Der Bergpfarrer 129 – Der Aussteiger – Senn aus Berufung?

Der Bergpfarrer –129–

Der Aussteiger – Senn aus Berufung?

Roman von Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-308-3

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»Ich versteh’ dich nicht«, sagte er. »Natürlich ist es schwer, wenn einem ein Patient unter den Händen wegstirbt. Aber so ist nun mal der Lauf der Dinge. Wir haben keinen Einfluß darauf, und mal ehrlich, der alte Burgmann hat doch ein gesegnetes Alter erreicht. Die letzten Jahre müssen für ihn eine wahre Qual gewesen sein, der Tod hingegen eine Erlösung für ihn. Willst du dir wirklich die Schuld daran geben? Das kann ich einfach nicht glauben. Thomas, denk’ doch mal nach. Du bist ein erstklassiger Arzt, eines Tages könntest du mein Nachfolger sein. Das kannst du doch nicht ernsthaft aufgeben wollen!«

Dr. Thomas Hochleitner sah seinen Vorgesetzten, der gleichzeitig sein väterlicher Freund und Mentor war, geradewegs in die Augen.

»Doch, Eberhard«, erwiderte er, »genau das will ich tun. Alles aufgeben, mein bisheriges Leben hinter mir lassen und irgendwo neu anfangen. Nur eines werd’ ich gewiß net mehr tun –, einen Menschen behandeln. Ich kann net mehr als Arzt tätig sein. Nie wieder!«

Der Direktor des St. Elisabeth Krankenhauses in München hob hilflos die Arme.

»Weiß Ramona schon davon? Was sagt sie dazu?«

Thomas zuckte die Schultern.

»Ich habe gestern abend mit ihr darüber gesprochen«, antwortete er. »Wie du dir denken kannst, war sie nicht begeistert. Genauer gesagt, hat sie mich einen kompletten Dummkopf genannt…«

»Womit sie – entschuldige bitte – auch recht hat«, sagte der Krankenhauschef. »Allerdings werde ich mich da nicht einmischen. Ramona ist meine Tochter, und ich weiß, daß sie dich liebt. Aber dennoch –, es liegt bei euch alleine, wie ihr das regelt.

Für mich ist es nur jammerschade, einen solch begabten Mediziner zu verlieren, und wenn ich’s könnte, würde ich dir auf der Stelle verbieten zu gehen.«

Thomas lächelte.

»Ich weiß, was ich dir zu verdanken hab’«, sagte er. »Und es fällt mir net leicht, dich jetzt zu enttäuschen.

Aber ich kann net anders. Der Tod des Herrn Burgmann hat vieles in mir zum Nachdenken gebracht. Ich bin mir net mehr sicher, ob ich jemals wieder einen Menschen behandeln soll.

Vielleicht ist es besser, wenn ich aus München fortgehe und etwas ganz anderes anfange.

Ramona hat dafür kein Verständnis. Aber dich bitte ich, meine Beweggründe zu akzeptieren, Eberhard.«

»Natürlich akzeptiere ich sie, aber auf Verständnis darfst du bei mir auch nicht hoffen.«

»Das habe ich auch net erwartet.«

Der junge Arzt erhob sich aus dem Ledersessel, der vor dem Schreibtisch seines Chefs stand.

»Mit der Verwaltung ist alles geregelt«, erklärte er. »Mit meinem Resturlaub und den Überstunden ist die Kündigungsfrist abgegolten. Ich packe nur noch meine Siebensachen, dann bin ich fort.«

Eberhard Dierks war ebenfalls aufgestanden. Er reichte Thomas die Hand.

»Solltest du es dir noch mal überlegen, was ich für dich und uns alle hier hoffe, dann gib mir Bescheid. Ich halte die Stelle frei, solange ich kann.«

Thomas drückte die dargebotene Hand.

»Danke, Eberhard. Für alles!«

Unter dem Blick des kopfschüttelnden Professors verließ er das Büro.

Im Vorzimmer saß Frau Brauer, die Sekretärin des Chefs. Sie sah Thomas bedauernd an. Wie alle anderen im Krankenhaus wußte auch sie schon davon, daß er heute morgen hergekommen war, um zu kündigen.

»Alles Gute, Herr Doktor«, sagte sie.

»Danke«, nickte er und beeilte sich hinauszukommen.

Ingrid Brauer hatte Tränen in den Augen und suchte nach einem Taschentuch…

Auf der Station war es nicht anders. Oberschwester Monika saß im Schwesternzimmer, um sie herum die diensthabenden Pflegerinnen und Pfleger. Als Thomas eintrat, herrschte augenblicklich betretenes Schweigen.

»Mensch, jetzt macht es mir net so schwer«, sagte er. »Davon geht die Welt net unter.«

»Für uns schon, Thomas«, erwiderte Monika.

Sie war schon Mitte Fünfzig und bot das Bild einer resoluten Oberschwester, die sich durchzusetzen weiß. Als sie den jungen Arzt umarmte, konnte auch sie die Tränen nicht zurückhalten.

Er drückte sie an sich und ließ es geschehen, da sie ihm einen dicken Kuß auf die Wange gab.

»Also, macht’s gut«, sagte er. »Und viel Glück mit meinem Nachfolger. Ich wünsch’ euch, daß ihr euch mit ihm genauso gut versteht, wie wir es getan haben.«

Tausend gute Wünsche begleiteten Thomas Hochleitner, als er das Krankenhaus verließ und zu seinem Wagen ging. Beim Pförtner hielt er an der Schranke an. Dort versah Franz Grieshammer seit vierzig Jahren seinen Dienst. Noch drei Jahre weiter, und er würde in Rente gehen.

»Auf Wiedersehen, Herr Doktor«, sagte er, als Thomas seine Karte abgab, die ihn zum Parken auf dem Gelände berechtigt hatte. »Was werden S’ denn nun anfangen?«

»Mal sehen«, antwortete er schulterzuckend. »Komm Zeit, kommt Rat.«

Er nickte dem Pförtner zu und fuhr los. Als er im Rückspiegel das Gebäude des St. Elisabeth Krankenhauses sah, fühlte er sich irgendwie erleichtert.

*

Was er nun mit seinem Leben anfangen sollte, wußte er wirklich nicht. Aber der erste Schritt in eine andere Richtung war getan.

Auf der Fahrt zu seiner Wohnung überlegte Thomas nicht, ob er wirklich richtig gehandelt hatte, denn davon war er überzeugt. Seit dem Tod von Josef Burgmann vor drei Wochen hatte er Tag und Nacht gegrübelt, ob es wirklich der Sinn des Arztberufes sei, tatenlos zusehen zu müssen, wie ein Mensch starb, ohne helfen zu können. Gewiß gab es Fälle, in denen es aussichtslos war, dessen war sich Thomas bewußt. Dennoch fragte er sich, ob er wirklich alles Menschenmögliche getan hatte.

Vielleicht hätte eine erneute Operation die Wende gebracht, auch wenn der Tumor schon so groß war, daß es kaum noch möglich gewesen wäre, ihn zu entfernen.

Zumindest hätte ich es versuchen müssen!

Es doch unterlassen zu haben, auch wenn andere Ärzte und sogar Professor Dierks einer Meinung waren, der Tumor sei inoperabel, das war es, was Thomas sich vorwarf.

Jetzt war es indes für Vorwürfe zu spät. Das Schicksal hatte seinen Lauf genommen, und die Zeit konnte nicht mehr zurückgedreht werden.

Als er seine Wohnung betrat, kam sie ihm seltsam fremd vor. Tatsächlich hatte er hier kaum gelebt, sie nur für gelegentliche Übernachtungen genutzt, seit die Beziehung zu Ramona Dierks enger geworden war. Jetzt war er ganz froh, die Wohnung doch nicht verkauft zu haben, als sie zusammenzogen – oder besser gesagt, er zu ihr…

Im Flur standen noch die beiden Koffer und eine Reisetasche, die er gestern abend aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte. Es wäre Thomas lieber gewesen, wenn sie nicht so auseinandergegangen wären. Vielmehr hatte er auf ihr Verständnis gehofft, doch statt dessen hatte Ramona ihm nur Vorwürfe gemacht und Sentimentalität vorgeworfen.

»Mein Gott«, hallte ihr Stimme immer noch in seinem Kopf, »ein Mensch ist gestorben. Das ist schlimm, aber du bist doch nicht daran schuld. So etwas geschieht jeden Tag, zu jeder Stunde auf der Welt. Millionen Menschen müssen sterben, weil sie alt sind und die Medizin nicht helfen kann. Aber deswegen kannst du doch nicht von dir sagen, daß du ein schlechter Arzt bist!«

Die Aussprache hatte in ihrem Wohnzimmer stattgefunden. Ramona Dierks besaß eine große Villa, die ihr der Vater geschenkt hatte. Sie war viel zu groß für eine Person alleine, und selbst zu zweit fühlte sich Thomas manchmal verloren darin. Man konnte durch die Räume gehen, ohne sich zu begegnen. Einmal hatte er im Scherz gemeint, sie sollten sich Navigationsgeräte besorgen, damit sie sich nicht verlaufen.

»Das ist es doch gar nicht«, hatte er auf ihre Vorhaltungen geantwortet. »Ich weiß, daß ich kein schlechter Arzt bin. Aber verstehst du denn net meine Ohnmacht. Da war ein Mensch, der sich mir anvertraut hat. Der sich Hilfe erhoffte, die ich ihm net geben konnte. Das ist es, was mich so zweifeln und verzweifeln läßt!«

Die attraktive Arzttochter sah ihn verärgert an.

»Und wie, stellst du dir vor, soll es weitergehen?« fragte sie. »Was willst du anfangen? Mensch, Thomas, du bist wer im Krankenhaus und du weißt, daß Vater große Stücke auf dich hält. Er tut alles für dich und träumt davon, daß du eines Tages sein Nachfolger wirst. Das kannst du doch nicht alles hinwerfen!«

Thomas hatte hilflos die Schultern gezuckt.

»Ich kann aber net anders«, entgegnete er. »Und ich hoffe, daß du mich verstehst. Meine Entscheidung hat nichts mit unserer Liebe zu tun, Ramona. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge.«

Schweigend hatte sie ihn angesehen. Erst nach einer Weile öffnete sie den Mund.

»Wenn du es wirklich tust, Thomas, dann ist zwischen uns alles aus«, sagte sie. »Die Welt stünde dir offen, und aus lauter Sentimentalität schlägst du die Türen zu. Du bist ein kompletter Dummkopf, Thomas Hochleitner!«

Damit war alles gesagt, was zu sagen gewesen wäre.

Er räumte seine Sachen zusammen und verließ die Villa, ohne Ramona noch einmal gesehen zu haben, die sich in eines der Zimmer eingeschlossen hatte. Als er vom Grundstück fuhr, da war ihm, als sehe er sie hinter der Gardine stehen, und leise Hoffnung keimte in ihm auf.

Vielleicht kam sie ihm hinterher, vielleicht klingelte ja unterwegs sein Handy, vielleicht hatte sie schon auf den Anrufbeantworter gesprochen, wenn er seine Wohnung erreichte. Vielleicht, vielleicht, vielleicht…

Doch nichts dergleichen ge­schah. Die halbe Nacht saß er auf und starrte das Telefon an, das stumm blieb, als wäre es gar nicht angeschlossen.

*

In den nächsten Tagen und Wochen hatte Thomas zum ersten Mal in seinem Leben nichts zu tun. Es war ein seltsames Gefühl für ihn, nicht auf dem Sprung sein zu müssen und auf einen Anruf aus dem Krankenhaus zu warten, daß es einen Notfall gäbe.

Zuerst gefiel ihm dieser Zustand sogar, und er hatte sich auch damit abgefunden, daß Ramona auf seine Anrufe nicht reagierte. Es hatte wohl keinen Zweck mehr, darauf zu hoffen, daß ihre Liebe ihr mehr wert war als seine Karriere. Thomas schlief lange, hielt sich mit Joggen und Gymnastik fit und ließ ansonsten die Tage an sich vorüberziehen. Hin und wieder traf er sich mit einem Freund auf ein Bier oder nahm eine Einladung zu einer Party an. Meistens ging er schnell wieder, denn er merkte rasch, wie belanglos die Gespräche waren. Früher war ihm nie aufgefallen, wie oberflächlich viele der Leute waren, die er kannte. Für sie zählte nur, ob der Aktienkurs gerade stieg oder fiel, oder wo es sich mehr lohne, Urlaub zu machen – an der Côte d’Azur oder in der Karibik.

An einem Sonntag kam dann die entscheidende Wende.

Mehr aus Langeweile hatte Thomas den Fernseher eingeschaltet und sah sich eine Sendung über die Alpen an. Die Bilder faszinierten ihn, und er erinnerte sich daran, wie er früher, als seine Eltern noch lebten, des öfteren Ferien in den Bergen gemacht hatte.

Thomas war ein Einzelkind, Verwandte hatte er kaum noch. Er wußte nur von einer Großtante seiner Mutter, die irgendwo im Fränkischen wohnte. Kontakt hatte es allerdings nie gegeben. Seine Eltern hatten alles daran gesetzt, daß ihr Sohn eine gute Ausbildung bekam, und er erinnerte sich noch, wie stolz sie gewesen waren, als er das Staatsexamen mit Auszeichnung bestand. Allerdings konnten sie sich nicht mehr lange daran erfreuen. Rasch nacheinander starben sie, und es war für ihn ein großer Verlust gewesen, den er lange nicht hatte überwinden können.

Vielleicht, hatte er in der letzten Zeit oft überlegt, ging ihm deshalb der Tod des alten Mannes im Krankenhaus so nahe.

Die Sendung über Natur, Menschen und Brauchtum in den Alpen hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre, noch viel länger sein können. Ganz besonders hatte es ihn interessiert, was über einen alten Senner berichtet worden war, der schon sein halbes Leben auf der Hütte verbracht hatte. Abseits vom Lärm der Stadt und anderer Menschen genügte er sich selbst, mit seinen Tieren, die er versorgte.

Im Einklang mit der Natur zu leben, dieser Gedanke erschien Thomas Hochleitner so verlockend, daß er unwillkürlich überlegte, ob es das war, wonach er suchte.

Wahrscheinlich würd’ ich einen jämmerlichen Senner abgeben, dachte er schmunzelnd.

Kühe zu melken traute er sich nicht wirklich zu. Aber Brot zu backen, vielleicht einen kleinen Garten anzulegen und dort Gemüse zu ziehen, das schon. Und was er nicht konnte, würde er lernen. So schwer würde es nun auch wieder nicht sein – meinte er jedenfalls.

Er war ganz begeistert von dieser Vorstellung, wußte aber gleichzeitig, daß so ein Vorhaben scheitern würde. Schließlich hatte er keine Sennerhütte, in der er leben konnte, und ob es wirklich eine geben würde, die vielleicht gemietet werden konnte, war fraglich.