgendwie schaffte sie es einfach nicht, ihre Gedanken beisammen zu halten.

Der gestrige Abend war alles andere, als schön verlaufen – zumindest hatte er ein unschönes Ende genommen, als Thomas Bacher ihr offenbarte, dass ihr Kennenlernen keineswegs ein Zufall sei, sondern bewusst von ihm herbeigeführt worden war.

Noch schlimmer – Thomas war Privatdetektiv, angeheuert von ihrem Schwager, um Ingrid, die aus St. Johann fortgelaufen war, im fernen Friedrichstadt aufzuspüren.

Und heimzubringen? Oder sollte er nur das Kind in die Heimat zurückschaffen?

Sich ihr weiter zu offenbaren, dazu war Thomas Bacher nicht mehr gekommen, denn Ingrid war aufgesprungen und in die Pension zurückgelaufen, in der sie ein Zimmer genommen hatte. Dort hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und hemmungslos geweint.

Es hatte doch so schön angefangen!

Die scheinbar zufällige Bekanntschaft mit dem Detektiv hatte Ingrids Leben durcheinander gebracht, als sie merkte, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Dabei war der Grund für ihre Flucht aus dem Wachnertal enttäuschte Liebe gewesen! Seit Hannas Geburt, bei der ihre Schwester Monika gestorben war, vertrat sie bei dem Madel die Mutterstelle. Sie lebte mit dem Kind und dem Schwager in einem Haushalt, und es war wohl unausweichlich, dass Ingrid Brammer sich Hoffnungen machte, dass Stefan sie eines Tages heiratete.

Dass dies aber nicht geschehen würde, musste sie erkennen, als der Anwalt seine Kanzlei nach St. Johann verlegte und dort eine junge Frau kennenlernte, in die er sich verliebte. Melanie Lindemann war Erzieherin in dem Kindergarten, den Hanna besuchte, und beim alljährlichen Sommerfest passierte es …

Für Ingrid brach eine Welt zusammen, und in ihrer Furcht, jetzt auch noch das Madel zu verlieren, kam es zu einer Panikreaktion. So leicht sollte er ihr das Kind nicht wegnehmen können. Und vielleicht käme er ja sogar ins Grübeln... Sie flüchtete mit dem Kind nach Friedrichstadt, dem romantischen Holländerstädtchen, an der Eider, wo sie im Jahr zuvor zu dritt Urlaub gemacht hatten.

Der Kleinen spielte sie vor, dass sie wieder Urlaub machten, ihr Papi würde später nachkommen.

Dass Stefan ihr einen Detektiv hinterherschicken würde, darauf wäre Ingrid Brammer im Leben nicht gekommen!

Was sollte sie jetzt tun? Wieder fortlaufen? Wohin? Oder bleiben und warten, bis Thomas Bacher kam und das Kind von ihr forderte?

Freiwillig würde sie Hanna nicht hergeben!

Außerdem war sie sicher, dass das Madel nicht mit ihm gehen würde, auch wenn Hanna den Privatdetektiv mochte.

Und wenn er die Polizei einschaltete?

Nein, Ingrid war sicher, dass das nicht geschehen würde. Bestimmt hatte Stefan Thomas angewiesen, mit Rücksicht auf seine Tochter, die Polizei aus der Angelegenheit herauszuhalten. Sonst hätte er ja gleich Anzeige, wegen Kindesentzug, gegen seine Schwägerin erstatten können.

Aber was sollte jetzt überhaupt weiter geschehen?

Ihr Plan, sich nach einer gewissen Zeit daheim zu melden, war jetzt, wo Stefan wusste, wo sie sich aufhielt, nur noch Makulatur. Überhaupt hatte Ingrid längst Zweifel gehabt, ob ihr Schwager sich auf ihre Forderung, die Beziehung zu Melanie Lindemann zu beenden, überhaupt eingelassen hätte.

Ganz abgesehen davon, dass sie sich in diesen Schuft, der ihr Sympathie, vielleicht sogar Liebe, vorgegaukelt hatte, auch noch verlieben musste!

Ingrid hielt inne und wischte sich die Tränen ab, die ihr über die Wangen gelaufen waren. Es war eine verzweifelte Situation, in die sie sich selbst hineinmanövriert hatte.

Würde sie jemals einen Ausweg daraus finden?

Die Stimme ihrer Nichte riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich bin gleich soweit, Spatzl, dann können wir geh’n«, rief sie zurück und wisch sich hastig die Tränen weg.

Vielleicht fiel ihr beim Sonnenbaden ein, wie es weitergehen sollte.

*

Wie konnte es geschehen, dass die durch eine Alarmanlage gesicherte Madonna geraubt wurde?

Nicht nur Sebastian Trenker stand vor einem Rätsel, auch die Experten der Polizei fanden keine Erklärung dafür.

Am Samstag war es geschehen, als der gute Hirte von St. Johann auf dem Tanzabend weilte, da hatte ein, oder vielleicht auch mehrere, Täter die kostbare Statue gestohlen.

Und das, obwohl der Alarm eingeschaltet war!

Wie man es auch drehte und wendete, es war nicht zu erklären, wie der Raub vonstattengegangen war, ohne dass der Alarm ausgelöst wurde. Selbst bei einem Stromausfall wäre die Madonna immer noch gesichert gewesen, denn ein Akku, der automatisch zugeschaltet wurde, sorgte für die nötige Energie.

Und dennoch musste es etwas mit der Anlage zu tun haben. Seit Stunden suchten zwei Männer der Spurensicherung im Arbeitszimmer des Bergpfarrers nach einer möglichen Ursache. Vergeblich, – die Alarmanlage funktionierte einwandfrei, und am Schaltkasten ließen sich keine Manipulationsversuche feststellen.

Es gab also weiterhin keine Erklärung dafür, weshalb es keinen Alarm gegeben hatte.

»Es sei denn, jemand hat denn Alarm hier drinnen ausgeschaltet«, meinte einer der Beamten schließlich.

Das war allerdings, nach Sebastians Meinung, völlig unmöglich. Die Haushälterin würde niemals auf so einen Gedanken kommen, dafür war Sophie Tappert eine viel zu ängstliche Natur, und der Geistliche schaltete die Anlage nur aus, wenn in der Kirche geputzt und die Figur abgestaubt wurde.

Konnte ein anderer, ein Fremder, unbemerkt das Pfarrhaus betreten haben?

»Das wäre durchaus möglich«, nickte Sebastian, »die Tür ist net zugesperrt.«

Lediglich ein Knauf verhinderte, dass jemand ungefragt das Haus betrat. Für einen professionellen Einbrecher stellte es allerdings kein Hindernis dar. Mit einer Scheckkarte ließ sich der Schnapper im Schloss leicht zurückschieben, und die Tür war offen.

Freilich machte sich die Haushälterin die größten Vorwürfe, weil sie nichts gehört hatte.

Gestern Abend waren der kleine Sebastian und Antonia Wiesinger bei ihr im Pfarrhaus, weil die Eltern auf den Tanzabend wollten. Wie immer, wenn die Kleinen hier übernachteten, hatten sie lecker gegessen und anschließend gespielt, bis die Kleinen müde waren und ins Bett wollten. Die Haushälterin hatte sie in eines der Gästezimmer zum Schlafen gelegt und war dann in ihre kleine Wohnung gegenüber gegangen, die Türen hatte sie offen gelassen und in ihrer Wohnstube leise Radio gehört.

»Dann könnt es so gewesen sein, dass sich jemand am Abend in dein Arbeitszimmer geschlichen hat, die Anlage erst aus- und später wieder eingeschaltet hat«, meinte Max.

Der Bruder des Bergpfarrers hatte die Kollegen der Spurensicherung, vom Präsidium in der Kreisstadt, angefordert, nachdem der Diebstahl von Alois Kammeier, dem Mesner an der Kirche St. Johann, entdeckt worden war. Jetzt mussten die Haustür, der Flur und das Arbeitszimmer noch einmal gründlich überprüft werden.

Freilich war der Raub der Madonna das Tagesgespräch im ganzen Wachnertal.

Die sonntägliche Messe hatte im Freien, auf dem Rasen vor der Kirche, stattfinden müssen, weil drinnen die Polizisten arbeiteten. Sebastian hatte seine längst vorbereitete Predigt kurzerhand umgeändert und darüber gesprochen, wie verabscheuungswürdig solch ein Verbrechen sei. Die Gemeinde zeigte sich tief betroffen, und die Kollekte fiel an diesem Tag besonders üppig aus, als hofften die Gläubigen, durch ein besonders großes Opfer helfen zu können, die Gottesmutter zurückzubekommen.

»Das ist durchaus möglich«, bemerkte der Kommissar des Raubdezernats, der den Fall übernommen hatte. »Schon oft ist es vorgekommen, dass den Besitzern wertvoller Kunstgegenstände ihr Eigentum zum Rückkauf angeboten wurde.«

»Vorausgesetzt, die Diebe haben die Statue net längst schon außer Landes geschafft«, entgegnete der Bergpfarrer.

Kommissar Holtmeyer schüttelte den Kopf.

»Das glaube ich net«, meinte er. »Die Diebe haben grad Pech, das zurzeit die Landesgrenzen wieder besonders überwacht werden.«

Im nahen Österreich war ein Geldtransport überfallen und ausgeraubt worden. Die Täter hatten fast zwanzig Millionen Euro erbeutet. Da man sie immer noch im grenznahen Bereich zu Bayern vermutete, herrschte hier ein ganz besonderes Augenmerk der Polizei auf die früheren Grenzübergangsstellen und Zollstationen.

»Ich bin mir fast sicher«, fuhr der Beamte fort, »dass die Madonna noch irgendwo im Raum Wachnertal, Rosenheim oder Garmisch-Partenkirchen versteckt wird, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«

Holtmeyer strich nachdenklich über das Kinn.

»Was ich allerdings jetzt schon mit Sicherheit sagen kann«, setzte er hinzu, »ist Folgendes: Der oder die Täter müssen über die Verhältnisse hier im Pfarrhaus gut Bescheid gewusst haben, vor allem auch, dass sich die Alarmanlage in Ihrem Arbeitszimmer befindet, Hochwürden. Ich bräuchte von Ihnen eine Liste mit den Namen derer, denen der Standort des Schaltkastens ebenfalls bekannt war.«

Sebastian runzelte die Stirn.

»Sie glauben doch net, dass einer von denen …!«

Der Kommissar hob beschwichtigend die Hand.

»Zunächst einmal sind alle und niemand verdächtigt«, erklärte er. »Ich brauche die Namen, um auszuschließen, wer dafür in Frage kommt, mit den Dieben zusammengearbeitet zu haben.«

Der Bergpfarrer nickte.

»Verstehe, aber das wird eine ziemlich lange Liste.«

Kurz darauf trat einer der Beamten von der Spurensicherung zu ihnen.

»Es steht fest, dass kürzlich jemand am Schaltkasten war«, gab er das Ergebnis seiner Arbeit bekannt. »Ich konnte Fingerspuren sichern …, allerdings trug der Täter Handschuhe.«

Am Nachmittag rückten die Beamten wieder ab, Sebastian kehrte ins Pfarrhaus zurück.

Sophie Tappert hatte zwar, trotz des ungeheuren Geschehens, das Mittagessen gekocht, doch so recht Appetit hatte niemand von ihnen.

Claudia, Max Trenkers Frau, die in Garmisch beim ›Kurier‹ arbeitete, hatte gerade einen Artikel über den Raub geschrieben und wollte ihn ›übers Internet‹ an die Redaktion senden, als Sebastian ihr ein Zeichen gab, noch einen Moment zu warten.

Kurz zuvor hatte das Telefon geklingelt, George Whitaker rief an.

»Hochwürden, das ist ja entsetzlich!«, rief der Amerikaner. »Ich habe eben, hier im Hotel, von dem Kirchenraub erfahren und möchte eine Belohnung für die Wiederbeschaffung der Madonna aussetzen.«

Daran hatte der Geistliche auch schon gedacht, aber so vermögend war er nicht, dass er einen hohen Betrag ausloben konnte, und die Kirchengelder, über die Sebastian verfügen konnte, waren für andere Zwecke vorgesehen.

»Ich übernehme das«, erklärte Whitaker kategorisch. »Was meinen Sie, fünfzigtausend Euro sollten doch wohl ein Anreiz sein, oder?«

»Das ist sehr großzügig«, sagte Sebastian überrascht. »Ich weiß allerdings nicht, ob ich das annehmen darf …«

Eingedenk des Ärgers, den ihm gerade erst eine Spende des Amerikaners eingebracht hatte, zögerte der Bergpfarrer, ob er das Angebot annehmen sollte.

»Keine Sorge«, beruhigte der Amerikaner ihn, »ich habe bereits mit Ihrem Bischof telefoniert, und er hat sein Okay gegeben.«

»Vielen Dank, George, dann nehm ich freilich Ihre großzügige Hilfe an. Meine Schwägerin schreibt gerade für den ›Kurier‹ einen Bericht, sie wird die ausgesetzte Belohnung besonders erwähnen.«

»Belohnung?«

Claudia schaute ihren Schwager fragend an. Sebastian beendete das Gespräch und blickte in die Runde.

»Ja«, nickte er, »George Whitaker lobt fünfzigtausend Euro für die Wiederbeschaffung der Madonna aus.«

»Donnerwetter!«

Max hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, sein Bruder blickte ihn tadelnd.

»Du sollst net fluchen!«

Der Polizist nickte.

»Ja, entschuldige. Ich war bloß so überrascht, dass es mir einfach so herausgerutscht ist.«

Der gute Hirte von St. Johann lächelte.

»Wisst ihr was?«, meinte er augenzwinkernd, »genau dasselbe hab ich gedacht, als George mir eben diese Summe nannte …«

*

Thomas Bacher überquerte die kleine Brücke und gelangte von der Fußgängerzone zur Jungendherberge, hinter der ein Weg direkt zu der Badestelle führte.

Den Ausklang des gestrigen Abends hatte sich der Privatdetektiv wahrlich anders vorgestellt. Den ganzen Tag über hatte er überlegt, ob er Ingrid gestehen sollte, dass ihr Schwager ihn beauftragt hatte, sie und das Kind zu suchen.

Es war das erste Mal, seit er in diesem Beruf arbeitete, dass er sich in die Frau, die er beobachten sollte, verliebt hatte. Thomas konnte gar nicht genau sagen, wie viele eifersüchtige Ehemänner ihn schon beauftragt hatten, ihre holden Gattinnen zu beschatten und womöglich beim Seitensprung zu erwischen … Jedenfalls waren attraktive Frauen darunter gewesen, bei denen man schon ein Auge mehr hätte riskieren, oder gar schwach werden können. Aber Thomas Bacher war in diesem Punkt eisern – bis zu dem Tag, an dem er Ingrid Brammer kennenlernte.

Ja, er liebte sie, war sich der Detektiv bewusst geworden, und er wollte diese Liebe nicht auf einer Lüge aufbauen. Dass Ingrid ihn ebenfalls mehr als nur sympathisch fand, dafür glaubte er Anzeichen bei ihr erkannt zu haben.

Also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu sagen – und das war gründlich nach hinten losgegangen!

Nachdem sie ihn hatte sitzenlassen und wutentbrannt davon gelaufen war, hatte Thomas noch lange Zeit allein am Tisch gesessen und sich einen Dummkopf geschimpft.

Aber wäre es besser gewesen, seinen Beruf und den Auftrag, den er angenommen hatte, zu verschweigen?

Im Nachhinein schaute es fast so aus, und doch hoffte er, dass er an diesem Sonntag Gelegenheit haben würde, mit Ingrid in aller Ruhe sprechen zu können. Vielleicht am Abend, wenn Hanna schon schlief.

Doch so lange konnte er nicht warten, ohne zumindest einen Blick auf die Frau, die er so sehr liebte, geworfen zu haben.

Also ging Thomas zur Pension Jüttmann, in der Hoffnung, Ingrid würde ihn auch sehen wollen.

»Tut mir leid«, meinte die Pensionswirtin und schüttelte bedauernd den Kopf, »Frau Brammer ist mit ihrer Nichte zum Schwimmen gegangen.«

Thomas bedankte sich und machte sich auf den Weg zum ›Strand‹. Ein niedriger Zaun trennte den Gehweg von der Wiese, auf der sich zahlreiche Badelustige niedergelassen hatten. Es dauerte nicht lange, bis er Ingrid und Hanna im Wasser entdeckte.

Thomas setzte sich auf eine Bank und schaute zu, wie sie im Wasser planschten.

Die beiden spielten ausgelassen und bemerkten ihn nicht. Das Mädchen konnte gar nicht genug davon bekommen, die Rutsche zu erklimmen und dann bäuchlings ins Wasser zu gleiten, wo die Tante stand und sie auffing. Das jubelnde Lachen und Kreischen hallte bis zu Thomas hinüber.

Was er Ingrid sagen wollte – vor­ausgesetzt, sie sprach mit ihm – das wusste er ganz genau. Nicht so sicher war der Detektiv, wie er seinem Auftraggeber gestehen sollte, dass er nicht mehr für ihn arbeiten wolle …

Während Thomas Bacher auf der Bank saß und zu Tante und Nichte schaute, grübelte er über dieses Problem nach. Von der nahen Kirche schlug es fünf Uhr nachmittags. Der Flensburger nahm den Glockenklang nur unbewusst wahr – aber er hatte plötzlich eine Idee.

Der erste Kontakt, den ›Big Tom‹ ihm vermittelt hatte, war über das Pfarrhaus in St. Johann gelaufen.

»Ich weiß, dass du da oben der Beste bist«, hatte der Münchner Kollege gesagt, »aber wenn die irgendein Problem hast, dann wende dich an Pfarrer Trenker. Hochwürden weiß immer einen Rat!«

Na ja, und ein Problem hatte er jetzt ja! Ein sehr großes sogar!

Die Nummer war in seinem Smartphone gespeichert, Thomas wählte sie und wartete.

»Pfarrhaus St. Johann«, vernahm er die Stimme des Geistlichen.

»Thomas Bacher hier.«

»Herr Bacher, schön, dass Sie sich melden. Gibt’s was Neues?«

Der Detektiv räusperte sich.

»In der Tat, Hochwürden, ich bräuchte Ihre Hilfe. ›Big Tom‹ hat gesagt, ich solle mich an Sie wenden, wenn ich nicht mehr weiterweiß …«

Wie es seine Art war, hörte Sebastian erst einmal zu, ohne den Anrufer zu unterbrechen. Erst dann teilte er seinen Ratschlag mit.

»Dass Sie sich in die Ingrid Brammer verliebt haben, das halt’ ich für eine schöne Wendung in dem Drama«, meinte er. »Freilich kann ich versteh’n, dass Sie ihr die Wahrheit über sich sagen mussten, aber ich versteh auch Ingrids Reaktion. Ganz offenbar hat sie sich auch in Sie verliebt, und nun erfahren zu müssen, dass ihr Schwager Sie mit der Suche nach ihr beauftragt hat, hat Ingrid Brammer ganz sicher schwer enttäuscht, muss sie doch glauben, dass Sie sich nur an sie herangemacht haben, um Ihren Auftrag zu erfüllen.«

»Aber das stimmt ja nicht!«

»Ich weiß, Herr Bacher, aber Ingrid net. Und deshalb dürfen S’ net aufgeben.«

»Also, eigentlich wollte ich …«

»Den Auftrag zurückgeben?«

»Ja.«

»Das ehrt Sie, Thomas, aber ich denk’, Sie sollten weiter am Ball bleiben. Versuchen S’, Ingrid Brammer zu überzeugen, dass Sie es ehrlich mit ihr meinen.«

Der Detektiv seufzte.

»Ich fürchte, sie wird mir nicht glauben.«

»Nun, für den Fall wird mir schon noch was einfallen«, erwiderte der Bergpfarrer. »Einstweilen möchte ich Sie aber bitten, Ingrid net aus den Augen zu lassen, damit sie jetzt aus Enttäuschung nix Unüberlegtes tut.«

»Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Also gut, ich versuche mein Bestes.«

»Davon bin ich überzeugt«, lächelte Sebastian und beendete das Gespräch.

Ein neues Problem also, wenn auch eines, bei dem er schon einen Hoffnungsschimmer am Horizont sah. Ganz im Gegensatz zur gestohlenen Madonna, dachte er. Auf alle Fälle würde der gute Hirte von St. Johann sich auch darum kümmern müssen.

*

»So, fertig, das war’s.«

Steffen Sander packte seine Instrumente zusammen und verstaute sie in dem VW-Bus. Der Vermessungsingenieur drehte sich um und schaute über die Bergwiese hinunter ins Tal. Hinter ihm ragten die Felsen in die Höhe, dunkler Tann kennzeichnete die Grenze des Bergwalds, davor lag eine Schotterhalde, über die Steffen so manches Mal geklettert war.

Aus den Schatten der Bäume trat eine Gestalt, sah ihn und winkte. Steffen winkte lächelnd zurück.

»Na, warst du erfolgreich?«, rief er.

Jenny Hofer hob einen Spankorb, den sie in der rechten Hand trug.

»Mehr geht net hinein.«

Leichtfüßig lief sie über den Pfad, direkt in seine Arme.

»Lass sehen.«

Stolz präsentierte die Österreicherin ihren Fund, in dem Korb lagen Eierschwammerln, Steinpilze und Wiesenchampignons.

»Und die kann man alle essen?«, fragte der Deutsche skeptisch.

Die Journalistin schmunzelte.

»Na ja, essen kann man sie schon«, meinte Jenny augenzwinkernd, »ob sie einem auch bekommen, ist freilich eine andre Geschichte.«

Sie lachte hell auf, als sie Steffens Gesicht sah.

»Wenn man sich geirrt hat, erfährt man’s ohnehin net mehr …«, tröstete sie ihn.

»Na, dann bin ich ja beruhigt«, gab er, schief lächelnd, zurück. Er deutete zum Wagen.

»Ich bin fertig. Jetzt noch die Unterlagen in das Büro von Frau Belfort bringen, und dann steht meinem Urlaub nichts mehr im Wege.«

Steffen Sander, der im Auftrag Clarissa Belforts, die wiederum für ein amerikanisches Unternehmen arbeitete, verschiedene Almen vermessen hatte, hatte sich kurzerhand entschlossen, seinen Aufenthalt im Wachnertal zu verlängern. Der Grund dafür war die hübsche Österreicherin, in die er sich verliebt hatte.

Jenny war ursprünglich nur für eine Woche nach St. Johann gekommen, um einen Kurzurlaub einzulegen, nachdem sie zuvor einige Wochen im Auftrag der Zeitung, für die sie arbeitete, sehr intensiv recherchiert hatte. Dabei ging es um das amerikanische Unternehmen ›Holiday Mansions‹, das in Österreich auf stillgelegten Almen, Ferienhäuser gebaut hatte.

Aus Plastik! Mit echtem Kunstrasen und Plastikkühen vor der Hütte!

Just bevor der Urlaub zu Ende war, hatte der Chef der jungen Österreicherin erfahren, dass genau solch ein Frevel an der Natur auch im Wachnertal geplant war, und Jenny gebeten, noch in St. Johann zu bleiben und auch hier zu recherchieren.

Inzwischen war der Aufenthalt der Journalistin ein weiteres Mal verlängert worden, am Morgen war der ›Kurier‹, mit der Schlagzeile über den Diebstahl der Madonna, erschienen und hatte für hektisches Treiben gesorgt.

Etliche Journalisten verschiedenster Zeitungen, aus dem In- und Ausland, waren angereist, der Rundfunk war ebenso vertreten, wie das Fernsehen. Und Pfarrer Trenker, den zahlreiche Anfragen wegen eines Interviews erreichten, sah sich genötigt, für den Nachmittag eine Pressekonferenz zu geben, um nicht ständig wiederholen zu müssen, was geschehen war.

Leider hatte Jenny ihr Zimmer in der Pension Stubler räumen müssen. Es war ohnehin ein kleines Wunder gewesen, dass sie ihren Aufenthalt dort hatte noch einmal verlängern können. Jetzt aber war das Zimmer reserviert, und Jenny hätte auf der Straße gestanden, wenn nicht der Bergpfarrer ihr eines der Gästezimmer im Pfarrhaus angeboten hätte. Steffen hingegen konnte in der Pension ›Edelweiß‹ wohnen bleiben, da ein Gast seine Reservierung kurzfristig storniert hatte.

Da Jenny Pfarrer Trenker persönlich kannte und mit dessen Schwägerin, einer Berufskollegin von ihr, befreundet war, hatte die Österreicherin den anderen Journalisten gegenüber natürlich einen kleinen Vorteil. Sie hatte bereits gestern von dem Kirchendiebstahl erfahren und noch am selben Tag ihren Artikel an die Redaktion geschickt, und so waren der ›Kurier‹ in Deutschland und ›Auf den Punkt‹, in Österreich, die einzigen Zeitungen auf der ganzen Welt, die darüber berichteten, dass Unbekannte die wertvolle Madonnenstatue aus der Kirche in St. Johann gestohlen hatten.

Jenny und Steffen stiegen in den VW-Bus und fuhren ins Tal hinunter. Während die Journalistin zum Pfarrhaus ging, um der Haushälterin die Schwammerln zu bringen, hielt der Deutsche vor dem Haus, in dem früher einmal Patricia Vangaalen residiert hatte. Jetzt hatte Clarissa Belfort ihre Firma für Unternehmensberatung in den oberen Räumen eingerichtet, während aus der früheren ›Vangaalen Privatbank‹ die ›Wachnertaler Bank‹ geworden war.

Der Vermessungsingenieur stieg aus, holte die Unterlagen aus dem Lederkoffer, im hinteren Teil des Wagens, und klingelte an der Tür.

Erst einmal tat sich nichts, aber Steffen war sicher, dass er von der kleinen Kamera, die an der Seite angebracht war, genauestens gefilmt und von irgendwem beobachtet wurde. Dann ertönte ein Summen, und Steffen konnte die Tür aufdrücken.

Im Gegensatz zu den beiden anderen Besuchen, die hier gemacht hatte, erreichte er das Büro allerdings nicht.

Am Fuße der Treppe stand ein Mann, trotz der Sommerhitze in Anzug und Krawatte, und sah ihm lächelnd entgegen.

»Guten Tag, Herr Sander«, sagte er, ohne seinen Namen zu nennen. »Ihre Arbeit ist beendet?«

Steffen nickte und reichte ihm den Ordner mit den Unterlagen. Im Gegenzug hielt der Mann ihm einen Umschlag entgegen.

»Ihr Honorar. Sie akzeptieren einen Scheck?«

»Ja, selbstverständlich, vielen Dank.«

Der Landvermesser war überrascht, er hatte nicht damit gerechnet, so schnell bezahlt zu werden. Er steckte den Umschlag in die Mappe, in der sich der Ordner befunden hatte und verabschiedete sich.

Der Mann nickte ihm freundlich zu und wünschte eine gute Heimreise.

*

Stefan Birkner stieg aus dem Auto und wischte sich müde über die Augen. Trotz allem ging das Leben weiter, und die Arbeit ließ sich nicht einfach aufschieben. Vor der großen Strafkammer des Landgerichts fand der wichtige Prozess statt, in dem der Anwalt die Verteidigung übernommen hatte. Dieses Mandat stammte noch aus der Anwalts-Sozietät, in der Stefan früher Mitglied war, ehe er sich in St. Johann niedergelassen hatte.

Melanie Lindemann kam aus dem Haus gelaufen und umarmte ihn.

»Gibt’s was Neues?«, fragte er.

Die Erzieherin nickte.

»Der Privatdetektiv hat sich gemeldet«, antwortete sie.

»Hochwürden bittet dich, am Abend ins Pfarrhaus zu kommen. Aber jetzt legst dich erst einmal ein bissel hin, ich hab einen Kuchen gebacken, und der Kaffee ist auch schon gekocht.«

Stefan küsste sie zärtlich.

»Du bist einfach wunderbar!«, lächelte er und legte den Arm um sie.

Melanie hatte einen Schokoladenkuchen gebacken, mit einer dicken Glasur. Sie schnitt zwei Stücke ab und legte sie auf die Teller. Kaffee wollten sie rasch auf der Terrasse trinken, und dann sollte Stefan sich erst einmal ausruhen.

»Hm, schmeckt lecker!«, lobte der Anwalt.

Er machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Was der Herr Bacher wohl gewollt hat …?«, überlegte er laut. »Hochwürden hat nix gesagt?«

Die Erzieherin schüttelte den Kopf.

»Aber ich denk, wenn’s was Schlimmes wär, hätt er dich net erst für den Abend zu sich gebeten.«

Stefan nickte.

»Recht hast du, kluge Frau«, schmunzelte er und griff nach ihrer Hand.

Nie wieder, so hatte er nach Monikas Tod geglaubt, könnte es eine andere Frau in seinem Leben geben. Doch seit er Melanie kannte und liebte, wusste er, dass er genau die Frau gefunden hatte, mit der er seinen weiteren Lebensweg gehen wollte. Und für Hanna würde sie eine gute Mutter sein.

Nach zwei Stunden Schlaf, fühlte sich Stefan erholt. Er hatte eine ausgiebige Dusche genommen und sich umgezogen. Melanie richtete zum Abendessen einen Salat her, zu dem sie frisches Brot aufschnitt und etwas Käse auftischte.

»Schön, dass ihr da seid«, begrüßte Sebastian das junge Paar, als es ins Pfarrhaus kam.

Er führte die Besucher in sein Arbeitszimmer und bat sie, Platz zu nehmen.

»Tja, so wie’s ausschaut, haben wir da eine ganz positive Entwicklung in Friedrichstadt«, begann der Geistliche das Gespräch.

Stefan und Melanie sahen ihn gespannt an.

»Inwiefern?«, fragte der Anwalt.

Der Bergpfarrer schmunzelte. »Insofern«, antwortete er, »als dass Thomas Bacher sich in Ingrid verliebt hat, und umgekehrt ist’s wohl genauso …«

»Was? Tatsächlich?« Stefan strahlte Melanie an. »Das wär ja ganz wunderbar!«

Sebastian hob die Hand.

»So ganz ist die Geschichte noch net ausgestanden«, schränkte er ein und erzählte, was der Privatdetektiv ihm am Telefon gesagt hatte. »Jetzt können wir nur hoffen, dass der Thomas die richtigen Worte findet, um Ingrid von seinen ehrlichen Absichten zu überzeugen.«

Der Anwalt strich sich nachdenklich über die Stirn.

»Ob ich Ingrid mal in der Pension anrufen soll?«, meinte er.

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Das halte ich für keine gute Idee«, entgegnete er. »Das ist etwas, das die beiden unter sich ausmachen müssen. Aber wenn ich die Situation richtig einschätze, dann dürfte einem glücklichen Ende nix im Wege steh’n. Ingrid war all die Jahre nur auf dich fixiert, wenn sie sich jetzt in einen andren Mann verliebt hat, dann heißt das, dass sie es akzeptiert hat, dich net bekommen zu können.«

Stefan Birkner nickte. »Das ist zweifellos richtig.«

Er griff nach Melanies Hand.

»Ach, wär das schön, wenn’s wirklich so käme!«, sagte er. »Ich gönne Ingrid ihr Glück und würd mich mit ihr freu’n.«

»Das würden wir alle«, bemerkte der Geistliche.

Melanie nickte zustimmend.

»Ich hoff, dass sie und Hanna bald wieder hier sind«, sagte sie leise. »Ich vermiss das Madel sehr.«

»Ich auch«, nickte Stefan. »Aber zum Glück weiß ich sie bei Ingrid in den besten Händen.«

Die Besucher verabschiedeten sich, nachdem sie sich zuvor erkundigt hatten, ob es etwas Neues in Sachen Madonnenraub gebe.

»Bis jetzt leider net«, antwortete Sebastian. »Jetzt setz ich all meine Hoffnung auf die Pressekonferenz und die Artikel, die morgen in den Zeitungen erscheinen. Wenn wir Glück haben, bekommt die Polizei vielleicht einen brauchbaren Hinweis, immerhin winkt ja eine recht hohe Belohnung.«

Der Bergpfarrer brachte das junge Paar zur Tür, auf dem Weg zurück hörte er schon das Telefon läuten. Er nahm den Hörer des Apparats, der im Flur stand.

»Pfarrhaus St. Johann.«

»Ich bin’s«, hörte er die Stimme seines Amtsbruders aus Engelsbach.

»Blasius, was kann ich für dich tun?«

»Falsch, mein Lieber, was kann ich für dich tun, lautet die Frage. Erst einmal will ich mich für die köstlichen Marmeladen und das Obst bedanken …«

Sebastian hatte einen ganzen Korb Einmachgläser ins Pfarrhaus an St. Anna gebracht, um im Keller Platz für die neue Ernte zu schaffen.

»Keine Ursache. Hauptsache, es schmeckt euch.«

»Ganz wunderbar!«, antwortete Blasius Eggensteiner, »aber deswegen ruf ich net an.«

»Hat dein Bekannter das Grab des Apostels etwa schon erreicht?«

»Grad eben hat er sich aus Santiago de Compostela gemeldet.« Der Engelsbacher Geistliche lachte leise. »Wie ich den Schlingel kenn, ist er net den ganzen Jakobsweg gepilgert«, setzte er hinzu. »Bestimmt ist Pater Konstantin per Anhalter gefahren … Vielleicht aber auch hat der Herrgott da seine Finger im Spiel gehabt, zu deinem und vielleicht auch meinem Wohl, Sebastian. Also, wie versprochen, hab ich ihn nach Weih­bischof Dr. Clemens Reuter gefragt – und – was soll ich sagen? In der Münchner Residenz, unsres hochgeschätzten Herrn Kardinal, ist dieser Name gänzlich unbekannt!«

Sebastian war elektrisiert.

»Irrtum ausgeschlossen?«, fragte er.

»Das hab ich Pater Konstantin auch gefragt, ja, ein Irrtum ist ausgeschlossen!«

Der Bergpfarrer atmete auf.

»Dank dir, Blasius«, sagte er. »Du hast mir wirklich sehr geholfen.«

*

»Frau Brammer, Telefon für Sie.«

Ingrid hatte auf das Klopfen an der Zimmertür nicht reagiert, jetzt war die Stimme der Pensionswirtin lauter geworden. Hastig warf die junge Frau einen Blick auf das Bett, in dem Hanna schlief, sie hatte beide Augen geschlossen.

»Entschuldigen Sie«, bat Karin Jüttmann, »ich wollte die Kleine nicht wecken und habe leise gesprochen, deshalb haben Sie mich beim ersten Mal wohl nicht gehört.« Sie hielt ein Mobilteil ihres Haustelefons in der Hand und reichte es Ingrid.

»Wer ist es denn?«

»Er hat schon gestern und heute Morgen nach Ihnen gefragt …«

Die Bayerin holte tief Luft und nahm das Telefon.

»Vielen Dank.«

»Legen Sie es nachher einfach auf die Station am Tresen«, verabschiedete sich die Besitzerin der Pension.

Ingrid nickte und schloss die Tür. Ihr Blick fiel auf den Spiegel an der Wand daneben und auf ihr Abbild darin.

Nein, man sah ihr nicht mehr an, dass sie geweint hatte. Ingrid wollte auch nicht mehr, es waren genug Tränen geflossen, heimlich, damit Hanna nichts davon mitbekam. Zuerst wegen Stefan, der sich in Melanie Lindemann verliebt hatte, und jetzt wegen Thomas Bacher, dessen Geständnis sie überrascht und gekränkt hatte.

Wie konnte sie nur so dumm sein, sich in ihn zu verlieben!

Und zu glauben, seine Avancen seien ernst gemeint?

Alles nur Bluff, Täuschung, um sich an sie heranzumachen und seinen Auftrag zu erfüllen!

»Brammer.« Kurz und hart hatte sie ihren Namen genannt, innerlich ganz auf Abwehr eingestellt. Noch einmal würde es ihm nicht gelingen, sie einzulullen, noch einmal würde sie ihm nicht glauben.

Er räusperte sich. »Ähem …, ich bin es.«

»Sie wünschen?«

Thomas Bacher seufzte innerlich. Eigentlich hatten sie sich schon geduzt, wenn sie ihn jetzt wieder siezte, bedeutete das, dass sie nicht bereit war, ihm zu vergeben.

»Ingrid«, nannte er sie dennoch beim Vornamen, »wir müssen miteinander reden.«

»Ich wüsst net, worüber«, gab sie sich ablehnend.

»Das weißt du sehr gut …«

»Etwa über Ihre Lügen?«, unterbrach sie ihn. »Oder über Ihren Auftrag? Was ist eigentlich damit? Ich rechne jeden Moment damit, dass die Polizei vor der Tür steht und mich festnimmt. Aber eines sag ich Ihnen gleich, mit Ihnen wird Hanna net geh’n. Im Leben net! Eher geht die Welt …«

»Ja, Himmelherrgott noch einmal, jetzt halte doch endlich die Luft an und lass mich auch mal zu Wort kommen!«, fuhr er in ihren Redeschwall. »Kein Mensch will dich festnehmen lassen, und dir das Kind wegnehmen, schon gar nicht. Aber wir müssen zusammen eine Lösung finden. Bitte, überlege doch mal! Was willst du denn unternehmen? Weiter fortlaufen? Wie lange soll das denn gehen? Du kannst dich nicht ständig verstecken, und eines Tages wird dein Schwager genug davon haben und keine Rücksicht mehr nehmen. Dann schaltet er die Polizei ein, und du wirst steckbrieflich gesucht. Ingrid, bitte, das kannst du doch nicht ernsthaft wollen!«

Ingrid Brammer antwortete nicht. Sie wusste, dass er recht hatte, alles was Thomas Bacher eben gesagt hatte, war ihr auch schon durch den Kopf gegangen. Und dennoch wollte sie nicht mit ihm darüber sprechen, schon gar nicht von Angesicht zu Angesicht, denn wenn sie ihm gegenüberstand, würde sie nicht mehr so hart sein können, wie sie es jetzt war.

»Bist du noch da? Ingrid …?«

»Tut mir leid«, erwiderte sie und drückte die Taste, die das Gespräch beendete.

Thomas Bacher blickte verdutzt auf sein Telefon – und steckt es schließlich ein.

Was hatte Pfarrer Trenker gesagt?

Er solle Ingrid nicht aus den Augen lassen, damit sie nichts Unüberlegtes tat.

Nun, das würde er tun. Gleich morgen in aller Frühe würde er vor der Pension auf sie warten und ihr folgen, auf Schritt und Tritt.

Der Flensburger lehnte sich zurück und schloss einen Moment die Augen.

Ob Hochwürden im fernen St. Johann wohl recht hatte, würde es ein glückliches Ende für ihn und Ingrid geben, oder war seine Liebe aussichtslos?

Er sah ihr Gesicht, hörte ihre Stimme, ihr Lachen.

Wie hatte Casanova einmal geschrieben?

Eine Frau sei wie eine Festung und wollte erobert werden.

Nun, er, Thomas, war gewiss kein Frauenheld, aber wenn das die Lösung war – an ihm sollte es nicht scheitern. Er würde Ingrid solange mit Anrufen, Grüßen und Blumen bombardieren, bis sie aufgab. Keine andere Frau hätte ihn dazu bringen können, so hartnäckig zu sein. Ingrid Brammer schon…

*

Für Sebastian war die Nachricht, dass der Bekannte von Blasius Eggensteiner, Pater Konstantin, niemanden in der Münchner Residenz des Kardinals kannte, der ›Dr. Clemens Reuter‹ hieß, keineswegs beruhigend. Bedeutete diese Tatsache doch, dass da etwas Ungeheuerliches im Gange war, das gegen den Bergpfarrer selbst oder Ottfried Meerbauer zielte. Und wer immer diese Intrige spann, musste mächtige Freunde und großen Einfluss haben. Als der gute Hirte von St. Johann seinen Bischof darüber informierte, fiel Ottfried aus allen Wolken.

»Aber …«

Die beiden Männer spazierten durch den Park der bischöflichen Residenz, wie sie es immer taten, seit es ans Licht gekommen war, dass das Arbeitszimmer Meerbauers, und vermutlich noch andere Räume, abgehört wurden.

Der Bischof rang die Hände. »Aber das ist doch unmöglich!«, rief er unterdrückt aus. »Sämtliche Dokumente, die Dr. Reuter vorgelegt hat, trugen, außer den Siegeln des Kardinals, auch die Unterschriften seiner Eminenz. Das kann doch unmöglich alles gefälscht sein!«

Sebastian machte eine bedeutsame Miene.

»Ich fürchte, doch«, erwiderte er. »Wer immer hinter der ganzen Angelegenheit steht, er hat net nur die Macht, einen falschen Weihbischof hier einzuschleusen, sondern konnte auch die Legitimation des angeblichen Dr. Reuters mit echten Dokumenten untermauern.«

»Aber was, um alles in der Welt, bezweckt man denn nur damit?« Ottfried schüttelte fassungslos den Kopf.

Der Bergpfarrer machte eine vage Handbewegung. Dieselbe Frage hatte er sich freilich auch schon gestellt. Und nach seinen Überlegungen, konnte es darauf nur eine Antwort geben.

»Jemand will mir schaden«, erklärte er. »Es ist derselbe Mensch, der hinter dem Artikel über die angebliche Ausbeutung von Jugendlichen auf ›Hubertusbrunn‹ steht, und vermutlich ist er auch für den Diebstahl der Madonnenstatue verantwortlich. Und weil du, trotz all der Anfeindungen gegen mich, zu mir hältst, ist man bemüht, dich aus deinem Amt zu entfernen. Das hat Pater Antonius sehr wohl erkannt. Wenn Dr. Reuter an deiner Stelle hier das Sagen hat, wird er als Erstes die Jugendeinrichtung im Jagdschloss verbieten und, wie er es ja schon angedeutet hat, ›Hubertusbrunn‹ verkaufen.«

Ob man das Jagdschloss tatsächlich als soziale Einrichtung halten müsse oder nicht besser gewinnbringend verkaufen solle, hatte der falsche Weihbischof, von dem noch niemand seinen richtigen Namen wusste, ganz nebenbei durchblicken lassen.

Dem Bischof waren diese Worte, als sie seinerzeit fielen, gar nicht so ins Bewusstsein gedrungen, Sebastian hingegen, hatte die darin versteckte Drohung sofort erkannt.

»Herr im Himmel, das darf doch alles nicht wahr sein!« Ottfried Meerbauer wirkte, wie von einer Zentnerlast gebeugt. »Was machen wir denn jetzt? Wir können doch nicht zusehen, wie böse Mächte hier eindringen und alles verderben!«

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Keine Sorge«, versprach er, »das werden wir auch net.«

»Aber was willst du tun?«

Sebastian lächelte. »Es muss gelingen, Dr. Reuter zu überführen und so an seine Hintermänner zu gelangen.«

»Und wie willst du das anstellen?«

»Ach, ich hab da schon eine Idee…«

»Was ist denn mit der Madonna? Sebastian, du kannst dich doch nicht um alles gleichzeitig kümmern! Gibt es denn schon erste Hinweise auf den oder die Täter?«

Die Berichterstattung in den Medien hatte, vor allem im süddeutschen Raum und den Anrainerstaaten, großes Interesse hervorgerufen. Besonders die hohe Belohnung schien ein Anreiz zu sein, die Behörden mit Hinweisen zu überschwemmen.

»Leider war bisher nix Brauchbares darunter«, bedauerte der Geistliche. »Aber ich vermute, dass das alles, der angebliche Weihbischof und der Raub der Madonna, im Zusammenhang steht.«

Ottfried schlug die Hände zusammen. »Gütiger Gott, das sind ja richtiggehend kriminelle Machenschaften!«, rief er entsetzt aus. »Und so etwas bei uns!«

Sebastian konnte die Verzweiflung seines Bischofs und Freundes verstehen. So ein Komplott kannte man aus Kriminalfilmen, aber gewiss nicht aus einer beschaulichen Diözese.

Ottfried ballte die Hände zu Fäusten. »Sag mir, was ich tun kann!«

»Dass du hinter mir stehst, ist schon genug«, antwortete der Bergpfarrer. »Du musst nur aufpassen, dass Dr. Reuter, oder wie immer der Mann heißen mag, net bemerkt, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind. Alles andre überlass mir.«

Bischof Meerbauer nickte. »Was wirst du jetzt unternehmen?«

Sebastian lächelte wieder. »Als Erstes werde ich einen Bekannten anrufen«, antwortete er. »Einen Privatdetektiv, der sich als anständiger Bursche gezeigt hat, als es damals um Claudia Trenker ging, und den Mann, der sich – zu Unrecht – an ihr rächen wollte.«

›Big Tom‹ um Hilfe zu bitten, das war Sebastians erster Gedanke gewesen, als Blasius Eggensteiner ihn angerufen hatte.

*

Thomas Bacher saß in seinem Wagen, einige Meter von der Pension Jüttmann entfernt, und übte sich in Geduld.

Indes war das eine seiner herausragenden Eigenschaften, denn Geduld war eine wichtige Voraussetzung für einen Privatdetektiv, wenn er mit Erfolg in seinem Beruf arbeiten wollte.

Der Flensburger konnte beim besten Willen nicht sagen, wie viele Stunde er damit verbracht hatte, zu warten; auf Personen, die er observieren sollte, auf Ereignisse, die oft erst nach Stunden eintraten. Und immer musste er darauf achten, dass er unentdeckt blieb, weil sonst die ganze Mission gescheitert wäre. In diesem Fall fiel ihm das Warten leicht. Seit sieben Uhr stand das Auto hinter zwei davor parkenden Wagen, und wenn Ingrid die Pension verließ, würde sie ihn nicht sofort bemerken – solange sie nicht die Richtung zur Remonstrantenkirche einschlug. Die Gefahr bestand aber vermutlich nicht, denn in die Innenstadt führte die andere Richtung.

Zweimal waren schon Leute aus dem Haus gekommen, aber immer waren es andere Gäste der Pension, wie sich unschwer an den umgehängten Rucksäcken und Fotokameras erkennen ließ.