ROBERT E. HOWARD

 

 

Herrin des Todes

Erzählungen

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

Die Schwarze Agnes 

Schwerter für Frankreich 

Herrin des Todes 

Der Schatten des Aasgeiers 

 

Einzelnachweise 

 

Das Buch

 

 

HERRIN DES TODES enthält die drei zu Robert E. Howards Lebzeiten unveröffentlichten Erzählungen um die Schwarze Agnes de Chastillon: Die Schwarze Agnes, Schwerter für Frankreich und Herrin des Todes. In diesen Geschichten, die im Frankreich des 16. Jahrhunderts (in der Kaiserzeit von Karl V. und Franz I.) spielen, erzählt Howard von Agnes de La Fère, die – von ihrem Vater misshandelt – den ihr verhassten Bräutigam ermordet und anschließend aus ihrem Heimatdorf flieht. Sie begegnet dem Söldnerführer Guiscard de Clisson, der sie in der Kunst des Schwertkampfes unterweist. Nach dem Tode Clissons wird die Schwarze Agnes zur gefürchteten Kriegerin... 

Darüber hinaus enthält dieser Band die Erzählung Der Schatten des Aasgeiers, in welcher Howard die legendäre Rote Sonya von Rogatino einführt – eine Figur, charakterlich und hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes nicht unähnlich der Schwarzen Agnes. Wie auch die Geschichten um Agnes de Chastillon spielt Der Schatten des Aasgeiers im 16. Jahrhundert, allerdings während der Belagerung Wiens durch Sultan Suleiman I. (auch Suleiman der Prächtige genannt) im Jahre 1529... 

 

Mit diesen vier Erzählungen trat Robert E. Howard den Beweis an, dass er es nicht nur vortrefflich verstand, sich den Mythen vergangener Zeitalter anzunehmen und diese mit Leben zu erfüllen; er vermochte es ebenso gut, Figuren des phantastischen Abenteuerromans in historischer Zeit anzusiedeln und diese dort agieren zu lassen. 

Der Autor

 

Robert Ervin Howard (* 22. Januar 1906, + 11. Juni 1936).  

 

Robert Ervin Howard war ein US-amerikanischer Autor von Fantasy-, Abenteuer- und Horrorgeschichten sowie mehrerer Westernromane. Er gilt als stilprägender Vertreter der Low Fantasy.

Howard wuchs in der kahlen und trockenen Landschaft von West-Texas auf und unternahm nur wenige Reisen. Als Heranwachsender arbeitete er auf den örtlichen Ölfeldern; darüber hinaus arbeitete er als Baumwollpflücker, Cowboy, Verkäufer, in einem Rechtsanwaltsbüro, als Landvermesser und als Journalist, bevor er sich durch den Verkauf seiner Geschichten an diverse Pulp-Magazine - vor allem Weird Tales, Thrilling Adventures, Argosy und Top-Notch - ein regelmäßiges Einkommen sichern konnte.

Seine erste Geschichte Spear And Fang verkaufte er im Jahre 1924 an Weird Tales. Dies war der Start einer ebenso kurzen wie beeindruckenden (und vor allem: nachwirkenden) Karriere als Schriftsteller: In den Folgejahren erschuf Howard seine bekanntesten Zyklen um Conan den Cimmerier, Kull von Atlantis, den Pikten Bran Mak Morn, den irischen Piraten Turlogh O’Brien und den englischen Puritaner Solomon Kane.

Die meisten Helden in Howards literarischem Nachlass sind latent depressiv (Solomon Kane, Turlogh O’Brien, Kull von Atlantis), was biographische Bezüge vermuten lässt. Lediglich Conan ist ein tendenziell naiver, von keinen Skrupeln oder tieferen Gefühlen berührter Abenteurer und Krieger. Über den Charakter Conan, der - vor allem auch durch die Verfilmungen in den Jahren 1982 und 1984 (beide mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle) sowie 2011 (mit Jason Momoa in der Rolle des Barbaren)  - wohl die populärste der von ihm geschaffenen Figuren ist, sagte er, sie sei die realistischste von allen, da sie eine intuitive Kombination diverser Männer darstelle, mit denen er in seinem Leben zu tun gehabt habe.

Viele von Howards Fantasy-Geschichten spielen vor dem Hintergrund des – fiktiven – Hyborischen Zeitalters.

Howard war ein Brieffreund H. P. Lovecrafts, der auch Einfluss auf Howards Geschichten ausübte. Umgekehrt geht das fiktive Buch Unaussprechliche Kulte, dessen Erfindung häufig Lovecraft zugeschrieben wird, auf Howard zurück.

Robert E. Howard Howard beendete sein Leben im Alter von 30 Jahren durch Selbstmord. Als seine kranke Mutter ins Koma fiel und wenig Hoffnung auf Genesung bestand, stieg er in seinen Wagen und erschoss sich in der Einfahrt zu seinem Haus.

  Die Schwarze Agnes

 

 

  Gewidmet Mary Read, Graine O'Malley, Jeanne Laisne, Liliard von Anerum, Arme Bonney und all den anderen weiblichen Haudegen - den guten wie bösen, den tapferen wie fröhlichen, die die Jahrhunderte unsicher machten. 

 

 

  »Agnes, du rothaariger Teufelsbraten, wo bist du?«

  Es war mein Vater, der mich auf seine übliche Art rief. Ich strich mir das von Schweiß verklebte Haar aus den Augen und warf mir das Reisigbündel über die Schulter. Für mich gab es kaum jemals Rast in diesem Leben.

  Das Gebüsch teilte sich, und mein Vater trat auf die Lichtung. Er war ein hochgewachsener, hagerer Mann, dem die Sonne während vieler Kriegszüge die Haut dunkel gebrannt hatte. Narben zeugten von seiner Dienstzeit unter machtgierigen Königen und ehrgeizigen Herzögen. Er blickte finster drein, und bei Gott, hätte er einen anderen Gesichtsausdruck gehabt, ich hätte ihn kaum erkannt.

  »Was tust du hier?«, knurrte er.

  »Du hast mich zum Holzsammeln in den Wald geschickt«, antwortete ich mürrisch. 

  »Und habe ich dir aufgetragen, den ganzen Tag lang auszubleiben?«, brüllte er und schlug mit der flachen Hand nach meinem Kopf. Durch lange Gewohnheit geschickt geworden, wich ich dem Schlag leicht aus. »Hast du vergessen, dass heute dein Hochzeitstag ist?«

  Als ich seine Worte hörte, wurden mir die Finger schlaff, die Schnur schlüpfte aus meiner Hand, und das Reisigbündel fiel auf den Boden und barst.

  »Das habe ich vergessen«, flüsterte ich, und meine Lippen waren plötzlich trocken.

  »Sammle das Holz auf und komm«, knurrte er. »Die Sonne geht bald unter. Du undankbare Göre! Dass dein Vater seine müden Knochen durch den Wald schleppen muss, um dich zu deinem Gemahl zu bringen!«

  »Gemahl!«, murmelte ich. »François! Zum Teufel!«

  »Du fluchst?«, zischte mein Vater. »Muss ich dich wieder strafen? Verhöhnst du den Mann, den ich für dich erwählt habe? François ist ebenso gut wie alle anderen

jungen Männer der Normandie.«

  »Ein fettes Schwein«, murmelte ich. »Ein grunzendes, schnaubendes, versoffenes Schwein!«

  »Schweig!«, brüllte er. »Er wird mir im Alter eine Stütze sein. Ich kann nicht mehr lange hinter dem Pflug gehen. Meine alten Wunden schmerzen. Der Mann deiner Schwester Ysabel ist ein Hund. Er unterstützt mich nicht. François - ist anders. Er wird dich schon zu zähmen wissen. Er wird dich nicht so verwöhnen, wie ich es getan habe. Du wirst ihm aus der Hand fressen, meine feine Tochter.«

  Bei diesen Worten sah ich alles wie durch einen roten Nebel - wie immer, wenn er vom Zähmen sprach. Ich schleuderte die Holzstücke zu Boden, die ich mechanisch aufgehoben hatte, und meine ganze Wut strömte mir über die Lippen.

  »Möge er in der Hölle verrotten und du mit ihm!«, kreischte ich. »Ich werde ihn nicht heiraten! Prügle mich, töte mich, tu mit mir, was du willst! Aber ich werde niemals mit François das Bett teilen!«

  Da glomm in den Augen meines Vaters ein höllisches Feuer auf, und wäre ich nicht vor Wut halb verrückt gewesen, so hätte ich vor Angst gebebt. In seinen Augen spiegelte sich die ganze Leidenschaft und Brutalität, mit der er als Söldner geplündert, gemordet und vergewaltigt hatte. Er brüllte auf, sprang mich an und schlug mit der rechten Faust nach meinem Kopf.

  Ich wich aus, und er versuchte es mit der linken. Wie- der schlug er in die Luft als ich mich duckte. Aber dann bekam er mein offenes Haar zu fassen, wand es um sei-

ne Hand und riss mir den Kopf in den Nacken, so dass er mir fast das Genick brach. Dann hieb er mir mit der geballten Rechten gegen das Kinn, und das Sonnenlicht

verschwand und machte völliger Schwarze Platz.

  Ich musste eine ziemlich lange Zeit bewusstlos gewesen sein, denn ich merkte nichts davon, dass mein Vater mich an den Haaren durch den Wald und ins Dorf schleifte. Es war nichts Neues für mich, nach einer Tracht Prügel wieder das Bewusstsein zu erlangen, aber ich war schwach und benommen, und meine Glieder schmerzten von dem rauen Boden, über den er mich gezerrt hatte.

  Ich lag in unserer heruntergekommenen Hütte, und als ich mich mühsam aufsetzte, bemerkte ich, dass man mir meinen einfachen Wollkittel ausgezogen und

mich in ein feines Brautkleid gesteckt hatte. Beim heiligen Denis, es fühlte sich grässlicher an als die Berührung durch eine schleimige Schlange, und Panik befiel

mich. Ich hätte es mir vom Leib gerissen, aber da überkam mich eine Welle von Übelkeit, und ich sank stöhnend zurück. Ich versank in schwarzer Verzweiflung und sah mich in einer Falle gefangen, aus der ich mich vergeblich zu befreien versuchte. Alle Kräfte schwanden mir, und ich hätte geweint, wenn ich dazu imstande gewesen wäre. Aber ich hatte es nie gekonnt. Und zum Fluchen war ich zu verzweifelt. und so lag ich schweigend da und starrte zu dem von Ratten angenagten Dachstuhl der Hütte hoch.

  In diesem Moment bemerkte ich, dass jemand die Hütte betreten hatte. Von draußen her erklang der Lärm von Stimmen und Gelächter, als sich die Leute sammelten. Meine Schwester Ysabel war es, die den Raum betreten hatte, und im Arm hielt sie ihr jüngstes Kind. Sie blickte auf mich herab, und ich bemerkte, wie gebeugt sie dastand, wie verkrümmt ihre Hände waren, und wie Müdigkeit und Schmerz in ihren Gesichtszügen lag. Die Festkleidung, die sie trug, schien all dies ans Tageslicht zu bringen, denn ich hatte nie etwas bemerkt, wenn sie ihre üblichen Arbeitskleider trug.

  »Sie bereiten die Hochzeit vor, Agnes«, sagte sie auf ihre zögerliche Art. Ich gab keine Antwort. Sie setzte den Säugling auf den Boden, kniete neben mir nieder und sah mich seltsam sinnend an.

  »Du bist jung, stark und unverbraucht, Agnes«, sagte sie, und es schien, als richte sie diese Worte mehr an sich als an mich. »Du bist fast schön in deinem Hochzeitskleid. Bist du nicht glücklich?«

  Müde schloss ich die Augen.

  »Du solltest lachen und fröhlich sein«, seufzte sie, und es klang fast wie ein Stöhnen. »Dieses Ereignis ist einmalig im Leben eines Mädchens. Du liebst François nicht. Aber ich habe Guillaume auch nicht geliebt. Das Leben ist hart für eine Frau. Dein stattlicher Körper wird sich beugen wie meiner und vom Gebären schlaff werden; deine Hände verkrümmen sich, dein Geist wird abgestumpft vor Arbeit und Müdigkeit und von dem ewigen Anblick des Gesichts eines Mannes, den du hasst...«

  Da schlug ich die Augen auf und sah zu ihr hoch.

  »Ich bin nur wenige Jahre älter als du, Agnes«, murmelte sie. »Und sieh mich an. Willst du so werden wie ich?«

  »Was kann ein Mädchen schon tun?«, fragte ich ratlos.

  Als sie mir in die Augen sah, brannte ihr Blick mit einer Ahnung der Wildheit, die ich so oft in den Augen unseres Vaters hatte glühen sehen.

  »Nur eines!«, flüsterte sie. »Das einzige, was eine Frau tun kann, um frei zu werden. Klammere dich nicht an das Leben, um so zu werden wie unsere Mutter und deine Schwester; lebe nicht so wie ich. Geh, solange du noch stark, stattlich und hübsch bist. Da!«

  Sie bückte sich rasch, drückte mir etwas in die Hand, und dann packte sie das Kind und war verschwunden.

  Ich starrte gebannt auf den schmalen Dolch in meiner Hand.

  Dann blickte ich zum Dachgebälk hoch und wusste, was sie gemeint hatte. Aber als ich so dalag und meine Finger sich um den schlanken Griff schlossen, drangen

seltsame und fremdartige Gedanken in meinen Geist.

  Die Berührung des Griffes verursachte ein Prickeln in den Adern meines Armes, war mir auf eigenartige Weise gewohnt und löste Assoziationen aus, die ich nicht verstand, aber irgendwie fühlte. Noch nie zuvor hatte ich eine Waffe in der Hand gehabt außer eine Holzfälleraxt oder ein Küchenmesser. Der schlanke, tödliche Gegenstand, der in meiner Hand schimmerte, erschien mir irgendwie wie ein alter Freund, der nach Hause zurückgekehrt war.

  Von draußen vor der Tür wurden Stimmen laut, und Schritte ertönten. Rasch schob ich den Dolch in den Ausschnitt des Kleides. Die Tür ging auf, Finger hielten sich an den Türpfosten fest, und Gesichter starrten mich an. Ich sah meine phlegmatische, farblose Mutter - ein Arbeitstier mit den Gefühlen eines Arbeitstiers - und hinter ihr meine Schwester. Und in ihrem Gesicht entdeckte ich einen Schatten der Enttäuschung und der Sorge, als sie mich am Leben sah, und sie wandte sich ab.

  Die anderen strömten in die Hütte und zerrten mich lachend und scherzend von meinem Lager. Ob sie mein Widerstreben jungfräulicher Scheu zuschrieben oder meinen Hass auf François kannten, spielte kaum mehr eine Rolle. Mein Vater hielt eines meiner Handgelenke in eisernem Griff, das andere hielt eine geschwätzige Frau, und so zerrten sie mich aus der Hütte und in einen Kreis laut lachender Leute. Männer und Frauen waren gleicherweise bereits halb betrunken. Ihre groben Scherze und Zoten fielen auf taube Ohren, denn ich kämpfte wie ein wildes Tier blindlings und ohne zu denken, und meine Begleiter mussten alle ihre Kräfte aufwenden, um mich mit sich zu schleppen. Ich vernahm, wie mein Vater mich leise verfluchte, und er verdrehte mir das Handgelenk, bis der Knochen nachzugeben drohte, aber er bekam nichts weiter aus mir heraus als einen Fluch, mit dem ich seine Seele zur Hölle wünschte.

  Ich sah, wie der Priester einen Schritt vortrat. Es war ein dürrer, blinzelnder alter Narr, den ich ebenso hasste wie ich alle anderen hasste. Und auch François trat mir entgegen.

  Er hatte ein neues Wams und neue Hosen angezogen, und um seinen feisten, roten Hals hing eine Blumengirlande. Die dicken Lippen waren zu einem ekelhaften Lächeln verzogen, das mir einen Schauer über den Rücken jagte. Er stand da und grinste blöde, aber in seinen Schweinsau gen blitzte es lüstern.

  Bei seinem Anblick gab ich meinen Widerstand auf und stand wie erstarrt da. Meine Begleiter ließen mich los und traten zurück, und so starrte ich ihn einen Augenblick lang schweigend an.

  »Küss sie, Junge!«, brüllte ein Besoffener, und da riss ich den Dolch hervor und schnellte wie von der Feder geschossen gegen François. Dies geschah derart rasch, dass es die schwerfälligen Narren nicht einmal merkten, geschweige denn verhindern konnten. Der Dolch grub sich bis ans Heft in sein Herz, ehe ihm noch zu Bewusstsein kam, dass ich ihn angegriffen hatte. Ich frohlockte laut, als der Ausdruck ungläubigen Erstaunens auf seinem roten Gesicht von Schmerz abgelöst wurde, riss den Dolch heraus, und er fiel mit einem gurgelnden Laut. Zwischen seinen verkrümmten Fingern drang Blut und färbte die Blumenkette.

  Es dauert lange, es zu erzählen, aber es geschah binnen eines einzigen Augenblicks. Ich sprang, schlug zu und floh auch schon. Mein Vater, der Soldat, reagierte rascher als die übrigen, heulte auf und stürzte vor, um mich zu erhaschen, doch griffen seine Hände ins Leere. Ich schoss durch die überraschte Menge und in den Wald.

  Als ich die ersten Bäume erreichte, hatte sich mein Vater einen Bogen ergriffen und jagte mir einen Pfeil nach. Ich sprang zur Seite, und das Geschoss fuhr in einen Baumstamm neben mir.

  »Du betrunkener Narr!«, rief ich und lachte wild. »Du musst bereits an Altersschwäche leiden, wenn du ein solches Ziel verfehlst!«

  »Komm zurück, du Hure!«, brüllte er wütend.

  »Zur Hölle mit dir«, gab ich zurück, »und möge der Teufel dein schwarzes Herz fressen!« Das war der Abschied von meinem Vater, als ich mich umwandte und in den Wald floh.

 

  Wie weit ich floh... ich weiß es nicht. Hinter mir vernahm ich das Geschrei der Dorfbewohner, als sie mich stolpernd verfolgten. Ihre Rufe wurden leiser und verstummten schließlich in der Ferne. Nur wenige der tapferen Dörfler brachten den Mut auf, mir in den tiefen Wald zu folgen, in dem es bereits dunkelte. Ich rannte, bis mir der Atem in den Lungen rasselte und die Knie nachzugeben drohten. Da warf ich mich auf den weichen, laubbedeckten Lehmboden und blieb halb bewusstlos liegen, bis der Mond aufging und die höchsten Zweige in frostiges Silber tauchte und die Schatten noch mehr schwärzte. Rings um mich vernahm ich Rascheln und Bewegungen, was auf die Anwesenheit von Tieren oder vielleicht gar Werwölfen oder Vampiren schließen ließ. Aber ich fürchtete mich nicht. Ich hatte schon früher im Wald übernachtet, wenn mich die Dunkelheit fern vom Dorf mit meinem Reisigbündel überrascht oder mein Vater mich in seinem Rausch aus der Hütte gejagt hatte.

  Ich erhob mich und ging im Mondlicht und in der Dunkelheit weiter. Ich achtete nicht sonderlich auf die Richtung, solange ich mich nur vom Dorf entfernte. Vor dem Morgengrauen überkam mich die Müdigkeit. Ich warf mich wieder auf den Lehmboden und schlief ein, ohne viele Gedanken an wilde Tiere oder Ungeheuer zu verschwenden.

  Als der Morgen dämmerte, erwachte ich unbehelligt und verspürte riesigen Hunger. Ich setzte mich auf und dachte kurz über meine seltsame Lage nach. Beim Anblick meines zerrissenen Hochzeitskleides und des blutbefleckten Dolches im Gürtel fiel mir alles wieder ein. Und wiederum lachte ich bei dem Gedanken an François' Gesichtsausdruck, als er zu Boden gestürzt war, und ein erregtes Gefühl der Freiheit durchflutete mich, so dass ich das Bedürfnis verspürte, wie eine Verrückte zu tanzen und zu singen. Stattdessen jedoch säuberte ich den Dolch mit einigen Blättern, schob ihn wieder in den Gürtel und ging der aufgehenden Sonne

entgegen.

  Nach kurzer Zeit gelangte ich auf einen Weg, der sich durch den Wald wand, worüber ich sehr erfreut war, denn meine Hochzeitsschuhe waren fast am Ende. Barfuß zu gehen war ich natürlich gewöhnt, aber die Wurzeln und Zweige auf dem Waldboden schmerzten mich doch.

  Die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, als ich vor einer Biegung des Weges, der eigentlich eher als Pfad bezeichnet werden musste, das Geräusch von Pferdehufen vernahm. Der Instinkt riet mir, mich in den Büschen zu verbergen. Aber ein anderer Instinkt hielt mich davon ab. Meine Seele war frei von Furcht. Und daher stand ich regungslos und mit dem Dolch in der Hand in der Mitte des Pfades, als der Reiter um die Biegung kam und mit einem überraschten Fluch das Pferd zum Stehen brachte.

  Er starrte mich an, und ich erwiderte schweigend seinen Blick. Er sah irgendwie gut aus, war von etwas überdurchschnittlicher Größe und eher schlank. Sein Pferd war ein schwarzer Hengst, das Zaumzeug aus rotem Leder und glänzendem Metall, und er selbst war mit seidenen Hosen und einem etwas schäbigen samtenen Wams angetan. Ein scharlachroter Mantel hing ihm von den Schultern, und an seiner Kappe steckte eine Feder. Er besaß kein Wehrgehänge, doch hing ein Degen in einer abgenutzten Lederscheide an seinem Gürtel.

  »Beim heiligen Denis!«, rief er aus. »Bist du eine Waldnymphe oder gar Göttin der Morgendämmerung, Mädchen?«

  »Und wer fragt mich das?«, gab ich zurück. Ich empfand weder Furcht noch Scheu.

  »Ich bin Etienne Villers und stamme aus Aquitanien«, antwortete er und biss sich sogleich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, als ärgerte er sich über seine Worte. Dann betrachtete er mich vom Scheitel bis zur Sohle und lachte. »Aus welcher verrückten Mär stammst denn du?«, fragte er. »Ein rothaariges Mädchen in zerrissenem Hochzeitsgewand, mit einem Dolch in der Hand und mitten im grünen Wald, gerade, als die Sonne aufgeht! Das ist ja besser als in einem Roman! Komm, gutes Mädchen, erkläre mir den Scherz.«

  »Daran ist nichts von einem Scherz«, murmelte ich mürrisch.

  »Aber wer bist du?«, beharrte er auf seiner Frage.

  »Mein Name ist Agnes de Chastillon«, antwortete ich.

  Er lachte und schlug sich auf den Schenkel. »Eine verkleidete vornehme Dame!«,  spottete er. »Beim heiligen Ives, die Geschichte wird noch interessanter! Aus welchem düsteren Turm in welchem von einem Riesen gehüteten Schloss seid Ihr denn im Gewand einer Bäuerin geflohen, meine Lady?« Mit einer weit ausladenden Bewegung nahm er die Mütze vom Kopf.

  »Ich habe genauso viel Recht auf den Namen wie so manche, die hochtrabende Titel tragen«, antwortete ich erzürnt. »Mein Vater ist der uneheliche Sohn einer Bäuerin und des Duc de Chastillon. Er hat stets diesen Namen gehabt, und wir Töchter haben ihn von ihm. Wenn du ihn nicht magst, so ziehe deines Weges. Ich

habe dich nicht gebeten, anzuhalten und mich zu verspotten!«

  »Es war nicht meine Absicht, dich zu verspotten«, beteuerte er und ließ seinen Blick gierig über meinen Körper schweifen. »Beim heiligen Trignan, dir passt ein

edler Name besser als so mancher wohlgeborener Lady. Bei Zeus und Apollo, du bist ein schlankes und rankes Mädchen - ein wahrer Pfirsich der Normandie, bei meiner Ehre! Ich möchte gern dein Freund sein; sag' mir, warum du zu dieser Stunde dich in zerfetztem Hochzeitsgewand und ruinierten Schuhen im Wald aufhältst.«

  Er schwang sich flink von seinem Reittier und stand mit der Kappe in der Hand vor mir. Seine Lippen lächelten nicht, und die dunklen Augen spotteten meiner nicht, obwohl sie in einem inneren Feuer zu glühen schienen. Seine Frage brachte mir plötzlich zu Bewusstsein, wie allein und hilflos ich war. Es war also nur natürlich, dass ich mich dem ersten freundlichen Fremden anvertraute; und außerdem hatte Etienne Villiers etwas an sich, was die Frauen dazu brachte, ihm zu vertrauen.

  »Ich floh gestern Abend aus dem Dorf La Fère«, sagte ich. »Man wollte mich mit einem Mann verheiraten, den ich hasste.«

  »Und du hast die Nacht allein im Wald verbracht?«

  »Warum nicht?«

  Er schüttelte den Kopf, als fände er es schwierig, mir zu glauben. »Aber was willst du jetzt unternehmen?«, fragte er. »Hast du Freunde in der Nahe?«

  »Ich habe keine Freunde«, antwortete ich. »Ich werde weiterwandern, bis ich vor Hunger sterbe oder mir etwas anderes zustößt.«

  Er dachte eine Weile nach, während er mit Daumen und Zeigefinger an seinem glattrasierten Kinn zupfte. Dreimal hob er den Kopf und betrachtete mich, und einmal glaubte ich einen dunklen Schatten über sein Gesicht huschen zu sehen, der ihn fast zu einem anderen Mann machte, Dann hob er den Kopf und sprach: »Du bist zu hübsch, als dass du im Wald umkommen oder von Räubern entführt werden solltest. Wenn du willst, bringe ich dich nach Chartres, wo du dich als Schankmädchen verdingen kannst. Kannst du arbeiten?«

  »Kein Mann in La Fère bringt mehr zustande«, antwortete ich.

  »Beim heiligen Ives, das glaube ich dir«, sagte er mit anerkennendem Kopfnicken. »Dir haftet mit deiner Größe und Geschmeidigkeit fast etwas Heidnisches an. Komm mit; vertraust du mir?«

  »Ich möchte dir keine Schwierigkeiten bereiten«, gab ich zurück. »Männer aus La Fère werden mich verfolgen.«

  »Pah!«, meinte er verächtlich. »Wer hat jemals von einem Bauern vernommen, der sich weiter als drei Meilen von seinem Dorf entfernt? Du hast nichts zu befürchten.«

  »Meinen Vater«, widersprach ich grimmig. »Er ist kein Bauer. Er war einmal Soldat. Er wird mir weithin folgen und mich töten, sobald er mich findet.«

  »Da müssen wir uns etwas ausdenken, um ihn zu täuschen. Ha! Ich habe es! Mir fällt ein, ich habe eine Meile weiter hinten einen Jüngling getroffen, dessen Kleider

dir passen müssten. Bleib hier, bis ich zurückkehre. Wir werden einen Jüngling aus dir machen!«

  Er riss das Pferd herum und galoppierte von dannen.

  Ich blickte ihm nach und fragte mich. ob ich ihn wohl Wiedersehen würde oder ob er mich nur zum Narren gehalten hatte. Ich wartete, und die Hufschläge verhallten in der Ferne. Stille herrschte in dem grünen Wald, und in mir machte sich nagender Hunger bemerkbar.

  Nach einer Ewigkeit des Wartens waren wieder die Hufschläge zu vernehmen, und Etienne Villiers kam fröhlich lachend herangeritten und schwenkte ein Kleiderbündel.

  »Hast du ihn getötet?«, fragte ich.

  »Aber ich doch nicht!«, lachte Etienne. »Ich ließ ihn splitternackt laufen. Da, Mädchen! Geh dort ins Gebüsch und zieh dir rasch diese Kleider an. Es sind noch

viele Meilen nach Chartres, und wir müssen uns auf den Weg machen. Wirf mir die Mädchenkleider zu. Ich werde sie am Ufer des Flusses zurücklassen, der in der Nähe durch den Wald fließt. Vielleicht findet man sie und glaubt, dass du ertrunken bist.«

  Er war zurück, ehe ich noch mit dem Anziehen der ungewohnten Kleider fertig war, und rief mir durch die Büsche zu: »Dein verehrter Vater wird nach einem Mädchen suchen, und nicht nach einem Knaben.« Er lachte. »Und wenn er die Bauern fragt, ob sie ein großes, rothaariges Mädchen gesehen haben, werden sie ihre dummen Köpfe schütteln, Ha, ha! Recht geschieht das diesem alten Schurken.«

  Dann trat ich aus dem Gebüsch, und er starrte mich in meinen neuen Kleidern - Hemd, Hose und Mütze - an. Die Kleidungsstücke fühlten sich fremdartig an, gewährten mir jedoch Bewegungsfreiheiten, die mir die Röcke versagt hatten.

  »Zeus!«, murmelte er. »Die Verkleidung ist nicht so gut, wie ich gehofft hatte. Selbst ein Blinder merkt, dass unter diesen Kleidern kein Mann steckt. Ich werde dir mit dem Dolch die roten Locken abschneiden; vielleicht hilft das.«

  Aber nachdem er das Haar gestutzt hatte. so dass es nicht ganz die Schultern erreichte, zuckte er die Schultern. »Selbst jetzt bist du noch leicht als Frau zu erkennen«, stellte er fest  »Vielleicht lässt sich ein Fremder täuschen, wenn wir rasch an ihm vorbeireiten. Wir müssen es riskieren.«

  »Warum kümmerst du dich um mich?«, fragte ich neugierig, denn ich war an Freundlichkeit nicht gewöhnt.

  »Bei Gott! Welcher Mann könnte ein junges Mädchen im Walde zurücklassen, wo es verhungern muss? In meiner Börse befindet sich mehr Kupfer als Silber, und

mein Samt ist schäbig. aber Etienne Villiers schätzt seine Ehre ebenso hoch ein wie ein Ritter oder Baron. und niemals soll jemand in Not leiden, solange diese Börse

eine Münze enthält oder in dieser Scheide ein Degen steckt.«

  Als ich diese Worte vernahm. fühlte ich mich seltsam beschämt, denn ich war ungebildet und fand nicht die Worte, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Ich stammelte etwas, und er lächelte und bat mich zu schweigen. Er sagte, er benötigte keinen Dank, denn eine gute Tat bringt ihre eigene Belohnung mit sich.

  Dann schwang er sich auf das Ross und reichte mir die Hand. Ich schwang mich hinter ihn. und wir galoppierten den Pfad entlang. Ich hielt mich an seinem Gürtel fest und wurde halb von seinem Umhang eingehüllt, der in der Morgenbrise hinter ihm wehte. Und ich war mir sicher, dass jemand, der uns vorbeidonnern sah, uns für einen jungen Mann und einen Knaben anstatt für einen Mann und ein Mädchen halten würde.

  Je höher die Sonne emporstieg, desto hungriger wurde ich, aber das war nichts Außergewöhnliches in meinem Leben, und daher klagte ich nicht. Wir ritten in südöstlicher Richtung, und nach einiger Zeit schien es mir, als bemächtigte sich Etienne eine seltsame Nervosität. Er sprach wenig und hielt sich an die verkehrsarmen Wege. Ja, oft folgte er sogar Holzfällerpfaden, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelten. Nur selten stießen wir auf Menschen, und da handelte es sich bloß um Bauerntölpel, die uns anstarrten und die zerlumpte Mützen von den Köpfen rissen.

  Etwa um die Mittagszeit machten wir an einer Herberge halt. Es war eine einsame Waldschenke mit einem groben Schild, das man kaum länger erkannte. Etienne nannte es Zu den Spitzbubenfingern. Der Wirt, ein gebeugter Kerl mit einem verzerrten Grinsen, kam heraus, wischte sich die Hände an einem fettigen Lederschurz ab und nickte ein paarmal mit dem birnenförmigen Kopf.