Der Bergpfarrer 138 – Ruf des Herzens

Der Bergpfarrer –138–

Ruf des Herzens

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-589-6

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In dem riesigen Bankhaus in der Frankfurter City herrschte das übliche Chaos zum Feierabend. Es summte und brummte wie in einem Bienenstock, Fahrstühle fuhren hinauf und hinunter, Ungeduldige, die es nicht erwarten konnten, nach Hause zu kommen, liefen über die Treppe, und vor dem Ausgang staute sich die Menge, weil es draußen Bindfäden regnete und viele der Angestellten am Morgen keinen Regenschirm zur Arbeit mitgenommen hatten.

In der Frühe hatte es allerdings auch noch nach einem herrlichen Sommertag ausgesehen, und zu denen, die aus diesem Grund den Schirm zu Hause gelassen hatten, gehörte auch eine junge Frau, die sich mit den anderen unter dem Vordach drängte und mißmutig zum Himmel hinaufblickte.

Martina Hellberg hatte es eilig. Um sieben Uhr wollte Thorsten bei ihr sein, und sie mußte noch etwas zum Abendessen einkaufen. Das nächste Lebensmittelgeschäft lag allerdings zwei Straßen weiter, und dorthin zu kommen, ohne bis auf die Haut durchnäßt zu werden, war ganz und gar aussichtslos.

Tina, wie ihre Freunde sie nannten, ärgerte sich, daß sie nicht den Wagen genommen hatte. Allerdings war es fürchterlich, sich damit morgens und abends durch den Berufsverkehr zu quälen. Mit der U-Bahn waren es von Neu-Isenburg – wo sie wohnte – gerade mal zwanzig Minuten bis in die Stadt. Viel angenehmer als mit dem Auto, wenn man sich bequem zurücklehnen, dabei in der Zeitung blättern, die anderen Fahrgäste beobachten oder einfach nur aus dem Fenster schauen konnte. Doch heute hätte sie das Auto gut gebrauchen können. Die Aufzüge führt bis in die Tiefgarage hinunter, und man konnte trockenen Fußes einsteigen und ohne Angst um die Frisur haben zu müssen.

»Mistwetter!« schimpfte eine Stimme neben der jungen Frau.

Tina blickte sich um. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und hatte ein hübsches Gesicht. Ihre dunklen Augen schienen immer zu lächeln, das braune Haar war modisch frisiert, und die vollen Lippen verrieten Sinnlichkeit. Wie immer wenn sie arbeitete, trug Tina ein dunkles Kostüm, mit einer weißen Bluse darunter. In ihrer Freizeit zog sie am liebsten Pulli und Jeans an oder andere bequeme Sachen. Seit drei Jahren arbeitete sie in der Devisenabteilung einer großen deutschen Bank, die wie viele andere Finanzunternehmen ihren Hauptsitz in Frankfurt am Main hatte.

»Schön ist es wirklich nicht«, antwortete sie der Kollegin, die hinter ihr stand. »Man kann nicht vor die Tür, ohne gleich klitschnaß zu werden. Dabei habe ich es gerade heute eilig.«

Die Gespräche ringsum verliefen ähnlich. Fast jeder hatte etwas vor und mußte dringend irgendwohin. Doch der Wettergott zeigte sich erst nach einer guten halben Stunde gnädig und stellte den Regen ein. Es nieselte zwar noch ein wenig, aber das hinderte die Leute nicht daran, in Massen aus dem Hochhaus zu stürmen.

Tina Hellberg lief mit ihnen. In großer Hast ging es zum Lebensmittelgeschäft, wo sie rasch ein paar Sachen einkaufte, dann hetzte sie weiter zur U-Bahnstation. Mit einem Pulk Menschen stolperte Tina die Treppe hinunter – und mußte hilflos mit ansehen, wie ihr die Bahn vor der Nase wegfuhr...

Ärgerlich und erschöpft ließ sie sich auf eine Bank sinken und holte erst einmal tief Luft.

Nimm es gelassen, dachte sie, es hat ja doch keinen Zweck, sich zu ärgern.

Ein paar Minuten würde sie halt warten müssen, aber dann war sie bald zu Hause in ihrer kleinen Wohnung, würde schnell eine Dusche nehmen, etwas Bequemes anziehen und das Abendessen vorbereiten.

Gerade heute war es ihr wichtig, daß alles tadellos klappte. Schließlich handelte es sich um einen Versöhnungsabend, nachdem fast eine Woche zwischen ihr und Thorsten Funkstille geherrscht hatte.

Seit einem halben Jahr waren sie und der Leiter der Devisenabteilung ein Paar. Tina hatte schon lange gemerkt, daß Thorsten Mertens ein Auge auf sie geworfen hatte, doch es dauerte, bis sie sich wirklich auf ihn einließ. Es gab da immer wieder Gerüchte unter den Kolleginnen, nach denen der fesche Mann es mit der Treue nicht so genau nahm, und Tina war vorsichtig gewesen.

Allerdings erlag sie dann doch seinem Charme, und die glücklichen Wochen und Monate, die folgten, schienen alle diese bösen Gerüchte Lügen zu strafen.

Bis sie dahinterkam, daß Thorsten mit einer anderen Frau ausgegangen war, obwohl er sich mit ihr verabredet hatte. Das war der erste Krach gewesen, dem im Abstand von ein paar Wochen noch einige weitere folgten. Tina beendete schließlich die Beziehung und war froh, daß sie seinem Drängen nicht nachgegeben hatte, ihre Wohnung zu kündigen und zu ihm in sein Apartment hoch über der Frankfurter Innenstadt zu ziehen.

Thorsten zeigte sich indes reumütig und bat sie inständig um Verzeihung. Zur Aussprache hatte er Tina in eine nobles Restaurant eingeladen, und am Ende des Abends waren sie wieder versöhnt. Er schwor Stein und Bein, daß es sein letzter Ausrutscher gewesen sei, und sie wollte ihm nur zu gerne glauben.

Und ein bißchen stolz war sie natürlich auch, wenn sie die neidischen Blicke der anderen Frauen bemerkte, die ihnen nachschauten, wenn Thorsten und sie irgendwo gingen.

Er sah aber auch unverschämt gut aus!

Dunkles, fast schwarzes Haar, ein markantes Gesicht mit stahlblauen Augen. Das Kinn war energisch und zeugte von Durchsetzungskraft. Obwohl er nie ins Fitneßcenter ging, war Thorsten Mertens schlank und durchtrainiert. Hin und wieder ein Tennismatch war die einzige sportliche Betätigung, der er sich hingab.

Die U-Bahn fuhr in den Bahnhof ein, und Tina stand von der Bank auf.

Sie stand an der Tür, als auf der gegenüberliegenden Seite ebenfalls ein Zug hielt. Während sie sich einen Fensterplatz suchte, schaute sie durch die Scheibe und stutzte.

In dem Abteil ihr gegenüber saßen ein Mann und eine Frau. Sie war rothaarig und sah ziemlich gut aus. Tina schätzte sie auf höchstens Zwanzig.

Der Mann drehte seinen Kopf, und jetzt wußte sie, warum sie eben stutzig geworden war, denn es handelte sich um niemand anderen als um Thorsten...

Er mußte sie im selben Moment erkannt haben, denn er drehte sofort seinen Kopf zur Seite und schaute in die andere Richtung!

Tina hielt die Luft an und wollte gleichzeitig schreien. Sie gestikulierte und klopfte an das Fenster, doch dann setzte sich die Bahn in Bewegung, und Thorsten verschwand aus ihrem Blickfeld.

*

Unsinn, schüttelte sie den Kopf, du hast dich vertan. Das war nicht Thorsten. Eine Verwechslung, versuchte sie, sich zu beruhigen.

Aber so ganz wollte es nicht gelingen. Immer wieder dachte Tina an die Augenblicke, in denen sie zu Hause saß und mit sich haderte, weil sie auf diesen Casanova hereingefallen war.

Aber hatte er nicht versprochen, sich zu ändern?

Vielleicht war es ja wirklich nur jemand, der Thorsten zum Verwechseln ähnlich sah. So etwas sollte es ja geben.

Sie nahm das Handy aus der Handtasche und wählte seine Nummer. Der Anrufbeantworter meldete sich. Tina beendete die Verbindung, und erneutes Mißtrauen stieg in ihr auf.

Um diese Zeit müßte er doch längst zu Hause sein...

Sie versuchte es auf seinem Handy, erreichte aber auch da nur die Mailbox. Er hatte sein Mobiltelefon nicht eingeschaltet.

Ob er vielleicht gerade duschte und deshalb das Telefon nicht läuten hörte?

Tina merkte, daß sie sich wieder selbst zu beruhigen versuchte, aber tief in ihrem Innern stieg eine dunkle Ahnung auf.

Endlich in ihrer Wohnung angekommen griff sie gleich wieder zum Telefon und rief Thorsten erneut an. Wieder nahm er nicht ab.

»Mensch, jetzt mach dich nicht verrückt!« murmelte sie. »Sieh lieber zu, daß du fertig wirst.«

Also schnell unter die Dusche und dann in etwas Bequemes geschlüpft. Zwanzig Minuten später war der Salat angerichtet, im Backofen stand ein Kartoffelgratin, und die Steaks warteten nur noch darauf, in die Pfanne gelegt zu werden.

Zwischendurch deckte Tina den Tisch. Liebevoll mit Servietten und Kerzen. Auf Thorstens Platz legte sie ein kleines Päckchen. In der Mittagspause war sie schnell losgelaufen und hatte eine Krawatte für ihn gekauft. Normalerweise verbrachten sie die Pause gemeinsam in einem kleinen Bistro, das in der Nähe der Bank lag, aber heute war eine Gruppe ausländischer Investoren gekommen, und Thorsten hatte mit den Geschäftsleuten gegessen.

Tina schaute auf die Uhr und stellte mit Erschrecken fest, daß es schon nach sieben war, fast halb acht. Der Kartoffelgratin hatte schon eine dunkelbraune Kruste. Sie deckte es rasch mit Alufolie ab und schaltete den Backofen aus. Dann ging sie ans Fenster und schaute hinaus. Der Himmel war grau, es hatte wieder angefangen zu regnen. Ein Mann ging mit seinem Hund spazieren, auf der anderen Straßenseite schob eine Frau ihr Fahrrad durch das Gartentor.

Von Thorsten war weit und breit nichts zu sehen.

Siedendheiß fiel ihr ein, daß sie ihren eigenen Anrufbeantworter nicht abgehört hatte, als sie nach Hause gekommen war. Vielleicht hatte er sie ja angerufen, als sie noch unterwegs war.

Tina rannte fast in den Flur und drückte auf den Knopf.

»Hallo Liebes«, hörte sie tatsächlich seine Stimme, »du, es wird nichts mit heute abend. Die Leute aus Taiwan –, ich muß mich um sie kümmern. Herwig besteht darauf. Ich wollte es dir heute nachmittag noch sagen, aber dann ist mir einfach was dazwischen gekommen. Tut mir leid, Schatz. Aber wir holen es nach. Versprochen!«

Enttäuscht schaltete sie das Gerät ab.

»Immer dieser Herwig!« schimpfte sie auf den Direktor der Bank. »Kann der nicht selbst mit den Taiwanesen Frankfurt bei Nacht unsicher machen!«

Mißmutig schaute sie auf den gedeckten Tisch, während ihr der Knoblauchduft des Kartoffelgratins in die Nase stieg. Diese Köstlichkeit aus geschichteten Kartoffelscheiben, Knoblauch und Sahne war Thorstens Lieblingsgericht. Tina kochte es nur am Freitag, damit der Duft zwei Tage Zeit hatte, sich wieder zu verziehen.

Was mach ich denn jetzt damit? fragte sie sich.

Petra fiel ihr ein. Vielleicht hatte die Freundin noch nichts vor und es konnte doch noch ein schöner Abend werden.

Petra Kerner wohnte unter ihr. Tina lief die Treppe hinunter und klingelte.

»Sicher komme ich«, antwortete die Nachbarin und Freundin prompt, nachdem Tina die Situation erklärt hatte.

»Wär doch schade um das schöne Essen. Und nachher machen wir noch richtig einen drauf!«

Gemütlich machten sich die beiden Frauen daran, die Steaks zu braten. Tina hatte eine Flasche Rotwein geöffnet, und während des Essens wurde sie um gut die Hälfte geleert. Die Unterhaltung kam zwangsläufig auf Thorsten Mertens. Petra freute sich, daß mit Tina und ihm wieder alles in Ordnung war. Oft genug hatte sie geduldig zugehört und Trost gespendet, wenn die Freundin ihr wieder mal das Herz ausgeschüttet hatte.

Es war schon kurz vor Mitternacht, als die Weinflasche endgültig leer war. Zwischendurch hatten sie allerdings Mineralwasser getrunken und fühlten sich keineswegs betrunken, bestenfalls in guter Stimmung.

Und in dieser Stimmung stürzten sie sich ins Nachtleben der Mainmetropole.

Das C19 war zur Zeit die angesagte Disco in Frankfurt und Umgebung. Vor dem Eingang drängten sich die Partyhungrigen und hofften darauf, vor den strengen Blicken des Türstehers zu bestehen. Der größte Teil der Wartenden wurde abgewiesen. Tina und Petra gehörten zu den Glücklichen, die eingelassen wurden.

Drinnen herrschte ein Heidenlärm. Tausend Personen paßten in die stillgelegte Fabrikhalle. Laserlichter zuckten, bunte Scheinwerfer flackerten um die Wette und aus den Lautsprecherboxen dröhnten dumpf die hämmernden Bässe der Musik. Auf der schier unübersehbaren Tanzfläche mühten sich die Nachtschwärmer ab, hinter der langen Theke, die vom Eingang bis zum hinteren Ende reichte, arbeiteten fünfzig Angestellte im Schweiße ihres Angesichts, um die Wünsche der Gäste nach ausgefallenen Drinks und Cocktails zu befriedigen.

Die beiden Freundinnen schoben sich durch die Massen, und es gelang ihnen, sich bis an die Theke vorzukämpfen. Der junge Mann dahinter winkte ihnen zu und stellte zwei Gläser vor sie hin.

»Geht aufs Haus!« brüllte er gegen den Lärm an.

»Na dann, Prost!« rief Petra und stieß mit Tina an.

»Jetzt will ich aber gleich tanzen«, gab die Freundin zu verstehen.

Zusammen gingen sie zur Tanzfläche. Es war völlig egal, ob man alleine tanzte oder mit einem Partner –, Hauptsache, man bewegte sich im Rhythmus. Sie reihten sich ein in die Masse der wild zuckenden Leiber um sie herum.

Zwischendurch machten sie eine Pause, dann wurde weitergetanzt. Als Tina irgendwann zufällig auf die Uhr blickte, sah sie, daß es inzwischen fünf Uhr in der Frühe war. Aber immer noch drängten sich die Leute in der Diskothek und tanzten, als ginge es um ihr Leben.