Die Köchinnen von Fenley

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Inhaltsverzeichnis

VORSPEISE

Wöchentliche Essensrationen in Kriegszeiten –
für einen Erwachsenen

100 g Speck oder Schinken (etwa 4 Scheiben Speck)

Fleisch im Wert eines Schillings und zwei Pence (2 Pfund Hackfleisch oder 1 Pfund Steak oder Hüftsteak)

50 g Käse (ein 5 Zentimeter breites Stück)

100 g Margarine (8 Esslöffel)

50 g Butter (4 Esslöffel)

1,5 l Milch

220 g Zucker (1 Tasse)

50 g Marmelade (4 Esslöffel)

50 g lose Teeblätter (ergibt 15 bis 20 Tassen)

1 frisches Ei (plus 1 Paket Eipulver, ergibt 12 Eier im Monat)

80 g Süßwaren

Würstchen, Fisch, Gemüse, Mehl und Brot sind nicht rationiert, aber häufig schwer erhältlich. Konserven wie Sardinen, Sirup und Frühstücksfleisch sind Teil des neuen Punkteplans und können nur mit den zusätzlichen monatlichen 24 Punkten erworben werden.

 

Quelle: Zusammenstellung von Druckerzeugnissen des Ministeriums für Ernährung

Willow Lodge, Fenley, England
Juni 1942

Die goldene Frühlingssonne strahlte durch das große Küchenfenster, als eine wilde Bande Jungen ins Haus gestürmt kam, die Dünkirchen spielte und aufeinander schoss.

»Raus mit euch!« Audrey verscheuchte sie mit einem Küchenhandtuch.

Der Duft nach köchelndem Obst – Himbeeren, Erdbeeren und Johannisbeeren – erfüllte die große alte Küche und die schlanke vierzigjährige Frau fügte einen Hauch Zimt und eine Prise Muskatnuss hinzu. Sie trug einen Männerpullover, der in eine Männerhose gesteckt war, und sah abgekämpft und ungepflegt aus; an ihren alten Stiefeln klebte Erde aus dem Gemüsegarten.

Die Holzuhr an der Wand schlug zur halben Stunde und Audrey wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Ist das denn die Möglichkeit? Schon halb neun?«

Sie rannte zur Anrichte, um das knisternde Transistorradio lauter zu stellen, das inmitten von Töpfen und einem Haufen frisch geernteter Möhren stand. Die meisten Menschen hatten den Apparat im Wohnzimmer stehen, Audrey hingegen hatte ihren in der Küche platziert, als sie wie eine Besessene mit dem Backen begonnen hatte, um sich ein paar Schillinge dazuzuverdienen. Das war kurz nach Kriegsbeginn vor zwei Jahren gewesen, als das Flugzeug ihres Mannes Matthew über Düsseldorf abgeschossen worden war.

Seit seinem Tod arbeitete sie fast rund um die Uhr.

Audrey hatte den Wunsch schon lange aufgegeben, ein normaler Mensch sein zu wollen. In jeder freien Minute backte sie, unternahm alles, um sich ein Zubrot zu verdienen, oft bis spät in die Nacht. Sie hatte drei hungrige Söhne, jede Woche flatterten Mahnungen ins Haus, das zu allem Überfluss eine alte, einsturzgefährdete Villa war – so etwas wie Normalität war schon vor Jahren durch die staubigen Fenster entwichen. Und bei all der Arbeit waren weder die Schweine und die Hühner mit eingerechnet noch ihr großer Garten, in dem sie nun reichlich Obst und Gemüse erntete – die wertvollen zusätzlichen Lebensmittel, aus denen sie ihre Pies und Kuchen machte.

Erschöpfung, Desillusionierung und dieses panische Gefühl, dass gerade alles außer Kontrolle geriet, hatten sich in ihrem Herzen eingenistet.

Der Kinder wegen tat sie alles, um ihre Angst im Zaum zu halten. Sie umarmte die trauernden Jungen, während sie ihr eigenes Leid in sich hineinfraß. Mitten in der Nacht brach es jedoch aus ihr hervor. Weinen in der Öffentlichkeit war verpönt – Mr Churchill hatte den Menschen eingebläut, kollektive Verzweiflung würde das Land in die Knie zwingen.

Für Großbritannien sah es nicht gut aus. Aller Propaganda zum Trotz konnten die BBC Radio News der Ernst der Lage nicht überspielen. Die Briten waren nicht auf den Krieg vorbereitet gewesen. Ihre Städte waren von der Luftwaffe zerstört worden, ihre Truppen kämpften erbittert in Nordafrika und die U-Boote der Nazis blockierten den Import von Waffen, Metallen und – am gravierendsten – Lebensmitteln.

»Bin mal gespannt, welchen Unsinn Ambrose Hart heute verzapft«, sagte Audrey zu sich selbst und kostete von den köchelnden Beeren. Sie waren überreif. Sie hatte noch einen Teelöffel Zucker hinzugefügt, um etwas nachzuhelfen, denn die Säure der roten Johannisbeeren wurde durch die Süße der anderen Früchte nicht vollständig ausgeglichen. Die Regierung verteilte zusätzlichen Zucker zur »Marmeladenherstellung«, wenn man auf seine Marmeladenration verzichtete. Der Großteil des Zuckers wurde für die Pies verwendet, die Audrey backte und verkaufte – was den drei Jungen gar nicht gefiel. Häufig hatte die Familie wochenlang weder Zucker noch Marmelade.

Aber sie brauchte das Geld.

Vor einigen Monaten hatte die Bank das Darlehen zurückgefordert und damit gedroht, das Haus zu beschlagnahmen. Die Summe konnte sie jedoch einfach nicht aufbringen, trotz ihrer Witwenrente. Sie konnte das Haus auch nicht verkaufen, es war ihr Zuhause – und das von Matthew. Und außerdem war es in einem viel zu schlechten Zustand, ein Teil des Dachs war eingestürzt.

Letztendlich hatte sie dort um Hilfe bitten müssen, wo es ihr am wenigsten behagte – und das zerfraß sie seitdem.

»Ein Brotomelett«, säuselte Ambrose Hart im Radio, »macht aus einem einzigen Ei ein Frühstück für eine vierköpfige Familie. Dafür weicht man zehn Minuten lang zwei Messkappen Brotkrumen in Milch aus Milchpulver ein, rührt sie in ein geschlagenes Ei – oder ebenso viel Eipulver – und brät es dann wie ein normales Omelett.«

Alexander war ihr Erstgeborener, das A vom ABC der Landons, wie man sie nannte. B war Ben, ein wilder Elfjähriger, und C war der achtjährige Christopher, der seit einem Bombeneinschlag ins Nachbarhaus vor einem Jahr panische Angst vor allem hatte. Die anderen Jungen hatten sich von dem Schock erholt, der kleine Christopher jedoch schlief immer noch jede Nacht bei ihr im Bett. Er wollte das auch so beibehalten, obwohl die nächtlichen Luftangriffe inzwischen abnahmen. Die nervenaufreibenden nächtlichen Wanderungen zu ihrem behelfsmäßigen Anderson-Bunker im Garten mit ein paar Brötchen aus Hafermehl als Verpflegung verblassten langsam zu Erinnerungen und Audrey hoffte, das würde auch so bleiben.

Sie wusste, dass sie Alexander zu viel zumutete – und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis auch er einberufen würde. Sie würde ihn nicht aufhalten können. Er würde in die Fußstapfen seines Vaters treten und Mitglied der Air Force werden. Sie betete, dass ihr Sohn seinem Vater nicht auch ins Grab folgen würde.

Unbewusst prägte sie sich sein Gesicht ganz genau ein.

»Mein Schatz«, sagte sie, während sie sauber gescheuerte Möhren samt Grün klein schnitt. »Kannst du mir bitte die Rationsbücher bringen und mir sagen, was wir diese Woche noch bekommen?«

Alexander zog vier kleine schwarze Hefte aus einer Stofftasche. Weil in ihrem Haushalt alle älter als sechs waren, hatten sie alle die gleichen Rationsbücher für »Erwachsene«, die von der örtlichen Lebensmittelverteilungsstelle in der nahe gelegenen Stadt Middleton ausgegeben wurden. Die Jungs erhielten Extraportionen Milch, konzentrierten Orangensaft und eine Orange, wenn es welche gab; Erwachsenen war es verboten, Orangen zu essen.

Alexander blätterte durch jedes Heft, fand die richtige Woche und kontrollierte die Kästchen, die gestempelt oder ausgeschnitten waren. »Wir haben schon alles verbraucht, bis auf die Margarine und dieses fiese Trockeneipulver. Gott sei Dank haben wir die Hühner.«

Audrey ging zu ihm und schaute nach. »Oh Gott, ich brauche mehr Butter. Der Freiwilligendienst der Frauen braucht Homity-Pies für die mobile Großküche. Dafür kann ich keine Margarine nehmen. Dieses Zeug schmeckt schrecklich, weil sie da inzwischen Walöl reinmischen.«

»Das wird niemanden stören, Mum. Es ist doch bloß der FdF.« Er nahm die Margarine in die Hand. »Niemand erwartet Haute Cuisine von einem Imbisswagen. Jeder weiß, dass Homity-Pies nur aus in Teig eingebackenem Gemüse und Resten bestehen.«

»Sie müssen trotzdem genießbar sein.« Ihr kam eine Idee. »Wie viel Milch haben wir noch?«

Er blickte in die Vorratskammer. »Zwei halbe Liter, allerdings riecht die eine Milch ein wenig sauer.« Er streckte den Kopf aus der Kammer. »Wir brauchen unbedingt einen Kühlschrank. Der in Fenley Hall soll riesig sein.«

»Und woher sollen wir das Geld dafür nehmen? Wir haben ohnehin kaum genug, um über die Runden zu kommen. Hol jetzt bitte ein Marmeladenglas – da drüben auf der Kommode neben dem Radio stehen ein paar – und schütte die Sahne von der guten Milch dort hinein, dann dreh den Deckel gut zu und schüttele es.«

Alexander befolgte die Anweisungen und erst als er das Glas schüttelte, fragte er: »Wie lange muss ich das machen, Mum?«

»Ungefähr zwanzig Minuten. Beweg dich nicht von der Stelle.

»Das ist ja ein toller Trick!« Mit der freien Hand nahm er sich sein Buch, mit der anderen schüttelte er.

Audrey blickte nun aus dem Küchenfenster in den Garten. Am vorherigen Abend hatte sie die Beeren von den Sträuchern gepflückt, dabei hatte sie die Jungs wie immer eingespannt – anfangs mit gut gelauntem Zuspruch, dann mit Drohungen und kleinen Bestechungen. Gestern Abend zum Beispiel hatten sie eine Extrascheibe des grauen, krümeligen Brotes bekommen, das als »Staatsbrot« bezeichnet wurde. Alle waren sich einig: Es war ekelig, weil zu viel Weizenspelze und zu wenig Mehl enthalten war, doch zumindest wurde es nicht rationiert, sodass niemand großen Hunger leiden musste.

Die Sträucher hatten sie als Erstes im Garten gepflanzt. Matthew hatte sie im Frühling vor dem Krieg in die Erde gesetzt – er hatte die Beeren-Scones seiner Frau geliebt – und inzwischen trugen sie viele Früchte, weil Audrey sich gut um sie kümmerte. In einem kleinen Gewächshaus, das Alexander ihr zum vierzigsten Geburtstag gebaut hatte, reiften Aprikosen und Tomaten. Der Rasen war Beetreihen in unterschiedlichen Farben gewichen – großen, leuchtenden Salatköpfen, lilafarbenen Rote-Bete-Blättern, goldenen und grünen Zwiebeln. Zeitungsartikel riefen dazu auf, zugunsten von mehr Vielfalt seltene Gemüsesorten anzubauen, deswegen hatte sie Endivien, Schwarzwurzeln und sogar Topinambur gepflanzt, der praktischerweise auf dem kargen Boden im Vorgarten wuchs.

Die acht Hennen im langen Stall legten jeden Tag ein halbes Dutzend Eier und das Schwein würde die ganze Familie satt machen, wenn es ausgewachsen war. Es gehörte ihr nicht

Audreys selbst angebaute Lebensmittel lieferten die Grundlage für die Pies und Kuchen, die sie im Ort verkaufte und womit sie sich ihr dringend benötigtes Zubrot verdiente. Die örtliche Lebensmittelverteilungsstelle half ihr auch mit einigen Zutaten aus, weil sie beweisen konnte, dass sie sie verkaufte. Doch es reichte nicht. Alles in allem lief ihr aufstrebendes Geschäft jedoch recht gut. Die Köchin von Fenley Hall nahm immer einige Pies, ebenso wie der Pub im Ort und ein Café in Middleton. Es war allerdings schade, dass das Wheatsheaf, das einzige Restaurant im Ort, geschlossen hatte. Ein treuer Besteller weniger.

Sie würde sich neue Kunden in Middleton suchen müssen – wenn sie die Zeit dazu fand.

Alexander legte sein Buch zur Seite und lief umher, schüttelte das Glas und machte sich über das Durcheinander aus Vasen und Nippes auf der Kommode lustig. Er nahm einen alten silbernen Bilderrahmen in die Hand. »Wie war es in Willow Lodge, als du als Mädchen hier gelebt hast, Mum?«

»Oh, einfach großartig! Ich habe stundenlang in der Küche gestanden und mit meiner Mutter Kuchen gebacken.«

Sie ging zu ihm und sie betrachteten gemeinsam das Foto: Für ihre vierzehn Jahre war Audrey bereits recht groß, sie grinste in die Kamera und blinzelte gegen die Sonne. Die Mutter war etwa Mitte vierzig und obwohl sie als edwardianische Lady einen langen Rock und eine hochgeschlossene Bluse trug, war die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter frappant. In beiden hübschen, herzförmigen Gesichtern leuchteten gütige Augen. Beide hatten dunkelblondes Haar und dasselbe breite Lachen. Neben

Audrey fühlte sich kurz schuldig. Sie selbst war die Lieblingstochter ihrer Mutter gewesen und Gwendoline hatte deswegen immer schon Eifersucht verspürt. Obwohl Audrey nichts dafürkonnte – sie hatte sogar versucht, die Vorzugsbehandlung ihrer Mutter auszugleichen, indem sie Gwendoline ihre Spielsachen gab, mit ihr spielte und sie gewinnen ließ –, wusste sie, dass Gwendoline sie dafür hasste und immer hassen würde.

»Das Haus hat damals bestimmt ganz anders ausgesehen!«, lachte Alexander und blickte sich im Chaos um.

»Es war natürlich in einem besseren Zustand als heute! Wir haben trotzdem großes Glück, dass wir immer noch hier wohnen können, trotz der ganzen Schulden.« Sie spürte einen Kloß im Hals. »Leider hat dein Vater mit seiner Kunst nie viel verdient.« Das Haus war ihr und Matthew komplett vererbt worden und sie, die glücklichen Künstler, hatten blauäugig eine Hypothek darauf aufgenommen, ohne allzu viele Gedanken an das dazugehörige Darlehen zu verschwenden.

Alexander betrachtete die verschiedenen eigenartigen Bilder an den Wänden. »Das liegt an den seltsamen Formen und Farben, die gefallen nicht jedem.«

»Für ihn war Malen einfach Kunst und kein Mittel zum Geldverdienen.« Sie seufzte unabsichtlich. Ihr war erst nach Matthews Tod klar geworden, wie schrecklich hoch die Schulden angewachsen waren.

»Müssen wir irgendwann ausziehen?« Alexander schüttelte das Glas nicht weiter.

»Nun, wir tun, was in unserer Macht steht.« Sie betete, dass ihr improvisiertes Geschäft sie so lange über Wasser halten würde, bis sie noch mehr verdienen konnte. Es war schon schlimm

»Können wir nicht noch mehr backen?« Er schüttelte das Glas wieder, dieses Mal energischer. »Du hast gutes Geld verdient …«

»Das ist es eben. Ich schaffe einfach nicht noch mehr.« Das vertraute Gefühl der Überforderung überkam sie. Sie bemerkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen, unterdrückte sie aber ihrem ältesten Sohn zuliebe.

Ein zartes Klopfen ertönte an der Hintertür.

»Bist du das, Nell? Komm rein, komm rein.« Audrey verdrängte ihre Gedanken und öffnete einer mausähnlichen jungen Frau von neunzehn Jahren die Tür, an deren dürrem Körper eine Küchenmädchenuniform schlotterte. »Es tut mir leid, aber die Pies sind noch nicht ganz fertig. Kannst du zehn Minuten warten?«

Jeden Morgen kam Nell, um besondere Gemüsesorten und Kräuter abzuholen, wie Schwarzwurzeln, Endivien und Knoblauch, sowie die Pies, die Audrey für die Küche von Fenley Hall zubereitete.

»Ich k-kann aber nicht lange warten.« Nell war ein einziges Nervenbündel. Manchmal stotterte sie vor lauter Schüchternheit. Sie hatte mit nur vierzehn Jahren angefangen, in Fenley Hall zu arbeiten, und war direkt aus dem Waisenhaus dorthin gekommen, wo sie aufgewachsen war. »Mrs Quince ist ganz schrecklich aufgeregt, wegen Sir Stricklands Dinnerparty heute Abend. Er ist so anspruchsvoll.« Dann fügte sie hinzu: »Oh, pardon! Ich vergesse immer, dass Sie miteinander verwandt sind.«

»Ach, kein Grund zur Sorge!« Audrey verzog das Gesicht. »Nur weil diese aufgeblasene Kröte meine alberne Schwester geheiratet hat, heißt das nicht, dass ich viel mit ihnen zu tun habe. Sie lässt sich kaum noch dazu herab, mit mir zu sprechen, wo sie nun Lady Gwendoline ist.«

Alexander lachte. »So weit ist es schon gekommen! Tante Gwendoline bringt Hausfrauen bei, wie man Kriegsessen kocht! Alle sind plötzlich Experten, selbst die Gutbetuchten. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als sie sich nicht mal nach einem Servierlöffel gebückt hätte.« Seine Augen funkelten spitzbübisch. »Wenn du mich fragst, macht sie das eher wegen der Aufmerksamkeit und der Anerkennung und weniger, um ihre Mitmenschen während des Kriegs zu unterstützen.«

Audrey lachte und rümpfte die Nase. Ihre renitenten Kinder hatten Tante Gwendoline selten gesehen. Und zu den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sie mal getroffen hatten, hatte sie sich hochnäsig und missbilligend verhalten – so machte man sich in Willow Lodge schnell zum Gespött.

»Sie sieht aus wie ein Pferd«, sagte Alexander unverblümt, »mit diesem langen Gesicht und der großen Nase.«

Audrey unterbrach ihn brüsk. »In ihrer Jugend hatte sie zahlreiche Verehrer.«

»Sie war sich aber zu fein für sie, möchte ich wetten.«

Audrey schnalzte missbilligend mit der Zunge, stimmte ihm insgeheim aber zu. Ihre Schwester war nicht bloß affektiert, sondern auch hochmütig. Seitdem sie reich geheiratet hatte und ins prunkvolle Fenley Hall gezogen war, war sie die selbstgefälligste Frau im ganzen Landstrich. Ihr Ehemann, Sir Reginald Strickland, hatte genau im richtigen Augenblick ein Vermögen mit der Vermarktung von Dosenfleisch gemacht, als die Nachfrage nicht größer hätte sein können – die Dosen mit »Bully Beef« waren Teil jedes Mittag- und Abendessens der Soldaten. Sir Stricklands

Des einen Freud war des anderen Leid.

Die Schwestern sprachen kaum miteinander. Die Zeit und ihre Ehen hatten einen Keil zwischen sie getrieben. Erst, als Audrey wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, hatte sie ihre Schwester um ein hohes Darlehen gebeten, um die Hypothek und die Bankschulden zurückzuzahlen. Lady Gwendoline hatte geantwortet: »Natürlich helfen wir, aber halte dir stets vor Augen, dass du dich für ein solches Leben entschieden hast, Audrey. Niemand hat dich dazu gezwungen, einen Künstler zu heiraten und mit ihm eine Horde missratener Jungen zu bekommen, nicht wahr?«

Eine tiefe Falte zerfurchte Audreys Stirn, als sie an die horrenden wöchentlichen Rückzahlungen dachte, die die Stricklands nun von ihr forderten. Sie trieben sie langsam in den Ruin.

Alexanders Stimme riss sie aus diesen Gedanken. »Was kredenzt Sir Strickland denn heute Abend bei seiner Dinnerparty, Nell? Wie viele Gänge gibt es dieses Mal?«

»Es gibt fünf Gänge: Krabbensuppe, geräucherten Fasan als Vorspeise, dann Roulade vom Seebarsch, gefolgt von Rindermedaillons und schließlich die Beerenküchlein deiner Mutter mit gesüßter Vanillesahne.«

Alexander lachte höhnisch. »Wir verhungern fast wegen unserer mickrigen Rationen, werden gegen unseren Willen Vegetarier und Sir Strickland isst Fasan? Und nötigt dabei wahrscheinlich unsere Politiker, noch mehr Verträge mit ihm abzuschließen.«

Audrey klopfte Alexander freundschaftlich auf die Schulter. »Zumindest bezahlen sie gut für meine Backkünste. Ohne diese großen Dinnerpartys wären wir längst auf der Straße gelandet.«

Audrey sah die Seite des großen Gebäudes von der Hintertür aus; es stand keine halbe Meile entfernt. Sie konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass es sich – trotz der Bewohner – um ein unübertroffen schönes Herrenhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert handelte. Vier Stockwerke hoch, mit quadratischen Türmen, thronte der hellbraune Koloss auf dem Berg und herrschte über die umliegenden Gebiete.

Als Mädchen hatten sie – Audrey und Gwendoline – im Portal gestanden und sich ausgemalt, wie sie als berühmte Ladys in diesem großartigen Haus leben würden.

Für Audrey war es ein Märchen gewesen.

Für Gwendoline ein Plan.

Die Sendung Kitchen Front dröhnte weiter aus dem Transistorradio. »Wie Sie alle wissen, stellt Zucker uns wahrscheinlich vor die größte Herausforderung. Weil er importiert werden muss, ist Zucker mehr als andere Lebensmittel von den U-Boot-Blockaden betroffen. Wir müssen also Alternativen finden. Honig, Melasse und Sirup stehen auf dem Punkteplan – man bekommt 24 Punkte pro Monat, die man nach Belieben ausgeben kann. Süße Gemüsesorten können ebenfalls verwendet werden. Gegarte Möhren sind von Natur aus süß. Man kann Kindern beispielsweise Ziegenmilch schmackhaft machen, indem man sie mit pürierten Möhren mischt.«

»Pürierte Möhren?« Audrey verzog das Gesicht und kehrte zu ihren Beeren zurück. »Ich möchte wetten, Ambrose Hart hat noch nie Ziegenmilch probiert, ganz zu schweigen von Ziegenmilch mit Möhrenbrei.«

Alexander ging zu ihr. »Schon komisch, dass Ambrose nicht weit entfernt wohnt und sich trotzdem kaum blicken lassen hat, seitdem Dad in den Krieg gezogen ist. Man hätte meinen sollen, er würde uns ein wenig unter die Arme greifen, weil er doch mit

»Er hat viel zu tun, Alexander«, sagte Audrey.

»Warum fragst du nicht, ob du bei seiner Radiosendung mitarbeiten kannst?«

Sie lachte. »Frauen wollen die beim Radio nicht in solchen Positionen haben.«

»Aber Ambrose weiß rein gar nichts übers Kochen. Hat er nicht mal ein Reisemagazin moderiert? Eben noch Experte für die französische Riviera, nun für pürierte Möhren.«

Audrey blickte auf das Transistorradio. »Das ist der Lauf der Dinge. Männer, die noch nie einen Fuß in eine Küche gesetzt haben, erklären uns Frauen, wie wir zu kochen haben. Das Ministerium für Ernährung denkt, wir Frauen seien kopflose Arbeitsbienen, die eine Königin brauchen. Oder eher – in diesem Fall – einen König.«

»Du würdest die Sendung sehr viel besser moderieren als er oder jeder andere Moderator der BBC. Hör mal, was er von sich gibt! Er käut nur die Regierungspropaganda wieder. Als Nächstes wird er erzählen, dass die Lebensmittelrationierung wahnsinnig gesund für uns ist.«

»Kluge Hausfrauen wissen, dass dem Ministerium für Ernährung die Gesundheit der Bürger wichtig ist …«

Beide brache in Gelächter aus, während Ambrose Hart eloquent ein Thema erläuterte, von dem er nicht die geringste Ahnung hatte.

 

 

Für 4 Personen

 

Für den Teig

⅓ Tasse Margarine, Butter oder Schmalz

1 Tasse Mehl

Für die Füllung

4 große Kartoffeln

2 große Stangen Lauch, in Ringe geschnitten

Ein wenig Butter oder Margarine

2 Esslöffel gehackte frische Petersilie und Thymian oder 2 Teelöffel derselben getrockneten Kräuter

Sämtliche sonstige Gemüse- oder Fleischreste (gekocht)

1 Ei, verquirlt

½ Tasse geriebener Cheddar (mehr oder weniger, je nachdem, wie viel man noch aus den Rationen übrig hat)

1 Teelöffel Englischer Senf

Salz und Pfeffer

Den Ofen auf 200 Grad vorheizen. Für den Teig Fett mit dem Mehl vermischen, dann mit ein wenig Wasser binden. Ausrollen und in eine gefettete Pie-Form von 20 cm Durchmesser füllen. Für 10 Minuten in den Ofen stellen, dann wieder herausholen.

Ofen auf 220 Grad stellen. Kartoffeln schälen und schneiden. Garkochen, dann abgießen. In der Zwischenzeit den Lauch klein schneiden und in Butter oder Margarine anbraten, gehackte Petersilie und Thymian hinzufügen.

Abkühlen lassen, dann in dicke Scheiben schneiden, die einem Verpflegungspaket hinzugefügt werden können. Die Eier halten die Füllung zusammen. Das Gericht eignet sich hervorragend als Mittagessen oder nahrhafte Zwischenmahlzeit.