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Ashley Carrington

Éanna

Küste der Sehnsucht

Roman

hockebooks

20. Kapitel

Wie ein gereizter Stier stürmte Brendan quer über die Straße auf Éanna zu. Dabei geriet er fast unter die Räder einer zweispännigen Mietdroschke. Dem Fluch des Kutschers schenkte er keine Beachtung.

»So also verbringst du deine Sonntagnachmittage!«, schleuderte er ihr voller Wut entgegen, kaum dass er ihre Straßenseite erreicht hatte. »Und ich Dummkopf habe es erst nicht glauben wollen, dass du mich so schändlich betrügst!«

Das Blut wich ihr vor Entsetzen aus dem Gesicht. »Brendan! Bitte lass mich erklären …«

»Da gibt es nichts zu erklären! Ich habe doch Augen im Kopf? Du hast dich für diesen Lackaffen O’Brien mit der dicken Geldbörse zur Dirne gemacht!«, fiel er ihr ins Wort und gab ihr eine schallende Ohrfeige.

Der Schlag ins Gesicht traf sie nicht halb so hart wie seine Worte. »Das … das ist nicht wahr!«, stammelte sie.

»Erzähl mir doch nichts! Und ob das wahr ist!«, fauchte er sie an, außer sich vor Zorn. »Auf deine Lügen falle ich nicht mehr herein! Ich bin dir gefolgt, Éanna, weil ich es erst nicht für möglich gehalten habe, was Caitlin mir heute Morgen erzählt hat. Mein Gott, für was für einen Tölpel musst du mich gehalten haben? Nie hätte ich so etwas von dir erwartet!«

Caitlin! Wie konnte das sein? Woher wusste ausgerechnet Caitlin, wo sie war?

Hatte ihre ehemalige Weggefährtin ihr etwa hinterherspioniert? Aber warum sollte sie so etwas tun?

Éanna wirbelten die Gedanken nur so durch den Kopf, suchten verzweifelt einen Ausweg aus dem Schlamassel.

»Du tust mir unrecht!«, rief sie verzweifelt. »Es ist nichts zwischen mir und Patrick O’Brien vorgefallen, dessen ich mich schämen müsste.«

»Was du nicht sagst!«, höhnte er und zerrte ihre beiden Tickets für die Metoka aus seiner Manteltasche. »Und was ist hiermit? Willst du vielleicht immer noch auf deiner Lügengeschichte beharren, du hättest das Geld in einer alten Weste gefunden? Von ihm hast du die fünfzehn Pfund erhalten, gib es doch zu!«

»Das stimmt«, gestand sie gequält. »Aber er hat es mir aus freien Stücken gegeben und nicht für das, was du glaubst.«

»Dieser O’Brien kennt sich bestimmt bestens damit aus, wie man mittellose Mädchen beeindruckt und ins Bett bekommt. Der gibt einem dahergelaufenen Bauernmädchen nicht einfach eine solche Summe, ohne dass sie dafür bezahlt.« Er lachte verächtlich.

»Es ist aber die Wahrheit!«, beteuerte sie und die Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich schwöre es bei allen Heiligen.«

»Nimm in meiner Gegenwart nie mehr das Wort heilig in den Mund!«, unterbrach er sie. »Denn dir scheint nichts heilig zu sein, schon gar nicht das, was wir miteinander hatten … oder besser gesagt, was ich Idiot glaubte, was wir einander bedeuten!«

»Brendan! Ich flehe dich an! Lass mich erklären, warum ich dir meine Besuche bei Mister O’Brien verschwiegen habe!«, beschwor sie ihn unter Tränen. »Ich weiß, dass das nicht richtig war und dass es dich sehr verletzen muss. Aber was immer dir Caitlin erzählt hat, stimmt nicht … oder ist nur die halbe Wahrheit. Und wenn du mir nur ein, zwei Minuten Zeit gibst, dir alles zu erklären …«

»Die Zeit kannst du dir sparen!«, fuhr er ihr schroff über den Mund. »Ich weiß, wann ich betrogen worden bin. Hier hast du deinen dreckigen Dirnenlohn wieder!« Er knüllte die beiden Tickets zusammen und warf ihr das Papierknäuel mit einer Geste der Verachtung vor die Füße. »Um nichts in der Welt will ich dank deines Hurenlohns nach Amerika kommen! Ich werde es auch allein schaffen, darauf kannst du Gift nehmen!« Und damit stürmte er davon.

Hastig bückte sich Éanna nach den Tickets, die der Wind fortzutragen drohte, steckte sie ein und lief ihm nach. »Brendan, gib mir doch in Gottes Namen eine Chance, die Sache richtigzustellen!«, bettelte sie mit tränenerstickter Stimme und versuchte mit ihm Schritt zu halten. »Es ist wirklich nicht so, wie du denkst! Ich habe ihm doch nur von meinem Leben erzählt, weil er das für sein Buch brauchte. Ich schwöre beim Grab meiner Mutter und allen, die mir lieb und teuer waren, dass ich dich nicht betrogen habe.«

Abrupt blieb er stehen, fuhr zu ihr herum und starrte sie mit grauer, verkniffener Miene an. »Du willst wahrhaftig hoch und heilig schwören, dass du dich fast drei Monate lang heimlich mit diesem Stutzer getroffen und ihm nur irgendwelche Geschichten erzählt hast?«, fragte er höhnisch. So genau Éanna auch wusste, dass es ihre Lage noch schlimmer machen musste, jetzt musste sie endlich die Wahrheit sagen. Sie durfte nicht noch einmal den Fehler machen, Brendan zu belügen. »Mister O’Brien hat … hat mir heute einen Kuss zum Abschied gegeben!«, sagte sie ehrlich, fügte aber sofort hinzu: »Ich habe ihn nicht dazu aufgefordert, sondern es ist einfach geschehen, das musst du mir glauben! Sonst war nichts zwischen uns!«

»Ich glaube dir gar nichts mehr!«, stieß er hervor. »Noch vor wenigen Augenblicken hast du geschworen, dass nichts gewesen sein soll! Und nun gibst du zu, dass du dich von ihm hast küssen lassen. Gott allein weiß, mit welchen schmutzigen Geständnissen du noch herausrücken wirst! Da lob ich mir eine ehrliche Dirne wie Caitlin. Bei der weiß man, was einen erwartet, wenn man sich mit ihr einlässt! Die steht wenigstens zu dem, was sie tut, und versucht nicht, einem Sand in die Augen zu streuen!«

»Aber …«

»Nein, spar dir deine Lügen, Éanna! Mir reicht es!« Er schrie sie nun regelrecht an, das Gesicht zu einer Maske unbändiger Wut verzerrt. »Ich will nichts mehr davon hören, hast du das endlich begriffen? Ich habe dir nichts mehr zu sagen! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben und dich auch nicht wiedersehen!«

Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte los.

»Brendan, ich liebe dich doch! Nur dich!« Ungläubiges Entsetzen darüber, dass er es wirklich ernst meinen könnte, lag in ihrem verzweifelten Aufschrei.

Doch Brendan rannte unbeirrt weiter.

Éanna versuchte verzweifelt, ihm zu folgen. Aber es war sinnlos, ihn einholen zu wollen. Schon war er im Menschengewimmel verschwunden. Sie machte noch zwei, drei taumelnde Schritte, dann konnte sie nicht mehr. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Und von einer unsäglichen Verzweiflung überwältigt, sank sie schluchzend auf das regennasse Pflaster und überließ sich dem heftigen Weinkrampf, der ihren Körper schüttelte.

Sie hatte Brendan und seine Liebe verloren!

Und es war einzig und allein ihre Schuld.

21. Kapitel

Éanna konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie lange sie dort auf dem Boden gekauert hatte. Irgendwann war sie aufgestanden und wie betäubt durch die Stadt geirrt.

Emily fand sie am frühen Abend weinend auf dem Bett ihrer Kammer. Und es kostete ihre Freundin viel Geduld und gutes Zureden, bis Éanna ihr alles erzählt hatte. Sie beichtete ihr, woher die fünfzehn Pfund wirklich kamen, und unterschlug ihr auch nicht Patricks innigen Kuss, behielt jedoch für sich, welchen Aufruhr der Gefühle er in ihr ausgelöst hatte.

Bestürzt hörte Emily ihrem stammelnden Bericht zu, der immer wieder von neuen Weinkrämpfen unterbrochen wurde. Und nachdem sie alles erfahren hatte, war sie versucht, die Freundin daran zu erinnern, dass sie ihr schon im Januar davon abgeraten hatte, die Treffen mit Patrick vor Brendan geheim zu halten. Sie tat es jedoch nicht. Denn sie wusste, dass Éanna sich längst schreckliche Vorwürfe machte.

»Ich kann nicht glauben, dass alles verloren ist«, versuchte sie, die Freundin zu trösten. »Brendan liebt dich doch.«

»Nein, nicht mehr«, schluchzte Éanna. »Er will nichts mehr von mir wissen! Er hat mich sogar geohrfeigt! Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass er mich einmal schlägt! Mein Vater hat nie seine Hand gegen meine Mutter erhoben!«

Emily seufzte. »Das hätte er auch nicht tun dürfen. Damit hat er sich versündigt. Aber das wirst du ihm verzeihen müssen.«

»Aber es geht doch gar nicht darum, ob ich ihm verzeihe, sondern ob er es tut!«, erwiderte Éanna verzweifelt.

»Das wird er bestimmt«, gab Emily sich zuversichtlich. »Glaub mir, er ist jetzt tief verletzt, weil er sich von dir betrogen fühlt und weil Caitlin, dieses Miststück, ihm Gott weiß was für schreckliche Geschichten erzählt hat. Aber wenn sein Zorn sich erst einmal gelegt hat und er in Ruhe über alles nachdenkt, wird er dich anhören. Du bedeutest ihm viel zu viel, als dass er dich einfach aufgeben würde. Letztlich wird seine Liebe doch stärker sein und alles wird wieder ins Lot kommen.«

»Ach Emily, wenn ich nur daran glauben könnte.« Éanna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Brendan ist so dickköpfig und stolz.«

»Und wennschon. Seine Liebe wird ihn schon zur Vernunft bringen. Außerdem will er doch auch mit der Metoka nach Amerika. Du wirst sehen, es wird alles wieder gut!«, redete Emily ihr zu.

Aber es wurde nicht gut. Am nächsten Morgen lief Éanna schon im Morgengrauen in die Cross Stick Alley, traf dort jedoch weder Brendan noch Aidan an. Auch im Hafen war Brendan nicht aufzufinden. Auf den Kohlenkais erfuhr sie von einem der Männer aus seiner Kolonne, dass er seit dem vorherigen Tag nicht mehr zur Arbeit erschienen war.

Den ganzen Tag lief sie durch die Stadt, immer in der Hoffnung, ihm zufällig zu begegnen. Als sie am Abend zum wiederholten Mal in die Cross Stick Alley ging, traf sie zumindest auf Aidan.

Dieser bedachte sie mit einem wenig mitfühlenden Blick. »Keine Ahnung, wo Brendan steckt. Aber warum versuchst du es nicht mal bei dieser Caitlin drüben im Ross und Reiter? Da dürftest du mehr Glück haben«, schlug er ihr spöttisch vor und ließ sie mit einem dreckigen Lachen stehen.

Ihr war, als hätte er ihr mit seinen Worten ein Messer in die Brust gestoßen.

Nachdem sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte, war sie drauf und dran, sich tatsächlich der Demütigung auszusetzen, Caitlin in der zwielichtigen Taverne aufzusuchen und sie nach Brendan zu fragen. Sie wagte sich bis in die Straße, in der die Hafenschenke lag. Aber dann brachte sie es doch nicht über sich, sie zu betreten. Was hätte es ihr denn auch gebracht? Caitlin war die Letzte, die Mitleid mit ihr haben und ihr helfen würde. Und falls Brendan wirklich bei ihr war, würde er sie kaum in das Zimmer der Dirne lassen und sich anhören, was sie ihm sagen wollte.

Éanna trieb sich die halbe Nacht vor der Taverne herum und dann noch bis weit nach Mitternacht vor dem Mietshaus in der Cross Stick Alley. Doch von Brendan keine Spur.

Er schien konsequent die Orte zu meiden, an denen sie ihm hätte begegnen können. Einen Tag vor der Abreise nach Amerika musste Éanna den Tatsachen ins Auge sehen. Brendan dachte nicht daran, sich mit ihr zu versöhnen und sich mit ihr auf der Metoka einzuschiffen. Er wollte in Amerika kein neues Leben beginnen, jedenfalls nicht mit ihr.

»Er lässt dich nur noch eine Nacht leiden. Pass auf, morgen wartet er an der Anlegestelle auf dich und dann kommt alles wieder ins rechte Lot«, sagte Emily, um ihr Mut zu machen.

»Nein, das wird er nicht!«, widersprach Éanna. »Wenn er sich mit mir hätte versöhnen wollen, hätte er es längst getan. Und deshalb wirst du morgen mit mir an Bord der Metoka gehen!«

»Bist du von Sinnen? Das kannst du nicht machen! Darauf lasse ich mich auch nicht ein!«, rief Emily geradezu erschrocken. »Das sind eure Tickets!«

»Nein, es sind meine, Emily! Bezahlt von meinem Dirnenlohn, falls du das vergessen haben solltest«, antwortete sie voll Bitterkeit. Zu ihrer Verzweiflung waren nun auch Zorn und Trotz gekommen. »Und deshalb kann ich damit tun und lassen, was ich will! Wenn Brendan mich so wenig liebt, dass er den Stab über mich bricht, ohne mich auch nur ein einziges Mal in Ruhe anzuhören, dann soll es wohl so sein! Vielleicht ist es gut so, dass ich nicht erst später erkennen muss, wie sehr ich mich in ihm getäuscht habe. Und damit ist alles gesagt, was es dazu zu sagen gibt, Emily. Mein Entschluss steht fest. Das zweite Ticket ist für dich. Du kannst dich jetzt so sehr sträuben, wie du willst, du kommst morgen mit auf die Metoka, so wahr ich Éanna Sullivan heiße.«

22. Kapitel

Am nächsten Morgen brachte Éanna kaum einen Bissen hinunter. Und nur weil Emily sie drängte, sich nicht mit leerem Magen auf der Metoka einzuschiffen, nahm sie ein wenig Porridge zum Tee.

Alice Stapleton und ihre beiden älteren Töchter blickten neidisch auf die zwei jungen Frauen. Von Auswanderung konnten sie nur träumen. Nie würde Alice genug Geld für vier Tickets sparen können, auch wenn Kinder unter vierzehn nur den halben Preis zahlten. Für sie war es nur ein schwacher Trost, dass Éanna ihr die volle Untermiete für die folgende Woche auszahlte.

Éanna und Emily klemmten sich ihre fest zusammengeschnürten Deckenrollen unter den Arm. Éanna nahm Patricks Buchpaket in die Hand und Emily den Nachttopf, den sie unter allen Umständen mit an Bord des Schiffes nehmen wollte. »Wer weiß, wozu der gut ist!«

Éanna zuckte nur die Achseln und so machten sie sich auf den Weg. Als sie bei Mister Lahiffe vorbeikamen, um die Blechkiste mit ihrem Proviant und die Bündel mit ihrem anderen Hab und Gut abzuholen, ließ er es sich nicht nehmen, vom Nachbarladen einen jungen Tagelöhner herbeizurufen, damit dieser ihnen das Gepäck in einem seiner Lumpenkarren bis zur Anlegestelle brachte. Er wusste mittlerweile von dem Zerwürfnis zwischen Éanna und Brendan und bemühte sich um aufmunternde Worte. Auch versicherte er ihr, dass er einen so tüchtigen Tugger wie sie zwar nur ungern ziehen lasse, ihr aber in der Neuen Welt von Herzen alles Gute wünsche.

»Du wirst deinen Weg schon machen und auch dein Glück finden, Éanna«, sagte er zum Abschied. »Euch beiden Gottes Segen für eure Reise!«

Auf dem Weg zum Hafen kauften sie sich Unterlagen für ihre Kojen. Der Händler versuchte, ihnen erst Daunendecken oder zumindest mit Rosshaar gefüllte Matratzen aufzuschwatzen. Aber Éanna ließ sich nicht darauf ein. Sie hatte erfahren, dass weder das eine noch das andere für eine acht- bis zehnwöchige Überfahrt im Zwischendeck taugte. Sie bestand auf zwei einfachen mit Stroh gefüllten Jutesäcken. Nach Feilschen war ihr jedoch nicht zumute. Und wenn Emily sich nicht rasch eingemischt hätte, hätte sie für die beiden Strohsäcke einen viel zu hohen Preis gezahlt. Schweigend zogen sie durch die Straßen und überquerten den Fluss. Emily wusste, was ihre Freundin quälte. Aber als sie sich dem ersten Dock näherten, brach sie das Schweigen.

»Vergiss nicht, was wir ausgemacht haben, Éanna!«, sagte sie mit entschlossener Stimme. »Wenn Brendan jetzt doch an der Anlegestelle auf dich wartet, dann bekommt er das andere Ticket und ich sehe zu, dass ich zu Alice zurückkomme, bevor sie eine andere Untermieterin gefunden hat!«

»Er wird nicht da sein«, erwiderte Éanna knapp.

Emily beließ es dabei.

Die Metoka lag ein kurzes Stück hinter der Schleuse vom Royal Canal vertäut. Éanna und Emily verstanden nicht viel von Schiffen. Deswegen konnten sie auch nicht beurteilen, ob es sich bei der Dreimastbark um einen guten Segler handelte oder um ein sogenanntes coffin ship[5]. So nannte man jene Schiffe, auf denen der Tod während der Überfahrt ein regelmäßiger Gast war. Auf sie machte die Metoka mit ihrem kräftig gewölbten Rumpf, den himmelstürmenden Masten, dem dichten Gewirr von Takelage, Leinen und Tauen und den weiß gestrichenen Decksaufbauten einen vertrauenerweckenden Eindruck. Ja, sie sah fast so prächtig aus wie auf den Handzetteln der Anwerber und den großen Reklamebildern des Kontors.

Auf dem Kai wartete schon eine große Menschenmenge darauf, über die Gangway auf das Schiff gelassen zu werden. Dutzende von fliegenden Händlern hatten sich mit ihren Bauchläden und Karren unter die Passagiere des Zwischendecks gemischt, um noch in letzter Minute mit der Einfalt und Gutgläubigkeit der aufgeregten Leute Geschäfte zu machen. Lauthals und redegewandt priesen sie ihre Gerätschaften, Salben und Tinkturen gegen die Seekrankheit an.

Unwillkürlich hielt Éanna Ausschau nach Brendan. Einmal schlug ihr Herz höher, als sie sah, wie sich eine Gestalt ihren Weg durch die Menge bahnte. Doch dann erkannte sie an den Krücken, dass es Neill war.

»Du Lieber«, sagte sie und hatte Tränen in den Augen. »Dass du hierher kommst, uns zu verabschieden.«

»Gott schütze Euch, Miss Éanna und all Eure Gaben«, sagte er und lächelte sie fröhlich an. »Die Leute in Amerika können sich glücklich schätzen, Euch dazuhaben!«

»Ach Neill.« Sie musste lachen, obwohl ihr Herz doch so schwer war. »Wie werde ich dich vermissen!« Sie umarmte ihn fest.

Neill humpelte hinüber zum Kai, um die Metoka in Augenschein zu nehmen, und Éanna war, als ob sich eine dunkle Wolke vor die wärmende Sonne geschoben hatte. Nun war es unwiederbringlich so weit.

»Warte hier!«, sagte sie zu Emily. »Ich gehe ins Kontor hinüber, um Brendan von der Liste streichen und deinen Namen draufsetzen zu lassen!«

Bevor die Freundin noch etwas erwidern konnte, hastete sie davon.

Im Kontor, in dem sich Dutzende von Menschen mit allerlei Anliegen drängten, ging es laut und hektisch zu. Sie musste eine ganze Weile warten, bis sie endlich an der Reihe war. Der Angestellte, an den sie schließlich geriet, zeigte nicht das geringste Interesse daran zu erfahren, warum er den Namen Brendan Flynn streichen und nun dafür Emily Farrell auf die Liste setzen sollte.

»Hat sie ein gültiges Ticket?«, wollte er nur wissen.

Als Éanna das bejahte, fuhr er mit dem Finger über die Passagierliste und überschrieb Brendans Namen mit Emily Farrell. Dann rief er auch schon nach dem nächsten Wartenden.

Éanna kehrte zu Emily zurück. Sie drückte dem Tagelöhner drei Pence in die Hand. »Du kannst jetzt gehen. Auf das Schiff können wir die Sachen auch alleine tragen.«

Sie mussten eine geschlagene Stunde warten, bevor die Einschiffung begann. Währenddessen war die Mannschaft damit beschäftigt, die Metoka nach blinden Passagieren zu durchsuchen. Es kam nur allzu oft vor, dass sich die verzweifelten Menschen, die nicht das Geld für die Überfahrt aufbringen konnten, in den Tagen der Übernahme von Proviant und Fracht an Bord schlichen. Und tatsächlich stöberte man zwei Männer auf. Einer von ihnen hatte sich ganz unten in der Bilge versteckt und dementsprechend erbärmlich stank er auch. Doch er lachte, als ihn die Seeleute von Bord trieben. Der andere wehrte sich mit Händen und Füßen und beteuerte, er könne sich die Überfahrt durch harte Arbeit an Bord verdienen. Für seinen zähen Widerstand handelte er sich Schläge mit einem Tauende ein und schließlich musste er von zwei kräftigen Matrosen gepackt und vom Schiff geschleift werden.

Dann erschien oben an der Gangway ein breitschultriger Seemann mit kahlem Schädel und narbigem Gesicht in Begleitung von zwei stämmigen Matrosen. Mit lauter und befehlsgewohnter Stimme stellte er sich als James Sarfield, Bootsmann der Metoka, vor. Danach gab er das Zeichen zur Einschiffung.

Sofort ergriff jeder sein Gepäck und mehr als zweihundertfünfzig Auswanderer drängten gleichzeitig zur Gangway, über die sie sich wie durch ein Nadelöhr aufs Schiff zwängen mussten. Nicht wenige schienen zu fürchten, die Bark könne ohne sie ablegen. Es kam zu Rempeleien, derben Rippenstößen, gegenseitigen Verwünschungen und einigem Gelärme, das der bullige Bootsmann James Sarfield jedoch immer noch zu übertönen wusste.

Als Éanna und Emily endlich mit ihren Habseligkeiten an Deck angelangt waren, wurden sie von dem barschen Befehl des Bootsmanns empfangen: »Alles dort hinüber! Hinter das Seil auf der Steuerbordseite! Zum roll call[6] nach Steuerbord hinter das Tau!«

Mittschiffs war ein dickes Tau vom Großmast bis zum Aufgang des erhöhten Achterdecks gespannt. Es teilte den Bereich in zwei etwa gleich große Hälften. Alle hatten sich hinter dieses Tau zu begeben. Und mehrere Seeleute wachten mit grimmigen Mienen darüber, dass sich auch jeder damit beeilte.

Es gelang den beiden jungen Frauen, einen Platz in einer der vorderen Reihen zu ergattern und ihn in dem Gedränge und Geschiebe auch zu behaupten. Ein Raunen ging durch die Menge, als die Reisenden sich auf dem Schiff umschauten. Allein der Anblick der hohen Masten mit ihren weit ausgreifenden Rahen, die über ihnen wie das Gewölbe einer Kathedrale bis in die Wolken zu reichen schienen, machte auf sie alle einen überwältigenden Eindruck. Und die Kinder unter ihnen, die sich an die Hände ihrer Väter oder die Kleider ihrer Mütter klammerten, starrten mit offenen Mündern zu ihnen hinauf.

Emily reckte sich, um Neill ein letztes Mal zuzuwinken. Doch plötzlich hielt sie inne. »Mein Gott, sieh doch nur!« Sie stieß Éanna in die Seite. »Das ist Brendan! Allmächtiger! Fast hätte ich ihn nicht wiedererkannt, so schlimm, wie er zugerichtet ist!«

Éannas Kopf fuhr mit einem Ruck herum und blickte zur Gangway hinüber. Da stand Brendan, mit einem bescheidenen Proviantbeutel über der Schulter und einem Strohsack unter dem Arm, im Strom der Passagiere. Und er sah wirklich schlimm aus, als wäre er in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Sein linkes Auge war angeschwollen, seine Unterlippe aufgeplatzt und dazu kamen noch mehrere blutunterlaufene Schürfwunden im Gesicht. Zudem hatte er sich Stoffstreifen um seine Handknöchel gewickelt, die dunkle Flecken aufwiesen, als wäre Blut durch die Bandage gesickert.

Sosehr Éanna sich auch sorgte und fragte, wie er sich diese Verletzungen wohl zugezogen hatte, so überwog doch die unbeschreibliche Freude, ihn zu sehen. Er würde mit ihr die Überfahrt antreten! Wie er das Wunder vollbracht hatte, in nur drei Tagen zu einem Ticket für die Metoka zu kommen, war ihr in diesem Moment gleichgültig. Sie würde sich mit ihm versöhnen können, denn sie hatten viele Wochen Zeit, alles aus der Welt zu schaffen, was zwischen ihnen stand. Und hier auf dem Schiff würde er ihr auf Dauer nicht aus dem Weg gehen können!

Freude und Hoffnung fielen jedoch jäh in sich zusammen, als sie sah, wer dicht hinter Brendan auftauchte. Scharf sog Emily die Luft ein, denn auch sie hatte Caitlin erkannt. »Ich glaub es nicht!«, stieß sie empört hervor. »Wie kann sie es nur wagen, uns unter die Augen zu treten! Und dann auch noch an der Seite von Brendan!«

Éanna hörte es kaum. Denn in diesem Moment fing Brendan ihren Blick auf. Er hielt ihm stand, ohne dass sich nur ein Muskel in seinem Gesicht rührte. Dann wandte er sich ab und reihte sich auf der anderen Seite der Abtrennung in die Menge ein.

Caitlin dagegen genoss ihren Auftritt sichtlich. Sie hob die Hand, winkte ihnen fröhlich zu und machte sogar einen kleinen Bogen, um in ihre Nähe zu kommen und ihnen scheinheilig zuzurufen: »Éanna! … Emily! Wie schön, dass wir jetzt wieder zusammen sind wie in alten Zeiten. Wird mit euch an Bord bestimmt nett werden. Na dann, bis später!« Damit eilte sie Brendan nach und legte ihm mit demonstrativer Vertraulichkeit ihre Hand auf die Schulter.

»Ich bringe diese tückische Schlange um!«, zischte Emily wutentbrannt.

»Wenn ich dir da nicht zuvorkomme«, murmelte Éanna mit zittriger Stimme und wachsbleichem Gesicht.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis alle Zwischendeckpassagiere an Bord waren und sich mit ihrem teils sehr sperrigen Gepäck hinter das Tau begeben hatten. Der Kontorvorsteher mit dem Nasenkneifer kam als Letzter die Gangway hoch und händigte dem Ersten Offizier der Metoka, einem sehnig schlanken Mann namens Christy Cavendish, die mehrseitige Liste der Auswanderer aus.

Zur selben Zeit zeigte sich auch zum ersten Mal Captain Caleb Crimshaw. Er war ein Mann um die fünfzig, von gedrungener Gestalt und mit wettergegerbtem Gesicht, schmalen Lippen, scharf geschnittenen Zügen und kühlen Augen. Die blank polierten Messingknöpfe seines nachtblauen Rockes blitzten wie aufgenähte Goldstücke. Er hielt Distanz zu der dicht gedrängten Menge armselig gekleideter und abgemagerter Auswanderer. Steif wie ein Ladestock, mit auf dem Rücken verschränkten Armen und völlig ausdruckslosem Gesicht stand er oben auf dem Achterdeck vor dem Ruderhaus und verfolgte das Geschehen mittschiffs. Er würde auf See oberster Richter und Herr über Leben und Tod sein, ein Master under God, wie man die Kapitäne nannte. Auch einige der im Achterschiff untergebrachten Kabinenpassagiere versammelten sich, um das nun folgende Schauspiel zu beobachten.

»Wessen Name aufgerufen wird, der tritt mit seinem Gepäck vor Mister Sarfield, händigt sein Ticket aus, folgt seinen Anweisungen und begibt sich nach der Leibesvisite auf die andere Seite der Abtrennung!«, teilte ihnen der Erste Offizier mit schneidender Stimme mit.

»Bei allen seligen Märtyrern, das kann ja Stunden dauern!«, stöhnte jemand.

Und ein anderer versicherte trocken: »Das wird es auch.« Christy Cavendish rief den ersten Auswanderer auf. »Phelim Gillespie! Vortreten!«

Ein älterer Mann in Lumpen, der schwer an seinem Gepäck zu tragen hatte, drängte sich durch die Menge nach vorn. »Nun komm schon und zeig deine Knochen!«, rief der Bootsmann ihm ungeduldig zu.

Viel mehr als Haut und Knochen hatte Phelim Gillespie auch nicht vorzuweisen.

»Mach den Mund auf!«, forderte ihn der Bootsmann auf. »Und streck die Zunge heraus! Zeig deine Hände! … Leg Mantel und Unterkleider ab, damit ich deinen Hals und deine Brust sehen kann!«

Diese Gesundheitsprüfung sollte gewährleisten, dass keine ansteckenden Krankheiten an Bord eingeschleppt wurden. Selbst Frauen und unverheiratete Mädchen, von denen die meisten gemäß den Sitten ihres Landes noch nie gegenüber Fremden auch nur den Ansatz ihrer Brust entblößt hatten, mussten diese erniedrigende Prozedur über sich ergehen lassen.

Als zwei junge, alleinstehende Schwestern das sahen, begannen sie zu weinen und zu jammern. Nie würden sie sich dieser Schändung ihrer Ehre aussetzen.

Worauf jemand bissig bemerkte: »Guter Gott, wenn die jetzt schon gleich in Ohnmacht fallen, weil sie ihre Ehre für beschmutzt halten, was soll denn erst werden, wenn sie sehen, dass sie mit fremden Männern ihre Betten teilen müssen. Oder glauben diese naiven Dinger vielleicht, sie hätten da unten einen hübschen Vorhang um ihre Koje?«

Emily warf ihrer Freundin einen besorgten Blick zu. »Wir müssen nachher aufpassen, dass wir möglichst unter den Ersten sind, wenn sie uns ins Zwischendeck lassen«, raunte sie ihr zu. »Und am besten suchen wir uns eine Koje in der Nähe von Leuten mit Kindern.«

Éanna nickte nur. Sie stand noch immer unter dem Schock, Brendan mit Caitlin gesehen zu haben. Waren die beiden jetzt etwa ein Paar? Verzweifelt versuchte sie, die Bilder, die bei dieser Vorstellung vor ihrem geistigen Auge entstanden, zu verdrängen.

Die Gesundheitsprüfung und die Kontrolle des Gepäcks zogen sich wie befürchtet mehrere Stunden hin. Manche Passagiere hatten große Seekisten, ein paar sogar Fässer als Gepäck an Bord bringen lassen. Eins der Fässer, das angeblich nur Salz und Heringe enthalten sollte, untersuchten die Seeleute näher. Dabei stellten sie es kurzerhand auf den Kopf und schon Augenblicke später schrie jemand von innen um Hilfe. Als man den Deckel öffnete, kroch eine schlaksige Gestalt aus dem Fass, von oben bis unten mit Salz bedeckt.

Der Mann hatte jedoch Glück im Unglück. Denn seine vier Gefährten, die ihn auf diese Weise auf die Metoka hatten bringen wollen, waren willens und fähig, die Passage für ihren Freund nachträglich zu entrichten.

Ein anderer Passagier, ein Bursche von etwa sechzehn Jahren, hatte sich nur ein halbes Ticket gekauft und behauptete steif und fest, erst dreizehn zu sein. Er musste sein Bündel packen und das Schiff verlassen, denn er hatte kein Geld, um die Differenz nachzuzahlen. Von Bord gewiesen wurde auch eine Frau mit hohem Fieber, der ihr Ehemann unter stummem Weinen folgte, sowie ein anderer Passagier, der vergeblich versucht hatte, eine Vielzahl eiternder Geschwüre vor den prüfenden Blicken des Bootsmanns zu verbergen.

Und so kam es, dass es bereits auf die Mittagszeit zuging, als schließlich alle Reisenden auf der anderen Seite der Absperrung standen. Endlich wurde die Luke zum Zwischendeck geöffnet, das für die nächsten vierzig bis fünfzig Tage Schlaf- und Wohnraum für zweihundertfünfzig Männer, Frauen und Kinder sein würde.

Und das, was sie da sahen, ließ manch einen vor Bestürzung aufstöhnen.

23. Kapitel

Es war allen klar gewesen, dass das Zwischendeck nur eine karge Unterkunft bieten würde. Dennoch reagierten viele Reisende entsetzt, als sie in den mit Tranleuchten kläglich erleuchteten Raum traten. Zu beiden Seiten der sich nach außen wölbenden Rumpfwände erstreckten sich lange Reihen von zweistöckigen Kojen, primitive kastenförmige Bettgestelle, die aus billigstem Fichtenholz gezimmert waren. Die Bretter waren rissig und kaum bearbeitet, sodass man leicht Gefahr lief, sich bei einer unbedachten Bewegung über das Holz einen Splitter unter die Haut zu treiben.

In der Mitte erstreckte sich eine zweite Doppelreihe Kojen über die ganze Länge des Zwischendecks. Die schmalen Durchgänge zwischen den Reihen waren im Nu mit allerlei Gepäck versperrt, sodass kaum noch ein Durchkommen war. Und die Decke mit ihrem dicken, quer laufenden Spantenwerk war so niedrig, dass nur Kinder und Kleinwüchsige aufrecht stehen konnten, ohne sich die Köpfe zu stoßen. »Heilige Muttergottes!«, entfuhr es Éanna, als sie stehen blieb, um sich umzusehen.

»Zwei Leute teilen sich einen Kojenkasten«, rief einer der Seeleute, der das Chaos überwachte.

Emily lachte bitter auf. »Da hat man ja in einem Sarg noch mehr Platz als hier!«

»Nur keine Sorge, Herzchen!«, rief ihr ein Matrose spöttisch zu. »Je länger wir auf See sind, desto mehr Platz gibt es!«

Etliche der Reisenden bekreuzigten sich hastig. Sie wussten nur zu gut, dass einige von ihnen Amerika nie zu Gesicht bekommen würden.

Éannas Blick suchte in dem Gedränge nach Brendans rötlichem Haarschopf, konnte ihn in dem Halbdunkel jedoch nicht entdecken.

»Da drüben ist noch eine der oberen Kojen frei!«, raunte Emily Éanna hastig zu. »Die nehmen wir uns! Oben ist besser, als immer jemanden über dem Kopf zu haben. Und wer weiß, wie es nach ein paar Tagen unten am Boden aussieht!«

Sie ließ einfach den Griff der Kiste los, die sogleich auf die Planken krachte und damit den Durchgang versperrte. Ohne sich um den Protest der von hinten drängelnden Menschen zu kümmern, lief sie schnell zu der unbelegten Koje hinüber und warf ihre Säcke auf das obere Brettergestell, bevor ihr ein anderer zuvorkommen konnte. Dann erst kehrte sie zu Éanna zurück und half ihr mit dem restlichen Gepäck. Die Kiste passte gerade noch unter das untere Brettergestell.

»Diese Kojen entsprechen nicht den gesetzlichen Vorschriften, Seemann! Und mit denen kenne ich mich aus!«, protestierte ein hochgewachsener Mann, der unter der niedrigen Decke nur gebückt stehen konnte. Er musste Zimmermann oder Schreiner sein, denn er hatte aus seinem mitgebrachten Werkzeugkasten eine Messlatte hervorgeholt und die Kojen ausgemessen. »Je vier Personen stehen sechs mal sechs Fuß [7]zu, so verlangt es das Gesetz! Und die Weite dieser Kojen beträgt gut drei bis vier Inch weniger als die durchschnittliche Rückenbreite eines erwachsenen Mannes! Ich verlange für mein Geld, dass ich auch den Raum erhalte, der mir zusteht!«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich um ihn herum. Und jemand bemerkte bissig: »Vermutlich nimmt der Captain ja an, dass irische Auswanderer nur auf der Seite liegend schlafen!«

Einer der Seeleute schnauzte den Mann mit der Messlatte an: »Du kennst dich aber nicht gut genug mit den Vorschriften aus, du Krawallbruder! Denn sonst wüsstest du, dass Schiffe, die Post der Royal Mail transportieren, von diesen Vorschriften befreit sind. Und glaub mir, die Metoka hat ein paar Postsäcke an Bord! Also halt gefälligst dein Maul! Und lass dir noch eins gesagt sein: Mit Unruhestiftern wie dir fackelt Captain Crimshaw nicht lange!«

Der Mann warf dem Matrosen einen wütenden Blick zu, war jedoch klug genug, seinen Zorn hinunterzuschlucken und es nicht auf eine weitere Konfrontation ankommen zu lassen.

Auch unter den anderen Passagieren regte sich Unmut. Einige Frauen und Mädchen schluchzten verzweifelt auf, denn es gab keine Möglichkeit, sich vor neugierigen Blicken zu schützen. Die Kojen standen dicht an dicht, nur notdürftig getrennt durch niedrige Latten, die verhindern sollten, dass man bei Seegang in die Nachbar-Koje rollte.

Man brauchte lediglich die Hand auszustrecken, schon konnte man die Schulter des Nachbarn berühren.

So manche junge Frau beteuerte, ihre Kleidung stets anbehalten zu wollen und lieber jede Nacht sitzend auf ihrer Kiste zu verbringen, als Schulter an Schulter mit einem Fremden in der Koje zu liegen.

»Wenn die wüssten«, kommentierte jemand, »dass es für uns alle oben am Bugsprit nur ganze zwei Wasserklosetts gibt. Und dass man da zwangsläufig von der hochspritzenden Gischt durchnässt wird.«

Éanna überhörte den zynischen Kommentar. Ihre Gedanken waren noch immer einzig und allein bei Brendan. Wo war er bloß? Was war in der letzten Nacht mit ihm passiert? Schließlich hielt sie es nicht länger in ihrer Koje aus.

»Wo willst du hin?«, fragte Emily, obwohl sie längst ahnte, was Éanna vorhatte.

»Mich umsehen.«

»Warte noch ein wenig«, versuchte Emily, sie zurückzuhalten. »Lass Brendan Zeit. Wo er doch mit Caitlin zusammen …« Sie ließ den Satz unbeendet.

Aber da war Éanna schon im Gedränge verschwunden. Sie musste Brendan sehen und irgendwo hier im Zwischendeck musste er ja sein!

Schließlich fand sie ihn und Caitlin auf dem Gang, der die beiden Kojenreihen an Backbord voneinander trennte. Als sie sich zu ihnen vordrängte, sah sie, dass sich die beiden heftig stritten. Sie standen einander schräg gegenüber, eines der Brettergestelle zwischen sich.

»Was soll das? Du hast es mir versprochen, Brendan!«, hörte sie Caitlin erbost sagen. »Also sag diesem blöden Pickelgesicht da, dass er gefälligst seinen Strohsack nimmt und mir den Platz neben dir überlässt!«

»Gar nichts habe ich dir versprochen!«, gab Brendan knurrig zurück. »Ich bleibe hier. Ich kann mir ja wohl noch meinen Kojenplatz aussuchen, wo ich will!«

Caitlin funkelte ihn zornig an. »Du scheinst wohl schon vergessen zu haben, wem du es zu verdanken hast, dass du nach Amerika auswandern kannst, Brendan Flynn!«, zeterte sie.

»Und du scheinst das hier vergessen zu haben!«, erwiderte Brendan ungehalten und deutete auf sein zugerichtetes Gesicht. »Mir ist das Ticket nicht in den Schoß gefallen, ganz im Gegensatz zu dir. Und das kannst du ruhig wörtlich nehmen! Und jetzt hör endlich auf mit deinem Gegeifer! Ich bleibe hier und damit Schluss jetzt!«

Éanna fühlte Genugtuung bei diesen Worten. Caitlin hatte wohl fest damit gerechnet, dass Brendan auf der Überfahrt einen Kojenkasten mit ihr teilte. Dass er zumindest räumlich auf Distanz zu ihr ging, weckte einen Funken Hoffnung in ihr.

Caitlin bemerkte Éanna zuerst. »Was lungerst du hier herum?«, fauchte sie. Von ihrem höhnischen Triumph, mit dem sie ihr oben an Deck begegnet war, fand sich nichts mehr in Blick und Stimme. Einen Moment vermeinte Éanna, sogar eine gewisse Verletztheit darin zu erkennen. »Wenn du glaubst, Brendan wieder an deine Leine legen und umgarnen zu können, dann hast du dich aber gehörig geschnitten!«

»Halt den Mund, Caitlin! Ich brauche keinen, der für mich das Reden übernimmt!«, schnitt er ihr das Wort ab und wandte sich dann Éanna zu, ohne dass sich sein Gesicht bei ihrem Anblick im Mindesten aufgehellt hätte. »Was willst du?«

»Mit dir reden, Brendan«, antwortete sie beklommen.

»Da gibt es nichts mehr zu reden!«, beharrte er. »Wie oft soll ich dir das noch sagen?«

Éanna schluckte. »Ich freue mich, dass du nun doch mit der Metoka nach New York segelst. Wie hast du es geschafft, an ein Ticket zu kommen?«

»Das würdest du wohl gerne wissen!«, giftete Caitlin. »Aber dieses Geheimnis behalten Brendan und ich schön für uns!«

Brendan machte eine unwillige Handbewegung. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du den Mund halten sollst, Caitlin?«, erinnerte er sie müde und blickte dann wieder Éanna an. »Was hast du überhaupt hier unten zu suchen?«

Verständnislos sah sie ihn an.

»Na, ich hätte erwartet, dass du deinem reichen Schnösel hier auf der Metoka sein hübsches Kabinenbett wärmen würdest«, sagte er herausfordernd.

»Was redest du denn da?«, stieß Éanna verstört hervor.

»Spiel doch nicht die Ahnungslose, Éanna!«, sagte er ärgerlich. »Du weißt doch ganz genau, dass sich dein feiner Mister O’Brien hier auf dem Segler eingeschifft hat – aber natürlich in der ersten Klasse, wie es einem Herrn seines Standes gebührt!«

Patrick sollte auch an Bord sein? In all den Monaten, in denen sie ihn besucht hatte, hatte er nie ein Wort darüber verloren, dass er Irland verlassen wollte! Doch dann fiel ihr ein, was er bei ihrem letzten Treffen gesagt hatte. »Das … das glaube ich nicht!«, brachte sie stammelnd hervor.

Brendan zuckte die Achseln. »Glaub meinetwegen, was du willst. Ich jedenfalls habe gestern, als ich mir mein Ticket geholt habe, mit eigenen Augen gesehen, wie er an Bord gegangen ist und sich sein Gepäck hat nachtragen lassen. Der Kerl kann froh sein, dass er da schon oben auf der Gangway war, sonst hätte ich ihm mit meinen Fäusten gezeigt, was ich von ihm halte. Und jetzt lass uns in Ruhe und geh wieder an deinen Platz zurück.« Damit wandte er ihr den Rücken zu und kletterte in seine Koje.

»Ja, vielleicht lässt er ja schon nach dir suchen, damit du ihm in seiner Kabine ein wenig die Zeit vertreibst!«, rief Caitlin schadenfreudig. »Wie das geht, hast du ja wohl inzwischen gelernt!«

In der Umgebung war man auf den Wortwechsel aufmerksam geworden und die teils spöttischen, teils empörten Blicke und Kommentare trieben Éanna eine dunkle Schamröte ins Gesicht. Schnell machte sie, dass sie davonkam, und nur mühsam konnte sie ihre Tränen unterdrücken. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte. Erst dann kehrte sie zu Emily zurück.

Ihre Freundin konnte es kaum glauben, dass sich Patrick O’Brien auch auf der Metoka aufhalten sollte.

»Wie viel muss ihm an dir liegen, dass er nicht einmal vor einer Passage über den Atlantik zurückschreckt, um in deiner Nähe bleiben zu können«, sagte sie, ihre Stimme zu einem Flüstern gesenkt. Sie wollte nicht, dass jeder in ihrer Nähe mithörte.

»Ach, Emily! Was redest du denn da für einen Unsinn! Aus diesem Grund wird er ganz sicherlich nicht nach Amerika reisen«, gab Éanna ebenso leise zurück. Sie musste an den Streit denken, den sie an Patricks Wohnungstür mitbekommen hatte, und an die Sache mit dem Whiteboy. War dies womöglich der Grund für seine Reise? Vielleicht hatte man ihm nach seinem Leben getrachtet und er war bei einer überstürzten Flucht auf dieses Schiff geraten?

»Na ja, vielleicht bist du nicht der alleinige Grund«, räumte Emily ein. »Aber ich wette, dass er sich schon etwas dabei gedacht hat, sich für die Metoka zu entscheiden. Denn er hätte es sich ja wohl leicht erlauben können, eine Passage auf einem Dampfer zu bezahlen. Dann wäre er um einiges schneller und bequemer an sein Ziel gekommen!«

Das war ein berechtigter Einwand. Und Éanna musste sich insgeheim eingestehen, dass der Gedanke ihr guttat, dass er sich vielleicht auch ihretwegen für die Metoka entschieden hatte.

»Aber warum zerbrechen wir uns jetzt den Kopf darüber?«, fuhr Emily munter fort. »Mister O’Brien weiß ja, dass du hier im Zwischendeck bist. Bestimmt wird er nach dir Ausschau halten. Dann wird er dir schon erzählen, warum er an Bord ist. Und es würde mich nicht überraschen, wenn es sehr wohl mit dir und diesem leidenschaftlichen Kuss zu tun hat, den er dir am Sonntag gegeben hat.«

Bei diesen Worten schoss Éanna die Röte ins Gesicht und gleichzeitig fühlte sie ein Ziehen in der Brust, das ihr das Herz schwer machte. Hatte Patrick O’Brien nicht schon genug angerichtet?

Andererseits: Was konnte Patrick für Brendans bodenlose Eifersucht? Er hatte nichts Unrechtes getan – bis auf diesen einzigen Kuss. Und sie wusste nur zu genau, dass ein Wort, ein Blick von ihr genügt hätte, ihn daran zu hindern.

Emily lachte, als sie die Verlegenheit der Freundin sah. »Du brauchst doch deshalb nicht gleich rot zu werden!«, neckte sie. »Ich an deiner Stelle würde es mir zehnmal überlegen, ob ich dem Werben eines Mannes wie Mister O’Brien viel Widerstand entgegensetzen würde. Zumal seine Gefühle für dich offenbar ehrlich sind. Nicht einmal den Anflug eines Versuchs hat er unternommen, dich zu verführen.«

Éanna setzte zu einer Erwiderung an, doch Emily kam ihr zuvor. »Ich weiß, ich weiß, du liebst nicht ihn, sondern deinen verbohrten und hitzköpfigen Brendan. Der dich nicht nur geohrfeigt, sondern sich zu allem Übel auch noch mit Caitlin eingelassen hat. Und das wirft nicht gerade ein gutes Licht auf ihn, wenn du mir diese Bemerkung erlaubst.«

Im Stillen gab Éanna ihr recht. Dennoch nahm sie Brendan vor ihrer Freundin in Schutz. »Er hat es ja nur getan, weil er sich … nun ja, an mir rächen wollte. Anders kann ich es mir nicht erklären. Sonst hätte es ihn doch nie zu einer wie ihr getrieben!«, verteidigte sie ihn.

»Ach, und das entschuldigt alles?« Emily zog die Augenbraue hoch. »So schnell würde ich es ihm nicht verzeihen, dass er sich sofort in die Arme dieser Dirne geworfen hat! Deshalb gebe ich dir auch den guten Rat, ihm jetzt bloß nicht nachzulaufen! Lass ihn ruhig eine Zeit lang in Ruhe und tu so, als ob er dir gleichgültig geworden wäre. Auf See wird er schon einen klaren Kopf bekommen und sicher bald bereuen, was er getan hat. Verlass dich drauf.«

»Dein Wort in Gottes Ohr!«, seufzte Éanna.

»Und um dieses durchtriebene Biest Caitlin brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, versicherte Emily. »Wenn Brendan wirklich der Mann ist, für den du ihn hältst, dann wird es nicht allein bei getrennten Kojen bleiben, sondern dann wird er schon bald nichts mehr mit ihr zu schaffen haben wollen. Falls aber nicht, dann ist er deiner Liebe nicht wert! Und dann tust du besser daran, ihn so schnell wie möglich zu vergessen – und dich an Mister O’Brien zu halten.«

Éanna musste Emily hoch und heilig versprechen, sich ihren Rat zu Herzen zu nehmen. Sie sah ja ein, dass sie sich nur lächerlich machte, wenn sie Brendan nachlief und ihn weiter anbettelte, ihr zuzuhören. Doch leider fiel es ihr trotz allem nicht leicht, ihrem Geliebten fernzubleiben.

Schon in den wenigen Stunden, die Éanna und Emily auf dem Schiff verbracht hatten, war die Luft im Zwischendeck von einer Vielzahl unangenehmer Gerüche erfüllt. Es gab kein einziges Bullauge. Frische Luft und Licht konnten allein durch die Luke des Niedergangs in das Massenquartier eindringen. Doch die Auswanderer machten sich wenig Gedanken darüber, wie es schon nach wenigen Tagen unter solchen Bedingungen im Zwischendeck auszuhalten sein würde, denn keiner konnte erwarten, dass es endlich losging.

Als der Gezeitenwechsel am späten Nachmittag einsetzte, erschallte an Deck schließlich das Kommando, die Leinen der Metoka loszuwerfen. Und erst jetzt gaben die beiden Wache stehenden Seeleute, die bis zum Ablegen der Bark niemanden heraufgelassen hatten, die Ausstiegsluke frei. Augenblicklich setzte ein Massenansturm auf den einzigen Zugang nach oben ein.

Éanna und Emily kämpften sich in dem Gedränge langsam zur Luke vor. Denn auch sie wollten einen letzten Blick auf ihre Heimat werfen, die sie höchstwahrscheinlich nie wiedersehen würden. Als sie das Hauptdeck erreichten, wimmelte es dort schon von Mitreisenden. Das Vorschiff, von wo aus man den besten Rundblick hatte, war längst belegt. Aber immerhin gelang es ihnen, eine freie Stelle an der Steuerbordreling zu finden.

Unter der Führung eines Lotsen, der dem Steuermann am mächtigen Speichenrund des doppelseitigen Ruders knappe Befehle für den Kurs zurief, legte die Metoka vorn Kai ab und glitt hinaus auf den Fluss. Noch hatte die Bark kaum Segeltuch gesetzt. Die dunkle Strömung des Liffey übernahm einen Gutteil der Arbeit, den Dreimaster aus dem Hafen hinunter in die Dublin Bay zu tragen.