Cover
Bascha Mika, Arnd Festerling (Hg.)
Freiheit
Wo unsere Freiheit beginnt und
wer sie bedroht
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2016 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-238-7

Inhaltsverzeichnis

Vowort
Freiheit – das unsterbliche Ideal
Bedrohte Freiheitsrechte
Die Grenzen der Forschungsfreiheit
Wie frei sind wir?
Frei-Berufler
Der freie Konsument
Wie frei Sport macht
Frei in die Zukunft
Herausgeber
Autoren
Bildnachweis

Vowort

Jeder führt sie im Munde, alle wollen sie haben. In ihrem Namen werden Ideologien begründet, Menschen in den Tod geschickt, Staaten errichtet. Als Schlagwort dient sie den Führern wie den Verführern, der Politik ebenso wie der Werbeindustrie. Sie ist ein großes Versprechen, das sich oft genug als hässliche Lüge enttarnt. Und angeblich ist sie nirgendwo grenzenloser als über den Wolken und selten schöner symbolisiert als im Flug eines Vogels.
Wir sprechen von Freiheit. Doch welche ist gemeint? Freiheit von Unterdrückung und Zwang? Die Freiheit, unser Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten? Geht es um die negative oder positive Freiheit? Freiheit wovon oder Freiheit wozu? Beginnt sie im Kopf oder erst mit dem gefüllten Bankkonto? Und gibt es einen Begriff in der westlichen Welt, mit dem im Laufe der Geschichte mehr Schindluder getrieben wurde?
Wir sind so frei! heißt der Titel unseres Buches. Eine Behauptung zunächst, eine Phrase. Sechs Wochen lang haben wir uns in der Frankfurter Rundschau mit dem Thema Freiheit beschäftigt. Mit Willensfreiheit, Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, mit der Freiheit der Kunst, der Wirtschaft, dem digitalen Datenfluss. Mit der Freiheit zur Selbstbestimmung, ihren Grenzen und der permanenten Bedrohung unserer Freiheitsrechte. Wir haben die politischen, sozialen, kulturellen und religiösen Aspekte des Themas aufgegriffen und diskutiert. Haben Denker und Philosophen befragt, Wissenschaftler und Alltagsbeobachter. Das Beste aus unserer Serie bieten wir Ihnen nun im vorliegenden Buch.
„Es gibt Menschen, die sind nicht frei,“ erzählt die siebenjährige Valeria in einem Beitrag, „so wie die Flüchtlinge.“ Kürzer und eindringlicher lässt sich Freiheit als unser aller Zukunftsaufgabe wohl kaum beschreiben. Vielleicht gibt dieses Buch Anregungen, wie wir diese Aufgabe bewältigen können. Vielleicht kann es Ihre Gedanken beflügeln und Ihnen Ideen liefern. Das wäre uns eine Freude.
Denn Freiheit ist kein Zustand, sondern eine ständige Herausforderung. Nehmen wir sie an!
Ihre
Bascha Mika & Arnd Festerling

Das unsterbliche Ideal

Die Idee der Freiheit gehört zum Schönsten, was die Menschheit hervorgebracht hat – nun muss sie reanimiert werden
Ein Gastbeitrag von Markus Tiedemann
Freiheit lässt sich aus zahlreichen Perspektiven erleben, analysieren, deuten, preisen oder kritisieren. Das Feld reicht von Abenteuerurlaub und romantischer Prosa über soziologische Untersuchungen, juristische Definitionen und empirische Hirnforschung bis hin zu Politiktheorie und philosophischer Metabetrachtung.
Die Idee der Freiheit gehört zum Wertvollsten und Schönsten, was die Menschheit je hervorgebracht hat. Sie ist zugleich die einzige belastbare Begründung und zentraler Ausdruck der Menschenwürde. Es handelt sich um die Selbstzuschreibung eines zum Guten fähigen Wesens. Ein Geschöpf, das kraft seiner Willensfreiheit moralische Entscheidungen zu fällen vermag und daher in Polisgemeinschaften leben sollte, die ein Maximum an individueller Freiheit ermöglichen.
Darüber hinaus ist Freiheit überaus selten. Bisher wurden nur die attische Demokratie und die neuzeitliche Aufklärung nachhaltig von dieser Idee geprägt. Die erste Epoche war zeitlich und geographisch sehr begrenzt und hat dennoch die entscheidende Initialzündung geleistet. Es waren Geister wie Perikles, Sokrates oder Epikur, die Moralität und Staat erstmals als Ausdruck eines freien Willens und bürgerlicher Selbstbestimmung definierten. Es war die Geburt unsterblicher Ideale, auch wenn Machtpolitik und Dogmatismus schnell wieder die Oberhand gewannen.
Die Aufklärungsbewegung der Neuzeit konnte auf das Gedankengut der attischen Antike zurückgreifen. Gemessen an zeitlicher und räumlicher Ausdehnung war diese zweite Phase ungleich erfolgreicher. Trotz grauenvoller Rückschläge und gewaltiger Anfeindungen erfasste sie einen stetig wachsenden Teil der Erdbevölkerung und gipfelte in der Etablierung von Rechtsstaaten, Demokratien und universalen Menschenrechten. Ihre Errungenschaften sind in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben, auch wenn vieles dafür spricht, dass wir gerade den Niedergang dieser zweiten Freiheitsepoche erleben. Grund hierfür sind vor allem die Mut- und Kraftlosigkeit der Freiheitsverteidiger.
In der Vergangenheit wurde die Freiheit nicht nur gegen religiöse Dogmen und feudale Herrschaftsansprüche erstritten, sie vermochte sich auch gegen so gewaltige Bedrohungen wie Faschismus und Stalinismus zu behaupten. Im Vergleich dazu sind die Herausforderungen unserer Tage gering. Dennoch scheint es dem Freiheitsideal an Strahlkraft und Selbstvertrauen zu mangeln.
Auf der intellektuellen Ebene hat vor allem die wissenschaftliche Selbstkritik zu dieser Verunsicherung beigetragen. Spätestens seit Kants Kritik der reinen Vernunft gehört es zu den Tugenden der Aufklärung, mit sich selbst kritisch ins Gericht zu gehen; und tatsächlich gipfelt diese Selbstkritik in dem Eingeständnis, keinen ultimativen Beweis für die eigene Existenz zu haben. In der Postmoderne wurden Vernunft und Freiheit daher zu zufälligen Metaerzählungen degradiert.
Dabei wird jedoch übersehen, dass die Mängel am Nachweis der Vernunft keinesfalls mit deren Widerlegung verwechselt werden dürfen. Die Existenz der Freiheit ist aus kosmischer, religiöser, ökonomischer, soziologischer und psychologischer Perspektive in Frage gestellt worden. Am Ende all dieser deterministischen Menschenbilder steht stets die Verneinung von Mündigkeit und Entscheidungsfreiheit sowie Verantwortung, Haftbarkeit und Strafrecht. Vernunft und die durch sie ermöglichte Freiheit mögen nicht selbstevident sein, widerlegt sind sie deshalb noch lange nicht.
Philosophen wie Peter Bieri, Herbert Schnädelbach oder Julian Nida-Rümelin haben darauf hingewiesen, dass ein transzendentales Verständnis von Willensfreiheit durch die empirischen Befunde der Hirnforschung kaum tangiert wird. Der Nachweis von vorbewussten Hirnaktivitäten stellt für dieses Selbstverständnis jedenfalls keine existenzielle Bedrohung da. Dies gilt insbesondere dann, wenn es, wie im berühmten Libet-Experiment, um die Entscheidung geht, den rechten oder den linken Zeigefinger zu heben.
Motorische Bewegungen folgen aber keinen Gründen, sondern Neigungen, die spätestens seit Kant als Repräsentanten der Unfreiheit gelten. Ja, es sind Hirnareale aktiv, bevor der Mensch eine bewusste Entscheidung über motorische Bewegungen trifft – doch bedeutet dies, dass all unser Tun die notwendige Folge einer Kausalkette ist, welche von einem Laplace’schen Dämon bis zum Urknall zurückverfolgt werden könnte?
Selbstverständlich sind Vernunft und Wille an kausale Bedingungen des Leibes gebunden. Seit Descartes hat niemand mehr ernsthaft von einem absolut autonomen Geist in der Maschine gesprochen. Die Entwicklung hin zum Potenzial der Entscheidungsfreiheit ist selbstverständlich von zahlreichen Determinanten geprägt. Wir alle müssen gezeugt, geboren, ernährt, erzogen und wohl auch gebildet werden, um ein Gehirn zu entwickeln, das von Vorgaben und Neigungen zu abstrahieren vermag. Ein absolut freier Wille, so Peter Bieri, ist eine absurde Vorstellung. Ein solcher Wille müsste nämlich auch unabhängig von den Erfahrungen, Wünschen und Prinzipien der entsprechenden Person sein. Kurz: Er wäre gar nicht der Wille einer Person, sondern ein frei schwebendes Etwas.
Entscheidend ist die Frage, ob unser Hirn in der Lage ist, Entscheidungen nach Gründen ohne ursächliche Bestimmung durch Wünsche und Neigungen zu treffen. Vieles spricht dafür. Unsere Sprachen kennen den Unterschied zwischen Sein und Sollen. Wir können uns fragen, ob das Bekannte oder Begehrte auch das prinzipiell Wünschenswerte ist. Auf dieser Basis kann die Entscheidung darüber, was getan und gewollt werden sollte, durchaus als frei gedacht werden. Nach Kant ist Freiheit nur im Moment des moralischen Urteils zu denken. Hierfür bedarf es Zeit und Innehalten. Argumente und Gründe müssen auf ihre Verallgemeinerbarkeit geprüft werden. Letztendlich handelt es sich um die Fähigkeit des Menschen, zwischen Sein und Sollen zu unterscheiden und universelle Prinzipien zu entwickeln. Selbstverständlich kann aus der Außenperspektive jede Entscheidung des Menschen als Folge prägender Determinanten interpretiert werden. Dies schließt aber nicht aus, dass der Betroffene seine Entscheidungen als frei erleben kann und dass diese Innenperspektive die richtige sein könnte.
Stellen Sie sich vor, Sie würden als Schiffbrüchiger mit letzter Kraft auf zwei gleich weit entfernte Inseln zutreiben. Am Strand der ersten Insel wartet ein hungriger Löwe. Auf der zweiten Insel steht ein hungriger Mensch mit einer Keule. Sie werden die zweite Insel ansteuern, obwohl die bisherigen Erfahrungen mit unserer Gattung wenig Anlass zum Optimismus geben. Wahrscheinlich ist noch kein vergleichbarer Fall positiv getestet worden und dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein moralischer Appell Wirkung zeigt. Genau dieses Freiheitspotenzial ist bisher nicht widerlegt worden, weshalb gute Gründe bestehen, an Willensfreiheit und Menschenwürde festzuhalten.
Auf der Ebene der sozialen Alltagserfahrung haben vor allem Gewohnheit und einseitige Fokussierung die Leidenschaft der Freiheitsidee erlahmen lassen. Die Ursachen reichen von Geschichtsvergessenheit, Undankbarkeit und Ignoranz bis zur Reduzierung auf einen reinen Wirtschaftsliberalismus. Consumo, ergo sum! Wer Freiheit auf den möglichst ungestörten Zugang und Verbrauch von Ressourcen reduziert, macht sie trivial. Dieser durch Konsum statt Würde definierten Freiheit fehlt die Anziehungskraft, um gegenüber Konkurrenten wie Weltherrschafts- oder Erlösungsphantasien bestehen zu können. Und so ist das Erstarken zweier alter Freiheitsgegner zu beobachten: Nationalismus und Religion.
Die Überwindung des Nationalismus gehörte stets zum Selbstverständnis der Aufklärung. Wer die Menschenwürde durch Mündigkeit und Willensfreiheit definiert, sieht zumindest a priori keine Gründe dafür, Menschen nach Nationen, Kulturen, Sprachen oder gar Rassen zu klassifizieren oder zu trennen. Aus eben diesem Grund zählt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu den grandiosesten Triumphen der Freiheit.
Leider wird die aktuelle Tagespolitik durch den Anstieg zahlreicher Nationalismen dominiert. Insbesondere die europäische Idee erleidet dabei schweren Schaden. Nirgends wird dies deutlicher als in der aktuellen Flüchtlingsproblematik. Von Solidarität innerhalb einer Union oder gar einer universalen Selbstverpflichtung auf die Menschenrechte ist wenig zu spüren.
Ebenso wenig darf vergessen werden, dass die Menschen- und Freiheitsrechte nicht durch, sondern gegen die Kirchen erstritten wurden. „Versuche nicht zu verstehen, um zu glauben, sondern glaube, um zu verstehen!“, lautete das Credo des heiligen Augustinus. Dies ist das Gegenteil einer auf Vernunft gründenden Willensfreiheit. Wesenskern der Aufklärung ist das Geben und Prüfen von Gründen, die Bereitschaft, sich dem zwanglosen Zwang des besseren Argumentes zu beugen. Dieser Weg ist jeder dogmatischen Lehre verstellt. Stattdessen wird das Vertrauen in eine Autorität gefordert, obwohl oder gerade weil diese nicht bewiesen oder verstanden werden kann.
Religion kann zu Barmherzigkeit und Milde aufrufen. Leider gilt dies aber ebenso für Martyrium und Blutrausch. Laizismus und Säkularismus, verstanden als die Unterwerfung der Religionen unter ein allgemeines, verbindliches Recht, zählen daher zu den wichtigsten Errungenschaften der Aufklärung. Es handelt sich um die Überzeugung, dass Religion zu den selbstverständlichen Rechten der privaten Lebensführung gehört, aber keinerlei Einfluss auf Regierung und Rechtsprechung nehmen darf. Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, dass auch diese Errungenschaft einer atemberaubenden Erosion unterliegt.
Als 2010 der jahrzehntelange Missbrauch an Schutzbefohlenen der katholischen Kirche bekannt wurde, reagierte Erzbischof Robert Zollitsch, der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, mit einem Anruf bei der Bundeskanzlerin. Formuliert wurde eine Beschwerde darüber, dass die vom Volke legitimierte Justizministerin sein Personal ebenso der Strafverfolgung unterstellt wie alle anderen Bürger. Die Reaktion der Bundeskanzlerin bestand nicht in einem Besuch des Verfassungsschutzes. Stattdessen wurde ein Runder Tisch eingerichtet.
Wenige Jahre zuvor begann mit dem Streit um die sogenannten Mohammed-Karikaturen eine noch dramatischere Entwicklung. Es muss daran erinnert werden, dass die empörten dänischen Imame zunächst den Rechtsweg beschritten. Rechtstreue erweist sich aber nicht durch den Gebrauch der zur Verfügung stehenden Dienstleistungen, sondern in der Akzeptanz des Urteils. Leider spricht es daher für sich, dass auf die Zurückweisung der Klage mit Unterlagenfälschung, Massenprotesten, Brandanschlägen und Mord reagiert wurde. „Go to hell freedom!“, war immer wieder auf Plakaten zu lesen. Deutlicher kann man den Systemkonflikt nicht formulieren.
Scham bewirkt die Erkenntnis, wie rasch die Bereitschaft zur Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung zurückgedrängt werden konnte. Als vor 26 Jahren die Fatwa gegen Salman Rushdie ausgesprochen wurde, schien die Solidarität der aufgeklärten Welt noch belastbar zu sein. Mit der gebotenen Empörung wurde das Todesurteil von höchster politischer Ebene zurückgewiesen, Aufenthaltsrecht und Schutzangebote wurden formuliert, die „Satanischen Verse“ wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, gedruckt und nicht selten allein aus prinzipiellen Überlegungen gekauft und gelesen.
17 Jahre später hatte sich das Bild dramatisch gewandelt. 2006 überschlugen sich europäische Staatsoberhäupter und Verleger mit Entschuldigungen und Bekundungen des Bedauerns, als dänische Karikaturisten es wagten, das Recht auf Pressefreiheit zu nutzen. In vorauseilender Unterwerfung wurden in zahlreichen europäischen Ländern sogar Gesetze zur Beschneidung der Religionskritik auf den Weg gebracht.
Dass diese schließlich scheiterten, könnte nur eine Atempause im Selbstauflösungsprozess der Freiheitsrechte sein. Mit „Charlie Hebdo“ schien für kurze Zeit ein Wendepunkt erreicht. Allerdings hat sich der Wind längst wieder gedreht. Es ist viel bequemer und sicherer, die Fehler bei den ach so unsensiblen Presseorganen zu suchen, statt sich mutig vor die Meinungsfreiheit zu stellen. Nach Pascale Bruckner haftet diesem Verhalten der „Geruch der Kapitulation“ an.
Dieser pessimistischen Diagnose ist wenig entgegenzuhalten. Allerdings bieten ausgerechnet die aktuellen Flüchtlingsströme eine einmalige Gelegenheit. Eine gelungene Integration könnte die Reanimation des Freiheitsideals bewirken. Während des sogenannten Arabischen Frühlings wurden die klassischen Freiheitsrechte mit großer Leidenschaft vertreten. Trotz des Scheiterns wird diese Erfahrung zu den prägenden Erlebnissen einer ganzen Generation gehören. Die Mehrheit der Menschen, die nun nach Europa flüchten, sucht vor allem Sicherheit.
Doch es ist nur ein kleiner Schritt, um zu verstehen, dass Sicherheit nur dort Bestand haben kann, wo die Freiheitsrechte geschützt werden. Wenn dies im großen Stil gelingt, dann wäre ein waffenloser Sieg über fanatische Organisationen und Ideologien errungen. Vielleicht ist genau dies der richtige Nährboden für eine neue leidenschaftliche Freiheitsliebe.
Zur Person
Markus Tiedemann ist Professor am Institut für vergleichende Ethik an der TU Dresden.

Die vorbereitete Entscheidung

Unser Gehirn ist oft schneller als unser Bewusstsein, sagt Neurowissenschaftler John-Dylan Haynes
Von Pamela Dörhöfer
Mit seinem freien Willen kann der Mensch sich über rein naturhaftes Geschehen erheben. Er kann sein Handeln selbst bestimmen und dessen mögliche Folgen abschätzen. Oder nicht? Sind wir vielleicht doch nur Marionetten, die zwar glauben, das Heft in der Hand zu halten, tatsächlich aber nur das ausführen, was die chemischen Prozesse im Gehirn vorgeben? Wenn es um die Frage nach dem freien Willen geht, scheint die Position der Hirnforscher klar zu sein: Sie halten ihn für ein Hirngespinst – so das gängige Klischee. Und viele Äußerungen renommierter Neurowissenschaftler zielen ja auch in diese Richtung, dutzende Zitate dazu finden sich allein bei flüchtiger Recherche im Internet.
Doch die Vorstellung, dass Hirnforscher per se dem Determinismus – in diesem Fall der Vorherbestimmtheit unseres Handelns durch Prozesse in unserem Gehirn – huldigen und grundsätzlich die Freiheit des Geistes negierten, sei verkürzt, sagt John-Dylan Haynes, Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale an der Charité-Universitätsmedizin und der Humboldt-Universität in Berlin. Die Frage, ob Menschen frei in ihren Entscheidungen seien, tauge nicht für „Schwarz-Weiß-Denken“. Das Thema sei vielschichtig und differenziert zu betrachten: „Die Debatte um die Willensfreiheit währt schon seit zweieinhalbtausend Jahren. Wir sollten die Möglichkeiten der modernen Neurowissenschaften nicht überschätzen.“
Der in England geborene Hirnforscher, der auch Psychologie und Philosophie studiert hat, leistete vor sieben Jahren mit einer Studie zum Prozess der neuronalen Entscheidungsfindung selbst einen bedeutenden und viel diskutierten Beitrag zu diesem Thema. Er verfeinerte ein früheres Experiment des US-amerikanischen Physiologen Benjamin Libet, das 1979 für viel Aufregung und heftige Kritik vor allem bei Geisteswissenschaftlern gesorgt hatte. Libet hatte bei den Teilnehmern die Aktivität des Gehirns vor und während einer körperlichen Bewegung gemessen und herausgefunden, dass das Hirn sie anbahnt, noch bevor jemand sie bewusst ausführt.
Knapp 30 Jahre später schickte das Team um John-Dylan Haynes Testpersonen in einen Kernspintomographen, um ihre Hirnaktivität bei einem ähnlichen Versuch aufzuzeichnen. Mit den modernen Geräten und ihrer hohen räumlichen Auflösung ließe sich sehr gut abbilden, was sich im Gehirn abspiele, erklärt der Neurowissenschaftler. In die rechte und die linke Hand bekamen die Teilnehmer einen Knopf. Die Wissenschaftler forderten sie auf, sich zu einem beliebigen Zeitpunkt für eine Seite zu entscheiden und den entsprechenden Knopf zu drücken. Parallel dazu sahen die Probanden auf einem Bildschirm Buchstaben, die alle halbe Sekunde wechselten. Die Teilnehmer sollten sich merken, welcher Buchstabe in dem Moment erschienen war, als sie ihre Wahl trafen. Auf diese Weise bekamen die Forscher einen zeitlichen Anhaltspunkt, um sich die Hirnaktivität anzuschauen, die der bewussten Entscheidung für die linke oder rechte Seite vorausgegangen war. Sie verwendeten dafür eine spezielle Software, die Gehirnmuster erkennen kann.
Auf der Basis der vom Computer aufgezeichneten Daten versuchten die Wissenschaftler im nächsten Schritt zu prognostizieren, welche Taste ein Teilnehmer drücken würde. Das Ergebnis: Bereits sieben Sekunden, bevor die Probanden ihre Entscheidung bewusst trafen, konnten die Forscher anhand der gemessenen Hirnaktivität vorhersagen, was jemand tun würde. Rechnet man noch die drei bis vier Sekunden Verzögerung bei der Darstellung des Kernspintomographen dazu, so vergehen zwischen der unbewussten Entscheidung im Gehirn und dem Augenblick, in dem das Bewusstsein ins Spiel kommt, tatsächlich rund zehn Sekunden. Die Trefferquote beim Vorhersagen der Entscheidung lag zwischen 60 und 70 Prozent – und damit deutlich über einem Zufallsbefund. Warum sich die Forscher trotzdem manchmal getäuscht haben? „Es besteht auch die Möglichkeit, dass das Gehirn nur eine Richtung vorgibt, die Entscheidung aber tatsächlich noch nicht vollständig getroffen ist“, erklärt Haynes. „Es stellt sich nun also die Frage, ob die Würfel gefallen sind und die Prozesse wie beim Domino nach dem Fallen des ersten Steins nicht mehr aufzuhalten sind oder aber ob nur eine Tendenz vorgegeben wird und wir uns danach noch umentscheiden können.“
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Haynes persönlich tendiert zur Annahme, „dass wir auch nach dem ersten Hirnsignal zu einem späteren Zeitpunkt noch eingreifen können“. Er spricht von „unbewussten Vorbereitungsprozessen“, die in einem bestimmten Moment in eine bewusste Entscheidung übergehen. Warum die Natur das so geregelt haben könnte? „Das ist sinnvoll. So müssen wir uns nicht mit jedem kleinen Detail befassen.“ Noch ungewiss ist außerdem, ob es einen „Point of no return“ gibt, wo eine im Unterbewussten angebahnte Entscheidung nicht mehr umzukehren ist; dieser Frage widmet sich der deutsch-britische Professor derzeit in einem aktuellen Forschungsprojekt an der Technischen Universität Berlin.
Ebenfalls nicht restlos geklärt ist die Rolle bestimmter Bereiche des Gehirns bei diesen Vorgängen: „Denn in diesem Fall sind die gleichen Regionen im präfrontalen Cortex für die Prozesse unter und über der Bewusstseinsschwelle zuständig. Das ist außergewöhnlich, und wir verstehen noch nicht genau, warum es sich so verhält.“
Was diese Erkenntnisse für die Existenz oder die Nicht-Existenz eines freien Willens bedeuten? „Die Testpersonen unseres Experiments hatten vor der bewussten Entscheidung das Gefühl, dass noch nicht feststeht, welche Taste sie drücken würden. Dabei war es bereits im Gehirn zu einem gewissen Grad vorprogrammiert“, sagt Haynes. „Insofern ist eine bestimmte Vorstellung, wie frei wir in unserem Willen sind, falsch. Unsere Handlungen sind oft viel stärker im Unbewussten vorbereitet als wir denken.“ Eine mögliche Umkehrbarkeit der Vorgabe aus dem Unbewussten würde diese Einschränkung des freien Willens gleichwohl auch wieder relativieren.
Und außerdem, gibt der Neurowissenschaftler zu bedenken: „All das kommt ja aus unserem Gehirn – und unser Gehirn, das sind ja wir selbst, es wird geformt auch durch unsere Erfahrungen, wir können es deshalb nicht als von unserer Persönlichkeit getrennt betrachten.“
Überdies müsse berücksichtigt werden, dass es bei seinem Versuch um eine „spontane Entscheidung“ gegangen sei, bei der es nicht viele Alternativen gebe und die – ganz wichtig – „wertfrei“ sei. Bei planvollen, langfristig wirkenden Entscheidungen hingegen seien ganz andere Netzwerke im Gehirn beteiligt. Hier sei es eher vorstellbar, dass ein freier Wille am Werk sei. „Es ist eine Frage der Definition: Meinen wir mit freiem Willen etwas, über das wir lange nachgedacht haben, oder meinen wir eine spontane Entscheidung? Bei Letzterer bin ich in Hinblick auf den freien Willen eher skeptisch.“
Zur Person
John-Dylan Haynes kam 1971 als Sohn einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters in Großbritannien zur Welt, wo er die ersten sieben Lebensjahre verbrachte. In Bremen studierte er Psychologie und Philosophie. 2005 wurde er Leiter einer Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Seit 2006 ist er Professor für Theorie und Analyse weiträumiger Hirnsignale am Bernstein Center for Computational Neuroscience und am Berlin Center for Advanced Neuroimaging der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Humboldt-Universität zu Berlin in Berlin.