Cover

Dr. Norden Bestseller
– 184 –

Erlöst aus dunkler Nacht

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74090-602-3

Weitere Titel im Angebot:

Fee Norden ließ keinen Blick vom Fernsehapparat, als Amelie Rittberg das Abendprogramm ansagte.

»Sie ist bezaubernd«, sagte Fee, »und dazu diese Stimme! Mich wundert es, daß man sie noch nicht zum Film geholt hat.«

»Sie wird nicht wollen«, sagte Daniel Norden trocken. »Und sie tut gut daran, sich weitgehendst zu schonen. Mich freut es sehr, daß sie nicht übermütig geworden ist.«

Amelie war ihnen wohlbekannt, doch nur die eingeweihten Ärzte wußten, daß mit den neuesten Erkenntnissen der medizinischen Forschung an ihr ein Wunder vollbracht worden war.

Es war nicht publik geworden, wenigstens nicht unter ihrem richtigen Namen. Sie hatte es nicht gewollt, denn sie hatte sich zu viele Jahre gewünscht, als ein ganz normaler Mensch leben zu können, und nun konnte sie es.

Amelie Rittberg war seit ihrem vierten Lebensjahr zuckerkrank gewesen. Sie hatte mit ihrer Krankheit leben und heranwachsen müssen. Vieles, was anderen Kindern selbstverständlich war, blieb ihr versagt. Sie hatte den einzigen Vorteil, daß ihre Eltern vermögend waren und alles für ihr einziges Kind taten, was menschenmöglich war und die Ärzte für ihre Entwicklung tun konnten.

Ihr Fall war mit dem eines anderen Patienten, der ebenfalls zuckerkrank war und den Dr. Norden schon lange behandelte, nicht vergleichbar. Clemens Martinus, dem Dr. Norden über schwerste Situationen hatte hinweghelfen können, lebte mit dem Insulin. Er wurde damit alt, aber Amelie war jung und trotz dieser Krankheit bildhübsch, und dazu mutig genug, an sich eine Operation vornehmen zu lassen, die äußerst riskant war. Dr. Norden hatte Zweifel gehegt und auch Bedenken geäußert, als sie vor zwei Jahren zu ihm gekommen war und ihm einen Bericht aus einer amerikanischen Zeitung vorlegte. Ein Ärzteteam hatte eine Pankreas-operation an einem älteren Patienten vorgenommen, die ihn von der Diabetes befreien sollte. Der Patient, selbst Arzt, hatte sich damit so lange befaßt, daß er die Kollegen dazu überreden konnte. Er hatte diese Operation allerdings nur wenige Monate überlebt, weil sein Herz nicht mitspielte, aber die Operation selbst war erfolgreich verlaufen.

Als Amelie mit ihren Eltern in Amerika war, hatte sie davon gelesen und genaue Erkundigungen eingezogen, und dann hatte sie mit Dr. Norden, dem Hausarzt der Familie, darüber gesprochen

Er war skeptisch gewesen und hatte auch ihr gesagt, daß sie mit dieser Krankheit alt werden könne, wenn sie entsprechend leben würde. Aber sie hatte gesagt, daß sie normal leben wolle und sonst darauf verzichte, alt zu werden. Sie sei nun erwachsen genug, um selbst über ihr Leben entscheiden zu können.

Ausschlaggebend dafür war wohl auch gewesen, daß sie sich in einen Mann verliebt hatte, der sich aber von ihr abwandte, als sie ihm von ihrer Krankheit erzählte.

Eine alte, verknöcherte Jungfrau wolle sie mit dieser Krankheit nicht werden, erklärte sie klipp und klar.

Dr. Norden setzte sich mit den amerikanischen Ärzten in Verbindung, schilderte ihnen diesen Fall, und Amelie reiste mit ihren Eltern nach Amerika. Dr. Norden wußte, wie diesen Eltern zumute war, wie sie um das Leben ihrer Tochter bangten und es dann doch nicht fertig brachten, ihr zu widersprechen. Ja, er und auch seine Frau Fee hatten mit ihnen gezittert.

Das Wunder geschah. Die komplizierte Operation gelang. Die Kunst der Ärzte, der Mut des jungen Mädchens triumphierten. Amelie konnte ohne Insulin leben, und sie erblühte zu einer Schönheit.

Während der Zeit, als sie noch krank war, hatte sie Sprachen studiert, nun wollte sie auch selbst verdienen. Ihre Eltern hätten genug Geld für sie aufgewendet, meinte sie, ein Vermögen, wie Dr. Norden wußte.

In einem Übersetzungsbüro wurde Amelie von einem Fernsehregisseur entdeckt. Und nun, fünfundzwanzig Jahre jung, war sie als Ansagerin zu einem Publikumsliebling geworden.

»Mich würde es nicht wundern, wenn sie bald eine glänzende Partie machen würde«, sagte Fee Norden an diesem Abend.

»Hoffentlich findet sie den richtigen Mann«, bemerkte Daniel.

*

An Heirat dachte Amelie nicht. Sie war umschwärmt, und sie genoß es, aber in ihr war etwas hängengeblieben, was sie vorsichtig machte. Sie ging gern aus, und mit ihrer bezaubernden Natürlichkeit gewann sie nicht nur die Herzen von Männern. Auch ihre Kolleginnen schätzten sie als einen guten Kumpel.

Ein ganz besonders gutes Verhältnis hatte sie zu der jungen Redakteurin Tanja Borck gefunden.

Sie trafen sich, so oft es bei ihren unterschiedlichen Arbeitszeiten mög­lich war. Neuerdings hatte Tanja aber noch einen besonderen Grund, Amelie noch näher zu kommen, doch den verriet sie mit keinem Wort.

Als sie sich am Freitag zum Mittag­essen im Kasino trafen, fragte Tanja: »Hast du nicht Lust, mal mit zu uns zu kommen? Meine Eltern möchten dich so gern kennenlernen, und im Spätsommer ist es bei uns in den Bergen ganz besonders schön. Du hast doch das Wochenende frei, Amelie. Sag bitte ja.«

Amelie war überrascht, aber auch erfreut. »Da meine Eltern ihre Kur auf der Insel der Hoffnung machen, habe ich nichts vor«, erwiderte sie. »Ich komme gern mit, Tanja.«

Und nun freute sich Tanja. Ihre dunklen Augen strahlten. Äußerlich waren diese beiden jungen Frauen so verschieden wie sie nur sein konnten. Amelie war blond, grauäugig und zierlich. Tanja war groß, hatte dunkles Haar und dunkle Augen und war von herbem Typ. Aber sie hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie waren beide sehr vielseitig interessiert und bei aller Kontaktfreudigkeit sehr diffizil im Umgang mit Menschen, die nicht in ihr Vorstellungsbild paßten.

»Fein, ich hole dich ab. Bist du so gegen neun Uhr schon ausgeschlafen, Amelie?«

»Ausgeschlafen bin ich schon um sieben Uhr«, erwiderte die um drei Jahre Jüngere lachend.

»Das ist fein, dann können wir ja schon um neun Uhr in Mittenwald sein und bei meinen Eltern frühstücken. Hoffentlich spielt das Wetter mit.«

Das zeigte sich von seiner freundlichsten Seite. Es war so warm, wie es an manchen Hochsommertagen nicht gewesen war.

Der Morgennebel löste sich in sanften Schleiern von Wiesen und Feldern, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Es waren schon viele Ausflügler unterwegs, aber es machte beiden nichts aus, wenn sie mal langsamer fahren mußten.

»Wenn nur unsere Verkehrsdurchsagen immer stimmen würden«, sagte Tanja ironisch. »Von einem Stau kann doch gar nicht die Rede sein.«

»Vielen geht es halt nicht schnell genug«, sagte Amelie. »Wer langsam fährt, kommt auch zum Ziel.«

Ihr Ziel war ein wunderschönes Landhaus im oberbayerischen Stil. Es lag an einen Hügel gebettet. Geranien rankten sich vom Balkon, eine dichte Fichtenhecke rahmte das große Grundstück ein. Ein blonder Labrador kam ihnen freudig bellend entgegengesprungen, warf Tanja bei der stürmischen Begrüßung fast um und beschnüffelte dann Amelie. Aber sie hatte schnell Gnade vor seinen treuen Augen gefunden.

Eine anmutige ältere Dame im hübschen Dirndl kam ihnen nun entgegen, der man eine so große Tochter wie Tanja nicht zugetraut hätte. Charlotte Borck war nicht größer als Amelie, und sie strahlte mütterliche Wärme aus.

»Es freut uns so sehr, daß wir Sie endlich kennenlernen, Amelie«, sagte sie herzlich, »in natura, denn vom Bildschirm sind Sie uns ja schon wohlbekannt.«

In der Tür standen zwei Männer, die sich unglaublich ähnlich sahen, beide sonnengebräunt, groß, breitschultrig, sportlich, und auf den ersten Blick hätte man sie eher für Brüder halten können, denn für Vater und Sohn.

»Paps und mein Bruder Tonio«, stellte Tanja vor. Und ihre eigene Ähnlichkeit mit den beiden Männern war unverkennbar.

»Noch hübscher als aus der Röhre«, lachte Carl Borck, »fein, daß wir Sie mal nicht mit Millionen teilen müssen, Amelie.«

Das Nesthäkchen der Familie, Tina, achtzehn Jahre jung, erschien, als sie schon beim Frühstück saßen.

»Ihr steht wohl mit den Hühnern auf«, maulte sie, aber Amelie schenkte sie ein freundliches Lächeln.

»Na, nun wird Tonio ja zufrieden sein, seinen Schwarm endlich kennenzulernen«, sagte Tina nebenbei.

»Fräulein Naseweis, halt dich zurück«, sagte Charlotte Borck mahnend.

»Guten Geschmack hat er wenigstens«, stellte Tina keß fest

»Dieses Biest habe ich mal auf Händen getragen«, knurrte Tonio.

»Und ich liebe dich so, daß ich immer um dein Seelenheil besorgt bin«, sagte Tina richtig lieb.

»Nimm’s leicht, Amelie«, sagte Tanja. »Das ist der übliche Ton bei uns.«

Aber es war tatsächlich so, daß Tonio sie mehrmals gebeten hatte, Amelie doch mal mitzubringen. Es war nicht bloße Schwärmerei, denn so was paßte nicht zu ihm. Es war ernsthaftes, tiefes Interesse.

Peinlich war die Situation keinesfalls. Amelie warf Tonio einen schelmischen Blick zu. Er gefiel ihr allein schon durch seine Ähnlichkeit mit Tanja. Alles hier gefiel ihr. Sie fühlte sich wohl.

Tina wurde wenig später von einem jungen Burschen abgeholt.

»Ach, jetzt ist mal wieder der Schorschi an der Reihe«, war Tanjas Kommentar dazu.

»Sie erprobt ihre Macht«, lachte Carl Borck, »aber solange sie einen gegen den andern ausspielt, ist mir nicht bange.« Er erhob sich. »Fahren wir jetzt, Lotti?« fragte er seine Frau.

»Was habt ihr vor, Tanja?« fragte Charlotte.

»Wir machen einen Ausflug. Du kommst doch mit, Tonio?«

»Ja, gern.«

»Macht Brotzeit unterwegs. Essen gibt es erst abends«, sagte Charlotte. »Es bleibt zu hoffen, daß Hanna bis dahin gekalbt hat.«

Da war Amelie doch erst mal sprachlos. Tanja sagte mit leisem Lachen: »Paps ist Tierarzt, und Hanna ist eine Kuh, Amelie.«

»Du hast mir nie etwas von deiner Familie erzählt, Tanja«, sagte Amelie.

»Ich wußte ja nicht, ob es dich interessiert. Wir hatten auch sonst immer genug Gesprächsstoff. Tonio ist übrigens Augenarzt.«

»Und Mamuschka war Schauspielerin«, sagte Tonio von der Tür her. »In eine verrückte Familie sind Sie geraten, Amelie. Tina will Rennfahrerin werden.«

»Du liebe Güte«, sagte Amelie, »aber nett seid ihr alle.«

Und mit dieser Bemerkung war der Bann endgültig gebrochen.

*

Sie machten einen herrlichen Ausflug und stärkten sich vor dem Abstieg in einem Berggasthof bei frischem Apfelstrudel und Kaffee.

»So was hätte ich mir früher nicht leisten dürfen«, sagte Amelie spontan.

»Um die Linie brauchst du doch nicht bange sein«, sagte Tonio. Das Du war ihm so herausgerutscht, und sie blieben dabei ohne langes Gerede.

»Um die Linie nicht, aber ich war zuckerkrank«, sagte Amelie, und sie sagte es mit Bedacht, damit vor allem Tonio gleich Bescheid wissen sollte.

»Du warst zuckerkrank?« fragte er staunend, die Betonung auf »warst« legend.

»Vom vierten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr«, sagte Amelie. »Ich wurde in Amerika operiert. Operation geglückt, Patient lebt, wie ihr seht. Aber es bleibt unter uns.«

»Dann bist du der berühmte Fall«, sagte Tonio staunend. »Der einzige erfolgreiche bisher.«

»Es tut mir leid für die andern, aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Ich hatte günstige Voraussetzungen.«

Und die Eltern das nötige Geld, dachte Tonio. Er hatte über den Fall dieser anonymen Patientin gelesen. Nun saß sie ihm gegenüber, das Mädchen, in das er sich schon vom Bildschirm her verliebt hatte.

»Lieb, daß du so viel Vertrauen zu uns hast«, sagte Tanja leise.

»Ich habe sonst noch mit niemandem darüber gesprochen, aber es ist himmlisch, wenn man solchen köstlichen Apfelstrudel nicht stehen lassen muß. Es ist ein wundervoller Tag, und es tut so wohl, wenn man mit einer so kraftvollen Familie mithalten kann. Meine Eltern haben so sehr gelitten in all den Jahren und sie konnten es noch immer nicht glauben, daß ich ganz gesund bin. Sie würden mich am liebsten immer noch in Watte packen.«

»Das verstehe ich«, sagte Tonio leise.

»Schau mich doch an. Ich bin gesund«, lachte Amelie. »Ich bin ein medizinisches Wunder.« Plötzlich wurde sie ernst. »Und dabei weiß ich nicht, warum ich jetzt darüber geredet habe.«

»Wegen des Apfelstrudels«, lenkte Tanja lächelnd ab, aber ihr war gar nicht zum Lachen zumute, als sie in Tonios ernstes Gesicht blickte.

Sie gingen langsam, obgleich es abwärts viel unbeschwerlicher war. Tonio ging voran, Amelie folgte ihm und den Schluß bildete Tanja. Als Amelie einmal stolperte, drehte sich Tonio blitzschnell instinktiv um und fing sie auf.

»Du mußt aufpassen«, sagte er.

»Es hat plötzlich so vor meinen Augen geflimmert«, erwiderte sie. Errötend blickte sie ihn an. »Du hast wohl den sechsten Sinn?«

»Tonio hat mindestens neun Sinne«, sagte Tanja mit leisem Lachen.

»Übertreib nicht,Tanja«, sagte er verweisend. »Legen wir einen Schritt zu. Es wird ein Gewitter kommen.«

»Aber der Himmel ist doch ganz blau«, sagte Amelie.

»Warte es nur ab«, scherzte Tanja. »Lassen wir die Sinne, nennen wir es Antenne. Vielleicht hat Tonio sogar hellseherische Fähigkeiten, die er für sich behalten will.«

Da kam schon ein Wind auf, trieb Wolken unter dem Himmel hinweg, und als sie das Haus erreichten, krachte es auch schon.

Amelie sah Tonio an. »Du wirst mir unheimlich, Tonio«, sagte sie verhalten.

»Bitte, sag das nicht«, murmelte er. »Ich habe halt einen Animus, oder wie Tanja sagte, eine innere Antenne.«

Dann legte er seine schmalen Hände um Amelies Schultern. Tanja ging schnell in die Küche.

»Ich setze Teewasser auf«, rief sie.

Tonio hielt Amelies Blick zwingend fest. »Zum Beispiel weiß ich genau, daß du eines Tages meine Frau sein wirst«, sagte er mit dunkler Stimme.

Sie konnte nichts sagen und wollte es auch nicht. Sie wußte, daß dieser Mann ihr Schicksal war.