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Der Bergpfarrer
– Paket 3 –

E-Book 101-150

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-001-8

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Leseprobe

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 10 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Unter anderem gingen auch mehrere Spielfilme im ZDF mit Millionen Zuschauern daraus hervor. Sein größtes Lebenswerk ist die Romanserie, die er geschaffen hat. Seit Jahrzehnten entwickelt er die Romanfigur, die ihm ans Herz gewachsen ist, kontinuierlich weiter. "Der Bergpfarrer" wurde nicht von ungefähr in zwei erfolgreichen TV-Spielfilmen im ZDF zur Hauptsendezeit ausgestrahlt mit jeweils 6 Millionen erreichten Zuschauern. Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. In Spannungsreihen wie "Irrlicht" und "Gaslicht" erzählt er von überrealen Phänomenen, markiert er als Suchender Diesseits und Jenseits mit bewundernswerter Eleganz.

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Nimm mich, wie ich bin

Auf einer Hochzeit sind sie sich begegnet

»Du liebe Güte, wer soll das denn bloß alles essen?«

Die junge, blonde Frau, die diese Frage gestellt hatte, blickte mit großen Augen auf die Päckchen mit belegten Broten, die Sebastian Trenker aus dem Rucksack genommen und auf seiner Jacke ausgebreitet hatte.

»Meine Haushälterin meint’s halt immer gut mit mir«, schmunzelte der Geistliche. »Sie will net, daß ich verhunger’, wenn mir mal was zustoßen sollte.«

Der Bergpfarrer öffnete eine Thermoskanne und goß den dampfenden Kaffee in die bereitgestellten Becher. Sofort stieg das Aroma in die Nase seiner Begleiterin.

»Ah, das tut gut«, sagte Eva Jansen, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte. »Besonders nach diesem Aufstieg.«

»Täuschen S’ sich net«, mahnte Sebastian. »Wir haben noch net einmal die Hälfte der Strecke geschafft. Aber keine Sorge, bis zum Mittag werden wir rechtzeitig auf der Hütte sein.«

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als sie sich an den Aufstieg gemacht hatten. Eva, die ihren Urlaub in St. Johann verbrachte und in der Pension Stubler wohnte, hatte den Geistlichen auf Anraten der Wirtin gefragt, ob er sie einmal mit auf eine Bergtour nehmen könne.

Sebastian, der sich immer freute, wenn er jemandem die Schönheiten seiner Heimat zeigen konnte, hatte die Bitte nicht abgeschlagen. Er holte die angehende Lehrerin von ihrer Unterkunft ab, und sie stiegen über den Höllenbruch und die Hohe Riest auf.

»Nehmen S’ auf jeden Fall ihren Fotoapparat mit«, hatte der Geistliche ihr bei der Verabredung gesagt, und Eva bekam reichlich Gelegenheit, den Auslöser zu drücken.

»Wunderschön ist es hier«, sagte sie und atmete die frische, würzige Bergluft ein.

»Sie kommen vom Niederrhein, wenn ich’s recht verstanden hab’?« erkundigte sich Sebastian.

Die junge Frau nickte. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne, die blauen Augen waren geschlossen, und das blonde Haar lugte unter einem Hut hervor.

»Ja, ein kleiner Ort, nicht viel größer als St. Johann«, antwortete sie. »Es ist zwar dort auch schön, aber natürlich haben wir da nicht solche gewaltigen Berge. Das hier ist schon ein Erlebnis.«

Sie unterhielten sich eine ganze Weile, und die Vierundzwanzigjährige erzählte, daß es nicht mehr lange dauerte bis zum zweiten Staatsexamen. Zu Hause waren jetzt Sommerferien. Eva hatte eine Referendariatstelle an einer kleinen Grundschule, und die Eltern hatten etwas zur Urlaubskasse beigesteuert. Schon ein paar Wochen nach den Ferien war es dann soweit; der große Tag stand vor der Tür.

»Ich habe immer schon Lehrerin werden wollen«, erzählte Eva schmunzelnd. »Als Kind habe ich bereits alle Nachbarskinder ›unterrichtet‹. Ich kann mir für mich gar keinen schöneren Beruf vorstellen.«

Das konnte Sebastian gut verstehen. Für ihn war seine Berufung zum Geistlichen ein großer Wendepunkt in seinem Leben gewesen. Auf der Seite das Madel, das er liebte, auf der anderen sein innigster Wunsch, als Seelsorger für die Menschen da zu sein.

»Ich glaub’, jetzt müssen wir uns langsam wieder auf den Weg machen«, sagte der Bergpfarrer, nachdem sie ihre Frühstückspause beendet hatten.

Sie packten die Sachen zusammen, drückten die Hüte zum Schutz gegen die Strahlen der Sonne fest auf die Köpfe und marschierten weiter.

Ihr Ziel war die Kandereralm, wo sich der alte Franz Thurecker in Jahrzehnten einen legendären Ruf als Käsemeister gemacht hatte. Es war geraume Zeit her, daß Sebastian dem Senner einen Besuch abgestattet hatte. Bestimmt würde der Alte ihn schon schmerzlich vermissen.

»Jetzt ist’s net mehr weit«, erklärte der Geistliche knapp drei Stunden später.

Sie waren über Bergwiesen, Geröllhalden und schmale Pfade gegangen. Eva hatte unablässsig fotografiert, und einige Male war sie selbst das Motiv.

»Damit Sie ein Andenken für zu Haus’ haben.«

Sebastian deutete auf einen Hügel.

»Dahinter liegt die Kandererhütte.«

Sie stiegen hinauf, und oben angekommen, stieß die angehende Lehrerin einen Ruf des Entzückens aus. Es war wirklich ein malerischer Anblick, der sich ihr bot. In der Senke lag die Sennerhütte mit einer großen Sonnenterrasse davor. Daneben kleine Gebäude, Schuppen und Stall. Auf den Almwiesen standen Ziegen und Kühe, die sich, bewacht von zwei Hütehunden, an dem saftigen und würzigen Gras gütlich taten. Die Grundlage für die gute Alpenmilch, wie Eva später noch erfahren sollte.

Auf der Terrasse saßen zahlreiche Wanderer, die über andere Wege heraufgekommen waren. Franz Thurecker wieselte zwischen den Tischen umher und erfüllte die Wünsche seiner Gäste nach Speisen und Getränken.

»Suchen S’ sich schon mal einen Platz«, meinte Sebastian zu seiner Begleiterin. »Ich werd’ dem Franz mal ein bissel unter die Arme greifen.«

Erstaunt schaute Eva wenig später zu, wie der gute Hirte von St. Johann ein großes Tablett balancierte, auf dem Gläser und Flaschen standen. Pfarrer Trenker hielt das Ganze mit solch einer Sicherheit, als habe er sein Leben lang als Kellner gearbeitet.

Ria Stubler, die Pensionswirtin, hatte ihrem Gast schon erzählt, wie unkompliziert Hochwürden in solchen Dingen war. Dazu paßte auch seine Erscheinung, die so ganz und gar nicht an einen Landpfarrer erinnerte. Sportlich und durchtrainiert, das markante Gesicht von vielen Aufenthalten im Freien stets leicht gebräunt, erinnerte der schlanke und hochgewachsene Geistliche eher an einen prominenten Sportler oder Schauspieler.

»Hochwürden, schön, daß Sie mal wieder vorbeischau’n«, hatte der Thurecker-Franz den Bergpfarrer begrüßt. »Ist ja schon eine Weile her.«

»Na ja, Franz, du weißt ja, die Arbeit…«

Nachdem die anderen Gäste zufriedengestellt waren, setzte sich Sebastian zu Eva an den Tisch. Franz brachte eine große Terrine Eintopf und einen Korb mit Brot. Sie aßen mit gutem Appetit, und die junge Frau wunderte sich insgeheim, daß sie schon wieder solchen Hunger hatte, wo es doch so ein reichhaltiges Frühstück gegeben hatte.

»Das macht die gute Bergluft«, schmunzelte Sebastian und forderte Eva auf, noch mal von der leckeren Graupensuppe zu nehmen.

*

Ulli Vogler schob den Hut zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Himmel, war es heiß geworden!

Der Bursche legte den Rucksack ab und beschloß, die Jacke auszuziehen. Nachdem er sie sich um die Hüften gebunden hatte, schaute er auf die Wanderkarte. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er die Hütte erreichte. Eigentlich müßte er sie schon bald sehen können.

Oder hab’ ich mich etwa verlaufen?

Ein wenig vom Weg war er schon abgekommen. Ulli war leidenschaftlicher Fotograf und hatte ein paar besonders schöne Motive entdeckt. Um sie auf den Film zu bannen, mußte er einige Male vom Pfad abweichen, über Anhöhen klettern und auf Felsbrocken steigen. Der Sohn eines Unternehmers aus Aachen mußte zugeben, daß er im Moment nicht recht wußte, wo er sich befand.

Anhand der Karte orientierte er sich und entschied, erst einmal über die mit Steinen übersäte Geröllhalde zu steigen, hinter der er den Weg zur Kandererhütte vermutete. Er hätte nie gedacht, daß eine Wanderung in den Bergen so zeitraubend sein könne.

Nach einem Schluck aus der Wasserflasche marschierte er los. Dabei mußte er aufpassen; die Steine unter seinen Füßen lagen lose auf dem Boden. Über die größeren konnte er hinwegsteigen, doch bei den kleinen geschah es hin und wieder, daß sie wegrollten und ihn ins Rutschen brachten.

Plötzlich passierte, was Ulli die ganze Zeit schon befürchtet hatte. Er verlor das Gleichgewicht und konnte sich nicht mehr halten, als die kleinen Steine unter seinen Schritten in Bewegung gerieten. Mit einem lauten Schrei stürzte er zu Boden und rutschte ein ganzes Stück den Abhang hinunter.

Endlich wurde der Sturz abgebremst. Mit einem Stöhnlaut richtete sich Ulrich Vogler auf und betastete das schmerzende Gelenk an seinem rechten Fuß.

Es dauerte eine Weile, bis dieser Schmerz nachließ. Offenbar war der Wanderer umgeknickt und hatte sich dabei das Gelenk verdreht. Humpelnd kam Ulli auf die Füße. Seine Sachen waren schmutzig geworden, die Hose hatte gar ein Loch abbekommen, und am Rucksack war ein Riemen losgerissen worden. Der Fotoapparat schien nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, lediglich die Lederhülle war ein wenig verschrammt.

Aber das war alles nicht so schlimm wie der Fuß. Der junge Bursche konnte kaum auftreten, so weh tat er.

Allerdings kann ich hier auch nicht sitzen bleiben, überlegte er. Wer weiß, wann hier jemand vorbeikommt?

Ulli wartete, bis der rasende Schmerz aufgehört hatte. Wenn er jetzt auftrat, klopfte es zwar in dem Fuß, aber zumindest konnte er sich humpelnd fortbewegen.

Aufatmend erreichte er die Hügelkuppe und stieß einen Schrei der Erleichterung aus. Unter ihm lag die Sennerhütte. Er hatte es geschafft.

Auf der Terrasse saßen nur wenige Leute. Inzwischen war die Mittagszeit auch längst vorbei, und die meisten Wanderer hatten sich wieder auf den Rückweg gemacht. Ulli hoffte, daß er dennoch eine Kleinigkeit zu essen bekäme. Die Proviantpäckchen, die er am Morgen aus dem Hotel mitgenommen hatte, waren längst gegessen, und in der Wasserflasche war nur noch ein winziger Rest.

Der Pfad von der Kuppe zur Hütte war einigermaßen zu gehen. Langsam machte der Bursche sich daran, ihn hinunterzuhumpeln, wobei er den rechten Fuß nachzog.

Diese seltsame Art der Fortbewegung mußte einem der Männer, die auf der Terrasse saßen, aufgefallen sein. Er sprang auf und kam Ulli entgegen.

»Haben S’ sich verletzt?« rief er.

»Ausgerutscht und den Knöchel verdreht«, erklärte der Wanderer.

Der Mann legte seinen Arm um ihn.

»Stützen S’ sich nur auf.«

»Dank’ schön«, nickte Ulli. »So geht’s.«

Erschöpft ließ er sich auf die Bank sinken und lächelte seinen Helfer an. Auf der anderen Seite des Tisches saß eine junge Frau, die ihn besorgt anschaute.

Er lächelte auch ihr zu.

»Blöd«, meinte er. »Aber ich hätt’ besser auf dem Weg bleiben sollen. Jetzt ist der Fuß hin.«

»Wie ist das denn passiert?« wollte der Mann wissen.

Der andere, es war offenbar der Senner, verschwand in der Hütte und kam wenig später mit einem Glas Milch und einer Dose zurück.

Ulrich Vogler hatte unterdessen von seinem Mißgeschick erzählt. Der Senner bat ihn, Stiefel und Strumpf auszuziehen und bückte sich dann zu Ullis Fuß hinunter.

»Das tut gut!« rief der junge Bursche aus, als er die kalte Salbe auf der wehen Stelle spürte. »Was ist denn das für ein Wundermittel?«

»Nix weiter als Lammfett und Kräuter«, antwortete Franz Thurecker. »Ein paar Tag’ sollten S’ den Fuß ruhig halten. Dann wird’s wieder.«

»Danke schön«, sagte der Verletzte. »Vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen, ich heiße Ulrich Vogler, aber meine Freunde nennen mich alle Ulli.«

Bei den letzten Worten hatte er besonders die junge blonde Frau angesehen, die ihm ausnehmend gut gefiel, wie er feststellte…

»Das ist die Frau Jansen«, übernahm der Mann, der ihm den Pfad hinuntergeholfen hatte, die Vorstellung. »Der Franz Thurecker ist der Hüttenwirt und Senner, und ich bin Pfarrer Trenker aus St. Johann.«

Ulli war erstaunt, aber auch erleichtert. Er hatte nämlich vermutet, daß dieser attraktive Mann und Eva Jansen ein Paar sein würden… Als er jetzt hörte, daß es sich bei seinem Helfer um einen Geistlichen handelte, war er irgendwie beruhigt. Er trank das Glas leer und leckte sich die Lippen.

»Sagen Sie«, wandte er sich an den Senner, »gibt’s vielleicht noch eine Kleinigkeit zu essen? Ich hab’ meinen ganzen Proviant schon aufgebraucht. Wenn mir dieses Mißgeschick nicht passiert wäre, dann wäre ich ja schon längst hier oben angekommen.«

Franz nickte und ging in die Hütte. Während er etwas von der Suppe aufwärmte, unterhielten sich seine Gäste.

»Ich wohne im Löwen«, erzählte Ulli. »Gestern bin ich angekommen. Leider nur für eine Woche. Aber herrlich ist es hier.«

»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?« erkundigte sich Sebastian.

»Aus Aachen«, erklärte der Bursche. »Mein Vater besitzt dort eine kleine Printenfabrik. Ein Unternehmen, das schon seit drei Generationen in Familienbesitz ist.«

»Und Sie werden einmal die vierte Generation sein?«

Ulli nickte, aber dem Bergpfarrer fiel auf, daß hinter diesem Nicken nicht viel Begeisterung zu stecken schien.

»Das ist aber ein Zufall«, mischte sich Eva in das Gespräch. »Ich komme nämlich fast aus derselben Ecke. Von uns zu Hause bis Aachen sind’s nur knapp zwei Stunden.«

»Ist das wahr?«

Ulli war erstaunt. Gleichzeitig freute er sich, denn diese hübsche Frau gefiel ihm immer mehr, je länger er sie betrachtete.

»Wie komme ich denn jetzt wieder ins Tal hinunter?« fragte er, nachdem er die Suppe gegessen hatte.

»Zu Fuß werden S’ es kaum schaffen«, antwortete Sebastian.

»Der Alois muß eigentlich jeden Moment kommen, um den Käse abzuholen«, sagte Franz. »Der könnt’ Sie mit ins Tal nehmen.«

»Das ist gut«, nickte der Geistliche und sah Eva Jansen an. »Wir werden uns am besten auch gleich auf den Weg machen.«

Die junge Frau nickte.

Die Blicke, die Ulli ihr zugeworfen hatte, waren ihr nicht entgangen, und die ganze Zeit fragte sie sich schon, warum ihr Herz plötzlich so rasend schnell schlug.

Diese Frage beschäftigte sie auch noch während des Abstiegs ins Tal. Sie hatten gewartet, bis der Knecht über den Wirtschaftsweg heraufgefahren kam, um die reifen Käse abzuholen. Der Senner hatte sie zuvor durch das Käselager geführt und von den Köstlichkeiten probieren lassen. Jetzt steckten zwei große Stücke Bergkäse in den Rucksäcken. Nachdem Pfarrer Trenker Ulli auf den Wagen geholfen hatte, winkte der ihnen zu.

»Vielen Dank noch mal, für alles.«

»Gute Besserung«, rief Eva.

»Das wird schon«, hatte der Bursche zuversichtlich geantwortet. »Die Salbe vom Franz ist ein wahres Wundermittel. Vielleicht kann ich am Samstag schon wieder das Tanzbein schwingen.«

Daß er sich sie als seine Tanzpartnerin wünschte, war aus seinen Worten deutlich hörbar.

»Ein netter Bursche, der Ulli Vogler, net wahr?« meinte Sebastian Trenker.

Als erfahrener Menschenkenner waren ihm die Blicke, die der junge Mann und das Madl getauscht hatten, nicht entgangen.

Eva nickte.

Gleichzeitig spürte sie, daß sie vor Verlegenheit rot wurde. Der Geistliche sah darüber hinweg und reichte ihr die Hand.

»Also, dann ruh’n S’ sich mal schön aus von uns’rer Tour.«

»Das mach’ ich«, antwortete sie. »Und nochmals herzlichen Dank für diesen wunderschönen Tag.«

Eva klopfte auf den Fotoapparat, der um ihren Hals hing.

»Das werden die schönsten Bilder, die ich je gemacht habe.«

Dabei dachte sie vor allem an das letzte Foto, das sie geschossen hatte – es zeigte Ulli Vogler, auf dem Wagen sitzend…

*

»Jetzt brauch’ ich erst mal eine Dusche«, verkündete die junge Frau, nachdem sie die Pension betreten hatte.

»Und dann kommen S’ zum Abendessen in die Küche«, nickte Ria Stubler. »Wie war denn der Aufstieg?«

»Herrlich«, schwärmte das Madl. »Dabei fällt mir ein, daß ich noch was für das Abendbrot mitgebracht hab’.«

Sie holte das Käsepäckchen aus dem Rucksack und reichte es der Pensionswirtin.

»Mit einem schönen Gruß vom Thurecker-Franz.«

»Ach, der leckere Bergkäs’«, freute Ria sich. »Den lassen wir uns nachher schmecken.«

Eva ging in ihr Zimmer hinauf. Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte sie sich wie neugeboren. Sie setzte sich an den Tisch, der vor dem Fenster stand, und schrieb rasch ein paar Zeilen an die Eltern. Maria und Wolfgang Jansen hatten schon öfters einen Urlaub in den Alpen verbracht, als Kind war Eva natürlich dabeigewesen. Doch als sie ihr Studium aufnahm, gab es kaum noch Gelegenheiten für gemeinsame Ferien. Aber bestimmt rührte ihre Begeisterung für die Berge von den frühen Erfahrungen, die sie hier gemacht hatte.

Sie erzählte in ihrem Brief von dem heutigen Tag und schwärmte von dem alten Senner. Franz hatte sie und den Geistlichen durch seine Käserei geführt, und Eva bekam eine Ahnung, wieviel Arbeit darin steckte, bis ein guter Käse fertig war.

Von der Begegnung mit Ulli Vogler erwähnte sie nichts, obgleich ihr der Bursche nicht mehr aus dem Kopf zu gehen schien. Selbst beim Abendessen mußte sie an ihn denken, sah sie die sanften, dunklen Augen und das beinahe spitzbübische Lächeln vor sich.

Wie es ihm wohl gehen mochte. War er gut im Tal angekommen? Hatte die Salbe des Senners wirklich Wunder gewirkt, wie er behauptete?

Eva merkte, daß sie sich eine Menge Sorgen um ihn machte, und am liebsten hätte sie zum Telefon gegriffen und im Hotel angerufen.

Aber das ging natürlich nicht.

Was sollte er denn von ihr denken?

Außerdem… außerdem hatte Eva sich vorgenommen, sich nicht so schnell wieder zu verlieben. Schließlich hatte sie gerade erst eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Auch wenn sie seit über sechs Wochen nichts mehr von Markus gehört hatte, so tat der Gedanken an ihn immer noch weh.

»Am Samstag ist Tanzabend im Löwen«, bemerkte Ria und riß sie damit aus ihrem Nachdenken über unglückliche Liebesbeziehungen. »Da werden S’ doch sicher hingeh’n, net wahr?«

Eva lächelte und zuckte die Schultern.

Wahrscheinlich wäre es eine Möglichkeit, Ulli dort wiederzusehen. Aber eigentlich wollte sie es ja gar nicht…

Oder etwa doch?

Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie sie mit ihm auf der Tanzfläche stehen würde, in seinen Armen…

Menschenskind, schoß es ihr durch den Kopf, denk’ an Markus. Dann hast du die Antwort. Nein, sie würde nicht hingehen, und Ulli mit seinem verletzten Fuß sowieso nicht.

»Mal seh’n«, gab sie ausweichend Antwort und merkte gleichzeitig, daß sie ihren eben gefaßten Entschluß damit schon wieder ins Wanken gebracht hatte.

»Also, das hört sich aber net begeistert an«, schüttelte die Pensionswirtin den Kopf. »Für ein junges Madl gibt’s doch nix Schön’res, als mit einem feschen Burschen zu tanzen.«

Eva lächelte. Natürlich hatte Ria recht. Aber dennoch.

»Ich habe es ja nicht ganz ausgeschlossen«, meinte sie und hoffte, daß die Wirtin sich damit zufriedengeben würde.

Schon bald nach dem Abendessen verabschiedete sie sich. Der Tag war anstrengend gewesen, und sie spürte, wie müde sie wurde. Doch als sie in ihrem Bett lag, dauerte es noch eine ganze Weile, bis sie einschlafen konnte.

Und schuld daran war ein bestimmter junger Mann, der ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen wollte.

*

Alois Krammler, der Knecht vom Wendelhof, hatte Ulli direkt bis vor das Hotel gefahren. Beim Absteigen war er dem jungen Burschen behilflich.

»Pfüat di’ und gute Besserung«, verabschiedete sich Alois und fuhr zum Hotel weiter.

Ulli winkte ihm hinterher und humpelte ins Hotel hinein. Eigentlich tat der Fuß gar nicht mehr weh, aber es war die natürliche Angst, Schmerz zu spüren, die ihn so vorsichtig auftreten ließ.

Sepp Reisinger stand an der Rezeption, als sein Gast hereinkam. Der Wirt sah ihn bestürzt an.

»Herr Vogler, hatten S’ etwa einen Unfall?«

»Halb so schlimm«, winkte Ulli ab. »Der Senner oben auf der Hütte hat mich gut versorgt. Der Fuß ist ein wenig verdreht, aber sonst bin ich in Ordnung, und der Herr Thurecker hat mir noch etwas von der Salbe mitgegeben.«

Sepp reichte ihm den Zimmerschlüssel.

»Da war ein Anruf heut’ mittag für Sie«, erzählte er. »Ich hab’ der jungen Dame gesagt, daß Sie auf Wanderung sind. Frau Werenhofen bittet Sie, zurückzurufen.«

»Mach’ ich«, nickte Ulli und ging nach oben.

Dabei merkte er, daß er den ganzen Tag kaum an Constanze gedacht hatte.

Der Anruf kann warten, überlegte er. Erst einmal heiß duschen, dann etwas von der Salbe auftragen und den Fuß hochlegen.

Während das Wasser auf ihn herniederprasselte, summte er ein Lied unter der Dusche. Trotz des Mißgeschicks, das ihm widerfahren war, hatte er gute Laune, und das lag, wie er ganz genau wußte, an Eva Jansen. Sein Herz klopfte jetzt noch vor Aufregung, wenn er an sie dachte, und der Gedanke an Constanze verblaßte immer mehr.

Allerdings war er sich auch bewußt, daß er um den Anruf nicht herumkommen würde. Die Tochter des Großbäckers Justus von Werenhofen konnte sehr ungehalten werden, wenn man ihre Wünsche nicht erfüllte.

Ulli mußte sich eingestehen, daß er im Grunde recht froh war, daß es mit Constanzes Urlaubsplanung nicht geklappt hatte. Ursprünglich wollten sie gemeinsam in die Berge fahren. Doch die angehende Betriebswirtin, die eines Tages das Unternehmen vom Vater erben würde, stand vor wichtigen Prüfungen und hatte schweren Herzens verzichten müssen.

Seufzend nahm der junge Bursche das Telefon und wählte ihre Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln nahm sie ab.

»Hallo, Ulli, schön, daß du anrufst. Wie war dein Tag?«

»Gut«, antwortete er. »Ich habe eine Bergwanderung gemacht.«

»Ich weiß. Schade, daß ich nicht dabeisein konnte. Weißt du, ich vermisse dich sehr. Aber diese Prüfungen schaffen mich einfach. Ich weiß gar nicht, wie du das überstanden hast.«

Im Gegensatz zu Constanze hatte Ulli seinen Abschluß als Betriebswirt schon gemacht.

»Ach, das ist alles halb so wild«, versuchte er sie zu beruhigen.

»Du, ich freue mich schon darauf, wenn du wieder da bist«, rief sie überschwenglich. »Unsere Eltern wollen es dann ganz offiziell bekanntgeben.«

Der junge Bursche seufzte innerlich.

Mußte sie ihn ausgerechnet jetzt daran erinnern?

»Ja, aber ich denke, daß wir doch noch einiges zu besprechen haben«, wandte er ein.

Dabei konnte er sich beinahe bildlich vorstellen, wie Constanze von Werenhofen die Stirn runzelte.

»Was gibt’s denn da noch zu besprechen?« wollte sie wissen. »Zwischen uns ist doch alles klar. Oder etwa nicht?«

»Du, ich bin müde«, wich er aus. »Es war ein anstrengender Tag. Ich melde mich in den nächsten Tagen wieder.«

»Gut, Liebster. Dann geh’ früh schlafen. Ich freue mich auf deinen Anruf.«

Ulli legte den Hörer auf die Gabel und schaute nachdenklich zur Zimmerdecke hinauf.

Eine Woche also noch. Nicht gerade eine lange Galgenfrist!

Er drehte sich auf den Bauch und stützte den Kopf in die Hände. Sein innerer Widerstand gegen diese Verbindung wurde immer stärker, und das hatte absolut nichts mit dem hübschen Madl zu tun, dem er heute begegnet war. Aber auf der anderen Seite wurde er sich auch seiner Verantwortung bewußt. Gegenüber seinen Eltern und ganz besonders der Firma, die er einmal übernehmen sollte.

Leider stand sie nicht mehr auf ganz so festen Beinen wie damals, als sein Großvater stark und sein Vater Chef der ›Vogler Lebkuchen- und Printenbäckerei‹ wurde. Das Geschäft stagnierte seit Jahren. Auch wenn immer Lebkuchen gegessen wurden, so war es doch ein reiner Saisonartikel, der nur in der Vorweihnachtszeit boomte. Um die Maschinen auszulasten, wurden zwar auch Kuchen und Herzen für die Schausteller der Jahrmärkte hergestellt, doch damit war nicht das große Geld zu verdienen. Zumal Hans Vogler, der derzeitige Seniorchef des Unternehmens, nichts davon hielt, mit billigen Backmischungen weitere Artikel in das Sortiment aufzunehmen, die das ganze Jahr über gefragt waren. Hinzu kam, daß Großbäckereien in den Markt drängten. Mit den Konditionen, die die den großen Lebensmittelketten machten, konnten Hans und Ulrich Vogler nicht mithalten.

Die Folge war, daß die Firma in eine riskante Krise geschlittert war und kurz vor dem Konkurs stand.

Allerdings schien es doch einen Rettungsanker zu geben. Eine dieser Großbäckereien gehörte Justus von Werenhofen. Dieses Unternehmen war führend auf dem umkämpften Markt. Es stellte nicht nur Brote und Brötchen für zahlreiche Supermärkte in ganz Deutschland her, auch Torten und andere Backwaren gehörten in das Angebot. Mit einer eigenen Flotte von Tiefkühllastern brachte man die Ware von Flensburg bis Passau unter die Leute.

Ulli hatte Constanze vor einem halben Jahr auf einer Fete kennengelernt, die er und seine Kommilitonen aus Anlaß ihres Abschlusses gegeben hatten. Die hübsche Tochter des Großunternehmers war mit ein paar Freundinnen in den eigens angemieteten Saal gekommen. Den ganzen Abend über hatte sie Ulli nicht aus den Augen gelassen, und ein Gesprächsthema war das Studium gewesen, dessen Ende noch vor der jungen Frau lag. Aus dem ersten Flirt wurde Liebe – zumindest von ihrer Seite aus. Ulli hingegen genoß es, mit ihr zu flirten und ein paar wunderschöne Stunden zu verbringen. Als er Constanze zu Hause vorstellte, zeigte sich vor allem sein Vater sehr angetan von der Freundin seines Sohnes. Was Ulli bisher nicht so bewußt gewesen war, schien seinem Vater sonnenklar zu sein.

»Mensch, Junge, die halt’ dir mal warm«, hatte Hans Vogler noch am selben Abend zu ihm gesagt. »Mit dem Geld, das die Familie hat, können wir unsere Firma wieder auf gesunde Beine stellen.«

Erst in diesem Moment ging dem Sohn auf, was der Vater meinte. Und tatsächlich – auch Constanzes Vater schien nicht abgeneigt, sich an der Lebkuchenbäckerei zu beteiligen, und bei so manchem Bier kamen die beiden Seniorchefs überein, daß es eine schicksalhafte Fügung sein müsse, daß ihre Kinder sich kennengelernt hatten.

»Wenn die beiden heiraten«, versprach Justus von Werenhofen, »dann wird der Ulli eines Tages zusammen mit Constanze alles übernehmen. Die Großbäckerei und die Firma Vogler.«

Indes war der Schwiegersohn in spe gar nicht mehr so sicher, ob er die Millionenerbin überhaupt heiraten wollte. Der erste Rausch war verflogen und hatte der Ernüchterung Platz gemacht. Ulli Vogler dachte mit Entsetzen daran, daß er auf dem besten Wege war, die Ehe mit einer Frau einzugehen, die er gar nicht liebte. Zumindest nicht mehr so, wie er einmal geglaubt hatte, es zu tun.

Und da mußte er heute die Frau treffen, von der er immer geträumt hatte!

*

Als er am nächsten Morgen nach einem ausgiebigen Frühstück vor das Hotel trat, wurde Ulli Vogler von einem merkwürdigen Mann angesprochen. Der Alte mochte wohl weit über siebzig Jahre alt sein. Das Haar hing ihm vom Kopf ab, das faltige Gesicht wurde von einem grauen Rauschebart umrahmt, und die Kleider, die der komische Kauz trug, hatten bestimmt schon bessere Zeiten gesehen. Ulli vermutete, daß der Mann auch darin schlafen ging.

»Einen guten Tag wünsch’ ich«, sagte der Alte. »Ich hab’ gestern beobachtet, wie S’ ins Hotel gehumpelt sind. Bestimmt haben S’ sich bei Ihrer Bergtour den Fuß verletzt. Ich hätt’ da was für Sie.«

Mit diesen Worten zog er eine alte, zerkratzte Plastikdose aus der Tasche seiner schmutzigen Hose und hielt sie dem Burschen unter die Nase.

»Was soll ich damit?« fragte der verdutzt.

Der Alte, bei dem es sich um niemand anderen als den Brandhuber-Loisl, dem selbsternannten Wunderheiler von St. Johann, handelte, grinste.

»Glauben S’ mir, das ist ein wahres Wundermittel. Hilft gegen jedes Wehwehchen. Und billig ist’s auch.«

Er beugte sich vor, und Ulli konnte die nach Enzian ›duftende‹ Fahne riechen. Unwillkürlich zuckte er zurück.

»Eigentlich hab’ ich Sie schon gestern ansprechen wollen. Aber da sind S’ so schnell ins Hotel hinein, daß ich net hinterher kam. Und nachgeh’n konnt’ ich net. Der Wirt hat was dagegen, wenn ich sein nobles Haus betret’.«

Was nur verständlich ist, dachte der junge Mann und schmunzelte.

»Also, das ist ja wirklich sehr freundlich von Ihnen«, sagte er. »Aber der Fuß ist schon wieder völlig in Ordnung.«

Loisl machte ein enttäuschtes Gesicht. Seit dem frühen Morgen hatte er sich vor dem Hotel postiert, in der Hoffnung, den Burschen zu treffen, der ihm gestern nachmittag aufgefallen war. Schlau, wie der Alte war, hatte er kombiniert; der Hotelgast saß auf einem Wagen, der Knecht half ihm herunter. Also war er wohl net in der Lage, zu Fuß zu gehen. Da der Bursche Wanderkleidung trug und jetzt humpelte, überlegte Loisl weiter, mußte er sich die Verletzung auf einer Bergtour zugezogen haben.

Leider stand er auf der anderen Straßenseite, und bis er hinüber war, hatte der junge Bursche das Hotel schon betreten. Also hatte der Alte am Morgen Stellung bezogen, um zu warten, ob er seine Wundersalbe nicht doch noch an den Mann bringen könne.

Die Geschäfte gingen schlecht in der letzten Zeit, und Loisl war auf jeden Cent angewiesen. Als das Opfer jetzt ablehnte, sah er seine Felle wegschwimmen.

»Glauben S’ mir, Sie werden ’s net bereuen«, beschwor er Ulli Vogler. »Ich hätt’ da übrigens noch andere Sachen anzubieten. Tees gegen beinahe jede Krankheit, außerdem wären da noch ein paar besond’re Tropfen…«

Er grinste und zwinkerte Ulli verschwörerisch zu.

»Wenn S’ davon ein paar dem Madl Ihrer Träume zu trinken geben…, ich schwör’s Ihnen, da sagt’s net mehr nein!«

»Du sollst doch keinen Meineid schwören, Brandhuber!« hörten sie in diesem Moment eine scharfe Stimme.

Von den beiden Männern unbemerkt, war Pfarrer Trenker nähergekommen. Als er den ›Wunderheiler‹ mit Ulli zusammenstehen sah, ahnte er, um was es ging.

Der junge Bursche war erleichtert, den Geistlichen zu sehen. Er hatte schon überlegt, wie er den aufdringlichen Geschäftsmann wieder loswerden könne.

Loisl war zusammengezuckt, als er die Stimme hörte. Er drehte den Kopf, warf Sebastian einen bösen Blick zu und trollte sich, wobei er etwas Unverständliches in seinen Bart grummelte.

»Du liebe Güte, Sie haben mich in letzter Sekunde gerettet«, lachte Ulli Vogler. »Sonst hätte der Kerl mir noch sonstwas anzudrehen versucht. Wer war denn das?«

Sebastian Trenker sah dem Alten hinterher und schüttelte den Kopf.

»Fast hätt’ ich gesagt, eine der sieben Plagen«, antwortete er nicht ohne Humor. »Der Brandhuber-Loisl ist unser ›Wunderheiler‹. Jedem versucht er seine obskuren Mittel zu verkaufen. Dabei helfen die net die Bohne. Allerdings schaden s’ auch net.«

Er blickte Ulli forschend an.

»Was macht der Fuß?«

»Bestens«, erwiderte der junge Mann. »Die Salbe von dem Herrn Thurecker, das ist ein wahres Wundermittel.«

»Ja, der Franz versteht net nur was vom Käsen. Wenn er beinahe das ganze Jahr droben auf der Hütte ist, dann muß er sich schon selbst zu helfen wissen. Wahrscheinlich nützt seine Salbe Mensch und Tier gleichermaßen.«

Er nickte zufrieden.

»Es freut mich, daß es Ihnen wieder bessergeht. Sagen S’, Herr Vogler, haben S’ einen Augenblick Zeit? Ich würd’ Ihnen gern’ uns’re Kirche zeigen. Vorausgesetzt, es interessiert Sie überhaupt.«

»Aber ja«, bekundete der Bursche sein Interesse. »Ich war ohnehin auf dem Weg dorthin. In meinem Hotelzimmer liegen Prospekte aus, und in allen wird von der Kirche geradezu geschwärmt.«

*

Staunend schaute er wenig später auf die Pracht, die sich ihm darbot. Rot, Blau und Gold waren die vorherrschenden Farben, in denen das Innere des Gotteshauses gestaltet war. Die bunten Fensterbilder stellten Motive aus der Bibel dar, überall waren Bilder und Statuen zu sehen, die Heilige zeigten.

Eine besonders schöne Madonnenfigur stand auf einem Holzsockel neben einem Gemälde. Es hieß ›Gethsemane‹ und zeigte den Erlöser am Abend vor der Kreuzigung im Gebet versunken. Ulli betrachtete es eingehend und deutete dann auf die Madonna.

»Haben Sie keine Angst, daß man solch ein Kunstwerk stehlen könnte?« fragte er.

Der Bergpfarrer lächelte.

»Gerade diese Figur, die von einem unbekannten Künstler aus dem späten Mittelalter stammt, wurde schon einmal das Opfer dreister Kirchenräuber.«

Er erzählte die Geschichte, wie er eines Morgens, als er eigentlich zu einer Bergtour aufbrechen wollte, den Diebstahl bemerkt hatte. Gottlob sei es seinem Bruder und ihm gelungen, die Diebe zu überführen und die Mutter Gottes in den Schoß der Kirche zurückzuführen.

»Jetzt ist die Madonna allerdings durch eine Alarmanlage gesichert«, erklärte Sebastian. »Wenn man sie auch nur einen Millimeter bewegt, wird der Alarm ausgelöst.«

Sie setzten ihren Rundgang fort und nahmen anschließend auf einer der Bänke Platz.

»Und wie gefällt Ihnen unser Dorf?« erkundigte sich Sebastian. »Wie sind S’ eigentlich drauf gekommen, hierher zu fahren?«

Ulli Vogler holte tief Luft.

»Ich wollt’ unbedingt an einen Ort, wo nicht soviel Trubel herrscht«, erzählte er. »Es gibt da ein paar Dinge, über die ich mir klarwerden muß. Der Mann im Reisebüro, in dem ich gebucht habe, gab mir den Tip mit St. Johann, und ich muß sagen, er war goldrichtig. Ein wunderschönes Dorf, in dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Genau das Richtige, um in aller Ruhe die Gedanken ordnen und Entscheidungen treffen zu können.«

Sebastian Trenker war hellhörig geworden. Hatte ihn sein Eindruck gestern, als Ulli Vogler von der Firma seines Vaters berichtete, doch nicht getäuscht? Dem guten Hirten von St. Johann war der Gesichtsausdruck nicht entgangen, und seine jahrelange Menschenkenntnis sagte ihm, daß der junge Mann, der jetzt neben ihm saß, hergekommen war, um sich über etwas Klarheit zu verschaffen, das ihn sehr beschäftigte.

»Probleme?« fragte er.

Ulli nickte.

»Ja, und ich fürcht’, seit gestern sind sie noch größer geworden.«

»Möchten S’ darüber sprechen? Es gibt kein Problem, für das es net auch eine Lösung gibt.«

Der junge Bursche sah den Geistlichen an. Bisher hatte Ulli alles mit sich alleine abgemacht. Er war nicht der Mensch, der mit anderen über das sprechen konnte, was ihn bewegte. Aber dieser Pfarrer Trenker machte es ihm leicht, sein Herz zu öffnen. Die unaufdringliche Art des Geistlichen sprach Ulli an.

»Wissen Sie, unserer Firma geht es nicht sehr gut«, erzählte er. »Lebkuchen sind eher ein Saisonartikel, und die Konkurrenz durch Großbäckereien wird immer spürbarer. Hinzu kommt, daß mein Vater auf Bewahrung der Tradition besteht. Wogegen auch nichts zu sagen ist. Aber in diesem Fall widerspricht sie jeder kaufmännischen Vernunft. Vater hat wohl große Hoffnungen auf meinen Eintritt in den Betrieb gehegt. Ich bin jetzt zwar diplomierter Betriebswirt, aber Wunder kann ich deswegen noch lange nicht vollbringen.«

»Und es gibt keinen Ausweg aus dieser Krise?«

Ulli verzog die Lippen und nickte.

»Den gibt es sehr wohl. Aber zu welchem Preis?«

Er erzählte weiter, wie er Constanze kennengelernt hatte, die Tochter des bekannten Großbäckers, und von dem Arrangement, das die beiden Seniorchefs getroffen hatten. Sebastian ahnte, was das Problem dabei war.

»Aber Sie lieben das Madl net?«

Der junge Bursche zuckte die Schultern.

»Ich schätze sie«, sagte er. »Constanze ist eine patente Frau, man kann mit ihr, wie man so sagt, Pferde stehlen. Aber ich frage Sie, reicht das für ein ganzes Leben?«

»Wohl kaum«, mußte der Bergpfarrer zugeben. »Und dann sagten Sie vorhin, daß das Problem seit gestern nur noch größer geworden sei. Hat es etwas mit der Eva Jansen zu tun?«

Ulli sah den Geistlichen verblüfft an.

»Sie haben es bemerkt?«

Sebastian lächelte.

»Es gehört net viel dazu«, erwiderte er. »Ich kann eins und eins zusammenzählen.«

»Ja, es stimmt«, nickte Ulli, »ich habe mich bis über beide Ohren in sie verliebt. Dabei kann ich es mir gar nicht erklären. Ich kenne Eva überhaupt nicht, und doch habe ich das Gefühl, daß sie die Richtige für mich ist. Es war wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«

»Haben Sie schon mit Constanze gesprochen?«

»Gestern abend. Sie hatte mittags im Hotel angerufen, aber da war ich ja noch unterwegs.«

»Aber über Ihre Gefühle für Eva haben S’ nix gesagt oder…?«

Ulli schüttelte den Kopf.

»Ich konnt’s net. Constanze hat mir überschwenglich erzählt, daß unsere Eltern die Verlobung nach meiner Rückkehr offiziell bekanntgeben wollen.«

»Das sind ja schon sehr konkrete Pläne. Was wollen S’ denn da jetzt machen?«

»Ich weiß es net«, antwortete der Bursche, und sein Gesichtsausdruck zeigte Verzweiflung. »Nur eines, daß ich Eva von Herzen gern habe und dieses Gefühl für Constanze schon lange nicht mehr empfinde.«

»Glauben S’ denn, daß Eva genauso in Sie verliebt ist?«

Ulli lächelte.

»Woher, Hochwürden, wir haben ja kaum ein paar Worte miteinander gesprochen. Aber wenn ich an ihre Blicke denke, dann bin ich guter Hoffnung.«

»Ja, das bin ich auch«, schmunzelte Sebastian.

Ulrich Vogler sah ihn überrascht an.

»Sie glauben…?«

»Sagen wir mal, ich könnt’ mir vorstell’n, daß Sie Evas Blicke richtig gedeutet haben. Allerdings werden S’ das schon alleine herausbekommen müssen. Sie wohnt übrigens in der Pension Stubler, ganz hier in der Nähe.«

Der junge Mann seufzte.

»Aber was mache ich mit Constanze?«

»Nun, was sich auch immer zwischen Ihnen und Eva entwickelt, Sie werden es Constanze sagen müssen. Denn ich gehe davon aus, daß Sie sie auch dann nicht heiraten wollen, wenn Eva Ihre Gefühle net erwidert.«

»Nein«, beteuerte Ulli, »das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

Der Bergpfarrer nickte.

»Ich hab’ keine and’re Antwort von Ihnen erwartet«, sagte er. »Wie auch immer, Ulli, ich kann Ihnen nur raten: Hören S’ auf die Stimme Ihres Herzens. Gewiß steht viel auf dem Spiel, die Rettung der Firma und vieler Arbeitsplätze. Aber es wäre höchst unmoralisch, eine Ehe auf dem Fundament einer Lüge aufzubauen. Vielleicht gibt’s noch and’re Wege, um die Firma vor dem Konkurs zu bewahren. Ihrer Liebe zu Eva Jansen sollte das aber net im Wege steh’n.«

Ulli Vogler atmete erleichtert auf.

»Vielen Dank, Hochwürden, Sie haben mir sehr geholfen.«

»Das ist meine Aufgabe, und ich erfülle sie mit Freude. Wann immer Sie net mehr weiter wissen, dürfen S’ sich an mich wenden. Bei Tag und Nacht.«

»Das werde ich, Hochwürden«, nickte Ulli und reichte dem Geistlichen die Hand. »Bestimmt war ich nicht zum letzten Male hier.«

Die beiden Männer waren aufgestanden und strebten dem Ausgang zu.

»Wissen S’ was«, schlug Sebastian vor, »am Samstag ist Tanz im Löwen. Kommen S’ doch vorher zum Essen ins Pfarrhaus. Mein Bruder und seine Freundin werden da sein, und meine Haushälterin freut sich immer, wenn viele Gäste kommen. Außerdem gibt’s da noch jemanden, den ich einladen werd’…«

Der letzte Satz wurde von einem Augenzwinkern begleitet. Ulli schmunzelte.

»So eine Einladung schlage ich gewiß nicht aus«, sagte er. »Vielen Dank noch mal.«

Während er den Kiesweg hinunterging, blieb Sebastian Trenker stehen und schaute ihm hinterher. Der gute Hirte von St. Johann ahnte, daß Ulli mit seiner Befürchtung, sein Problem würde noch größer werden, recht haben könnte. Aber er war gewillt, dem jungen Burschen und dem Madl, das er liebte, zu ihrem Glück zu verhelfen.

*

»Ach, ich habe wunderbar geschlafen«, sagte Eva, als sie beim Frühstück saß.

Die junge Frau erfuhr während ihres Aufenthalts in der Pension Stubler eine besondere Fürsorge. Ria lud Gäste, die ihr sympathisch waren, oft in ihre Privaträume ein. Dann kochte sie für sich und den Eingeladenen, und dieser war nicht genötigt, das Mittag- und Abendessen im Gasthaus einzunehmen. Ansonsten wurde in der Pension nur ein Frühstück serviert. Rias mütterliches Herz hatte sofort für die angehende Lehrerin geschlagen, und so kam es, daß Eva jetzt in der privaten Küche mit ihr zusammensaß und sich schmecken ließ, was Ria aufgetischt hatte.

»Was haben S’ sich denn für heut’ vorgenommen?« erkundigte sich die Wirtin.

»Ich habe mir überlegt, heute einen faulen Tag einzulegen«, erwiderte die junge Frau. »Die Tour gestern war doch ganz schön anstrengend und sitzt mir noch in den Knochen. Vielleicht geh’ ich ein wenig bummeln.«