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Hasgers Hunde

– Band II –

 

Die Söldner von Treveris

 

Historischer Roman

von Annette Imort

 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-55-8

ISBN 978-3-943531-54-1 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-53-4 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Juliane Stadler

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Kapitel 1

 

Frühling 504 n. Chr., Treveris1

Es war kurz vor Sonnenaufgang. Das erste Zwielicht schälte am südlichen Stadtrand von Treveris die Konturen von Guntrams Hof aus der Dunkelheit. Thurudhild öffnete die Augen und betrachtete die rauchgeschwärzten Deckenbalken der Kammer, in der sie geschlafen hatte. Einen Augenblick lang überlegte sie, wo sie war. Das hier war nicht ihre kleine Hütte, in der sie mit ihrem Mann Ulfwin gelebt hatte. Ulfwin war im letzten Herbst bei einem Überfall auf ihr Dorf getötet worden. Thurudhild war danach mit Hasgers Söldnern nach Treveris geritten und hatte auf Guntrams Hof Arbeit als Küchenmagd gefunden. Aber die Schlafkammer der Mägde sah anders aus als dieser Raum.

Neben ihr ertönte lautes Schnarchen. Sie drehte sich um und sah das vertraute Gesicht von Regin, der noch schlief. Der alte Söldner hatte sich dafür eingesetzt, dass sie mit den Männern nach Treveris kam, und er hatte ihr auch die Arbeit in der Küche besorgt.

Die Erinnerung an den gestrigen Tag kam wieder: Thurudhild hatte einen Knecht, der sie betatscht hatte, zusammengeschlagen und war daraufhin aus der Küche geworfen worden. Aber Hasgers Hunde hatten sie nicht im Stich gelassen. Sie hatten sie bei sich aufgenommen und ihr angeboten, sie zum Söldner auszubilden. Auf dem Weg nach Treveris hatte Thurudhild ja schon einige Kampflektionen erhalten – Hasger hatte das allerdings gestern als »Kinderspiele« bezeichnet. Sie wusste nicht genau, was er damit gemeint hatte.

Thurudhild stand leise auf und nutzte die Ruhe des schlafenden Hofes, um sich im Pferdestall an einem Wassereimer zu waschen. Die Männer taten das abends ungeniert am Brunnen oder schleppten ihre Eimer in die Unterkünfte. Aber Thurudhild glaubte, vor Scham sterben zu müssen, sollte einer der Söldner sie halbnackt beim Waschen in der Schlafkammer vorfinden. Auch in der Nacht hatte sie nicht, wie gewöhnlich, im Unterkleid, sondern in Hose und Kittel geschlafen. Nun hockte sie auf ihrem Strohsack und versuchte im Dämmerlicht den abgeschnittenen Saum ihres Kleides umzunähen, während sie innerlich beinahe platzte vor Freude und froher Erwartung all der großartigen Dinge, die sie als Krieger lernen würde.

Endlich wurden auch die Männer wach. Doch sie schienen es nicht eilig zu haben, den Tag zu beginnen, während sie, nackt oder nur mit der Hose bekleidet, gähnend herumschlurften und sich mit gespreizten Fingern durch die verstrubbelten Haare fuhren.

Regin tauchte neben ihr aus seinem Deckengewirr auf und bei ihrem Anblick breitete sich auf seinem Gesicht ein strahlendes Lächeln aus.

»Na, schon wach?«

»Schon lange.« Sie lächelte zurück.

»Ihr dürft schließlich länger schlafen als die Mägde. Was passiert denn heute alles?«

Thurudhild hatte während ihrer Zeit als Magd den Morgen zwischen Küche und Brunnen verbracht und Wasser geschleppt. Vom gewöhnlichen Tagesablauf der Söldner hatte sie wenig mitbekommen.

Regin brummelte: »Och, zuerst kümmern wir uns um die Pferde; Striegeln, Tränken, auf die Weide bringen, Stall ausmisten und so. Dann …«

»Gut, dann geh ich schon mal in den Stall«, unterbrach sie ihn und sprang auf. Vor Aufregung konnte sie sowieso nicht mehr stillsitzen.

Es war zwar ganz unterhaltsam zu beobachten, wie alle aus ihren Decken krabbelten, aber Thurudhild hielt es für besser, den Raum erst einmal zu verlassen. Und das lag nicht daran, dass Geri, der sich gerade gähnend und splitternackt vor der Feuerstelle geräkelt hatte, ihr über die Schulter einen abscheuerfüllten Blick zuwarf.

Nein, es war …

Verdammt, Ulfwin war nicht einmal ein halbes Jahr tot. Und jetzt saß sie hier und spürte ein komisches Ziehen im Bauch, wenn sie beobachtete, wie Geris Rückenmuskeln sich wie dicke Schlangen wanden. Die ganze Kammer stank … roch … nach Männern.

Und Thurudhild war jetzt ebenfalls ein Söldner – gleichsam ein Mann. Sie durfte sich solche Gefühle, solche … begehrlichen Gedanken nicht erlauben. Schon gar nicht gegenüber Geri. Verdammt, er hasste sie! Das wusste sie, seit sie gestern Abend seinen Blick aufgefangen hatte. Und sie wollte auch nichts von ihm, von diesem überheblichen Kerl, der zwar freundlich sein konnte, aber meistens einfach ein kalter, arroganter Spinner war. Was hatte er ihr beim Mittwinterfest für einen Unsinn erzählt: Leute, die sich gegenseitig töteten, um andere Leute damit zu unterhalten – und sie hatte das auch noch geglaubt!

 

Als Thurudhild den Stall betrat, wieherte der Rotschimmel und schnoberte erwartungsvoll an ihren Händen. Wenn sie in den letzten Monaten gelegentlich in den Stall geschlichen war, hatte sie ihm immer einen Apfel oder ein trockenes Stück Brot mitgebracht. Das Pferd sah richtig hungrig aus, fand Thurudhild.

»Du kriegst gleich was«, beruhigte sie ihn, schleppte einen Arm voll Heu herbei, schüttete eine ordentliche Portion Hafer in die Krippe und stellte dem Tier einen Eimer voll frischem Wasser hin. Sie war bereits dabei, den Rotschimmel zu striegeln, als Gernoth in den Stall kam.

»Morgen«, nickte er ihr zu und ging zu seinem Pferd. Im Vorbeigehen sah er in den Verschlag des Rotschimmels, der den Kopf in die Krippe gesenkt hatte.

»Der soll eigentlich nur Heu kriegen. Was frisst er da?«, fragte Gernoth alarmiert.

»Hafer«, antwortete Thurudhild arglos.

»Bist du verrückt geworden?« Gernoth griff nach der Futterschüssel, drängte den Rotschimmel grob von der Krippe fort und schaufelte den Hafer mit beiden Händen in das Gefäß. Thurudhild sah ihm verständnislos zu.

»Der ist den ganzen Winter über kaum geritten worden«, erklärte Gernoth, als er mit der vollen Schüssel aus dem Verschlag trat, »wenn er jetzt Hafer bekommt, wird er übermütig und du kannst ihn nachher nicht halten. Außerdem«, fügte er auf dem Weg zu den Getreidekästen hinzu, »ist der Kerl sowieso zu fett.«

Thurudhild betrachtete skeptisch den Rotschimmel, der die wenigen Körner, die Gernoths Händen entgangen waren, von den Brettern leckte. Sie zuckte die Schultern. Sie hatte es nur gut gemeint, aber ihr war klar, dass Gernoth mehr Ahnung von Pferden hatte.

Nach und nach tauchten die übrigen Männer von Hasgers und Wachos Mannschaften auf und versorgten ihre Tiere.

Wacho nickte Thurudhild im Vorbeigehen kurz zu und trat dann zu Geri, der einige Schritte weiter seinen Rappen striegelte. Er gab sich keine Mühe leise zu sprechen, und Thurudhild konnte hören, wie er sagte: »Ich dachte ja gestern, Hasger hätte sich einen Scherz mit uns erlaubt. Ihr habt also wirklich eine Frau aufgenommen?«

Seine Stimme klang ungläubig.

»Wegen mir hätte er das nicht tun müssen«, knurrte Geri übellaunig. »Aber die hält sich sowieso nicht lang bei uns.«

Wacho lachte.

»Wer weiß! Ist sicher netter, wenn eine Frau sich ums Essen oder die Wunden kümmert.«

Er stieß Geri freundschaftlich in die Rippen.

»Oder bist du sauer, weil sie nicht dir gehört?«

Thurudhild bückte sich, um die Hufe des Rotschimmels auszukratzen. Sie wollte Geris Gesicht nicht sehen, wenn er Wacho antwortete. Doch sie hörte seine Stimme, und in der lagen all die Wut und der Hass, den Geri seit gestern Abend mit sich herumschleppte.

Er schien absichtlich so laut zu sprechen, dass sie alles mitbekam.

»Du kennst meinen Geschmack, was Frauen angeht. Dieser häss­liche Besen gehört sicher nicht dazu. Und Frauen, die Männer sein wollen – nein danke! Da könnte ich genauso gut Veneranda ficken.«

Bei der Nennung des Namens kippte seine Stimme affektiert eine Oktave höher.

»Uääh!«, machte Wacho. »Der stopft sich sogar zusammengerollte Tücher unters Kleid, um Titten vorzutäuschen.«

Die beiden kicherten wie halbwüchsige Jungen, sodass Hraban, der gerade sein Pferd an ihnen vorbeiführte, abfällig den Kopf schüttelte.

Thurudhild biss die Zähne zusammen. Sie wusste selbst, dass sie keine Schönheit war; ihre Schultern waren zu breit, der Busen zu klein, das Gesicht zu kantig und nach dreißig oft harten Jahren sah sie nun mal nicht mehr wie ein junges Mädchen aus. Doch was hatte sie Geri angetan, dass er so gemein und schlecht über sie redete? Bei der Winternachtsfeier war er so nett zu ihr gewesen …

Aber sie hatte Angst davor, sich mit ihm anzulegen. Geri war nicht Arpvar, der unbedacht ein dummes Wort sagte und sich dann überrumpeln ließ.

Hufe klapperten über den Boden, als beinahe vierzig Söldner ihre Reittiere aus dem Stall herausführten und sich im Hof auf die ungesattelten Pferderücken schwangen. Thurudhild zerrte den Rotschimmel zu einem Wassertrog, um von dort aus auf seinen Rücken zu klettern, als Hasger ihr die Zügel aus der Hand nahm. Er reichte sie Gernoth, der das pummelige, kurzbeinige Tier seufzend musterte und sich auf seinen Rücken schwang. Der Rotschimmel buckelte wie eine Katze, aber Gernoth hatte ihn schnell unter Kontrolle und lenkte ihn zum Tor.

In Hasgers Gesicht spiegelte sich leises Bedauern.

»Heute reitest du noch nicht mit. Auf einem ungesattelten Pferd kannst du dich nicht halten, und der Gaul ist heute zu aufgeregt für einen Anfänger wie dich.«

Er ignorierte Thurudhilds enttäuschtes Gesicht und führte sie zu einem dicken, abgewetzten Baumstamm, der waagrecht in Schulterhöhe auf zwei Balken angebracht war. Normalerweise wurden Sättel und Packtaschen darauf abgelegt, doch jetzt war der Stamm leer.

»Das ist heute dein Pferd. Du wirst üben, ohne Hilfe auf dieses ungesattelte Pferd zu springen. Wenn du das kannst, legst du ihm einen Sattel auf und übst weiter. Dann hängst du dir Schild und Schwert um und übst erneut, mit und ohne Sattel auf den Gaul zu gelangen.« Tröstend fügte er hinzu: »Morgen früh darfst du auf der Weide richtig reiten.«

Er klopfte der niedergeschlagenen Thurudhild aufmunternd auf die Schulter und wollte gehen, aber sie hielt ihn zurück. Tat Hasger seine Entscheidung von gestern bereits leid, und wollte er sie nun ebenso wie Geri schikanieren?

»Wozu soll das gut sein?«, fragte sie.

Hasger sah sie erstaunt an.

»Weil du es können musst. Willst du denn jedes Mal erst einen Stein oder Holzklotz suchen, um auf dein Pferd zu steigen?«

»Nein«, sagte Thurudhild verlegen, »aber … es gibt doch auch Steigbügel. Warum kann ich nicht einfach Steigbügel an den Sattel schnallen?«, fragte sie mit einer Spur Trotz.

Einen Augenblick lang grinste Hasger, aber seine Stimme war ernst, als er antwortete.

»Du übst das für den Ernstfall. Eines Nachts lagerst du draußen und wirst angegriffen, und deine einzige Überlebenschance ist Flucht. Dann kannst du nicht erst dein Pferd satteln oder einen Baumstamm zum Aufsteigen suchen. Du musst jederzeit und in jedem Zustand auf ein Pferd springen können.«

 

Das Hufgeklapper verklang schnell, als die Söldner aus dem Hof ritten und Thurudhild missmutig und enttäuscht vor dem Holzgerüst stand. So begann also ihr Leben als Söldner: Auf einen Baumstamm springen – großartig!

Hoffentlich beobachteten sie nicht allzu viele Menschen bei ihren Bemühungen.

Sie legte die Hände auf den Stamm und versuchte, sich hochzuziehen und gleichzeitig mit einem Bein abzustoßen, aber es dauerte, bis sie den Dreh herausbekam und zum nächsten Punkt – aufspringen mit Sattel – übergehen konnte. Dabei konnte sie sich zwar besser an den vorderen Sattelhörnchen festhalten, musste aber mehr Schwung holen und stieß sich anfangs an den hinteren Sattelhörnchen das Schienbein. Thurudhild fluchte leise, aber sie gab nicht auf – auch nicht, als sie schließlich das Schwert umschnallte, sich einen Schild über den Rücken hängte und ihr der Schildrand dauernd gegen die Oberschenkel und Kniekehlen schlug, wenn sie sich auf den Stamm quälte.

Ihr linkes Bein, mit dem sie sich ständig abgestoßen hatte, fühlte sich mindestens eine Handbreit kürzer an und ihre Oberschenkel waren auf der Rückseite wahrscheinlich ein einziger blauer Fleck, als die Männer zurückkehrten, zu Fuß und die Halfter über den Schultern. Die Pferde hatten sie außerhalb des Hofes auf einer Weide gelassen.

Aber Thurudhild beherrschte es jetzt, und als Hasger vor ihr stehenblieb und sie fragend ansah, trat sie neben den Baumstamm und sprang in voller Ausrüstung einige Male auf die gesattelten und ungesattelten Bereiche des Holzes.

Hasger nickte zufrieden. »Morgen früh reitest du ein paar Runden ohne Sattel. Gernoth wird dich anleiten, ich habe das schon mit ihm ausgemacht. Räum den Sattel weg, jetzt gibt’s erst mal Frühstück.«

Als Hasger und Thurudhild den Aufenthaltsraum betraten, standen Brot, Käse und Brei auf den Tischen und die meisten Söldner aßen bereits. Thurudhild merkte, dass ihr verstohlene Blicke folgten, aber die dummen Sprüche, mit denen sie gerechnet hatte, blieben aus. Sie setzte sich neben Regin, nur um festzustellen, dass es keine Essschüssel und keinen Becher für sie gab. Regin hielt sie zurück, als sie aufstand, um ihre eigene Schüssel aus der Unterkunft zu holen.

»Lass mal«, brummte er mit vollem Mund, »kannst meine Sachen nehmen. Ich sag den Mägden nachher Bescheid, dass wir in Zukunft mehr Geschirr brauchen.«

Sie teilten sich einträchtig Schüssel und Becher, während Thurudhild von ihrem Erfolg am Holzpferd erzählte.

Regin freute sich mit ihr und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter, als er eine Magd entdeckte, die bereits die Tische abräumte. Seine Hand lag noch auf Thurudhilds Arm, als er die Frau herbeirief und für den Abend eine Schüssel und einen Becher mehr orderte. Während Regin sprach, starrte das Mädchen Thurudhild mit aufgerissenen Augen an und rannte dann aus dem Aufenthaltsraum. Thurudhild bezweifelte, dass die Magd Regin überhaupt zugehört hatte. Nun ja, heute Abend würde sie es sehen.

 

Nach dem Essen misteten sie den Stall aus. Danach beschloss Thurudhild, sich in Zukunft nicht mehr frühmorgens zu waschen. In ihrem Haar steckten Strohhalme, sie war verschwitzt und stank nach Pferd. Während die Männer sich prustend an einem Holzbottich im Hof wuschen, schleppte sie erneut ihren Wassereimer in die hinterste Ecke des Stalls.

Als sie aus dem Stall trat, übten einige Söldner bereits auf dem kleinen Kampfplatz, andere zogen lachend und plaudernd, die Holzwaffen über die Schultern gelegt, zum Tor hinaus.

Hasger stand neben Hraban auf dem Übungsplatz und winkte Thurudhild zu sich. Er drückte ihr ein Holzschwert in die Hand.

»Du wirst jetzt ein paar Sachen mit Hraban üben, während die anderen draußen sind. Und albert nicht herum.«

Er warf dem grinsenden Hraban einen mahnenden Blick zu. Sobald Hasger gegangen war, benahm sich der junge Söldner angesichts der ihm übertragenen Aufgabe jedoch ernster und erwachsener, als Thurudhild ihn jemals erlebt hatte.

»Du hast gestern ganz sauer geguckt, als Hasger sagte, dass wir bisher nur Kinderspiele mit dir gespielt hätten«, begann Hraban. »Aber er hatte recht. Du hast bisher gelernt, dorthin zu schlagen, wo du uns beim Üben nicht ernsthaft verletzen konntest, also auf die Arme oder den Bauch. In einem richtigen Kampf versuchst du den Gegner so schnell wie möglich kampfunfähig zu machen oder zu töten, und du schlägst besser einmal zu viel als einmal zu wenig zu.«

Hraban stellte eine Art Vogelscheuche – ein Holzgestell, das mit strohgefüllten Lumpen umhüllt war – in eine Ecke des Übungsplatzes.

Mit seinem Holzschwert wies er auf die verschiedenen »Körperteile« der Puppe und erklärte: »Der Kopf ist ein gutes Ziel für den ersten Schlag, damit tötest du deinen Gegner sofort oder er wird durch sein eigenes Blut so geblendet, dass er sich nicht mehr gut wehren kann. Wenn dein Gegner viel größer ist als du, kannst du den ersten Hieb auch gegen die Hand, den Arm oder gegen den Leib unterhalb der Rippen führen. Wenn du genug Wucht in den Schlag legst und nicht hackst, sondern schneidest, ist der Arm meistens beim ersten Hieb ab, oder der Schnitt geht wenigstens bis auf den Knochen. Dann gehst du mit einem schrägen Hieb in den Bereich zwischen Schulter und Hals oder mit einem Stich aufwärts in den Leib oder ins Gesicht, und die Sache ist meistens schon erledigt.«

Er führte Thurudhild die Hiebe vor. Sein Gesicht zeigte einen konzentrierten und harten Ausdruck, seine Bewegungen waren kraftvoll, aber sparsam und zielgerichtet. Thurudhild merkte, dass sie diesen Wesenszug von Hraban überhaupt nicht kannte. Das war nicht mehr der übermütige Junge, der den Kopf voller Unsinn hatte, das war ein erwachsener und sehr grimmiger Krieger.

Und sie hatte ihm ein Kuchenschweinchen geschenkt und ihn »Kindskopf« genannt – im Nachhinein war ihr das regelrecht peinlich.

Unter Hrabans Anleitung übte sie verschiedene Kombinationen von Hieb und Stich, aber er schien nicht recht zufrieden zu sein.

»Das muss kraftvoller und flüssiger gehen«, brummte er mehr als einmal, »du darfst das nicht als zwei getrennte Bewegungen sehen, sondern als eine Einheit. Während du dein Schwert beim Hieb zurückziehst, musst du dich schon auf den nächsten Angriff vorbereiten.«

Schließlich gönnte Hraban ihr eine kurze Pause, und während er irgendwohin verschwand, hockte Thurudhild sich – unzufrieden mit sich selbst – auf den Boden. Auf dem Weg nach Treveris, im letzten Herbst, waren ihr die Übungen leichter erschienen. Ihr dämmerte, dass die Männer ihr damals kaum die Grundbegriffe des Schwertkampfes beigebracht hatten – eben »Kinderspiele« – doch nichts, was ihr in einem realen Kampf wirklich genutzt hätte. Gleichzeitig kam die Erkenntnis, dass Hasger sie auf der Reise hierher zwar unterrichtet, aber nie als angehenden Söldner gesehen hatte. Einem Mann hätte er diese Sache mit Hieb und Stich doch sicher sofort erklärt, oder?

Als Hraban zurückkam, stand Thurudhild auf.

»Ich habe jetzt verstanden, was Hasger gestern mit Kinderspielen meinte«, sagte sie und konnte den bitteren Unterton nicht aus ihrer Stimme vertreiben. »Ihr müsst euch unterwegs über mich totgelacht haben. Und ich habe die ganzen Übungen ernst genommen …«

»Wieso totgelacht?«, fragte Hraban verständnislos. »Du hast das Training für Anfänger gemacht, soweit das unterwegs möglich war. Regin wollte, dass du an unserem Leben teilhast, ohne die … äh, die Nachteile, die du als Frau gehabt hättest. Sonst hättest du nur kochen und flicken dürfen und … und so’n Zeug. Naja, und Hasger wuss­te nicht, ob er dir schon richtiges Töten zeigen sollte, nachdem dein Mann gerade erst …«

Er verstummte verlegen, und Thurudhild dachte an den Tag zurück, als Regin ihr den Umgang mit dem Ger hatte zeigen wollen und sie diese schrecklichen Bilder von Ulfwin und dem übermächtigen Angreifer vor sich gesehen hatte. Inzwischen hatte sie so oft von Ulfwins Tod geträumt, dass die Bilder fast normal für sie waren. Nur die lähmende Angst vor ihrer eigenen Hilflosigkeit – die würde sie noch bezwingen müssen.

»Was hast du zuerst gelernt, als du zu Hasger kamst?«, fragte Thurudhild.

Hraban nagte einen Augenblick lang an seiner Unterlippe und lächelte dann betreten.

»In den ersten Wochen hab ich nur auf die Fresse gekriegt, weil ich so viel Blödsinn gemacht habe«, erklärte er treuherzig.

»Und dann haben sie mir Reiten und Faustkampf beigebracht. Den Umgang mit Waffen habe ich erst gelernt, als ich schon einige Zeit dabei war und Hasger überzeugt war, dass ich ein bisschen vernünftiger geworden sei. Stiche und so’n Zeug durfte ich wochenlang nur an Bäumen üben, weil ich bei den Übungen manchmal zu sehr aufgedreht habe. Deswegen fehlt Alfreth vorn ein Zahn, da hab ich den Stich mit dem Holzschwert nicht nur angedeutet.«

Hraban grinste kläglich und zuckte dann die Schultern.

»Naja, kann passieren«, sagte er.

Unvermittelt lachte er, wandte sich von dem Holzgestell ab und hob sein Übungsschwert.

»Ich hoffe ja, dass ich heute Abend noch alle Zähne hab. Komm, wir üben das jetzt mal richtig.«

Thurudhild schluckte. An einem lebenden Menschen Schwertstiche zu üben war etwas anderes, als auf die Lumpenpuppe einzustechen, doch Hraban leitete sie zu langsamen, sauberen Bewegungsabläufen an, die sie so oft wiederholten, bis Thurudhild ihr Ziel genau treffen konnte und wusste, wann sie einen Stich abstoppen musste. Als die anderen Söldner heimkamen, übten sie immer noch, und Hasger schien zufrieden zu sein mit dem, was er sah. Er nickte Hraban kurz zu und sagte zu Thurudhild: »Wenn du noch nicht zu müde bist, kannst du mit Eburhelm weitermachen.«

Er drückte ihr einen Ger in die Hand, und sie betrachtete die Waffe mit gemischten Gefühlen. Aber Eburhelm stand schon erwartungsvoll neben ihr, und Thurudhild war klar, dass sie irgendwann auch den Umgang mit dem verhassten Ger lernen musste.

Während Eburhelm mit ihr über den Platz ging, bemerkte er: »Wenigstens muss ich keine Männchen auf Bäume malen, denn hier haben wir ja unseren guten Siggi.«

»Was?« Thurudhild blickte ihn entgeistert an.

Eburhelm würde sie doch nicht mit einem scharfen Ger an lebenden Menschen üben lassen?

Eburhelm wies auf das Holzgestell.

»Wenn’s keiner hört, nenne ich unseren Strohkameraden hier Sigibert. Dir brauche ich ja wohl nicht zu erklären, warum. Los, Angriff!«

Für einen Augenblick sah Thurudhild den echten Sigibert vor sich: Wie er gierig auf die gefolterte Frau blickte oder den Leichnam des tapferen kleinen Jungen hinter seinem Pferd herschleifte.

Wut und Hass brandeten in ihr auf und mit einem Fauchen stieß sie den Ger so heftig in die Lumpenpuppe, dass er bis zur halben Länge hineinfuhr.

»Ah, wir haben also das Zauberwort gefunden, das dich zum Kämpfen bringt.«

Eburhelm grinste wölfisch, korrigierte sie dann aber: »Stich mehr von unten nach oben. Du solltest unterhalb der Rippen treffen, da kannst du den meisten Schaden anrichten.«

Thurudhild stach mit grimmiger Freude auf die Figur ein, bis Eburhelm feststellte, dass es Zeit fürs Abendessen war.

»Hm«, bemerkte er mit einem Blick auf die Puppe, »den hast du kaputtgemacht. Schätze, wir brauchen einen neuen Siggi.«

Thurudhild blickte schuldbewusst auf die zerfetzten Lumpen, aus denen faustgroße Strohbüschel quollen, doch Eburhelm grinste so zufrieden wie ein Kater am Sahnetopf.

Die Tische waren bereits für das Abendessen gedeckt, als Thurudhild hereinkam. Regin stand vor dem Platz von Hasgers Hunden und zählte halblaut: »Eine für Hasger, eine für Geri, eine für Alfreth …«

Dann drehte er sich zu der Magd um, mit der er am Morgen gesprochen hatte, und die gerade die letzten Krüge auf die Tische stellte.

Ärgerlich sagte er: »Ich hatte dir heute morgen aufgetragen, eine Schüssel und einen Becher mehr auf den Tisch zu stellen. Hast du das vergessen?«

Die junge Magd starrte abwechselnd Regin und Thurudhild an und schluckte. Sie setzte mehrmals zum Sprechen an, reckte schließlich das Kinn und verkündete hochmütig: »Wir kochen nicht für Huren und Missgeburten!«

Ihr Kopf flog heftig zur Seite, als Regin sie ohrfeigte.

»Sag das noch mal, du kleine Schlampe!«, fauchte er. »Oder erzähl mir besser, auf wessen Mist dieser Blödsinn gewachsen ist. Du selbst bist doch viel zu dumm, um dir so etwas auszudenken.«

Er hatte das Mädchen an den Schultern gepackt und schüttelte es heftig.

Thurudhild packte seine Handgelenke und sagte leise: »Lass sie los. Sie kann nichts dafür.«

Sie zog die zitternde Magd auf den Hof hinaus und ließ sie los.

»Brauchst dich nicht zu bedanken, dass ich dich vor weiteren Ohrfeigen gerettet habe«, sagte Thurudhild gallig.

»Adalhild denkt also, ich wäre Regins Hure, oder?«

Das Mädchen starrte zu Boden, rieb sich das Handgelenk und schwieg bockig.

Klar, was soll Adalhild auch sonst denken, wenn die Weiber ihr erzählen, dass ich mit Regin nicht nur die Unterkunft, sondern auch Becher und Schüssel teile.

Thurudhild ließ die Magd mitten auf dem Hof stehen und ging zur Küche. Sie war müde und zerschlagen, sie hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, und sie hatte keine Lust, sich mit Adalhild auf einen Machtkampf einzulassen. Vergeblich versuchte sie, die vertraute rotglühende Wut in ihrem Inneren zu schüren, als sie die Küche betrat und Adalhild sie anfuhr: »Raus! Ich hab doch gesagt, dass du dich hier nie wieder blicken lassen sollst!«

Thurudhild lehnte sich gegen den Türpfosten und sagte müde: »Ich muss mit dir reden. Unter vier Augen.«

Sie fügte hinzu: »Oder wäre es dir lieber, wenn Regin mit dir spricht?«

Adalhild hatte sich gut in der Gewalt; sie zuckte kaum zusammen. Doch sie führte Thurudhild schweigend zu ihrer Kammer und schloss die Tür hinter ihnen. Drinnen ließ Adalhild sich auf einem Schemel nieder. Sie bot Thurudhild keinen Sitzplatz an, und so blieb sie einfach stehen und lehnte sich gegen die Tür.

Adalhild starrte sie verbittert an und schwieg. So musste Thurudhild den Anfang machen.

»Du denkst, ich wäre wegen Regin zu Hasgers Hunden gegangen. Das stimmt nicht. Es gab nur keinen anderen Platz, wo ich hätte hingehen können, nachdem … nachdem das hier in der Küche passiert ist. Ich habe an Regin kein Interesse. Aber ich will in Zukunft an meinem Platz einen Becher, eine Schüssel und Essen vorfinden. Mehr verlange ich nicht.«

Adalhild schnaubte verächtlich.

»Du bist wohl kaum in der Position, irgendetwas von mir zu verlangen. Es interessiert mich auch nicht, mit wem du das Lager teilst oder nicht …«

Vor kaum unterdrückter Wut war Adalhilds Stimme immer schriller geworden. Thurudhild unterbrach sie: »Ich will keinen Krieg mit dir. Aber wenn du mich hinter meinem Rücken eine Hure und Missgeburt nennst, kann ich das nicht hinnehmen.«

»Und wie willst du verhindern, dass ich sage, was wahr ist?«

Adalhild sah sie hasserfüllt an, und Thurudhild seufzte. Es machte ihr wirklich keinen Spaß, ihren Trumpf auszuspielen.

»Es ist nicht wahr, und das weißt du«, sagte sie müde und fuhr fort: »Ich habe gesehen, wie Regin nachts aus deiner Kammer gekommen ist. Er hat mich nicht bemerkt. Ich habe das niemandem erzählt und ich werde es auch in Zukunft nicht herumtratschen – es sei denn, du zwingst mich dazu.«

Thurudhild sah, wie Adalhild blass wurde und ihre Hände zu zittern begannen, aber es verschaffte ihr keine Genugtuung. Im Gegenteil, Adalhild tat ihr auf einmal leid. Wie schrecklich musste es sein, ein Leben lang die gestrenge Herrin der Küche zu spielen und die Mägde von Dummheiten abzuhalten – und dabei sich selbst, seine eigenen Bedürfnisse und den Menschen, den man liebte, zu verleugnen.

Sie hatte die Hand bereits auf den Türgriff gelegt, als sie sich noch einmal zu Adalhild umwandte, die mit leerem Gesicht auf ihrem Schemel zusammengesackt war.

Thurudhild sagte leise: »Regin hält sehr große Stücke auf dich. Er ist an mir nicht interessiert und ich will auch nichts von ihm. Das ist die Wahrheit. Ich werde ihn dir nicht wegnehmen.«

Noch leiser fügte sie hinzu: »Ich hätte dir gestern kein Leid zugefügt, auch wenn du das glaubst.«

Adalhild blickte auf.

»Weil du Regin dann zum Feind gehabt hättest?«, fragte sie bitter.

»Daran hab ich in dem Augenblick nicht gedacht«, erwiderte Thurudhild wahrheitsgemäß. »Ich wusste nur, dass ich dir nichts tun darf, weil er dich liebt. Und weil ich dir für vieles sehr dankbar bin und große Achtung vor dir habe. Ich hoffe, dass ich dich auch in Zukunft achten kann.«

Sie schloss leise die Tür hinter sich. Noch vor einem halben Jahr hätte sie mit Begeisterung einen wütenden Krieg mit Beschimpfungen, Geschrei und Schlägereien vom Zaun gebrochen, wenn eine andere Frau schlecht über sie geredet hätte. Aber Thurudhild stellte überrascht fest, dass ihr überhaupt nichts mehr daran lag. Sie würde all ihre Kräfte brauchen, um das zu lernen, was ein Söldner können musste – und um sich gegen Geri und all die anderen Zweifler durchzusetzen.


1) Trier