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Ela Maus

Schattenwölfe III

Allein im Kampf


Dieses Buch ist all den Lesern der ersten beiden Bände gewidmet.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Weg

Kimberly

 

Marlons Lippen strichen über meine. Sie hinterließen einen Kuss voller Gefühl und Wehmut, der meinen Körper mit Kribbeln erfüllte. Er würde sich nie an dieses Gefühl gewöhnen. Es war nicht wie etwas, von dem man irgendwann satt wurde, wenn man es zu oft gekostet hatte. Nein, von diesem Gefühl würde ich nie zu viel bekommen.

Seine Arme zogen sich stark um meine Taille, als wollten sie mich nie mehr loslassen. Dieses Drängen, mich dazu zu bewegen, hier zu bleiben, war es, das mich dazu veranlasste, mich langsam von ihm zu lösen.

»Warum kannst du nicht einfach hier bleiben?«, flüsterte er. Das Ozeanblau seiner Augen leuchtete mir traurig entgegen. Die vielen verschiedenen Farbkonstruktionen in seiner Iris drückten so viele Gefühle aus, wovon die meisten wehmütig waren. 

Ein winziges Lächeln entstand auf meinen Lippen. Ich fand es so süß, wie er an mir hing. Wie er es mir auszureden versuchte, in das Taxi zu steigen, das hinter mir am Straßenrand parkte. Dabei würden wir uns doch schon in zwei Wochen wiedersehen. »Du weißt doch, dass das nicht geht«, erwiderte ich ebenso leise. Zwar saß der ältere Herr, der mich taxieren würde, schon im Fahrzeug und war dabei, das Navigationssystem auf die Route einzustellen, die er mit mir fahren würde.

Er verzog die Lippen und sah mich gequält an. »Ich liebe dich.«

Jetzt hoben sich meine Mundwinkel ein weiteres Stück und das bekannte Kribbeln erfüllte noch viel größere Teile meines Körpers. »Ich weiß.« Schließlich hatte er diese Worte heute schon mindestens dreimal zu mir gesagt.

Seine Stirn legte sich an meine und der unglückliche Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelte sich mit dem entstehenden Grinsen zu einem Fröhlichen. »Nach fünf Jahren solltest du das auch wissen«, sagte er.

Ich erwiderte das Grinsen, denn er hatte absolut recht. Seit fünfeinhalb Jahren war kaum ein Tag vergangen, an dem diese Worte nicht gefallen waren. Seit wir damals den Kampf mit Chart, Dion und seinen geistesmanipulierten Werwölfen gewonnen hatten und ich wieder auf den Beinen gestanden hatte, war er nie von meiner Seite gewichen. Seit mein Werwolfsleben richtig begonnen hatte, füllte er es mit seiner Liebe aus.

Mein Mund drückte sich noch einmal auf seinen, um diese weichen Lippen und das Gefühl zu spüren, das mich seit mehr als fünf Jahren jeden Tag begleitete. Marlon zog mich noch mal ganz nah an sich und presste meinen Körper an seinen. Dann ließen wir uns gegenseitig langsam los. Seine Hand strich kurz über meine Wange und seine Augen verfolgten sie. Ich indes sah ihn nur an. Sah die schokobraunen Haare, die leicht verwuschelt von seinem Kopf abstanden, aber nie unordentlich wirkten. Die markanten Wangenknochen und die dunkler wirkende Haut, die durch seine herausstechenden, blauen Augen nur noch mehr betont wurde. Einfach diese Schönheit von einem Jungen. Ein Junge, der mir gehörte. Nur mir.

Auch die zweite Hand verließ meinen Körper, löste sich von meinen Fingern. Und sobald ich dort stand, ohne ihn zu berühren, fühlte ich mich hilflos und verlassen, denn ich wusste, dass ich bald komplett alleine sein würde. »Ich rufe dich an, wenn ich angekommen bin«, versprach ich und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen.

Er nickte und kopierte den Ausdruck, was mir nur zeigte, dass es ihm genauso schwer fiel wie mir. Sein Blick schweifte zu dem Taxi hinter mir und mir wurde wieder klar, dass es jetzt langsam wirklich Zeit wurde, einzusteigen. Mit einem traurigen, aber doch aufmunternd wirkendem Lächeln, schritt ich langsam rückwärts, um die Gefahr zu verbannen, dass wir uns noch mal berühren konnten. Denn dann würden wir uns nicht mehr loslassen und das wollte ich nicht riskieren. Ich berührte mit meiner linken Hand das kühle Blech des Taxis, tastete mich voran, bis ich den Griff gefunden hatte und öffnete dann die Tür.

»Wir sehen uns in zwei Wochen«, sagte ich zu Marlon.

Er nickte mit einem Lächeln, das nicht ehrlich war. In Wahrheit wusste er genauso gut wie ich, dass zwei Wochen für uns wie eine Ewigkeit sein würden. Ich sah noch einmal in dieses wunderschöne Blau seiner Augen, dann riss ich meinen Blick von ihm los und konzentrierte mich darauf, ohne zu stolpern in das Auto zu steigen. Es fiel mir schwer, nicht zurück zu sehen, als ich mich hinsetzte, die Tür zu zog und den Gurt umlegte, während ich dem Fahrer sagte, dass er losfahren konnte. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er nickte und den Motor startete, dann konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und blickte Marlon durch die Scheibe entgegen, ehe das Auto sich in Bewegung setzte und von ihm weg fuhr. Mein Kopf drehte sich mit als würde er an Marlon hängen. Erst als wir abbogen und ich ihn nicht mehr sehen konnte, seufzte ich kaum hörbar und sah betrübt hinab auf meine Hände.

Solange wir schon zusammen waren, hatten wir kaum einen Tag ohne einander verbracht. Es war schlichtweg nie nötig gewesen. Nachdem sich damals alle Unruhen gelegt hatten und alles in einen üblichen Werwolfsalltag übergegangen war, waren wir wie zwei Teile einer Maschine: nur wenn wir zusammen waren, funktionierten wir richtig. Getrennt waren wir unbrauchbar. Aus diesem Grund fühlte sich eine zweiwöchige Pause brutal an. Es war unglaublich schwer, mich von ihm fernzuhalten, nicht in seiner Nähe zu sein, nicht seine Stimme zu hören und seinen Körper neben mir zu wissen. Aber jetzt sollte das für zwei Wochen der Fall sein.

Als Clarus mir gesagt hatte, dass er mich gerne als Informantin für vier Wochen in eine Stadt namens Cloquet in Minnesota schicken würde, hatte ich erst gedacht, dass er gar nicht mich meinte. Ich hatte aus irgendeinem Grund nie angenommen, dass ich mal für so einen Job ausgewählt werden würde. Dabei hatte mir Clarus nahe gelegt, warum gerade ich für so eine Aufgabe die Richtige war: Ich sei einfühlsam, könne mich gut in andere Personen hineinversetzen, wisse alles, was man wissen musste, würde die Schule mögen und mitten im Geschehen stecken. Das war Clarus Auffassung von einer perfekten Informantin.

Für mich allein; mich kleines, schüchternes Mädchen war es eine riesige Herausforderung, von der ich noch nicht überzeugt war, dass ich ihr gewachsen war. Aber immerhin musste ich, um Cloquet zu erreichen, nicht so eine große Entfernung überbrücken, wie es damals bei Marlon und mir der Fall gewesen war. Cloquet lag knapp hinter Duluth, nur etwa achtzig Meilen entfernt von Silver Bay, wo immer noch der Hauptsitz des Werwolfclans lag, welcher stets unter Clarus‘ Führung agierte. Bei uns hatte sich in den fünf Jahren wenig geändert. Werwölfe waren gekommen, Werwölfe waren gegangen, aber eher weil es in den letzten Jahren eine große Rate an Geldverlust in unseren internen Kreisen gegeben hatte. Da hatten sich viele Werwölfe eine Arbeit suchen müssen, um ihren persönlichen Verbrauch an Essen und Wasser auf dem Zimmer ein Stückweit selbst finanzieren zu können. Ich hatte zwischendurch zusammen mit Monique gekellnert, Marlon war Aushilfstrainer in einem Kindercamp gewesen und auch der Rest, der immer noch bestehenden Truppe aus Dean, Vanessa, Mac, Leonie, Jason, Matt, Dave, Monique, Marlon, Ronia, Sabrina, Selin und mir hatte sich zwischenzeitig nach anderen Aktivitäten als den üblichen Hobbys umgesehen.

Größere Veränderungen hatten im anderen Clan stattgefunden. Da Chart und Dion beim Kampf gestorben waren, hatte ein anderer Chef hergemusst. Rosello hatte damals zwar überlebt, sein Beliebtheitsgrad war durch seine Mithilfe bei Charts und Dions Plan allerdings auf das unterste Niveau gesunken. Man brachte ihn nicht um - nein, dazu waren wir viel zu menschlich. Er lebte nach wie vor in Wheeler, dem fortwährenden Sitz des zweiten Werwolfclans, doch das eher nach minimaler Beteiligung am Gesamtleben in der großen Villa. Da also weder er noch Chart, Dion, Rosello oder gar Shila die Macht in diesem Clan hatte ergreifen können, hatte Chris damals den Strang gepackt und war aufgestiegen. Ich konnte mich noch genau an das Gesicht von Marlon erinnern, als Chris ihm am Telefon glücklich und mit einer Spur Stolz das Ergebnis der Wahl verkündet hatte, die die Wheeler-Werwölfe aufgrund des Leiterproblems veranstaltet hatten. Dadurch, dass Chris mehrere Wochen hier in Silver Bay gelebt und das System der hier bestehenden Gesellschaft mitbekommen hatte, war es für ihn ein Leichtes gewesen, die Werwölfe in Wheeler an ein solches zu gewöhnen. Er hatte nun alle Finanzen im Auge, kümmerte sich um alles, was getan werden musste, und überblickte jeden Vorgang dort drüben im Westen von Wisconsin. Ich hatte schon immer gewusst, dass er für so etwas geeignet war.

Das Verhältnis zwischen beiden Clans war nicht mehr so angespannt. Eigentlich herrschten überhaupt keine Spannungen mehr, was natürlich auch von Chris‘ Herrschen herrührte. Aber auch dadurch, dass den Wheeler-Werwölfen die Art und Weise gefiel, wie der andere Teil der existierenden Werwölfe – sprich, wir aus Silver Bay – mit ihnen nach dem Kampf umgegangen waren, hatten sich die Verhältnisse deutlich verbessert. Es hatte sie beeindruckt, mit welcher Freundlichkeit und Hingabe man sich hier um sie gekümmert hatte, obwohl sie zur feindlichen Seite gehört hatten. Nun gab es genaugenommen nur noch eine Seite, denn Clarus und Chris korrespondierten unheimlich viel untereinander.

 

Jetzt saß ich hier im Auto, auf dem Weg zu meinem Informantenkind. Die Zeremonie, die vor einem Monat stattgefunden hatte und den beiwohnenden Werwölfen auf zwei oder drei Tage genau den Verwandlungszeitpunkt eines Menschen bestimmen konnte, hatte ergeben, dass sich mein Informantenkind Amanda schon in vier Wochen verwandeln würde. Daher war ich etwas spät dran, weswegen ich mich, wenn ich sie erst einmal kennengelernt hatte, damit beeilen musste, sie aufzuklären. Marlon war damals fünf Wochen vor meiner vorausgesagten Verwandlung in Arcata aufgetaucht und hatte eine Woche lang gebraucht, um mich überhaupt so weit zu haben, dass er mir alles von Werwölfen hatte erzählen können. Falls ich wie er ebenfalls noch etwas Zeit brauchen würde, um den richtigen Zeitpunkt zum Informieren zu finden, konnte sich der erste Besuch in Silver Bay um mehrere Tage oder sogar eine Woche verschieben. Schon aus eigenem Interesse wollte ich den besagten Tag deshalb schnell hinter mich bringen. Für Amanda würde es wohl einfacher sein, wenn sie genug Zeit hatte, sich auf den rasanten Lebenswechsel vorzubereiten. Ich hatte mir damals jedenfalls oft gewünscht, mehr Zeit zu haben.

Amanda Marvel war frische siebzehn Jahre alt, ging noch zur Schule und wohnte als Einzelkind bei ihren Eltern. Ansonsten wusste ich nichts über sie. Das Einzige, das mir noch helfen sollte, sie zu finden, war ein Foto. Ich griff kurz unter den Reißverschluss, der seitlich an meiner Handtasche ein kleines Fach absperrte, und zog es heraus. Das Mädchen darauf lächelte mir freundlich entgegen. Sie hatte voluminöses, dunkelbraunes Haar, das einen Stich ins Lila machte und ihr in einem kessen Bobschnitt fast bis zu den Schultern reichte. Ihr Pony hing ihr beinahe in die Augen hinein und ließ sie dadurch lässig aussehen. Sie schien eine recht zierliche Person zu sein, nicht besonders groß, aber auch nicht zu klein. Die dunkelbraunen Augen passten zu den Haaren. Sie schienen fast den gleichen Ton zu haben, was irgendwie sonderbar wirkte.

Ich steckte das Foto zurück in die Tasche. So oft wie ich es mir schon angesehen hatte, war ich fast sicher, dass ich es gar nicht brauchen würde, um zu überprüfen, dass ich die Richtige ansprach, wenn es soweit war. Meine Finger ertasteten etwas anderes. Es war die Liste der Dinge, die ich beachten musste. In meinem Kopf fand eine Rückblende statt:

 

Marlon zog mir den Zettel aus der Hand, welchen mir Clarus gerade gereicht hatte. Er war schon wieder zurück gegangen und nun saßen wir nur noch mit Dean, Leonie, Mac, Vanessa und Matt an unserem Stammtisch im Speisesaal.

»›Informant – eine verantwortungsvolle Aufgabe'«, las Marlon laut vor. Er runzelte die Stirn und sah an dem Zettel hinab. »Das ist ’nen Informationsblatt über alles, was man beim Informieren beachten muss. Ich hab’ sowas nicht bekommen.«

»Sowas hat’s bei Chart auch nicht gegeben«, warf Dean gelassen ein. Die Sache mit Chart war kein Tabu-Thema. Stattdessen redeten wir noch oft darüber, denn sie hatten die ersten Jahre ihres Werwolfslebens in Wheeler nie vergessen. Wie könnten sie das auch?

Marlon las vor: »›Die zu vermittelnden Informationen werden so schonend und rücksichtsvoll wie nur möglich an den werdenden Werwolf weitergegeben, damit man ihm einen einfachen Einstieg in das Leben als Werwolf ermöglicht‹.« Seine Augen flitzten kurz zu mir und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. »Hab’ ich gemacht«, meinte er, wobei sich das Lächeln zu einem Grinsen verzog.

Ich erwiderte es nur. Ganz so schonend war es nicht gewesen, als er mir erzählt hatte, was er war und was ich werden würde. Ich hatte ihn in diesem Moment gehasst, genauso wie all das, was er gesagt hatte. Doch im Endeffekt hatte er gute Arbeit geleistet.

»›Ein kurzer Besuch in der Mitte der Informationszeit in Silver Bay wird durchgeführt‹«, las er weiter und nickte, als würde er im Kopf abhaken, was er alles eingehalten hatte. »Hab’ ich auch gemacht.« Ich bekam mein Lächeln nicht aus dem Gesicht, denn ich war mir sicher, dass jetzt noch mindestens eine Sache kommen würde, die bei uns nicht so geklappt hatte, wie es die Musterlösung dieser verantwortungsvollen Aufgabe vorsah.

»›Kontakt zum persönlichen Umfeld des Informanten ist nur indirekt, also per Telefon, erlaubt, da er zu Ablenkung führt‹.«Er verzog den Mund und dachte an seine Informantenzeit bei mir zurück. »War ’ne Ausnahmesituation«, sagte er dann. Mac lachte.

»Bei euch war alles ’ne Ausnahmesituation«, warf Matt rein, der ihm grinsend zuhörte.

Marlon grinste und las weiter: »›Sexuelle Be-‹«, er brach ab, weil er erst leise lesen musste, was dort stand.

Mac lachte. »Sexuelle was?«, fragte er. Ich grinste und sah Marlon gespannt an.

Dieser lachte und fuhr fort: »›Sexuelle Beziehungen zwischen Informant und werdendem Werwolf, sowie zwischen Informant und anderen Personen aus dem Umfeld des werdenden Werwolfs können die Einstellung des werdenden Werwolfs in Bezug auf das Werwolfsleben verändern und sind daher untersagt‹.« Sein Blick hob sich vom Blatt und traf darüber hinweg meinen. Das Grinsen auf seinen Lippen schien frech und ausgelassen zu sein. Die Anderen lachten. Die Absurdität dieser Regel hatte Clarus offenbar bis heute noch nicht begriffen. Aber es war eben eine Tatsache, dass das bei mir und Marlon kein Stückchen geklappt hatte.

 »Na ja, okay … bei dem Punkt war ich nicht ganz so erfolgreich«, gab er zu.

»Ein bisschen dran vorbei geschrappt«, fügte Nessa ironisch zu seinen Worten hinzu.

Ich lachte leise. Wahrscheinlich war ich nicht das beste Beispiel, dass dieser Punkt überflüssig war, aber ich war definitiv eines. Denn meine Einstellung zum Wolfsleben hatte sich damals durch die Beziehung mit Marlon kaum geändert.

Marlon senkte seine Augen wieder auf das Blatt und las den nächsten Punkt vor: »›Der Informant sucht jeden möglichen Kontakt zum werdenden Werwolf, um diesen gut kennenzulernen und ihm somit jede mögliche Hilfestellung leisten zu können‹.«

Leonie lehnte sich vor und strich sich die welligen, blonden Haare zurück. »Ist das nicht irgendwie widersprüchlich zu dem Punkt davor?«, fragte sie und grinste.

»Jeden möglichen Kontakt«, zitierte Mac zustimmend.

Ich lachte nur. »Man muss es ja nicht so wörtlich nehmen«, warf ich ein.

»›Jede Frage bezüglich des Werwolflebens, der Werwolfsgeschichte und allgemeine Fragen über das Werwolfsein wird/werden beantwortet‹«, er las direkt weiter, weil sich diese Sache von allein erklärte und er das ebenfalls getan hatte: »›Diskretion in allen Kreisen‹.«

»Das ist klar«, meinte Dean.

»Da hast du was vor«, sagte Vanessa zu mir.

Ich atmete nur schwer ein und nickte.

 

Und jetzt saß ich hier, las all diese Punkte nochmal und hatte keine Zweifel daran, dass ich alle Punkte umsetzen würde. So schwer war das nicht. Nicht, wenn nicht gerade so eine Ausnahmesituation herrschte, wie es bei mir der Fall gewesen war. Es hatte schließlich keiner ahnen können, dass ich eine besondere Fähigkeit hatte, die Chart an seinen geheimen Plänen hinderte und diese damit offenlegte. Und ich hatte nicht geahnt, dass so ein liebenswürdiger, einfühlsamer Informant für mich kommen würde, der ganz nebenbei noch aussah wie ein Supermodel. Und jetzt – jetzt war das eh alles egal, weil ich mittlerweile in Silver Bay lebte, Chart tot war und sich rein gar nichts mehr zwischen Marlon und mich stellte. Auch nicht dieser Zettel, den ich hier in meiner Hand hielt.

 

Es war gerade sieben Uhr abends, als wir in Cloquet vor einem höheren Mehrfamilienhaus hielten. Ich sah gebannt aus dem Fenster und ließ meinen Blick über die Fassade des weißen Hauses streifen. Die Sonne war bereits seit einigen Minuten untergegangen.

»Wir sind da«, teilte der Taxifahrer mit und nannte mir gleich danach den Betrag für seine Dienste, den ich ihm aushändigte.

»Dankschön«, sagte ich, stieg gleichzeitig mit ihm aus und ließ mir mein Gepäck übergeben, das er aus dem Kofferraum nahm.

Dann stand ich vor dem großen Gebäude mit einem Schlüssel in der Hand, den mir Clarus schon vor einigen Tagen ausgehändigt hatte. Die Wohnung im dritten Stock war für mehrere Wochen gemietet, sodass es für diesen Zeitraum mein Zuhause sein würde und ich nicht, wie Marlon früher, irgendwo im Wald in einer Höhle wohnen musste. Bis heute wusste ich nicht, ob es daran gelegen hatte, dass Chart schlichtweg keine Notwendigkeit darin gesehen hatte, Marlon in einem vernünftigen Zuhause unterzubringen, oder ob es sich als zu schwierig erwiesen hatte, für so kurze Zeit eine Wohnung zu finden.

Das Haus stand mir triste gegenüber. Es schien nicht sehr gepflegt zu sein, ging aber auch nicht in Schutt und Dreck unter. Der kurze gepflasterte Weg, der die paar Meter vom Bürgersteig bis zur breiten Tür überbrückte, war umgeben von verstorben Pflanzen, die den Winter nicht überlebt hatten. Mit dem mulmigen Gefühl, etwas Neues zu betreten, schritt ich über den Weg hin zur Haustür und trat in das Innere des Gebäudes. Das Licht im Flur schaltete sich durch die Bewegung an und begleitete mich, als ich einige Schritte zum Aufzug ging, der mir genau gegenüber stand. Ich glaubte, es war eher ein Haus für ältere Menschen, die nicht mehr so gut Treppen laufen konnten, doch ich wollte meinen großen Koffer nicht bis in den dritten Stock schleppen, deswegen bediente ich mich an der Einfachheit des Aufzugs und ließ mich von ihm direkt vor meine Wohnungstür transportieren. In der dritten Etage hatten noch drei andere Mieter ihre Wohnungen, was ich an den weiteren Türen im Treppenhaus erkannte, vor denen jeweils eine kleine Fußmatte lag. Ich sah zur linken Seite und entdeckte ein kleines Schild daran, auf dem ›Vermietet‹ stand. Ich steckte den zweiten Schlüssel, den ich bekommen hatte, ins Schloss und trat in mein vorübergehendes Zuhause ein.

Ich stellte meinen Koffer in dem schmalen Flur ab, zog Schuhe und Jacke aus und räumte sie an die Seite. Dann öffnete ich die Tür, die dem Eingang der Wohnung gegenüber lag. Sie führte mich in eine Küche mit künstlichem Laminatboden, einem Esstisch, der vor dem Fenster mit Aussicht auf die in Straßenlaternenlicht getauchte Straße stand, und einem voll ausgestatteten Koch- und Arbeitsfeld. Alles war in recht schlichten, cremefarbenen Tönen gehalten. Nicht sehr modern und nicht so richtig mein Geschmack, aber ich war froh, dass die Wohnung noch voller Mobiliar vom Vormieter war, denn ich hatte keine Lust, mir noch extra welches anschaffen zu müssen.

Meine Finger strichen über das dunkle Holz beim Waschbecken, als ich an der Kochfläche vorbei zum Ende des Küchenmobiliars ging und einen kurzen Blick durch die offene Tür in ein dunkles Wohnzimmer dahinter warf, dem ich mich später noch widmen würde. Dann öffnete ich ein paar Schränke, die über dem Kochfeld, dem Waschbecken und einer Ablagefläche an der Wand hingen, und begutachtete kurz die Teller, Tassen, Gläser und Töpfe, die sich darin befanden. Als ich in den Kühlschrank sah, bemerkte ich enttäuscht, dass er rein gar nichts enthielt und ausgeschaltet war. Das hieß wohl, dass ich heute Abend und morgen früh nichts zu essen haben würde.

Mit einem Seufzen drückte ich den Knopf, der den Kühlschrank aktivierte und ging dann aus der Küche raus in das nebenliegende Wohnzimmer. Meine Hand drückte kurz auf den Lichtschalter und blieb dort liegen, als ich alles sah. Ein großes, altmodisch aussehendes Sofa stand mir gegenüber an der längeren Seite, links und rechts daneben zwei dazu passende Sessel und ein massiver Tisch, der aus schwerem Holz bestand. Mit einem Lächeln begutachtete ich dann die große Fensterfront auf der rechten Seite, die Ausblick auf den Balkon und dahinter auf die Straße gab. Eine Glastür führte hinaus. Doch ich interessierte mich weniger dafür, sondern schritt durch den Raum und öffnete die Tür, die nicht zurück in den Eingangsflur führte, sondern in einen anderen kleinen Raum, von dem aus das Bad und das Schlafzimmer abgingen. Einen Moment begutachtete ich alles, bevor ich mich daran machte, mein Gepäck auszupacken, alles zu verstauen und zu sortieren.

Erst danach kramte ich mein Handy raus und informierte Marlon über meine gute Anreise. Anschließend begab ich mich mit einem Seufzen aus der Wohnung, um mir in irgendeinem Schnellimbiss etwas zu Essen zu kaufen. Ich fühlte mich allein und verlassen, als ich die Wohnung verließ, und hatte Angst vor den nächsten Tagen, die in dieser Hinsicht bestimmt keine Abwechslung bieten würden.

Erstes Treffen

Kimberly

 

Am nächsten Morgen hatte ich noch immer nichts zu Essen im Kühlschrank. Meine Vorliebe für Toast mit Marmelade zum Frühstück war auch nach fünfeinhalb Jahren nicht vergangen. Marlons Theorie dazu war, dass ich unbedingt an einigen Dingen aus meinem alten Leben festhalten wollte. Wahrscheinlich hatte er recht. An diesem Morgen hatte ich kein Toast und auch keine Marmelade, deswegen musste ich mit hungerndem Magen das Haus verlassen.

Obwohl ich immer noch etwas deprimiert und traurig aufstand, wurde ich doch bald munter. Es war viel früher, als ich sonst so aufstand, da wir in Silver Bay so lange schlafen konnten, wie wir wollten. Aber gerade diese verhältnisweise frühe Stunde erinnerte mich so stark an mein früheres Schulleben, dass ich bald richtig Lust hatte, loszugehen und einfach in der Schule zu sitzen, nur damit ich noch mal das Gefühl spüren konnte, wie es war, sich zu wünschen, dass bald Ende war. Wie es war, sich zu fragen, was der Lehrer einem mit seinen Worten sagen wollte. Wie es war, einen halben Tag irgendwie unfreiwillig und doch freiwillig mit Freunden zu verbringen, weil alles an die Schule und somit an Pflichten gebunden war. Pflichten – etwas, das ich so lange nicht mehr richtig hatte einhalten müssen. Es war ein tolles Gefühl, es jetzt wieder zu müssen.

Der Bus, der mich zur Schule bringen musste, hielt nur ein paar Meter von meinem Haus entfernt. Meine ganze Vorfreude schwankte etwas, als ich in das große gelbe Gefährt einstieg und mir tausende fremde Augen entgegensahen, die mich neugierig musterten. Ich fragte mich, ob es hier wohl oft vorkam, dass jemand Neues in ihre bestehende Gemeinde kam oder eher nicht, weshalb Neue auf ihrer Schule genauso auseinandergenommen wurden wie damals auf meiner.

Es gab kaum noch freie Plätze. Mit einem schnellen Blick über alle Schüler erkannte ich sofort, dass mein Informantenkind nicht dabei war. Vielleicht wohnte sie etwas weiter weg von hier oder sie lebte so nah an der Schule, dass sie nicht mit dem Bus fahren musste.

Der erstbeste freie Platz war neben einem mürrisch aussehendem Mädchen, das ihre Schultasche auf dem zweiten Sitz liegen hatte und durch die Kopfhörer im Ohr und den Blick aus dem Fenster unansprechbar schien. Ich tat es trotzdem und fragte, ob ich mich setzen könne.

Sie sah mich mürrisch, skeptisch und irgendwie forschend an, ehe sie unbeeindruckt und ohne ein Wort ihre Tasche vom Sitz zog, damit ich mich setzen konnte. Ich verzichtete auf ein Dankeschön, als ich mich neben ihr niederließ. Waren hier wohl alle Leute so unfreundlich oder lag das nur daran, dass heute Montag war?

Die Busfahrt dauerte fast eine halbe Stunde. Zwar kannte ich mich hier nicht aus, aber ich glaubte, das Gefährt machte tausend komplizierte Umwege, um möglichst alle Schüler mitzunehmen, welche dann aber keinen Platz mehr bekamen und stehen mussten. Als ich vor der Schule ausstieg war ich erst mal ganz verwirrt. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich hinmusste, wo es überhaupt in die Schule reinging und auch alles andere war mir unbekannt.

Mit dem Stunden- und Raumplan in der Hand folgte ich erst mal der Schülermenge aus dem Bus, die auf das Gebäude zusteuerte und befand mich dann auch relativ schnell in der Schule, welche nicht sehr modern zu sein schien. Jedenfalls sah sie äußerlich ziemlich heruntergekommen aus und ich konnte nicht sehr viele Stellen entdecken, an denen man etwas daran geändert hatte.

»Hey«, ertönte eine männliche Stimme neben mir.

Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines braunhaarigen Jungen mit ebenso braunen Augen und leichten Sommersprossen auf der Nase, die aber keineswegs dazu führten, dass er kindlich wirkte. Sie fielen kaum auf. Er war etwas größer als ich und sah mir mit einem freundlichen Lächeln entgegen.

»Hey«, erwiderte ich mit einem fragenden Unterton, weil mir nicht klar war, was er von mir wollte und warum er mich ansprach.

»Du bist neu hier, he?«, fragte er und deutete auf die Blätter in meiner Hand, die mir helfen sollten, mich zu orientieren.

Ich nickte. »Ich hab’ ein bisschen die Übersicht verloren«, sagte ich wahrheitsgemäß und lachte dabei etwas peinlich berührt, weil man anscheinend schon von Weitem sah, dass ich Probleme hatte, mich zu recht zu finden.

»Passiert jedem«, erwiderte er schulterzuckend. »Wenn du willst, kann ich d-«, den Rest des Satzes verstand ich nicht, weil in dem Moment die Schulglocke klingelte. Erst das letzte Wort »musst« vernahmen meine Ohren wieder klar.

»Ähm … ja, das wäre nett«, erwiderte ich trotzdem und hoffte einfach mal, dass er mir angeboten hatte, mir den Weg zu zeigen. Ich wollte nicht schon gleich in der ersten Stunde zu spät kommen.

Er legte einen Finger auf den oberen Zettel, der den Stundenplan mit den Raumnummern enthielt und sah sich mein erstes Fach an. »Komm mit«, sagte er dann. Seine Hand deutete mir an, ihm zu folgen, als er eine bestimmte Richtung einschlug.

Es stockte in dem Strom von Schülern, die alle zusammen den großen Eingangsraum zu verlassen schienen. Ich hatte Mühe, dem Jungen zu folgen, der sich an einigen Gruppen vorbeischob, weil sie ihm zu langsam gingen. Seinen Schulrucksack hatte er dabei lässig über einen Arm gehängt. 

Erst als der Gang insgesamt etwas breiter wurde, zweigten die ersten Türen ab. Der Junge hielt vor der ersten auf der linken Seite, wobei er nicht ganz dorthin durchkam, da sie von anderen Schülern blockiert wurde, die darauf warteten, dass der Lehrer kam und sie rein ließ.

»Bitteschön. Mathe«, sagte er triumphierend und lächelte mich an.

Ich überblickte kurz die Gesichter der anderen Schüler, die nun wohl auch dieses Fach haben würden und stellte fest, dass Amanda noch nicht dabei war, ehe ich den Jungen ansah und mit einem freundlichen Lächeln ›Danke‹ sagte.

»Kein Problem«, erwiderte er, zögerte aber, als er gehen wollte. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte er dann und die Art, mit der er mich ansah, machte mir klar, dass er bei der Frage einen Hintergedanken hatte, der wahrscheinlich auch den Rest seiner freundlichen Taten erklärte.

»Kimberly«, erwiderte ich. »Und du?«

»Kevin.«

»Danke, Kevin«, sagte ich jetzt noch mal.

Er lächelte nur und entfernte sich schließlich, als es erneut klingelte. Ich sah ihm stirnrunzelnd nach und fragte mich, wo ich noch hinkommen würde, wenn jedes männliche Wesen so mit mir umgehen würde.

»Wow, er hat ein neues Opfer gefunden«, hörte ich jemanden irgendwo hinter mir sagen. Ich drehte mich um. Das Mädchen hatte nicht mit mir gesprochen, sondern mit ihrer Freundin und sie war kein anderes als mein Informantenkind Amanda, was ich sofort erkannte, ohne nochmal auf das Foto sehen zu müssen. Ihr dunkler Pony fiel ihr wie auf dem Bild fast in die Augen und ihre Kleidung passte gut zu der kessen Frisur, die auch irgendwie ihren Tonfall widerspiegelte, denn sie klang sarkastisch.

»Ein neues Opfer?«, fragte ich. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, bevor es aus meinem Mund gekommen war. Erst als mich die beiden überrascht ansahen, begriff ich, dass ich diese Worte gar nicht hätte hören sollen und sie nicht erwartet hatten, dass ich sie verstehen würde.

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass ich gesprochen hatte. Immerhin hatte ich gerade die ersten Worte zu Amanda gesagt und so Kontakt aufgebaut, auch wenn es nicht der beste Anfang war, den man machen konnte.

Amandas dunkelbraune Augen funkelten mich an, als sie antwortete: »Kevin. Er sucht sich Mädchen, mit denen er für kurze Zeit was anfängt, dann lässt er sie wieder fallen und nimmt die Nächste.«

Ich lächelte matt. »Wie gut, dass ich nur drei Wochen hier bin. Etwas wenig Zeit, um was mit mir anzufangen«, erwiderte ich gelassen.

»Was machst du denn hier?«, fragte das Mädchen neben Amanda neugierig. Sie hatte rötliche Haare, die ziemlich dünn zu sein schienen. Ihre grünblauen Augen musterten mich.

»Zur Schule gehen«, erwiderte ich mit zuckenden Schultern. »Ich konnte meine Mutter nicht dazu überreden, mich für drei Wochen aus der Schule zu nehmen.«

»Wieso?«, fragte jetzt Amanda.

Ich unterdrückte ein siegessicheres Lächeln, weil ich sie neugierig gemacht hatte und mit ihr ins Gespräch gekommen war. Eine Spur aus Stolz zog sich für einen kurzen Moment durch meinen Kopf, ehe ich mich darauf konzentrierte, meine ausgedachte Geschichte glaubhaft rüberzubringen. »Meine Mom wurde für ein paar Wochen hierher versetzt und ich musste mit.«

»Ach so«, sagte Amanda. »Wo kommst du denn eigentlich her?«

»Phoenix«, erwiderte ich. Es war nicht meine Heimatstadt, aber Marlons und irgendwie fühlte ich mich gleich mit ihm verbunden, als ich das sagte.

In diesem Moment kam eine große Frau, die ganz sicher die Lehrerin war. Sie quetschte sich an uns und den vielen Taschen vorbei, die auf dem Boden lagen, weil alle zu faul waren, sie zu tragen. Ich folgte Amanda und ihrer Freundin, die der Lehrerin hinterher gingen. Drinnen erstreckte sich ein recht großer Klassenraum mit Zweiertischen vor mir. Während ich mich noch umsah, ging ich zur Lehrerin. »Ähm …«, begann ich, um sie auf mich aufmerksam zu machen. »Vielleicht hat man Ihnen das schon gesagt … ich gehe jetzt hier für drei Wochen zur Schule.« Es klang insgesamt eher wie eine Frage.

»Eh … nein«, erwiderte sie, lächelte und schüttelte den Kopf. »Aber ist okay. Willst du dich kurz vorstellen?«

Ich presste kurz die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie verstand sofort, dass mir das peinlich war und lächelte weiterhin. Das hinterließ bei mir gleich einen sympathischen Eindruck.

»Und ich bräuchte auch ein Buch«, sagte ich noch, ehe sie sich neben mich vor das Pult stellte, das etwas schräg zur Tafel dastand.

»Ich werde es dir rein reichen lassen«, sagte sie zu mir. Auch wenn ich nicht verstand, was sie damit meinte, nickte ich nur. »Guten Morgen«, begrüßte sie erst die Schüler, die mit mürrisch klingenden Worten antworteten. Das lag wahrscheinlich daran, dass es Montagmorgen war, denn, dass sie diese Lehrerin nicht mochten, konnte ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls noch nicht.

Ich stand da und wusste nicht so ganz, was ich machen sollte. Es schien, als hätten mich jetzt auch alle anderen Mitglieder dieser Klasse bemerkt und sie musterten mich natürlich. Leicht verlegen sah ich auf den Boden. Ich hatte es schon vor Jahren unangenehm gefunden, vor meiner eigenen Klasse und vor meinen Freunden zu stehen, wenn ich in der Schule mal nach vorne gemusst hatte, um etwas zu sagen oder was auch immer. Doch jetzt, nach fünf Jahren ohne Übung und vor fremden Menschen war es noch schrecklicher. Ich hatte nie gedacht, dass ich mal in eine andere Schule kommen könnte, als meine. Wir waren früher schließlich nie umgezogen.

»Wir haben ab heute eine neue Schülerin …«, die Lehrerin sah mich an.

Ich verstand, was sie fragen wollte. »Kimberly«, murmelte ich.

»Kimberly«, fuhr sie fort, »wird für drei Wochen unseren Unterricht mit beiwohnen.«

Sie lächelte mich an und deutete dann auf einen komplett freien Tisch in der dritten Reihe. Angeschlossen an diesen Tisch war ein weiter, an dem erst Amandas Freundin und dann sie selbst saß. Ich ging durch die Mitte, in der ein Gang freigelassen war, und ließ mich auf den Platz neben der Freundin nieder. Sie lächelte mir zu.

»Kimberly also«, sagte sie leise, weil die Lehrerin jetzt schon über die Hausaufgabe redete, die sie aufgehabt hatten.

Ich nickte. »Und wie heißt ihr?«

»Madalyn«, erwiderte die Erste.

»Amy«, sagte Amanda.

Amy. Okay, das musste ich mir merken. Nicht, dass ich sie ausversehen einmal Amanda nannte und sie sich wunderte, warum ich ihren vollen Namen kannte.  Ich lächelte und holte dann einen Collegeblock und meine Stiftmappe aus meiner Tasche, damit ich mich etwas am Unterricht beteiligen konnte.

In den letzten fünfeinhalb Jahren hatte ich die Schule ziemlich vermisst. Am Anfang viel mehr als später, weil ich mich da noch an dieses unbekümmerte, sorgenfreie Leben hatte gewöhnen müssen, doch jetzt fiel mir deutlich auf, dass ich insgeheim immer irgendeine Pflicht gesucht hatte, der ich hätte nachkommen müssen. Irgendwas, das für mich Routine darstellte und trotzdem irgendwie interessant war und Spaß machte. Kein Hobby. Schule.

Als es zum Ende der Stunde klingelte, hatte ich wieder keine Ahnung, wo ich hinmusste. Ich fragte Amy und Madalyn, ob sie mir erklären konnten, wie ich zum Raum für meine Politikstunde kommen konnte. Da sagte Amy, dass sie auch dahin müsse.

Ich sah sie überrascht an und lächelte. »Kannst du mich dann mitnehmen?«, fragte ich. Mir war klar, dass Clarus mir extra die Kurse gegeben hatte, die Amanda besuchte.  Politik war nämlich gar nicht meins.

»Klar, komm«, sagte sie. Ihr Pony fiel ihr ins Gesicht, als sie sich umdrehte. Sie strich ihn mit einer Hand zurück, während sie mit mir den Gang entlang lief.

Der Raum war nicht weit weg, von dem anderen. Wieder warteten davor viele Schüler. Ich blieb neben Amy stehen, als sie anhielt und ihre Tasche vor sich auf den Boden gleiten ließ, um sie nicht halten zu müssen. Mein Blick glitt auf den Stundenplan in meiner Hand, während mein Kopf nach etwas suchte, über das ich mit ihr reden konnte.

»Ich hab’ mir die AGs angeguckt, die man hier nach dem Unterricht besuchen kann«, begann ich dann. »Hast du ’ne Ahnung, was man in dem Selbstverteidigungskurs macht?« Ich wusste ganz genau, dass sie ihn besuchte. Außerdem war sie im Theaterkurs, der schon heute war. Ich war nicht gut im Schauspielern, was wahrscheinlich auch Clarus wusste, deswegen hätte er mich niemals hineingesteckt, wenn nicht Amanda dort sein würde.

Sie sah mich an. »Klar, ich bin auch da. Es geht einfach darum, sich ein bisschen mehr selbst verteidigen zu können, wenn man dumm angemacht wird. Ist ganz hilfreich, find ich. Geht aber nicht so lange. Nur noch ein paar Wochen.«

»Echt?«, fragte ich, darauf bezogen, dass sie ihn auch besuchte. »Ich dachte mir, ich könnte vielleicht daran teilnehmen, weil mich dieses Thema generell interessiert.«

»Komm doch am Mittwoch einfach mit. Ich kann dich mit hinnehmen«, sagte sie.

Ein freundliches, breites Lächeln entstand auf meinen Lippen. Insgeheim wunderte ich mich darüber, warum ich so gut rüberkam. So, als würde ich das alles nicht vorher genau durchdacht haben, bevor ich redete. Ich konnte nicht schauspielern und war grottenschlecht im Lügen, weil ich es generell nicht gerne tat, aber diese ganzen Worte kamen mir so leicht über die Lippen, dass es sich schon fast falsch anfühlte.

»Ja, klar. Ich hab’ hier eh nicht viel mehr zu tun … außer, na ja, ich wollte eigentlich unbedingt auch in den Theaterkurs. Weißt du, wann der ist?«

Sie lachte laut auf. »Sag mal, stalkst du mich oder so? Da bin ich auch.«

Ich stimmte in ihr Lachen ein, jedoch fühlte ich mich plötzlich steif. »Ich mache so was gerne. Ich überlege, ob ich mich irgendwo als Schauspielerin bewerben soll. Später mal. Aber das ist noch nicht sicher«, log ich. 

»Cool«, erwiderte sie und schien überrascht zu sein. »Also, der ist heute und immer donnerstags. Schaffst du das heute schon?«

Ich verzog das Gesicht und tat, als würde ich überlegen. »Eigentlich schon. Wenn wir nicht noch viel mehr Hausaufgaben aufbekommen.«

Ich musterte ihre braunen Augen, während sie antwortete und fragte mich, wo ich ihre Art von Mädchen einordnen konnte. Sie schien so taff zu sein, so schlagfertig. Sie sagte immer ihre Meinung. So schien es mir. Aber da war trotzdem immer eine Spur Freundlichkeit. Vielleicht nur, weil sie mich nicht sehr gut kannte.

»Die kannst du in der großen Mittagspause machen. Und danach gibt’s nur noch zwei Stunden, bevor sich der Theaterkurs trifft«, erwiderte sie.

»Gut, das ist praktisch«, antwortete ich. Mein Blick glitt wieder hinab auf den Stundenplan, doch lange musste ich nicht nach etwas suchen, über das ich weiter sprechen konnte, denn auch hier erschien der Lehrer und schloss die Klassentür auf.

Wir wurden hineingelassen und das Spiel begann von vorne. In diesem Unterricht saß ich neben einem großen, schlaksigen Jungen, der mich komisch durch seine großen Brillengläser musterte, dass ich fast Angst vor ihm bekam. Er fixierte mich. Jedenfalls hatte ich das Gefühl. Vielleicht lag es aber auch daran, dass er stank und mir insgesamt ekelig erschien. Ich setzte mich so weit nach außen, wie es nur ging, doch es brachte nichts, denn durch die Werwolfsnase roch ich ihn noch genauso stark wie vorher. In dieser Stunde machte mir das Ganze schon gar nicht mehr so viel Spaß. Politik war eben nicht mein Spezialgebiet, schon gar nicht, wo ich mich ganze fünf Jahre nicht mehr damit beschäftigt hatte.

Nach dieser Stunde gab es eine Zwanzigminutenpause. Und dort wurde ich ins eiskalte Wasser geworfen. Zwar nahm mich Amy freiwillig mit, aber das hieß nicht, dass ich mich nicht schon wieder vorstellen musste. Und diesmal war es nicht vor einem Haufen sitzender, stiller Schüler, sondern vor mir viel zu kritisch und selbstbewusst erscheinenden Schülern, die Amys Freunde darstellten.

Die Clique bestand aus sechs großen, sogar recht gutaussehenden Jungs, die mich bis auf die Knochen zu mustern und zu untersuchen schienen, und aus fünf hübschen Mädchen, welche mir teils freundlich und teils eher mit einem etwas grimmigen Gesichtsausdruck begegneten, als sie sahen wie mir die Jungs entgegenblickten. Ich war mir nicht ganz sicher, was hier für Beziehungen untereinander herrschten. Bei einigen hatte ich das Gefühl, dass es rein freundschaftlich war, andere wiederrum schienen eher auf mehr aus zu sein und strahlten auch Dementsprechendes nach außen aus. Okay, da waren nur zwei Mädchen, die so wirkten: die große Dunkelhaarige, mit den perfekt geformten Lippen, dem schlanken Körper und der teuer aussehenden Kleidung. Amanda stellte sie mir als Kelly vor. Ihre Freundin, Michelle, war kleiner, sah aber genauso perfekt aus. Ihre mittelblonden Haare schienen nicht gefärbt zu sein, so wie es bei Kelly der Fall war.

Zwei der beiden Jungs sahen sich ziemlich ähnlich. Rishi und Andrew. Sie hatten beide helle Haare, welche zudem noch ähnlich geschnitten waren. Dann waren da noch Robert, David und Daniel. Sie waren alle dunkelhaarig, hatten nicht sehr lange Haare. Der Einzige von ihnen, der noch am ehesten meinen Geschmack traf, war David. Die Anderen waren nicht hässlich, aber eben nicht das, was mir gefiel. Außerdem hatte ich Marlon, den eh kein Junge toppen konnte.

Die drei restlichen Mädchen waren Madalyn, Sheela - eine recht kleine Person, die irgendwie etwas schüchtern aber gleichzeitig verrückt und lebensfroh schien - und Tamara. Letztere war ein mittelgroßes Mädchen mit fast so blonden Haaren wie ich sie hatte. Jedoch waren ihre nicht so lang, wie meine es mittlerweile waren, und sie hatte leichte Locken darin, während meine ganz glatt an mir herunter fielen. Sie waren mit den Jahren so lang geworden, dass sie erst in der Nähe meines Bauchnabels endeten. Ich hatte sie in den fünf Jahren selten geschnitten, weil erstens ich und zweitens Marlon lange Haare schöner fand. Sie gingen nie kaputt, da die Werwolfsgene alles regenerierten, das Schaden nahm.

Hinterher stieß Kevin, der mich zum ersten Raum geführt hatte, hinzu und mir wurde klar, dass die Clique mit diesen acht Personen, inklusive Amy, möglicherweise noch nicht komplett war. Ich fühlte mich etwas verlassen unter den vielen Fragen, die sie mir stellten. Eigentlich waren alle darüber, was ich denn hier machen würde, wie es in Phoenix war und ob ich zwischendurch mal etwas mit ihnen machen wollte. Ich beantwortete letzteres mit ›Ja, mal sehen‹. Meine Hoffnung dabei war, dass ich so viel Zeit wie möglich mit Amy verbringen konnte, so wie es auf meinem Informationsblatt über die Informatie eines werdenden Werwolfs stand.

Am Ende der Pause nahmen mich Amy und Rishi mit, da sie beide Wissenschaft hatten, was auch auf meinem Stundenplan stand. Amy bemerkte lachend, dass sich alle meine Stunden mit ihren deckten, als wir gerade in den Raum rein gelassen wurden und sie auf meinen Stundenplan schauen konnte. Ich stimmte nur in ihr Lachen ein. Wenn es Zufall wäre, hätte ich wirklich darüber lachen können. Jetzt tat ich es nur, weil es komisch gewirkt hätte, es nicht zu tun.

Wieder stellte mich der Lehrer vor, weil es immer wieder Schüler gab, die mich noch nicht kannten, gab mir das Buch und schickte mich auf einen Platz. Diesmal neben Rishi, den ich wenigstens schon ein bisschen kannte. Außerdem stank er nicht so abartig, wie der Junge aus dem Politikunterricht.

Ich fühlte mich fast in einen neuen Freundeskreis aufgenommen, als ich auch die restlichen Stunden hinter mich brachte. Es war erstaunlich wie einfach das gewesen war. Wie leicht es mir gefallen war, Kontakt zu Amy aufzubauen. Jedoch konnte ich mir noch nicht im Entferntesten vorstellen, wie ich ihr sagen sollte, was ich war und was sie werden würde. Das würde wohl noch etwas dauern. Aber ich hatte das Gefühl, je länger ich das aufschob, desto länger musste ich hier bleiben. Es war erdrückend, so zu fühlen.