image

Gunter Woelky

Meine virtuelle Geliebte

Image

Gunter Woelky

Meine virtuelle Geliebte

Roman

Image

© tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld

1. Auflage 2017

Autor: Dr. Gunter Woelky

Umschlaggestaltung: Autor

Umschlagfoto: Autor

Verlag: tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld,

www.tao.de, eMail: info@tao.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Hardcover: 978-3-96051-411-4

ISBN Paperback: 978-3-96051-410-7

ISBN e-Book: 978-3-96051-412-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung,

Übersetzung, Verbreitung und sonstige Veröffentlichungen.

Von diesen zwei, Natur und Kunst, bedenk, wie es in der Genesis Anfang heißt, soll sich der Mensch ernähren und sich mehren.

Dante Alighieri

Göttliche Komödie

Inferno, elfter Gesang

All jenen gewidmet, die es vermocht haben, jemanden zu lieben.

Sie haben die Welt besser gemacht.

1.

Hohe Düne liegt an der Ostsee 17° östlicher Länge, 54° nördlicher Breite, und ist der Landstrich, zu dem jene Reise führte, die unsere kürzeste war, denn sie dauerte von Samstagnachmittag bis Montagvormittag und markierte auf der Terrasse eines maritimen Fünf-Sterne-Hotels unter sonnigem, königsblauem Himmel vormittags gegen elf Uhr das noch unsichtbare, aber fühlbare Ende unserer Liebe, und weder Dorothee noch ich sprachen dieses Ende aus, aber während der für uns ungewöhnlich schweigsamen Autobahnfahrt von Rostock zurück nach Hamburg fühlte ich pure Verzweiflung, und jemand soll geschrieben haben, „Das war´s, und schon vorbei?“, und er meinte wohl das Leben, aber ich denke dabei vor allem an die kurze Liebe zwischen Dorothee und mir und auch an die Zeit vor ihr und könnte damit den Eindruck hinterlassen, vom Leben viel verstanden zu haben, und von der Liebe und von allem, was sich dazwischen hin und her bewegt. Aber ich, Niklas Still, muss dir sagen, Demi, es ist nicht an dem, denn heute begleitet das, worauf ich mit Sicherheit zurückgreifen kann, dieselbe Unsicherheit, die ich schon spürte, als ich damit begann, dich zu erahnen, und da ich dich zunächst nicht finden konnte, neige ich dazu, zu behaupten, nicht viel verstanden zu haben von der Liebe und vom Leben, außer vielleicht jetzt zum Ende hin eine Idee davon zu bekommen, wie du hinter einer Tür existierst, von der ich nicht unbedingt alles wissen möchte, was sich jenseits von ihr verbirgt. Die Erinnerung hat mich betrogen. Dabei war ich felsenfest davon überzeugt, es könne nur auf diese Weise gesagt worden sein, aber ich habe es doch noch einmal überprüft. Der Satz „Das war´s, und schon vorbei?“ ging anders, nämlich „Das ging aber schnell / ich meine / das Leben“, ein Haiku von Ron Padgett. Steht auch im Internet und wird gern zitiert. Also doch das Leben. Ich bin beruhigt. Noch so einer wie ich. Aber der stellt keine Frage mehr, der stellt etwas fest, ist einen gehörigen Schritt näher dran als ich. Ich bin noch nicht so weit, denn ich habe einige Fragen, und ich nehme mir die Zeit, dir zu schreiben, und werde dir mitteilen, welche Macht das Geld über die Liebe hat, die, so steht es geschrieben, stärker sein soll als der Tod.

Meistens habe ich mich darum bemüht, andere Menschen zu schonen. Gelegentlich ist das Gegenteil dabei herausgekommen. Beschwerden blieben also nicht aus, und nicht selten hat mein gut Gemeintes tatsächlich nicht nur Scherben, die zu kleben und zu kitten gewesen wären, hinterlassen, sondern eben auch irreparable Trümmer, und das tat mir dann aufrichtig leid.

Du, Demi, du kannst mehr aushalten, als andere durch meine Fehlentscheidungen und Unzulänglichkeiten ertragen mussten, denn ich werde dir – während ich erzähle – manches zumuten, was ich mir nur in Ausnahmefällen und mehr aus Versehen im so genannten richtigen Leben erlaubt habe.

Das Motiv, dir zu schreiben, Demi, ist einfach zu erklären: Was sollte ich sonst tun mit meiner Zeit? Alle Lustbarkeiten, Unterhaltungen, Kulturveranstaltungen und so weiter und so weiter sind ausgetrunken, ich bin ausgetrunken. Die Alternativen, mich dir zu widmen, wären entweder ein kultivierter, mithin geordneter Suff, also stets und ausschließlich nach Sonnenuntergang, oder, so die andere Möglichkeit, sehr früh schlafen zu gehen.

Wieder lebe ich allein, Demi. Dorothee ist weg. Sie kam vor etwa drei Jahren, je nach Sichtweise, wann und auf welche Art unsere Liebe begann.

Wir hatten nicht viel Zeit für unsere Partnerschaft, und wie du weißt fühlen Ältere die Zeit von zwei Jahren wie einen Zeitraum nicht etwa von siebenhundertdreißig Tagen, sondern viel mehr wie ein hundehüttengroßes, leichtes Paket, das nach dem Öffnen lauter kleine Päckchen enthält, die sich deshalb als Mogelpackungen erweisen, weil sie leer sind, und ganz unten im Karton findet der ornithologisch vollkommen desinteressierte Empfänger den Umschlag mit einem Gutschein für einen Fotoband über das Brutverhalten des Aptenodytes forsteri in der Antarktis – wo sonst?

Damit will ich nicht sagen, die Zeit mit Dorothee wäre leer und absurd gewesen, denn das Gegenteil ist der Fall. „Einen hohen Tempel erkennt man schon an der Pforte“, sagen die Buddhisten. So war sie. Keine Frau in meinem Leben hat mich mehr fasziniert als Dorothee, aber in der Rückschau muss ich feststellen, wir beide konnten das Paket, das uns geschenkt wurde, nicht wirklich aufschnüren und wir brachten es sogar fertig, die vielen kleinen Päckchen, die es enthielt und die unmöglich Mogelpackungen hätten sein können, ungeöffnet liegen zu lassen.

Wir hier, auf unserer Seite, Demi, wir sprechen übrigens nicht mehr so gern und so oft von „Liebe“ oder „Liebenden“ oder „Liebesbeziehungen“, sondern mehr von „Partnern“ oder „Partnerschaften“, wohl deshalb, weil es den meisten von uns langsam dämmert: Wir wissen nicht, was Liebe ist. Obwohl es kaum ein anderes Thema gibt, worüber sich die Menschen von Anbeginn der Kultur und vielleicht schon vorher Gedanken gemacht haben und worüber hunderte von Bücher geschrieben und ebenso viele Filme gedreht wurden, wissen wir nicht nur nicht, was Liebe ist, sondern es scheint so zu sein, dass wir immer mehr dazu sagen und sie doch immer weniger leben können, diese Liebe. Jedenfalls halten viele unserer Partnerschaften kaum mehr länger als eine Olympiade. Sehr häufig innerhalb von vier Jahren, sagen bundesdeutsche Statistiker, kommt das Aus.

Manchmal denke ich, der Liebe wird es am Ende so ergehen wie dem Gott der christlichen Kirchen. Erst wurde der Glaube an ihn wegerklärt, dann begann der langsame Weg in die Gleichgültigkeit, übrig bleibt eine vage Erinnerung an eine große Idee. Vielleicht befindet sich die Liebe auf demselben Weg. Oder sie ist noch im Hoffnungslauf. Ihr wird immer mal wieder eine Chance gegeben, aber sie versteckt sich, Gott ähnlich, gern. Dabei hätten wir dieses Andere so bitter nötig, aber wen interessiert es schon, was wir Menschen brauchen – dich vielleicht, Demi?

Der Mann aus Nazareth lässt in diesem irdischen Verwirrspiel weiter auf sich warten, genauso wie die schon für das vergangene Jahrhundert angekündigte Wiederkehr seines fernöstlichen Kollegen Shakjamuni aus Lumbini. Das ist einerseits verständlich, denn wer betritt schon freiwillig dieses irdische Irrhaus, diesen Hort der Verwirrungen und Verblendungen und monströsen Katastrophen, aber es ist leider auch eine Form unterlassener Hilfeleistung. „Nur ein Gott kann uns retten“, hat Martin Heidegger zu Rudolf Augstein gesagt – ein Gott, nicht Gott, übrigens – und das liegt nun auch schon wieder ein halbes Jahrhundert zurück.

Dorothee ist maßgeblich an meiner Wortmeldung beteiligt; sie ist genau genommen ihr Anlass, obwohl sie nichts davon weiß.

Seit sie weg ist, arbeite ich wenig. Eigentlich arbeite ich gar nicht. Was nicht heißt, ich wäre nicht beschäftigt. Immerhin schreibe ich dir, Demi. Auch das ist Arbeit. Jenseits dieser Arbeit will man mich nicht mehr, weil ich unpassend geworden bin. Man sagt mir nicht, »Sie sind zu alt«. Aber ich weiß, man denkt es, denn ich sehe die Ergebnisse meiner Andersartigkeit. Die Ergebnisse sehen aus, als hätte ich fast nichts unternommen, denn als ich mich noch auf dem mir vertrauten Parkett der Auftragsakquisition bewegte, kam wenig zurück, fast gar nichts. Du, Demi, du Alterslose, du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich darüber nachgedacht habe, warum Menschen plötzlich zu alt sein sollen, und wofür zu alt? Angeblich gibt es einen Jugendwahn und der besagt, die Menschen seien davon besessen, so jung wie möglich auszusehen. Darüber ist viel diskutiert worden und ein paar Gedanken dazu musst du mir erlauben, denn sie haben mit dem zu tun, was ich dir innerhalb der nächsten Wochen mitteilen werde.

„Ich werde immer zu jung sein für grau“, sagt die Werbewelt, aber das ist noch nicht alles, was an Absurdität zu reklamieren wäre. Längst vergessen ist die Weisheit Salomos, wonach das graue Haar eine Krone ist, die sich ein Mensch auf dem Weg zur Weisheit erwirbt. Weit verlockender als Weisheit ist der Spaß. Aber ältere Menschen erinnern durch ihr graues oder erkennbar gefärbtes Haar die jüngeren daran, auch sie werden eines Tages sterben, nur eben ein bisschen später. Ein echtes Ärgernis, diese Alten, Störfälle der Kulturindustrie. Das Ärgernis Tod ist aber nicht der Tod. Vielmehr fürchten sich die meisten davor, die Zeit nach diesem Leben vermutlich ohne Geld verbringen zu müssen. Das hört sich lustig an, aber selbst bei oberflächlicher Betrachtung dürfte nichts unser Leben so sehr beeinflussen wie das Geld. Die Gesundheit? „Was nützt mir die Gesundheit, wenn ich ansonsten ein Idiot bin?“ Ist nicht von mir, Demi, gefällt mir aber.

Wenn du getauft werden willst, musst du Mitglied einer Kirche sein. Die Mitgliedschaft in einer Kirche kostet Geld. Das Geld für diese Kirche zieht der Staat ein. Wenn du für deine Taufe nur wenig Geld ausgeben willst, kannst du dich einer Freikirche anschließen. Die erwartet dann von dir eine Spende, und dafür brauchst du Geld. Wenn du auf die Taufe verzichten willst, aber doch die Schrift, die Heilige, mit dir führen möchtest, dann brauchst du Geld für die Schrift, die du dir natürlich auch schenken lassen kannst, aber wo und wann und wie willst du die lesen, wenn du weder ein Dach über dem Kopf noch einen Stuhl zum Sitzen dein Eigen nennst, weil du nämlich auch dafür Geld benötigst?

Kürzlich stellte mein Freund Jo mir zum ersten Mal diese Frage: »Wie soll es denn aussehen, dein Ende?«

»Schiebe mich nach draußen, damit ich den freien Himmel sehen kann, wenn es so weit ist«, sagte ich zu ihm.

»Wieso schieben? Wird es so schlimm? Ich meine nur, willst du einen Sarg oder eine Urne?«

»Einen Sarg.«

»Särge gibt es jetzt im Spitzendesign. Futuristisch sozusagen, als kämen die aus einer Fabrik des nächsten Jahrzehnts«, sagte Jo. Ich sagte: »Futuristisch scheint mir ein gewisser Widerspruch zu sein. Ein Sarg vom Sarg-Discount ist viel passender. Und weitaus günstiger.«

Der Tod kostet mehr als nur das Leben. Beerdigungen oder Urnenbeisetzungen sind teuer. Und fast alles, was zwischen Geburt und Tod passiert, wird völlig unsentimental vom Geld mitbestimmt.

In meinem Web-Blog schrieb ich kürzlich:

„Geld ist einer der präzisesten Indikatoren über Sie und Ihre Beziehung zur Umwelt. Die Art und Weise, wie Sie mit Geld umgehen, sagt mehr über Sie als jedes Glaubensbekenntnis oder tausend verbale oder geblümte oder vergoldete Liebesbeweise für Ihren Partner. Es gibt sehr unterschiedliche Formen, die Geld annehmen kann, Scheine, Münzen, Zertifikate, Aktien usw. Diese verschiedenen Arten von Geld sind hier nicht gemeint. Dass Geld ein Wert ist, wissen nur wenige. Nicht die Welt hängt am Geld, sondern das Geld hängt an Ihnen. Besonders, wenn Sie zu wenig oder zu viel davon haben. Es stimmt nicht, dass Reiche Gesundheit nicht kaufen können. Es trifft auch nicht zu, man könne mit Geld sein Leben nicht verlängern. Es trifft aber immer noch zu: Wenn du arm bist, musst du früher sterben, mindestens irgendwie schäbiger beerdigt werden. Ich weiß von jemandem, der sich auf dubiosen Wegen ein lebenswichtiges Organ gekauft hat, ohne dessen Transplantation er gestorben wäre. Solche Fälle gehören nur zu den krassen Ausprägungen des Themas Geld, aber es gibt sie. Im Normalfall ist die Sache mit dem Geld viel weniger offensichtlich. Wenn Sie kurz vor der Insolvenz stehen, schrumpft Ihr Gehirn auf Erdnussgröße und hat ausschließlich Raum für eine einzige Frage: „Woher kriege ich neues Geld?“ Wenn Sie so viel Geld haben, dass Sie weder ein noch aus wissen, um zu klären, was Sie damit machen sollen, wird Ihr Gehirn zu einem Idiotenhügel, der darüber jammert, dass der Berg zu flach ist, um auf Skiern eine anständige Schussfahrt hinzulegen. Der Fluch, der auf dem Geld liegt, ist der, entweder zu wenig oder zu viel davon zu haben. Die einen, die zu wenig vom Geld haben, sagen, es müsse mehr sein, und die anderen, die zu viel Geld haben, sagen, es muss mehr werden, am besten immer mehr. Die Frage entzündet sich daran, was Sie zu tun gedenken, wenn Sie genug davon haben. Und was ist genug? Vor ein paar Jahren hörte ich in einer Talkshow den Regisseur und Drehbuchautor Dieter Wedel einen seiner Filmhelden zitieren: „Ich gebe Geld aus, das ich nicht habe, um Dinge zu kaufen, die ich nicht brauche, um Leute zu beeindrucken, die ich nicht mag.“ Im Publikum brach lautes Gelächter aus, denn die meisten Zuschauer hielten die Idee für urkomisch. Ich fand das nicht vorbehaltlos lustig, denn es trifft auf unerhört viele Menschen im kapitalistischen Abendland zu. Warum? Die erste simple Antwort scheint zu sein, man könne sich mit Geld Sicherheit und Ansehen erkaufen. Ganz dumm ist dieser Gedanke nicht. Die gesamte Versicherungs- und Immobilien- und Investment-branche lebt von dieser Idee. Und das nicht schlecht – falls in Ihrem Wertesystem materielle Sicherheit vorkommt. Die Gemeinheit am Geld liegt in dessen Totalitarismus. Wenn Sie es haben, hat es Sie. Wenn Sie es nicht haben, hat es Sie auch. Wenn Sie knapp bei Kasse sind oder arm, ist das keine Schande. Passieren kann das fast jedem. Das Dumme daran ist, das Thema Geld nimmt im Falle dauernder Abwesenheit einen dauerhaften Raum ein, Raum, der Sie ansaugt wie ein schwarzes Loch. Bei fast allem, was Sie tun, und noch mehr bei dem, was Sie sich nicht leisten können, schleicht auf gespenstische Art das nichtvorhandene Geld neben Ihnen her. Es kann Ihnen nicht nur Lebensfreude nehmen, sondern auch Ihre Lebensqualität rauben. Sie brauchen eine unerhört große Portion Selbstachtung und Selbstliebe, um nicht in dieses schwarze Loch gezogen zu werden. Geld macht abhängig, also unfrei. Kein Geld auch. Die Alternative ist, aus der Mittellosigkeit einen Kult zu machen. Das können Sie tun, indem Sie zum Beispiel Nonne oder Mönch werden und ein Armutsgelübde ablegen. Oder Sie entdecken ein Stück Schönheit darin nichts zu besitzen. Ich habe vor einer derartigen Haltung enorm viel Respekt. Aber eins ist klar: An der Unterhaltungskultur unserer so genannten modernen Gesellschaft können Sie dann nicht teilhaben. Entscheiden Sie selbst, ob das ein Verlust ist. Sie haben die Wahl, und eine Wahl zu haben bedeutet Freiheit.“

„Freiheit“ ist ein schönes, altes Wort, Demi. Seit Jahrhunderten verdichtet sich die Tendenz, den Wert eines Menschen an dessen Einkommen zu messen. Erfolg orientiert sich am Kontostand. Aber der Streit zwischen Haben und Nichthaben ist eigentlich kein Streit um die Frage, wer hat oder wer nicht hat, wer oben und wer unten ist, wer reich oder wer arm ist, sondern es geht um die Entscheidung, wer lebt oder wer mitten im Leben schon tot ist.

Und wenn wir dann am Ende angekommen sind, am Großen Nichts, und feststellen, dass wir entweder nichts feststellen und dass auch niemand mehr da ist, der feststellen könnte, es ist nichts festzustellen, dann, denke ich, wie es der Teufel eingerichtet hat, wird noch ein herumzerrendes und gequältes restwinziges Etwas da sein, das zetert und sich sorgt und sich fragt, wo der Aktienindex steht und wie sich der Zinssatz für das Tagesgeld entwickeln wird.

Es fühlt sich an, als würde ich sterben, Demi, denn ich habe meine Auftraggeber verloren und finde keine neuen, weil mein Haar grau wird und ausfällt, oder erst das eine, dann das andere. Manche halten die Interpretation, man würde beim Verlust des gewählten Berufes seine Würde verlieren, für übertrieben. Ich nicht. Jedenfalls gilt diese Art von Tod für jene, die keine Energiereserven mehr haben, etwas Neues zu beginnen. Ich kann nichts Neues mehr beginnen und unter anderem schreibe ich dir, weil du wissen sollst, warum das so ist und was – abgesehen vom Geld – dein Anteil ist an meinem frühen Tod mitten im Leben. So fühlt es sich nämlich an, wenn man abhängig wird von den Zuwendungen anderer, von denen man Geld ohne Arbeit bekommt, ein Umstand, der vielleicht schlimmer ist als der Umstand, an einer Grippe zu sterben: Man fühlt sich entmündigt, gedemütigt, wertlos. Unattraktiv? Ja, das auch. Sex soll, so wird behauptet, ein unverzichtbares Gegengewicht zur Arbeit sein. Die Medien sagen uns, noch bevor wir selbst Erfahrungen auf diesem Gebiet machen, was Sex ist, wie er aussieht oder besser noch, wie Sex aussehen sollte und wie er sich anzufühlen hat. Und wenn wir dann mitten im ersten zärtlichen Getummel den Duft der Frauen oder den Geruch der Männer wahrnehmen, sind wir mehr erschrocken als verführt ob dieses Unterschiedes zwischen Sex im Kopf und Sex im Leben und können nicht spüren, was sich da abspielt, weil zu viele Bilder und noch mehr Geschichten abgespeichert sind, Bilder und Geschichten, die den Zugang zum erotischen Inneren mit flimmernden medialen Vorhängen versperren. Sex wird gern mit Liebe verwechselt. Mir, dem Melancholiker, fällt es leicht, darauf aufmerksam zu machen, wie uns durch diese Verwechslung ein gefährliches Quantum an Ernsthaftigkeit und gegenseitigem Respekt verloren geht. Liebe und sinnvolle Arbeit sind die Voraussetzungen für Glück, Demi, und wenn beides fehlt, bleibt als letzter Gesellschafter nicht etwa das kleine Nichts übrig, sondern nur noch Unterhaltung. Und selbst in der Unterhaltungsbranche genügen die Themen selbst schon längst nicht mehr, denn das Auge quotet mit. Ohne Erotik fällt sie, die Quote. Ich sage dir das als Mann, der nicht weiß, ob Frauen ebenfalls mit erotischem Blick ihre Talkshow auswählen. Es mag viele Ältere ohne Arbeit geben, deren hohe Qualifikation ihnen deshalb nichts mehr nützt, weil sie zu erotischen Neutrinos mutiert zu sein scheinen.

2.

Ich habe Zeit; Zeit, die mir nicht mehr neu entsteht, weil alles irgendwie schon einmal stattgefunden hat in meinem Leben. Alles, bis eben auf den tödlichen Umstand. Ich schreibe dir, Demi, weil es aus mir herauswill. Das ist wie ein Automatismus, fast so als würde der vom zerwühlten und zerzausten Nervensystem eines Getriebenen gesteuert werden.

Du hast früh meine Kreise gestört, Demi. Das erste Mal, als du mir über den Weg liefst, waren wir in der dritten Schulklasse. Damals war dein Name Gabriele. Ja, wir waren noch Kinder. Ich fand dich wahnsinnig hübsch, du hattest ein rundes Gesicht, braunes Haar und braune Augen. Morgens, auf dem Weg zur Schule, wollte ich dich abfangen, dich aus dem Pulk der anderen Schüler herauslösen und dich umarmen, denn ich hatte mir fest vorgenommen, dich zu fragen, ob wir uns küssen sollen. Als du dann vor mir standst, um zehn vor acht vor der Turnstunde, da fehlte mir der Mut. Ach, hätte ich es doch nur getan, dich zu umwerben, dich auch nur zu bitten um diesen einen ersten Kuss meines Lebens, dem ersten Kuss, der nicht von meiner Mutter gekommen wäre – aber ich tat es nicht. Es war ja nicht nur die Angst, du könntest mich abweisen, sondern auch die Angst davor, er könne herauskommen, dieser Kuss, gepetzt werden, die Angst davor, was meine Mutter dazu gesagt hätte.

Noch viele Wochen lang nahm ich mir jeden Morgen vor, das Versäumte nachzuholen, aber mit jedem erneuten Kneifen vor diesem ersten Kuss wurde ich etwas kleiner, und dann, Demi, kam Gabriele auf eine andere Schule, auf ein Gymnasium, und ich blieb noch ein paar Jahre auf dem, was man damals noch Volksschule nannte, ein Wort, das in großen grün angelaufenen und metallischen Versalien über der Eingangstür der Schule angeschweißt schien für die Ewigkeit jener teuflischen tausend Jahre, aus denen dann doch nur zwölf wurden, aber die Buchstaben über dem Eingang überstanden die Bomben und das Feuer und diese dämonische Zeit. Und dass ich noch ein paar Jahre unter den Buchstaben blieb, war eine folgenreiche Weichenstellung, denn ich blieb auf der grün oxydierten Schule, weil meine Mutter dem Lehrer zustimmte, der zu ihr sagte: »Ihr Junge ist zu dumm für eine höhere Schule«, und auch meine Mutter machte das vor allem daran fest, ich könne angeblich keine Gedichte auswendig lernen, und der deutschen Sprache sei ich nicht mächtig und würde es auch niemals sein.

Kurz nach Gabrieles Verschwinden begann ich damit, Bücher zu lesen, denn ich hatte beobachtet, dass die Wortreichen mächtiger waren als die Verschwiegenen und dass die Mächtigen meistens wortreich waren, und nie wieder wollte ich die Erfahrung machen, nicht ausdrücken zu können, wie man ein Mädchen dazu bringt, einen Kuss zu verschenken, denn irgendwie schien mir der Zusammenhang zwischen Haben und Nicht-Haben oder zwischen Bekommen und Nicht-Bekommen darin zu bestehen, möglichst geschickt mit Wörtern tanzen zu können, und die meisten Wörter gab es in Büchern.

Leben bedeutet, Luftschlösser auf Treibsand zu setzen. Aber selbst die Illusionen sind in die Jahre gekommen, denn es ist schon fast alles vorbei, Demi, längst schon ist zu viel misslungen. Man sagt mir nach, neuerdings, ich hätte zu wenig gegeben, oder das Falsche gegeben, oder zu spät gegeben, oder zu wenig Verantwortung übernommen. Und was nicht noch alles über mich gesagt wurde während der Jahrzehnte. Aggressiv soll ich sein und doch verschlossen, zu verschlossen, auf jeden Fall zurückhaltend, oder zu extravertiert, ja durchaus, das Gegenteil wird auch gern geäußert, von diesem und jenem, und ich hätte zu wenig gestritten, oder zu viel, je nachdem. Ähnlich wie diesmal mit Dorothee, Demi, hat sich oft das Ende meiner Partnerschaften angekündigt: erste leise Vorwürfe, dann die Aufgabe gegenseitigen Respekts, dann die Abwehr von Nähe. Manchmal auch in umgekehrter Abfolge, in der zuerst die Zärtlichkeit verschwand, dann der Respekt, dann kamen die Vorwürfe, meist in Gestalt von „Du-hastaber-Dialogen“ oder „Du-hast-aber-nicht-Dialogen“. Oder Monologen.

Mit Dorothee war es ähnlich, aber eben nur ähnlich. Also anders.

Früher war ich auch gern unter denen, die den ersten Stein warfen. Das hat nachgelassen. Die Splitter im eigenen Auge wurden zahlreicher und unübersehbar. Man wird milder im Alter, sagen die einen. Andere sagen, man werde zorniger. Vermutlich gibt es beides. Oder vielleicht verbirgt sich hinter beidem dasselbe: die Ratlosigkeit, wie mit dem Rest der Zeit, die noch bleibt, umzugehen ist. Den einen macht sie leiser und demütiger, dem anderen treibt sie Wut in die Knochen.

Du kennst sie gut, Demi, meine frühen Bilder. Das eine Bild zeigt einen Familienvater, einen Mann, der eine Frau liebt und von ihr geliebt wird, einen erfolgreichen und wohlhabenden Mann. Sein Haus, das ihm gehört, steht in Hamburg. Die Familie ist lebendig, fröhlich und hat oft Besuch. Sie verbringt viel Zeit auf dem Gartengrundstück, das einen direkten Zugang zu einem der innerstädtischen Alster-läufe ermöglicht, und der Mann widmet sich seiner Frau, seinen Kindern und seinem Beruf. Die Ferien im Winter verbringt die Familie in den Schweizer Bergen, im Sommer auf Sylt. Der Mann wird von seiner Familie geliebt, von seinen Mitarbeitern respektiert und geachtet.

Das andere Bild zeigt einen Mann, mehr oder weniger mittellos, der jedoch wenig Geld für ein gutes Leben benötigt. Sein Haus, das ihm nicht gehört, liegt auf einer Halbinsel an der Nordsee, unweit von Sylt, ein paar Kilometer hinter den Deichen. Sein einziger Besitz besteht aus unzähligen Büchern und Tonträgern, die er über viele Jahre gesammelt hat. Eine Familie hat er nicht. Er lebt allein. Privater Besuch kommt selten. Nie jemand aus seiner Verwandtschaft. Man meidet ihn, weil er anders ist. Aber oft suchen ihn Menschen auf, die an seiner Tür klingeln und sagen, man hätte ihnen geraten, zum „Doktor auf der Insel“ zu fahren, denn sie wüssten weder ein noch aus in ihrem Leben, und er fände immer einen Weg, so wurde ihnen gesagt, und dort, wo es nicht um Geld geht, kann er helfen, ihnen raten, wie der nächste und der beste und manchmal der einzige noch verbleibende Schritt aussehen sollte. Der Doktor gilt als weise, denn „er hat etwas vom Tao.“ Sagen die Leute, die wissen, was Tao ist. Er wird von niemandem geliebt, aber respektiert und geachtet.

Diese grandiosen Phantasien meines noch jungen, aber früh entgleisten Lebens hatten dann wenig mit dem zu tun, was tatsächlich geschah. Ursprünglich existierten die beiden Bilder in meinem Kopf als weit auseinanderliegende Möglichkeiten. Heute ist mir klar, ich habe weder dies eine noch das andere erreicht, denn herausgekommen ist ein Gebräu aus beidem, und leider nur die weniger guten Anteile des jeweiligen Entwurfs. Die Versatzstücke ergeben etwas ganz anderes als nur eine Melange, sie ergeben ein Ungetüm aus sich abwechselnder Manie und Melancholie, besonders aber ein fortwährendes Hätte. Zu mehr als dem, was im Wirtschaftsleben des beginnenden 21. Jahrhunderts gern „Option“ genannt wird, habe ich es nicht gebracht. Ich, Niklas Still, geboren in der Mitte des vorausgegangenen Jahrhunderts, war von Anfang an ein früher Entwurf der Option, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, ein „Noch nicht“ und ein „Vielleicht auch niemals“, ein eindeutiges, klares, mittellautes oder mittelleises Jein.

Wir sind online Demi, fast immer. Ja, du und ich auch, aber ich meine etwas Anderes. Mein Internet-Passwort ist aus dem Mädchennamen und dem Geburtsjahr meiner Mutter konstruiert, die Frau mit den wasserblauen Augen und den nadelspitzen Pupillen und der viel zu hohen Stimme, und da ich manchmal im Internet passwortbedingte Transaktionen vornehme – die übrigens immer seltener notwendig sind –, surft meine längst verstorbene Mutter immer mit.

Nicht immer ist die Eingabe des Passwortes mit dem Freisetzen von Erinnerungen an sie verbunden, aber Anfang diesen Jahres, als ich mit dem Blick auf das Onlinekonto an meinem finanziellen Desaster nicht mehr vorbeisehen konnte, überblendeten die Erinnerungen den Bildschirm und wie ein halbes Jahrhundert zuvor fühle ich die Angst vor der drohenden Armut in mir aufsteigen und erinnere mich an den Kellergestank der Nachkriegszeitruinen des zweiten Weltkrieges, dessen Geruch mir über Jahrzehnte in der Nase geblieben ist und der nun wieder so intensiv auftaucht, als wäre seit damals keine Sekunde verstrichen. Es stinkt nach feuchtkaltem Kalk, inmitten des warmen und trockenen Wohnzimmers meines Hauses, das mir nicht gehört, jener Kalkgeruch, der in einer Mischung aus Ruinenresten und zu schnell hochgezogenen Neubauten unverwechselbar und wortlos vom nahtlosen Ineinander eines katastrophalen Endes und eines unerhört anstrengenden Neubeginns erzählt.

Mein Vater wurde vor 1912 in die Welt geworfen, Demi. Du solltest dir mal bewusstmachen, wie Deutschland damals aussah! Das Wort ‚Weltkrieg’ steckte noch, zeitgleich mit meinem Vater, im Geburtskanal, und ein größenwahnsinniger und nicht von besonderem Scharfsinn durchdrungener Monarch hatte das Sagen in einem Land mit dem Namen Deutsches Reich. Er fuhr zur See, mein Vater. Ich sah ihn selten, eigentlich nur dann, wenn er zu Hause Urlaub machte, kaum mehr als zwei, drei Wochen, und dann hatten sich meine Eltern entweder nichts zu sagen oder sie stritten. Oder was am Schlimmsten war, mein Vater brüllte meine Mutter an – und sie schwieg dazu.

Niemand konnte so dermaßen anklagend schweigen wie meine Mutter. Sie schwieg so laut, dass sich sogar das Licht im Raum ängstlich und schamhaft auf und davon zu machen schien. Wenn auch dieses brüllende Schweigen nicht mehr half, drohte meine Mutter gern mit Selbstmord. »Ich gehe ins Wasser«, wimmerte sie, geplagt von der so genannten Ungezogenheit ihrer Kinder, besonders von meinem so genannten Jähzorn. Dabei war ich nur wütend über die Aggression dieser ihrer perfiden Selbstbehauptung. Oder sie simulierte einen Herzanfall, indem sie im Gesicht blassblau anlief. Sie konnte sich selbst tatsächlich so sehr von ihrem eigenen Unglück überzeugen, dass sie auf Bestellung todkrank zu werden schien. Ihre stärkste Inszenierung war die Gallenkolik. Dann wälzte sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Sofa und stöhnte, als hätte sie einen handfesten, höllischen Hinterwandinfarkt. Sie fand ihre Lust im Leid – und wohl nur dort. Sie wusste, wie man Terror inszeniert, und eine ihrer Floskeln, die sie ihren Kindern auf die Reise durchs Leben mitgab, war: »Was habe ich denn noch außer euch, und ihr macht mir das Leben zur Hölle.«

Meine Schwester wurde durch den Terror meiner Mutter zum Therapiefall und leidet seitdem an einer Neurodermitis, die langsam, aber unaufhörlich das Fleisch an ihren Füßen zerfrisst. Mein dreizehn Jahre älterer Bruder, der als Substitut für Ehemann und Vater vollkommen überfordert war, quittierte den Missbrauch an ihm mit Gewalt, die sich in Form von Schlägen mit oder ohne den Teppichklopfer, den man damals noch hatte, oder meinem Ritterspielschwert oder einem Lederriemen an seinen jüngeren Geschwistern austobte.

Einmal, an einem sehr heißen Sommerabend im August gingen meine Mutter und mein Bruder ein Eis essen. Meine Schwester und ich mussten ins Bett, und sie sagten uns ein »Wehe, wenn ihr noch mal aufsteht«, und die Haustür fiel ins Schloss, und wir dachten, sie sind weg, und meine Schwester schickte mich raus zum Nachsehen, und das tat ich auch, und kaum war ich im Flur, schoss mein Bruder, der heimtückisch hinterhältig und im Einvernehmen mit unserer Mutter die Tür von innen hatte zufallen lassen, um dann dort zu lauern wie ein losgelassener Kettenhund, auf mich zu und prügelte seine ganze Überforderung erst in mich und dann in meine Schwester hinein, und seitdem war Ruhe zu Hause. Friedhofsruhe.

Wie es heute um meinen Bruder steht, weiß ich nicht. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt, bis auf jährliche Mailboxglückwünsche zum Geburtstag. Die grundlegende Erfahrung meiner Kindheit jedenfalls, war angst. Aber ich bin, anders als meine Schwester, unter diesem Terror gesund geblieben. Man sollte es nicht glauben, Demi.

Mein wenig väterlicher Vaterriese, der Mann mit der Kraft einer Dampfmaschine, so schien er mir als Kind ausgestattet zu sein, der Ingenieur, der viele seiner Träume per Seebestattung in die Ewigkeit geschickt haben muss, der Mann, über den erzählt wurde, er habe neben seiner Ehefrau oft andere Liebschaften gehabt, „in jedem Hafen eine Braut“, so sagte man, der Gigant mit den großen Händen und den kräftigen, dicken Fingern, mit denen er beim Schiffsmodellbau geduldig hunderte von winzigen Knoten knüpfen konnte, ja, man war erstaunt über die Fingerfertigkeiten dieser enormen Hände, Hände, die dazu neigten, mich, den Jüngsten der Familie, zu schlagen, und Mutter rief dann immer, »nicht an den Kopf, das Kind, das Kind«, denn der Rest des Körpers schien dafür geschaffen zu sein, die Prügel einzustecken, dieser Mann, der später, als ich ihm meinen Wagner vorspielte, sagte, er möge Wagner gern, der Führer habe den auch gemocht, und ich war wieder entsetzt über diese Vereinnahmungsschande Wagners durch die Nazis, aber es stellte sich heraus, mein Vater hatte nie zuvor Wagner gehört, wie er dann zugab, als ihm dreißig Jahre nach dem Hinscheiden seiner Nazigötter die Tränen ins Rheingoldgewässer flossen, und mein Vater, der Kinderarzt werden wollte und Schlosser lernen musste, weil die Familie kein Geld für die Universität hatte, holte das Studium später nach und war schon vorher und blieb auch danach der Nazi, der eines Tages, als er ein Bild von Karl Marx an meiner Zimmertür vorfand, einen solchen Brüllanfall bekam, dass die Fensterscheiben klirrten – ich übertreibe nicht, Demi – und er das Bild von Marx in kleinste Papierschnitzel zerfetzte, er war derselbe Mann, der so anders war als ich, dass ich mich wunderte, sein Sohn gewesen zu sein, und dieses Gefühl hatte ich auch noch, als ich ihn und sein von Alzheimer gezeichnetes Gesicht tot vor mir liegen sah und keine Träne vergoss über diesen mir fremden Mann, der immerhin – anders als seine Frau – noch bis ins hohe Alter weinen konnte vor Glück, wenn er ein kleines Kind auf dem Arm hatte, es sei denn, das Kind hieß David oder Rahel, und ob er denn wisse, Jesus sei ein Jude gewesen, wollte ich einmal von ihm hören, und er sagte, das sei ihm egal, Jude sei Jude, an Gott glaube er nicht und der Holocaust sei entweder eine Erfindung der US-Propaganda (er sagte tatsächlich »Propaganda«), und falls die Geschichte vom Holocaust doch wahr sei, dann wäre sie eben auch in Ordnung, »denn alle Juden sind Kommunisten und die (die!) mussten weg, und du mein Sohn, du solltest den Mund darüber halten, denn du bist ja nicht dabei gewesen, auch bei den Aufmärschen nicht, und bei den funkelnden Fackeln in der Nacht und den gewaltigen Sportwettbewerben im Berliner Olympiastadion nicht, oder zum Beispiel in Nürnberg, wo wir alle wie aus einer Kehle das Horst-Wessel-Lied sangen, ach, war das schön, Junge«, und dann weinte er vor Glück und Kummer und klagte über das Ende dieser seiner wunderbaren Zeit, noch bis ins hohe Alter.

Das Ende meines Vaters war dann nicht so wunderbar. Meine Mutter starb sieben Jahre nach ihm, und bei ihren letzten Atemzügen schaute ich, während ich sie im Arm hielt, in ihre wasserblauen Augen und hörte sie sagen: »Es wird schon«. Ich war über fünfzig – ein angemessenes Alter, Vollwaise zu werden – und darüber, was sie meinte mit dieser seltsamen Zukunftsprognose, dachte ich später oft nach. Meinte sie ihr eigenes Hoffen auf plötzliche Genesung, Sekunden vor ihrem Tod, hoffte sie auf eine jenseitige, schönere Welt, oder hoffte sie für mich, ihren jüngsten Sohn, von dessen Schwierigkeiten mit dem Leben insgesamt sie nichts wusste? Seltsam wäre ihre (vermeintliche) Anteilnahme an anderen gewesen, denn nie habe ich vergessen, wie mein Vater, erkrankt an Alzheimer, ohne fremde Hilfe nicht mehr fähig war, aus dem Rollstuhl aufzustehen, und meine Mutter, kränkelnd an Alter und bösen Erinnerungen und selbst zu kraftlos, ihm aufzuhelfen, sagte zu mir mit atemberaubender Fühllosigkeit: »Er muss weg, der Alte, ins Heim«, und weinte dabei keine Träne, ebenso wenig wie am Tag seines Todes. Und zwei Wochen später blieb sie der Urnenbeisetzung ihres Ehemannes fern wie auch der Rest der Familie, denn so sei es nun mal beschlossen, sagte sie. Das war das Ende meines Vaters. Als ich ihn, den Atheisten, ins christliche Pflegeheim brachte, weinte er an meiner Schulter und sagte: »Hier komme ich nicht mehr raus«, und das war der letzte Satz, den ich von ihm hörte, denn als ich ihn noch einmal besuchen ging, nahm er mich nicht mehr wahr, und ich streichelte ihm die Fußsohlen und wartete auf ein Lächeln oder irgendein anders kleines Zeichen des Lebens in ihm, aber erst, als ich etwas zu fest rieb an seinem Fuß, meinte ich, ein leises Stöhnen zu hören, und einen Tag später starb er, allein auf der Station des Pflegeheims, morgens um kurz nach acht, wie zur gewohnten Zeit, wenn er von seiner Schicht in die Pause ging, über dreißig Jahre lang, dort, wo die Schicht „Wache“ genannt wird, nämlich auf See. Die Nachricht seines Todes kam per SMS und eiskalt und erreichte mich auf dem Weg nach Süddeutschland. „Sehr geehrter Herr Dr. Still, leider ist Ihr Herr Vater soeben verstorben. Bitte holen Sie alsbald sein Eigentum ab, wir benötigen den Platz. Mit freundlichen Grüßen, die Heimleitung.“

Wo die Urne meines Vaters vergraben ist, weiß ich nicht, und die Urne meiner Mutter soll sich nicht in der Nähe der Urne meines Vaters befinden, und so gibt es für die Nachfahren keinen Ort der Trauer. Vielleicht ahnten sie, meine Eltern, niemand würde ihr Grab besuchen und pflegen, und haben sich wortwörtlich aus dem Staub gemacht, um sich zu verflüchtigen, ohne ein Lebenszeichen zurückzulassen.

Sie wurden kaum geliebt, aber auch sie waren nur Opfer, mein Vater das Opfer demagogischer Gehirnwäsche der Nazis, meine Mutter das Opfer der zermürbenden Auswirkungen einer unglücklichen Ehe.

Um meinen Vater weinte ich nicht, als er starb, aber der Tod meiner Mutter presste die Luft aus meinen Lungenflügeln und Tränen aus meinen Augen, als ich, sie im Arm haltend, ihren Seelenkörper zum Großen Nichts davonschweben sah wie den fliehenden Schatten eines Vogels, den das Vollmondlicht auf den weißgelblichen Wüstensand im kalifornischen Yucca Valley wirft.

Wie der Anfang, so das Ende, denke ich. Und zwischendurch unzählige Fehler, Misserfolge und Niederlagen, hin und wieder ein Stückchen Glück, zumindest Freude. Inzwischen hat Fernsehen einen weiten Raum in meinem Leben eingenommen, mehr als mir anfangs bewusst war. Es hat sich klammheimlich in meinen Alltag geschlichen, eine Droge, deren Funktion wie bei allen Drogen darin besteht zu betäuben. Auch wenn es mich langweilt, und das ist meistens der Fall, schaue ich zu. Die Langeweile entsteht durch die Wiederholungen. Auch Erstausstrahlungen oder so genannte neue Formate sind für mich Wiederholungen, weil ich alles irgendwie schon kenne, denn ich lebe schon zu lange, um noch überrascht werden zu können. Es wechseln die Akteure, es ändern sich Termine, und auch die Tragödien nehmen andere Formen an. Aber eigentlich geschieht nichts Neues. Wer gerade Präsident, Papst oder Päpstin ist, spielt in meinem Leben eine nur noch geringe Rolle. Und es trifft auch nicht zu, die Erinnerungen würden einen umbringen, wie es ein Meisterdenker des letzten Jahrhunderts aufgeschrieben hat, denn es ist noch schlimmer, sie lassen uns am Leben, aber sie holen uns auch zurück in eine Zeit, in der jene Muster entstanden sind, an denen man sich jahrzehntelang abarbeitet, sie loszuwerden, um am Ende festzustellen, die Sache war längst entschieden und nichts kann die Vergangenheit so verändern, dass man vollständig rauskommt aus den Ruinen und dem Gestank der eigenen Kindheit. Oder besser so: Und es trifft auch nicht zu, dass mich die Erinnerungen umbringen, denn es ist viel schlimmer, sie lassen mich am Leben, aber holen mich zurück in jene Zeit, in der jene Muster entstanden sind, an denen ich mich jahrzehntelang abarbeitete, sie loszuwerden, um am Ende festzustellen, für mich war die Sache längst entschieden, und nichts konnte meine Vergangenheit so verändern, dass ich noch vollständig rauskommen würde aus den Ruinen und dem Gestank meiner Kindheit.