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Der Bergpfarrer
– Paket 2 –

E-Book 51-100

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-200-6

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Liebe, die der Himmel schenkt

... muß sich auf Erden beweisen

Roman von Toni Waidacher

»Wo steckt denn bloß der Tobias?« fragte der Brandtnerbauer ungehalten und sah auf die Uhr. »Schon nach sechs, und der Bursche ist immer noch net aufgestanden.«

Maria Brandtner, seine Frau, zuckte die Schultern.

»Andrea, schau doch mal nach, was da los ist«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Das kennt man doch gar net von ihm. Hoffentlich ist er net krank. Gestern abend hat er gar net gut ausgesehen, und über Bauchschmerzen hat er auch geklagt.

Die dreiundzwanzigjährige Bauerntochter stellte die Kaffeekanne auf den Tisch. Sie nickte.

»Hast recht, Mutter, der Tobias ist sonst die Pünktlichkeit in Person. Da stimmt was net.«

Sie verließ die Küche, eilte durch die Diele zur Haustür und überquerte rasch den Hof. Rechts vom Bauernhaus lag das Gesindehaus. Früher hatte es mehr, als nur einen Knecht gegeben, da hatten zuweilen bis zu acht Knechte und Mägde auf dem Hof gearbeitet. Doch im Laufe der Jahre war vieles anders geworden. Jetzt war nur noch der alte Tobias übriggeblieben, der schon seit mehr als vierzig Jahren auf dem Brandtnerhof lebte. Der Vater des jetzigen Bauern hatte ihn noch damals eingestellt.

Daran dachte die hübsche, dunkelhaarige Andrea aber nicht, als sie an die Tür zur Kammer klopfte, die der Knecht bewohnte.

»Tobias«, rief sie. »Bist’ wach?«

Lauschend legte das Madel den Kopf an die Tür und erschrak. Von drinnen war ein leises Stöhnen zu vernehmen.

»Tobias?«

Das Stöhnen wurde lauter. Kurz entschlossen drückte Andrea die Klinke herunter und trat ein. Der Knecht lag in seinem Bett. Er hatte die Augen halb geschlossen. Kreidebleich war er, und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Die Bauerntochter beugte sich über ihn. Mit fiebrigem Blick starrte er sie an.

»Himmel, was ist mit dir?« fragte sie entsetzt. »Du siehst ja schlimm aus.«

»Mein Bauch«, klagte Tobias. »Er tut so fürchterlich weh.«

»Warte«, sagte Andrea. »Ich hole die Mutter, und am besten rufen wir den Doktor an.«

»Nein, nein, net den Doktor«, grantelte Tobias. »Vielleicht tut’s ja auch eine Wärmflasche.«

Das Madel schüttelte den Kopf und lief ins Haus zurück.

»Was ist denn los?« wollte der Bauer wissen.

»Ich weiß net«, erwiderte die Tochter. »Es geht ihm sehr schlecht, aber er will keinen Arzt.«

»Natürlich rufen wir den Doktor«, entschied ihre Mutter und eilte ans Telefon.

Die Nummer des Dorfarztes stand auf einem Block, der gleich daneben lag. Maria Brandtner wählte mit fliegenden Fingern. Trotz der frühen Stunde wurde nach dem zweiten Klingeln abgenommen, und Dr. Wiesinger meldete sich. Die Bäuerin schilderte den Notfall.

»Ich fahr’ sofort los«, versprach der Arzt.

»Soll ich dem Tobias einen Kamillentee kochen?« fragte Andrea.

»Besser net«, erwiderte ihre Mutter mit einem energischen Kopfschütteln. »Wenn er womöglich ins Krankenhaus muß, dann darf er nix essen und trinken, falls er operiert werden muß.«

»Krankenhaus? Operieren?«

Der Brandtnerbauer sah seine Frau entsetzt an.

»Nun mal bloß net den Teufel an die Wand«, sagte er. »Das fehlt gerad’ noch, daß der Tobias ins Krankenhaus muß und für Wochen ausfällt. Wo soll ich denn jetzt so schnell Ersatz hernehmen?«

»Also, Mann!«

Deutlich war die Empörung in der Stimme seiner Frau zu hören.

»Wenn das deine einz’ge Sorge ist! Dann mußt’ eben seh’n, daß du einen Knecht einstellst. Es ist ja wohl wichtiger, daß der Tobias wieder gesund wird.«

»Du bist gut«, antwortete ihr Mann. »Es ist Erntezeit. Da sind die guten Kräfte längst alle irgendwo untergekommen. Wer jetzt noch keine Arbeit hat, ist ein Hallodri und taugt nix. Und ausgerechnet jetzt ist der Bub net da.«

Alois Brandtner meinte seinen Sohn Wolfgang, der seit einem halben Jahr bei der Bundeswehr war und seinen Wehrdienst ableistete. Leider oben in Norddeutschland, weshalb auch nicht damit zu rechnen war, daß er an den Wochenenden nach Hause kam und mithalf.

Der Bauer strich sich über den Bart, eisgrau war er schon, und das Gesicht sonnengebrannt. Alois Brandtner war zwar erst Anfang fünfzig, sah aber älter aus. So ganz unrecht hatte er nicht mit dem, was er sagte. Seine Frau wußte das natürlich. Sie klopfte ihm auf die Schulter.

»Dann müssen wir eben alle mehr mit anpacken«, meinte sie. »Dann schaffen wir’s schon. Aber laß uns erstmal abwarten, was der Doktor sagt.«

Toni Wiesinger konnte Marias Vermutung indes nur bestätigen. Kaum zehn Minuten nach dem Anruf fuhr der Arzt auf den Hof. Andrea zeigte ihm die Kammer, dann wartete sie mit ihren Eltern nervös vor dem Haus.

Es dauerte kaum fünf Minuten, bis Dr. Wiesinger wieder herauskam. Seine ernste Miene verhieß nichts Gutes.

»Tobias muß ins Krankenhaus und sofort operiert werden«, sagte er. »Kann ich mal telefonieren?«

»In der Diele«, antwortete die Brandtnerbäuerin und lief mit ihm ins Bauernhaus. »Was hat er denn?«

»Der Blinddarm«, erwiderte der Arzt, während er die Nummer der Rettungsleitzentrale wählte. »Ich hoff’ nur, daß es noch kein Durchbruch ist.«

»Ich pack’ rasch ein paar Sachen zusammen«, rief Maria.

Sie eilte wieder hinaus. Im Laufen rief sie ihrem Mann und der Tochter die Diagnose des Arztes zu. Andrea schlug entsetzt die Hand vor den Mund.

»Ich pack’ ihm das Nötigste ein«, erklärte ihre Mutter und verschwand im Gesindehaus.

Tobias Pahlhuber lag still in seinem Bett. Als die Bäuerin eintrat, hob er den Kopf.

»Ich will net ins Krankenhaus«, sagte er mit schwacher Stimme. »Wenn sie einen erstmal hineingebracht haben, dann kommt man net wieder hinaus!«

»Unsinn!« entgegnete Maria ärgerlich. »Da wird dir geholfen. Der Krankenwagen ist gleich da, und heut’ nachmittag komm’

ich mit der Andrea und besuch dich.«

Der Knecht wagte noch einen schwachen Protest, aber da stand Dr. Wiesinger schon wieder in der Tür und schüttelte tadelnd den Kopf. Offenbar hatte er gehört, was der Knecht befürchtete.

»Du mußt wirklich keine Angst haben, Tobias«, erklärte der Arzt dem Kranken. »Sollst mal seh’n, wie gut’s dir im Krankenhaus gefallen wird. Das ist fast ein bissel so wie Urlaub.«

»Urlaub!« grantelte Tobias erneut. »Ich hab’ mein Lebtag keinen Urlaub net gemacht!«

Plötzlich bäumte er sich auf, als eine Schmerzwelle seinen Körper durchfuhr. Dr. Wiesinger eilte an das Bett und hielt den Knecht fest.

»Net soviel bewegen«, mahnte er. »Sonst passiert’s wirklich noch, daß der Blinddarm platzt. Und das wär’ das letzte, was wir gebrauchen können.«

Er sah zum Fenster hinaus.

»Herrgott, wo bleibt denn der Krankenwagen?« entfuhr es ihm.

Diese Äußerung zeigte der Bäuerin an, daß es sehr ernst um ihren Knecht stand. Sie atmete erleichtert auf, als der große Wagen auf den Hof einbog.

Ihr Mann, der sich inzwischen an die Arbeit im Stall gemacht hatte, kam heraus. Zusammen mit Frau und Tochter stand er am Krankenwagen.

»Tut mir leid, Bauer, daß ich dir solch einen Kummer mach«, sagte Tobias mit schwacher Stimme. »G’rad jetzt, wo die Ernte beginnt.«

»Red’ net so einen Schmarr’n«, antwortete Alois Brandtner. »Hauptsach’ ist, daß du erst einmal wieder gesund wirst. Alles and’re find’t sich.«

Der Brandtnerbauer mußte gewaltig an dem dicken Kloß schlucken, der in seinem Hals steckte, als er sah, wie der alte Knecht in das Fahrzeug geschoben wurde. Seine Frau konnte deutlich erkennen, daß das Schicksal des Alten nicht spurlos an ihrem Mann vorüberging. Er hing an seinem Knecht, der ihn seit Kindesbeinen kannte, und dem er so manchen Bubenstreich gespielt hatte.

»Ich ruf’ Sie an, sobald die Operation vorüber ist«, versprach Toni Wiesinger. »Aber machen S’ sich keine Sorgen. Die Kollegen im Krankenhaus werden alles tun, damit der Tobias wieder gesund wird.«

*

Der Bus hielt gegenüber vom Hotel ›Zum Löwen‹. Eine handvoll Fahrgäste, darunter ein junger Mann, stiegen aus. Während die anderen rasch in alle möglichen Richtungen weitergingen, blieb der Mann unschlüssig stehen und sah sich um. Schließlich packte er die Reisetasche fester und schlenderte langsam über die Straße. Vor dem Hoteleingang blieb er stehen. Daneben war ein Aushang, auf dem die Preise für die Zimmer zu lesen waren. Thomas überlegte einen Moment, dann nahm er die andere Tür, die in den Gastraum führte.

Besser net, dachte er. Wenn ich mir hier ein Zimmer nehm’, dann reicht das Geld net mehr lang’.

Von München aus war er vor einer Woche mit dem Zug gefahren. Das Auto zu nehmen, schien ihm zu gefährlich. Wie leicht hätte man es anhand des Kennzeichens identifizieren können. Daß man ihm bereits auf den Fersen war, hatte er zwei Tage später in Rosenheim gemerkt, als seine Scheckkarte am Geldautomaten einer Bank eingezogen wurde. Gottlob hatte er gleich zu Beginn seiner Flucht einen größeren Betrag abgehoben. Wenn er sich das Geld einteilte, würde es ein Weilchen reichen.

Ursprünglich hatte er vorgehabt, mit dem Flugzeug zu verschwinden. Irgendwohin, wo ihn keiner kannte. Doch ein Flugticket kostete mehr als er noch an Barem hatte. Deshalb der Versuch, am Geldautomaten noch mehr abzuheben. Der Verlust der Scheckkarte war zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Jedenfalls würden seine Verfolger nun annehmen, daß er mittellos dastand und nicht weit käme.

Aber Thomas hatte es geschafft, seine Spuren zu verwischen. Hier, in diesem Bergdorf, würde ihn wahrscheinlich niemand vermuten. Vorerst zumindest. Da sein Plan, ins Ausland zu fliegen gescheitert war, mußte er überlegen, wie es weitergehen sollte. Per Anhalter und mit dem Bus war er schließlich nach St. Johann gefahren. Hier, so hoffte er, würde er erst einmal ausruhen können und darüber nachdenken, was er tun sollte. Wenn alle Stricke rissen, konnte er immer noch über die Berge ins nahe Österreich verschwinden. Nach Tirol vielleicht, oder sich gar bis nach Italien durchschlagen.

Vielleicht aber auch, so war seine Überlegung, ergab sich irgendeine Möglichkeit, seinen Verfolgern ein Schnippchen zu schlagen und einen Weg zu finden, den wahren Verbrecher zu überführen.

Aber dazu brauchte er erst einmal Ruhe. Eine sichere Unterkunft, eine Arbeit vielleicht, und Zeit, sich einen neuen Plan zurecht zu legen.

In der Gaststube saßen nur wenige Gäste. Sie schauten zwar auf, als Thomas eintrat, widmeten sich aber gleich wieder ihren Gesprächen. Der junge Mann setzte sich an einen freien Tisch. Obwohl er seit einer Woche auf der Flucht war, sah man es ihm nicht an, daß er kaum geschlafen und sich die ganze Zeit über im Freien aufgehalten hatte. Seine Kleidung war zwar einfach, aber sauber und gepflegt. Gewaschen und rasiert hatte er sich am Morgen an einem Bachlauf, bevor er in die Kreisstadt wanderte und dort in den Bus stieg.

Thomas bestellte einen Kaffee. Da er seit gestern abend nichts mehr gegessen hatte, wählte er eine belegte Semmel dazu. Diese Ausgabe würde zwar seine Reisekasse strapazieren, aber mit leerem Magen ließ sich schlecht nachdenken.

Kaffee und Semmel wurden serviert. Der junge Mann langte nach der Zeitung, die neben seinem Tisch an einem Haken hing und schlug sie auf. Schon auf der zweiten Seite stand zu lesen, wonach er gesucht hatte.

›Wirtschaftsbetrüger auf der Flucht‹, lautete die Schlagzeile über dem Artikel.

Thomas legte die angebissene Semmel auf den Teller zurück und las. Neben den Fakten – die aus seiner Sicht nicht stimmten –, stand dort eine genaue Personenbeschreibung von ihm. Verstohlen schaute er über den Rand der Zeitung. Hatte er vielleicht schon die Aufmerksamkeit des einen oder anderen erregt?

Nein. Niemand kümmerte sich um den einsamen Gast an dem Tisch am Fenster, und Thomas zwang sich zur Ruhe. Während er langsam weiteraß, studierte er den Artikel noch einmal. Dann schlug er den Wirtschaftsteil auf. Der Aktienkurs der Firma hatte sich nach den ersten Turbulenzen wieder erholt, war beinahe auf den alten Höchststand zurückgeklettert. Der Skandal, der noch vor ein paar Wochen die Börse erschütterte, schien jetzt keine weiteren Auswirkungen zu haben.

Die Tür öffnete sich und ein neuer Gast erschien. Er kannte ein paar der Anwesenden wohl recht gut und setzte sich zu ihnen.

»Wißt ihr’s schon?« fragte er so laut, daß Thomas nicht umhin kam mitzuhören. »Der alte Pahlhuber-Tobias vom Brandtnerhof ist im Krankenhaus.«

»Nein«, riefen die anderen. »Was hat er denn?«

»Wohl der Blinddarm, wie ich gehört hab’.«

»Mei, da wird’s aber schwer für den Loisl einen Ersatz zu finden«, meinte einer. »G’rad jetzt, zur Erntezeit.«

Thomas vernahm, wie sie sich darüber unterhielten, daß es fast unmöglich sei, jetzt noch einen Knecht zu finden. Er hatte die Zeitung zurückgehängt und hörte jetzt richtig zu, was die Männer sagten, und während er dem Gespräch lauschte, reifte ein Plan in seinem Kopf.

Warum net? So schwer kann die Arbeit auf einem Bauernhof net sein, dachte er. Früher, als Student, hatte er in den Semesterferien immer gearbeitet, um sich etwas hinzu zu verdienen. Darunter war auch schwere, körperliche Arbeit gewesen. Warum also net eine Saison bei einem Bergbauern arbeiten und in Ruhe überlegen, wie er sich rehabilitieren konnte?

Jedenfalls wären erst einmal Unterkunft und Verpflegung gesichert.

Thomas winkte die Bedienung heran und bezahlte.

»Können S’ mir bitt’ schön erklären, wie ich von hier zum Brandtnerhof komm’?« bat er.

Die freundliche Haustochter nickte und beschrieb ihm den Weg. Thomas bedankte sich und nahm die Reisetasche auf. Als er die Wirtsstube verließ, strahlte draußen die Sonne und seine trüben Gedanken, die er am Morgen noch hatte, erhellten sich ebenfalls. Jetzt mußte es nur noch klappen, daß der Bauer ihn einstellte.

*

Maria Brandtner steuerte den Wagen auf den Parkplatz des Krankenhauses. Andrea, die neben ihr saß, hielt einen Strauß bunter Blumen in den Händen. Sie hatte sie selbst zu Hause im Garten gepflückt und darauf geachtet, daß Tobias’ Lieblingsblumen dabei waren. Der Garten hinter dem Bauernhaus war das gemeinsame Hobby von Andrea und Tobias. Stunden konnten sie darin zubringen und sich immer wieder an der blühenden Natur erfreuen.

In der großen Halle herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Patienten, die nicht im Bett liegen mußten, verabschiedeten ihren Besuch oder deckten sich an dem Kiosk mit Zeitungen und Romanen ein. Ärzte und Pflegepersonal eilten geschäftig hin und her, und in der Cafeteria, in die man durch eine große Fensterfront hineinsehen konnte, waren kaum noch freie Plätze.

Die beiden Frauen erkundigten sich nach der Station, auf der Tobias Pahlhuber untergebracht war. Schon am Vormittag hatte sich Dr. Wiesinger wie versprochen gemeldet und berichtet, daß die Operation gut verlaufen sei. Es war zum Glück kein Blinddarmdurchbruch gewesen, und der Knecht erhole sich inzwischen von dem Eingriff. Gegen einen Besuch gäbe es keine Einwände.

Mit dem Aufzug fuhren Mutter und Tochter in den dritten Stock. Dann ging es über einen langen Flur, bis sie vor einer Glastür standen.

»Intensivstation?« fragte Maria Brandtner irritiert. »Aber der Doktor hat doch gesagt, daß es dem Tobias schon wieder gutgehe. Wieso liegt er dann auf der Intensivstation?«

»Das ist immer so am ersten Tag nach einer Operation«, erklärte Andrea. »Das heißt ja nur, daß die Patienten hier besonders intensiv betreut und überwacht werden. Ich glaub’ net, daß wir Grund zur Sorge haben müssen.«

Sie drückte den Klingelknopf und eine junge Frau erschien.

»Grüß Gott, ich bin Schwester Monika«, sagte sie. »Zu wem möchten S’?«

»Pahlhuber«, antwortete die Bäuerin. »Tobias Pahlhuber.«

»Ach ja«, lächelte die Krankenschwester.

Sie deutete auf ein Regal, in dem grüne Kittel lagen.

»Die müssen S’, bitt’ schön, anzieh’n. Hier drinn’ ist alles steril.«

Dann zeigte sie auf die Blumen.

»Die dürfen S’ leider net mitnehmen. Blumen sind auf der Intensivstation verboten.«

Als sie Andreas enttäuschtes Gesicht sah, schaute sie ganz freundlich.

»Geben S’ mir den Strauß«, fuhr sie fort. »Der Herr Pahlhuber wird morgen auf die normale Station verlegt. Dann stell’ ich ihm die Blumen an sein Bett.«

»Dank’ schön«, bedankte sich Andrea erfreut und gab ihr die Blumen.

Die Besucherinnen zogen die Kittel über. Jetzt sahen sie beinahe aus, als gehörten sie zum Pflegepersonal. Die Krankenschwester führte sie durch eine Schleuse und deutete den Gang hinunter.

»Zimmer dreihundertelf, ganz unten rechts.«

Maria und Andrea bedankten sich und schritten den Gang hinunter. Die Tür zum Zimmer dreihundertelf stand offen. Im Gegensatz zu den Krankenzimmern auf den anderen Stationen war dieses hier bis zur Decke hoch gefliest. Zwei Betten standen darin, eines direkt an der Tür, das andere, durch einen Vorhang abgeteilt, am Fenster. Über und hinter den Betten waren allerlei medizinische Geräte, die durch Schläuche und Kabel mit den Patienten verbunden waren. In dem hinteren Bett lag Tobias Pahlhuber. Er hatte die Augen geöffnet und lächelte schwach, als er seine Bäuerin und das Madel erkannte.

»Wie geht’s dir?« fragte Maria Brandtner und strich dem Knecht teilnahmsvoll über die Wange.

»Na ja, so wie’s ausschaut, bin ich dem Tod gerad’ so eben von der Schippe gesprungen«, antwortete er mit einem Anflug von Galgenhumor. »Jedenfalls sagt das der Doktor, aber damit ist net zu scherzen. Ich hab’ wohl ein bissel zu lang’ gewartet…«

»Hast’ etwa schon länger Schmerzen gehabt und hast’ nix gesagt?« fragte die Bäuerin kopfschüttelnd.

Tobias zog den Kopf ein und nickte.

»Ja, ein paar Wochen schon«, gestand er. »Aber dann wurd’s besser, und jetzt hab’ ich halt gedacht, es geht auch wieder von allein weg.«

»Himmel, diese Männer!« sagte Maria an die Tochter gewandt. »Das ist doch typisch. Dein Vater ist genauso einer.«

»Schimpf net, Mama«, lachte Andrea. »Sei’n wir lieber froh, daß es Tobias schon wieder bessergeht.«

Sie hielt die faltige Hand des Alten.

»Ich hab’ dir Blumen aus uns’rem Garten mitgebracht«, erzählte sie. »Aber leider darfst’ sie erst morgen bekommen, wenn s’ dich verlegen.«

Ein leises Lächeln huschte über sein Gesicht.

»Dank’ dir, Madel«, antwortete er. »Wenn ich erstmal wieder auf den Beinen bin, dann ackern wir wieder regelmäßig darin.«

Plötzlich schaute er traurig drein.

»Das wird allerdings ein Weilchen dauern«, sagte er an die Bäuerin gewandt. »So sechs bis acht Wochen, hat der Doktor gemeint.«

Er hob hilflos die Hand und ließ sie wieder fallen.

»Was soll denn jetzt bloß werden?« fragte er. »Der Wolfgang fällt doch auch aus.«

Maria Brandtner nickte ihm aufmunternd zu.

»Darüber mach’ dir mal keine Gedanken«, erwiderte sie. »Werd’ erst einmal gesund, alles and’re find’t sich schon.«

*

Thomas stellte die Reisetasche an den Wegesrand und legte eine Verschnaufpause ein. Er hatte gar nicht geglaubt, daß der Brandtnerhof so weit vom Dorf entfernt wäre. Zwanzig Minuten, hatte das Madel im Wirtshaus gemeint, jetzt war er aber schon länger unterwegs.

Hoffentlich hab’ ich mich net verlaufen, überlegte der junge Mann und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Indes, der Gedanke, daß der Hof so weit von St. Johann weg war, gefiel ihm. Je weniger Menschen ihm da begegneten, um so weniger wußten auch, daß er sich dort aufhielt.

Vor allem würde ihm die Polizei auf einem abgelegenen Berghof nicht so schnell auf die Spur kommen.

Die Reisetasche wurde immer schwerer. Dabei hatte er gar nicht soviel mitgenommen, als er aus München fort war. Nur das Nötigste, doch jetzt schienen es mit jedem Schritt noch mehr Kilo zu werden. Thomas verspürte argen Durst. Leider hatte er auf seinem Weg hier keinen Bachlauf entdeckt, an dem er ihn hätte löschen können. Er kramte in den Taschen seiner Jacke, die er ausgezogen hatte, und fand ein letztes Pfefferminzbonbon.

Besser als nichts.

Er steckte das Bonbon in den Mund und nahm die Tasche wieder auf. Wenn der Hof nicht bald in Sicht kam, dann würde er wirklich prüfen müssen, ob er den richtigen Weg gegangen war.

Die Straße stieg immer weiter an. Wenn er hinunterschaute, konnte er feststellen, daß er bereits aus dem Tal, in dem das Dorf lag, heraus war. Thomas blickte sich um. Die Gegend gefiel ihm. Berge, majestätisch hoch, als stießen ihre Spitzen am Himmel an. Darunter saftige Almwiesen, auf denen Kühe und Ziegen weideten, schroffe Gesteinsformationen, ein Auf und Ab von Wanderwegen. Und über allem lag der Duft von Wildkräutern.

Der einsame Wanderer blieb wieder stehen. Der Weg kreuzte sich hier.

Was hatte das Madel noch gesagt, den rechten oder den linken, welchen Weg sollte er nehmen?

Eine gute Frage, und die Antwort hatte er vergessen.

»Werf’ ich halt eine Münze«, meinte er zu sich und wollte schon in die Tasche greifen, als er einen weiteren Wandersmann den Berg herabkommen sah.

Der andere trug einen Rucksack, Wanderkleidung, und sein sonnengebräuntes Gesicht strahlte fröhlich, als habe er einen besonders schönen Tag gehabt.

»Grüß Gott«, sagte Thomas, als der Mann heran war. »Sie schau’n gerad’ so aus, als würden S’ sich hier auskennen.«

»Freilich«, nickte der Angesprochene. »Haben S’ sich verlaufen?«

»Ich fürcht’ fast ja«, nickte Thomas und betrachtete sein Gegenüber genauer.

Es war zwar nicht sehr wahrscheinlich, daß seine Verfolger hier auftauchten, aber trotzdem war es besser, sich den Fremden genau anzusehen. Man konnte ja nie wissen.

Der Mann machte einen sympathischen Eindruck. Er war schlank und recht sportlich. Das markante, gut geschnittene Gesicht war offen. Irgendwie erinnerte er Thomas an einen Prominenten vom Film oder Fernsehen.

»Wohin wollen S’ denn?« erkundigte sich der Wanderer.

»Zum Brandtnerhof.«

»Ach, da kann ich Sie beruhigen. Da sind S’ genau auf dem richtigen Weg. Da vorn am Kreuz gehen S’ links weiter, und dann sind’s vielleicht noch zwei Kilometer.«

»Oh, da fällt mir ein Stein vom Herzen. Vielen Dank auch.«

»Dafür net«, antwortete der Mann und sah ihn interessiert an. »Entschuldigen S’, wenn ich frag’, aber Sie schau’n wie ein Tourist aus. Ich hab’ gar net gewußt, daß der Brandtnerbauer neuerdings Fremdenzimmer vermietet.«

»Tut er auch net«, erklärte Thomas. »Ich will dort arbeiten.«

»Aha.«

Der andere machte einen recht verblüfften Eindruck.

»Ich will Ihnen ja net den Mut nehmen«, sagte er. »Aber es ist Erntezeit, und soviel ich weiß, sucht der Alois Brandtner keinen neuen Knecht, er hat ja den alten Tobias.«

Thomas schmunzelte.

»Das stimmt wohl«, meinte er. »Allerdings liegt dieser Tobias seit heut’ morgen im Krankenhaus.«

Er erzählte dem erstaunten Wandersmann, was er im Wirtshaus aufgeschnappt hatte.

»Ach ja, dann versteh’ ich’s. Die Chance wollen S’ sich natürlich net entgehen lassen. Viel Glück auch.«

»Dank’ schön, das kann ich brauchen.«

Thomas fuhr sich über den Mund.

»Sagen S’, Sie kennen ja wohl den Bauern, was ist denn das für einer?« fragte er.

»Na ja, eigentlich ist er ganz umgänglich. Grüßen S’ ihn von mir, wenn S’ da sind.«

»Mach ich«, nickte Thomas. »Wie ist denn der Name?«

Der andere Mann war schon weitergegangen. Jetzt drehte er sich um.

»Natürlich, das hätt’ ich ja fast vergessen. Sagen S’ ihm einen schönen Gruß von Pfarrer Trenker«, rief er zurück und winkte.

Jetzt war es der junge Mann, der mit verblüfftem Gesicht dastand und dem anderen hinterherschaute.

»Pfar…rer Trenker…?« murmelte er ungläubig. Sollte das etwa der Pfarrer von St. Johann sein? Er ahnte nicht, daß der Mann, der ihn jetzt so in Erstaunen versetzte, ein Schmunzeln auf den Lippen hatte, als er weiter ins Tal hinabstieg. Sebastian konnte sich die Reaktion des jungen Mannes nur zu gut ausmalen. Er erlebte es immer wieder, daß die Leute ihn ungläubig ansahen, wenn sie ihm begegneten und er nicht den Priesterkragen trug. Nie und nimmer vermuteten sie in dem sportlichen, agilen Mann einen Geistlichen. Um so größer war ihr Erstaunen, wenn sie hörten, welchen Beruf Sebastian Trenker ausübte.

*

Alois Brandtner war gerade mit seinem Traktor auf den Hof gefahren, als Thomas dort eintraf. Seit dem Morgen hatte der Bauer keine Pause mehr gehabt. Selbst das Mittagessen nahm er auf dem Feld ein, ein paar Löffel Suppe, die Andrea ihm gebracht hatte.

Es war zum Auswachsen, net nur, daß der Bub irgendwo in der Lüneburger Heide seinen Wehrdienst ableistete und net nach Haus’ kommen konnte, jetzt mußte auch noch der Knecht krank werden.

Der Bauer überlegte. Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, daß Tobias in all den Jahren mal ernstlich krank gewesen wäre, aber ausgerechnet jetzt. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte – Ersatz mußte her, egal wie!

Loisl stieg vom Traktor herunter. Zumindest einen Kaffee wollte er trinken, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Hoffentlich kamen Frau und Tochter rechtzeitig aus dem Krankenhaus zurück. Um sechs mußten die Kühe gemolken werden. Er war nur froh, daß er schon vor Jahren die Almwiese verpachtet hatte, sonst würde er sich darum auch noch kümmern müssen.

Der Bauer schlug die Tür des Traktors zu und drehte sich um. Es war ihm, als habe er jemanden die Straße heraufkommen sehen, als er von der anderen Seite herangefahren kam.

Tatsächlich, er hatte sich nicht geirrt. Ein junger Mann näherte sich, eine Reisetasche in der Hand, die Jacke über die Schulter gehängt. Er sah abgekämpft aus. War wohl den ganzen Weg von

St. Johann zu Fuß heraufgekommen.

»Grüß Gott«, nickte der Besucher freundlich. »Sind Sie der Herr Brandtner?«

»Ja«, antwortete der Bauer. »Was kann ich für Sie tun?«

Thomas reichte ihm die Hand.

»Ich heiß’ Thomas Korber«, sagte er. »Ich hab’ gehört, daß Ihnen ein Knecht krank geworden ist, und wollt’ fragen, ob Sie einen Ersatz brauchen.«

Der Name war ihm spontan eingefallen. Klang vielleicht ein bissel merkwürdig, aber eigentlich war er so gut, wie jeder andere auch.

Alois Brandtner riß die Augen auf. Konnte es das wirklich geben? Den Mann schickte ja der Himmel.

»Ich soll’ Ihnen übrigens Grüße von Pfarrer Trenker ausrichten«, sprach der junge Mann weiter.

»Dank’ schön, dank’ schön«, nickte der Bauer. »Sagen S’, versteh’n S’ denn was von der Landwirtschaft?«

»Eigentlich net«, gab der Gefragte offen zu. »Aber ich hab’ mir gedacht, man kann alles lernen. Jedenfalls kann ich zupacken und bin mir für keine Arbeit zu schad’.«

Der Brandtner strich sich nachdenklich über den Bart. Das stimmte natürlich – wenn man wollte, konnte man alles lernen, und der Bursche hatte ein ehrliches Gesicht. Warum also net den Versuch wagen?

»Also schön«, meinte er, »probieren wir’s miteinand’. Was du net weißt, kannst’ lernen, und wenn du dich net allzu ungeschickt anstellst, wird’s schon geh’n. Außerdem – wenn Hochwürden dich geschickt hat, dann wirst’ schon ein anständiger Bursche sein.«

Der Bauer war ohne weiteres zum Du übergegangen. Thomas hütete sich, den Irrtum mit dem Pfarrer aufzuklären und schlug in die dargebotene Hand ein.

»Kost und Logis ist frei«, fuhr Loisl fort. »Und über den Lohn werden wir uns schon einig. Erstmal schau’n, wie’ dich anstellst.«

»Einverstanden«, stimmte Thomas zu.

Eine Viertelstunde später saßen sie im Bauernhaus zusammen und tranken Kaffee. Die Reisetasche stand in der Kammer im Gesindehaus, die Thomas Korber, wie er sich nannte, bewohnen sollte. Der Bauer hatte ihm ein paar alte Arbeitskleider gegeben. Sie waren zwar ein bißchen groß, aber wenn er Ärmel und Hosenbeine umkrempelte, dann ging es schon irgendwie.

»Das ist alles keine große Sache«, erklärte der Brandtnerbauer. »Wenn’ dich net allzu ungeschickt anstellst, dann hast’ es schnell begriffen, wie das alles hier geht.«

Er sah seinen neuen Knecht nachdenklich an. Kräftig schien er, aber er machte nicht den

Eindruck, als wenn er sein Leben lang solche Arbeit verrichtet hätte, wie sie auf einem Bauernhof anfiel.

»Allerdings wirst’ recht früh aufsteh’n müssen«, fuhr er fort. »Halb fünf klingelt der Wecker, dann geht’s in den Stall. Frühstück gibt’s erst, wenn das Vieh versorgt ist.«

»Kein Problem«, versicherte Thomas. »Ich bin frühes Aufstehen gewöhnt.«

Das stimmte tatsächlich, auch an seinen freien Tagen war er immer früh aufgestanden. Frühsport und Dauerlaufen waren eine Leidenschaft von ihm, und nach einigen ausgiebigen Runden im Pool schmeckte die erste Mahlzeit des Tages besonders gut.

»Dann ist ja alles soweit klar«, sagte Loisl und sah zum Fenster hinaus.

Ein Auto fuhr auf den Hof.

»Ah, das sind meine Frau und die Andrea, uns’re Tochter. Da kann ich dich gleich mit ihnen bekannt machen.«

Die beiden Frauen schauten erstaunt auf den jungen Mann, der da in Arbeitskleidung am Küchentisch saß und mit dem Bauern Kaffee trank. Der Brandtner-Loisl strahlte über das ganze Gesicht.

»Stellt euch vor, was passiert ist«, rief er. »Pfarrer Trenker hat uns den Thomas hier geschickt, als Ersatz für Tobias.«

Der neue Knecht war bei ihrem Eintreten aufgestanden. Er begrüßte zuerst die Bäuerin, dann reichte er dem Madel die Hand. Er wagte es immer noch nicht, den Irrtum mit dem Geistlichen aufzuklären.

»Das ist aber ein glücklicher Zufall«, freute sich Maria Brandtner. »Der Tobias wird nämlich für Wochen ausfallen, und wir waren schon ganz verzweifelt.«

»Wir werden ihm allerdings zeigen müssen, wie’s hier so zugeht«, meinte ihr Mann. »Aber ich denk’, es wird schon irgendwie geh’n.«

Andrea hatte bisher ein wenig verlegen dagestand. Sie betrachtete Thomas Korber verstohlen. Der wollte tatsächlich hier auf dem Bauernhof arbeiten? Innerlich schüttelte sie den Kopf. Nicht, daß sie es ihm nicht zugetraut hätte, aber wenn sie ihn so anschaute, dann gewann sie den Eindruck, daß dieser gutaussehende junge Mann eher in ein Büro paßte als in den Kuhstall.

»Wie ich seh’, habt ihr ja schon Kaffee getrunken«, sagte ihre Mutter.

»Ja, und wir wollen auch gleich rausfahren. Droben im Bergwald gibt’s noch einige Arbeit«, antwortete ihr Mann. »Übermorgen sollen die Stämme geholt werden, ein paar müssen noch geschlagen werden. Außerdem kann Thomas sich dann gleich umschau’n und alles kennenlernen. Wie geht’s Tobias denn?«

»Recht gut, so kurz nach der Operation«, erzählte Andrea. »Aber wie Mama schon sagt,

wird’s eine ganze Weile dauern, bis er wieder richtig zupacken kann.«

»Dafür haben wir ja jetzt den Thomas«, lachte ihr Vater und schlug dem neuen Knecht auf die Schulter. »Na los, dann woll’n wir mal.«

Thomas lächelte Andrea an, bevor er dem Bauern nach draußen folgte. Das Madel spürte eine feine Röte im Gesicht und wandte sich rasch ab.

»Da bin ich aber froh, daß sich dieses Problem so schnell gelöst hat«, meinte ihre Mutter ehrlich erleichtert. »Der Thomas macht doch einen recht guten Eindruck, oder?«

Ihre Tochter nickte stumm und ging hinaus.

In ihrer Kammer zog Andrea sich für die Arbeit um. Derbe Hosen, eine dunkle Bluse, die langen, dunklen Haare wurden unter ein Tuch gesteckt. Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Trotz der Kleidung sah sie einfach hinreißend aus. Das hatten inzwischen auch die Burschen im Wachnertal gemerkt, die sich einander zu übertreffen suchten, wenn es darum ging, dem Madel den Hof zu machen. Beim samstäglichen Ball im Löwen drunten in St. Johann konnte Andrea sich kaum vor tanzwütigen Verehrern retten, und ein wenig amüsiert dachte sie daran, wie sich einmal zwei von ihnen ihretwegen so in die Haare gekriegt hatten, daß Max Trenker, der Dorfpolizist, sie kurzerhand einsperrte. Da konnten die beiden dann bis zum Sonntagmittag überlegen, ob sie sich wieder vertragen wollten.

Einer war besonders hartnäckig – Lorenz Stadtler, der Sohn des Nachbarbauern und ein guter Freund von Wolfgang Brandtner. Irgendwie schien es für ihn schon entschieden zu sein, daß aus ihnen mal ein Paar werden würde, und auch ihr Vater hatte nichts dagegen einzuwenden. Wolfgang würde einmal den Hof erben, und Andrea sollte möglichst gut verheiratet werden. Das wäre bei Lorenz der Fall. Als Hoferbe war er einer der besten Partien im Wachnertal.

Indes, Andrea dachte überhaupt nicht daran, sich zu binden. Vorerst jedenfalls. Seit sie eine junge Frau geworden war, hatte sie eine bestimmte Vorstellung darüber, wie ihr Traummann aussehen sollte.

Als sie jetzt vor dem Spiegel stand, wurde ihr schlagartig bewußt, daß Thomas Korber dieser Vorstellung beinahe schon beängstigend nahe kam…

*

Als Max Trenker die Tür zum Pfarrhaus öffnete, schlug ihm bereits ein köstlicher Duft entgegen. Rasch zog er seine Uniformjacke aus und hängte sie an die Garderobe. Die Dienstmütze kam auf die Hutablage. Dann eilte er in Rekordzeit durch den Flur in die Küche.

Sophie Tappert stand am Herd und rührte in einem Topf.

»Wenn mich meine Nase net trügt, dann gibt’s heut’ ein echtes Szegediner Gulasch«, sagte der junge Polizeibeamte nach der Begrüßung.

Die Perle des Pfarrhaushaltes schmunzelte. Max trat zu ihr

und warf einen Blick in den Schmortopf. Saftiges Rindfleisch schwamm in einer rotbraunen Sauce. Die Haushälterin gab Sauerkraut hinzu, das sie in einem seperaten Topf gekocht hatte. Schließlich rührte sie einen Becher, vorher glattgerührte, saure Sahne darunter und schmeckte mit Salz und Pfeffer, natürlich aus der Mühle, ab.

In einem weiteren Topf schwammen Kartoffelknödel. Wie alles, was im Pfarrhaus auf den Tisch kam, waren auch sie selbstgemacht. Sophie Tappert wäre niemals auf die Idee gekommen, eine Fertigmischung zu benutzen, das ging gegen ihre Ehre als Köchin. Für die Knödel hatte sie Kartoffeln in der Schale gekocht, gepellt und püriert, und mit wenig Stärkemehl, Ei und Grieß gebunden.

Der Tisch war schon gedeckt, in der Mitte stand eine große Glasschüssel, darin befand sich ein gemischter Salat. Alle Zutaten kamen aus dem Pfarrgarten.

»Wo steckt denn mein Bruder?« erkundigte sich Max, der es gar nicht abwarten konnte, daß es etwas zu essen gab.

»Hochwürden ist in seinem Arbeitszimmer«, antwortete die Haushälterin. »Sie können ihm Bescheid sagen, daß das Essen fertig ist.«

»Bin schon da«, ließ sich Sebastian vernehmen.

Sie nahmen Platz, während Sophie auftischte.

»Gibt’s was Neues?« erkundigte sich der Geistliche bei seinem Bruder.

»Eigentlich net«, antwortete Max, während er sich Knödel und Gulasch auf den Teller häufte. »Die Verbrechensrate ist in Sankt Johann Gott sei Dank recht niedrig.«

Er probierte das Essen und verdrehte die Augen vor Entzücken.

»Schmeckt einfach köstlich«, bemerkte er. »So gut hab’ ich’s selbst in Ungarn net bekommen.«

Dann wandte er sich wieder Sebastian zu.

»Allerdings hab’ ich heut’ morgen eine Fahndungsmeldung hereinbekommen«, fuhr er fort.

Pfarrer Trenker wurde hellhörig.

»Eine Fahndung?« fragte er. »Wer wird denn gesucht?«

»Ein junger Mann aus München«, erzählte der Polizist. »Nach ihm wird wegen irgendwelchen Betrügereien gefahndet. Er soll Anleger um ihr Geld betrogen haben und konnte gerad’ noch rechtzeitig erwischt werden, bevor er es schaffte, sich ins Ausland abzusetzen.«

Sebastian sah Max fragend an.

»Wieso wird er dann gesucht, wenn er schon verhaftet ist?«

Der Beamte verzog das Gesicht.

»Tja, also, die Geschichte ist wirklich kein Ruhmesblatt für die Münchner Kollegen«, berichtete er. »Nach dem ersten Verhör haben s’ ihn freigelassen. Ehe der zuständige Staatsanwalt einen Haftbefehl ausstellen konnte, war er schon untergetaucht. Irgendeiner hat da fürchterlich geschlampt.«

Der Seelsorger schüttelte den Kopf. Das war ja ein ziemliches Mißgeschick. Aber Pannen passierten nun mal überall.

»Und der soll sich jetzt hier aufhalten?« fragte er weiter.

»Das weiß keiner so genau«, antwortete sein Bruder. »Die Spur des Gesuchten verliert sich in Rosenheim, wo er versucht hat, Geld von einem Bankautomaten abzuheben. Da war die Scheckkarte allerdings schon gesperrt und wurde eingezogen. Die Fahndung ging an alle Polizeidienststellen in Bayern und Baden-Württemberg, weil man überhaupt keinen Anhaltspunkt hat, wo der Bursche sich versteckt hält.«

»Wer weiß, ob er net längst über alle Berge ist«, meinte Sebastian. »Per Anhalter ist man schnell in einem anderen Bundesland, wenn net gar im Ausland. Österreich ist gleich um die Ecke.«

»Eben. Man vermutet, daß er versucht, sich dorthin abzusetzen und hat die österreichischen Kollegen ebenfalls informiert. Wenn er allerdings in die Berge geflüchtet ist, dann kann’s unter Umständen Wochen dauern, bis sich von Thomas Neumayr eine Spur findet.«

»Neumayr?« forschte der Bergpfarrer nach. »Ist das der Name?«

Max nickte, und Sebastian strich sich nachdenklich über das Kinn.

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Wahrscheinlich hast’ ihn in der Zeitung gelesen«, mutmaßte sein Bruder. »Der Finanzskandal vor ein paar Wochen. Beinahe täglich stand ’was darüber zu lesen.«

»Natürlich. Ich erinner’ mich. Es gab einen ziemlichen Wirbel an der Börse. Gehört die Firma net zwei Brüdern?«

»Stimmt, Thomas und Bernhard Neumayr. Ein alteingesessenes Unternehmen, das sie von ihrem Vater übernommen haben.«

Max hatte sich noch einmal bedient, während Sebastian das Besteck schon aus der Hand legte.

»Ich hoff’ nur, daß der Bursche net hier irgendwo untergetaucht ist«, meinte der Polizist. »Jedenfalls werd’ ich in der nächsten Zeit auf alle Fremden ein besond’res Aug’ haben.«

»Wie alt ist der Thomas Neumayr?« wollte der Pfarrer wissen.

Max beschrieb, was in dem Fahndungsaufruf stand. Sebastian hörte aufmerksam zu, und irgendwie kam ihm die Beschreibung bekannt vor. Alles, was sein Bruder ihm da erzählte, erinnerte ihn an den jungen Mann, der ihm gestern auf dem Heimweg begegnet war und sich nach dem Weg zum Brandtnerhof erkundigt hatte.

Gleich nach dem Essen verabschiedete Max sich. Sebastian setzte sich in sein Arbeitszimmer. Noch hatte er eine gute Stunde Zeit, bis er nach Waldeck hinüber mußte. Dort fand an jedem Mittwoch nachmittag eine gesellige Kaffeerunde in dem Altenheim statt, an der der gute Hirte von St. Johann immer gerne teilnahm. Die Bewohner freuten sich die ganze Woche darauf. Meistens wurde gemeinsam gesungen, oder ein paar Musiker spielten auf. Manchmal konnte jemand für eine Dichterlesung gewonnen werden, und Pfarrer Trenker kam nicht umhin, den alten Leuten von seinen Bergtouren zu erzählen, auf denen er so manches Abenteuer erlebte.

Oftmals hatten seine Erlebnisse einen ganz banalen Anfang, bei dem sich niemand vorstellen konnte, welchen tragischen Verlauf sie nehmen würden. Aus einer zufälligen Begegnung entwickelte sich ein Drama, das dank der Bereitschaft Sebastians, alles für seine Mitmenschen zu tun

und unkonventionell zu helfen, bisher immer einen guten Ausgang fand.

War die gestrige Begegnung so ein Anfang?

Der Geistliche grübelte darüber nach. Die Beschreibung, die Max ihm von dem Gesuchten gegeben hatte, traf auf den jungen Mann zu, der sich nach dem Weg erkundigt hatte. Sebastian sah ihn förmlich vor sich, und seine Ahnung, die ihn selten trog, sagte ihm, daß er früher oder später einen Besuch auf dem Brandtnerhof machen mußte.

Er stand auf und ging in die Küche zurück. Seine Haushälterin war mit dem Abwasch beschäftigt.

»Sagen S’, Frau Tappert, sind die alten Zeitungen schon fortgeschafft?« fragte er.

»Nein, noch net. Sie liegen in der Kiste hinter dem Schuppen.

»Dank’ schön«, nickte der Bergpfarrer und ging hinaus.

Hinten im Garten stand der Geräteschuppen, in dem das Gartenwerkzeug eine Schubkarre und Holz für den Kamin lagerte. Gleich daneben gab es eine gezimmerte Kiste, in der die Zeitungen und Zeitschriften aufbewahrt wurden, bis sie im Altpapier landeten. Sebastian suchte den Stapel durch. Besonders auf die Nummern der letzten vier Wochen kam es ihm an. Erleichtert atmete er auf, als er sie wohl sortiert in der Kiste fand. Er nahm die Zeitungen heraus und ging ins Arbeitszimmer zurück. Dort suchte er die Artikel zusammen, die sich mit dem Betrugsskandal in der Anlagefirma befaßten. Schließlich sah er, was er zu finden gehofft hatte – das Foto des gesuchten Mitinhabers Thomas Neumayr.

Der Seelsorger brauchte nicht lange um festzustellen, daß es sich bei dem Abgebildeten um den Mann handelte, mit dem er gestern nachmittag gesprochen hatte.

*

»Das machst’ schon recht gut«, lobte der Brandtnerbauer seinen neuen Knecht.