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Sebastian Faulks

Der große Wahn

Roman

Aus dem Englischen
von Jochen Schimmang

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Der Übersetzer dankt dem Europäischen Übersetzerkollegium in Straelen für hervorragende Arbeitsbedingungen und die gewohnte Gastfreundschaft.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Where My Heart Used to Beat bei Hutchinson (Penguin Random House UK), London.

Copyright © Sebastian Faulks 2015

© 2017 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Anna Boucsein / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg
Abbildung [M] mare, Foto: Michael Telford / Getty Images

Lektorat Meike Herrmann
Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-335-4
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-258-6

www.mare.de

Für Veronica
La bellezza si risveglia l’anima di agire

Dunkles Haus, vor dem ich wieder steh’
Hier in der langen ungeliebten Straße,
Das Herz schlug über alle Maßen,
Hoffend darauf, dass ich dich wiederseh’ …

Aus »In Memoriam« von Alfred, Lord Tennyson

INHALT

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

DANK

ZITATNACHWEISE

Über das Buch

Über das Author

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ERSTES KAPITEL

Normalerweise fühle ich mich in Flughafenlounges, mit ihren Gratiserdnüssen und ihrer Anonymität, wie zu Hause, aber diesmal war ich vollkommen neben der Spur und konnte der Aufgeblasenheit nichts abgewinnen. Es war schwierig genug gewesen, bis hierher zu kommen. Die Schlangen auf dem Kennedy Airport zogen sich bis zu den Eingängen der Terminals; die Reisenden, die ihre Schrankkoffer zu den Check-in-Schaltern wuchteten, ließen eher an Lagos als an New York denken.

Ich hatte etwas Schlimmes getan und wollte raus aus der Stadt. Ich hatte ein paar Tage auf der Upper West Side verbracht, im Apartment meines Freundes Jonas Hoffman, und dorthin hatte ich auch das Callgirl kommen lassen. Die Nummer stammte aus einer Telefonzelle am Columbus Circle. Irgendwie wollte ich den Geschlechtsakt ins rechte Licht rücken, mich selbst verspotten, wie man andere Leute wegen ihrer Partnerwahl verspottet. Ein ehrlicher Blick auf mich selbst und meine Kümmernisse: Genau den hatte ich gesucht.

Ich darf mich durchaus einen Lüstling nennen und habe im Leben schon alles gesehen, aber als der Portier anrief, um mir zu sagen, dass eine junge Dame auf dem Weg zu mir nach oben sei, war ich doch ziemlich nervös. Die Klingel an der Wohnungstür schnarrte. Ich nahm einen Schluck vom Gin auf Eis und ging öffnen. Es war elf Uhr vormittags. Sie trug einen olivgrünen Mantel und hatte eine praktische Handtasche mit Spangenverschluss bei sich; einen Augenblick lang glaubte ich, dass sie Hoffmans Putzfrau sei. Nur die High Heels und der Lippenstift deuteten auf etwas Vergnüglicheres hin. Ich bot ihr einen Drink an.

»Nein, danke, Mister. Vielleicht ein Glas Wasser.«

Als ich mir vorgestellt hatte, wie sie aussehen würde, hatte ich an ein Pin-up gedacht – oder eine Nutte mit platinblondem Haar und Rouge. Diese Frau aber war von unbestimmter Nationalität, vielleicht puerto-ricanisch. Sie war in keiner Weise hässlich, aber schön war sie auch nicht. Sie sah aus wie die achtunddreißigjährige Schwester von irgendjemandem, wie die Frau, die die Aufsicht über den Waschsalon führt, oder eine, die in Midtown Manhattan hinterm Pult eines Reisebüros sitzt.

Ich holte das Wasser und setzte mich dann in Hoffmans großem, von Bücherregalen eingefasstem Wohnzimmer neben sie. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und trug darunter unpassenderweise ein Cocktailkleid. Ich musste unweigerlich an ihre Familie denken: Bruder, Eltern … Kinder. Ich legte meine Hand auf ihr Knie und spürte das grobe Nylon. Musste ich sie küssen? Das erschien mir zu intim, wir hatten uns doch gerade erst kennengelernt … Ich versuchte es trotzdem und spürte den unendlichen Überdruss in ihrer Reaktion.

Eine Erinnerung an Paula Wood blitzte auf, ein sechzehn Jahre altes Mädchen, das ich vor einer Ewigkeit in einem Gemeindezentrum geküsst hatte, noch bevor ich den ganzen Schrecken des Begehrens entdeckte. Diese Hure zu küssen, war, wie ein Mannequin zu küssen. Wie eine Wiederholung oder eine Erinnerung, jedenfalls nicht wie ein Kuss. Ich ging in die Küche und goss mir noch ein halbes Glas Gin ein, mit Eiswürfeln und zwei Scheibchen Zitrone dazu.

»Hier lang«, sagte ich und zeigte auf das Extrazimmer – mein Zimmer – am Ende des Flurs. Hoffman hatte es für seine Mutter vorgesehen, wenn sie zu Besuch aus Chicago kam, und als wir es betraten, fühlte ich mich einen Moment lang unbehaglich. Ich zog meine Schuhe aus und legte mich aufs Bett.

»Du solltest dich vielleicht ausziehen.«

»Sie sollten mich vielleicht erst mal bezahlen.«

Ich kramte Geld hervor und gab es ihr. Mit einem gewissen Widerstreben zog sie sich aus. Als sie fertig war, stellte sie sich neben mich. Sie nahm meine Hand und führte sie über ihr Abdomen und ihre Brüste. Der Bauch war rundlich, und an den Hüften gab es kleine Fettpolster, den Nabel hatte der Arzt bei der Geburt verpfuscht. Ihre Haut war sanft, und in ihren Augen sah ich so etwas wie Konzentration – nicht Zuneigung oder Interesse, eher das angestrengte Bemühen einer Nachwuchskraft. Ich fühlte mich äußerst müde und hätte am liebsten die Augen zugemacht. Zugleich empfand ich eine Verpflichtung dieser Frau gegenüber; wir waren nun mal beide in diese Sache verstrickt, auf Gedeih und Verderb.

Nach den Brüsten berührte ich das flache, knochige Sternum und das Klavikel. Ich fragte mich, wie sich meine Finger für sie anfühlen mochten. Wenn man seine Hand über die Haut eines anderen gleiten lässt, ist es dann wirklich nur die eigene Absicht, die die Hitze des Liebhabers von der Fürsorge des Arztes unterscheidet?

Dieses Mädchen fühlte vermutlich keins von beidem, sondern nur eine Reibung von Haut an Haut. Ich stand auf und zog meine Sachen aus und legte sie auf einen Stuhl. Bei Annalisa und mir passierte das in buchstäblich rasendem Tempo. Ich hatte immer panische Angst, meine Begierde an ihr niemals stillen zu können; ich fürchtete, dass sie gehen könnte, bevor wir überhaupt angefangen hatten, denn ich wusste, sobald die Tür hinter ihr zufiel, hätte ich schon wieder ein verzweifeltes Verlangen nach ihr. Und dieses Gefühl – diese rasende Angst – konnte nicht richtig und nicht echt sein, das wusste ich. Ich musste dringend eine gesündere Einstellung dazu gewinnen.

In Hoffmans Extrazimmer gab es einen Spiegel, der mir einen alternden Mann bei der Paarung mit einer Fremden zeigte: Das war endlich die zoologische Komödie, die ich haben wollte, die Kollision weißer Haut mit brauner, mein hässliches Gesicht rot angelaufen, ihr Kopf gesenkt und der Rücken durchgedrückt. Das war die Schmierenkomödie, die ich im Leben anderer Leute sah, und ich klatschte ihr voller Genugtuung auf den Hintern.

Hinterher drängte ich sie, auf einen Tee oder ein Bier zu bleiben, um unser Tauschgeschäft in zivilisierter Manier abzurunden. Sie erzählte mir, dass sie in Queens wohnte und in einem Schuhgeschäft aushalf. Ich hatte mir vage vorgestellt, es sei ein vollgültiger Job, eine New Yorker Hure zu sein, nicht gerade mit »Perspektiven« und Gewerkschaft, aber vielleicht mit einem beschützenden Luden unter der Straßenlaterne. Mehr wollte sie mir anscheinend nicht erzählen, vielleicht fürchtete sie, dann könnte der Lack ab sein. Ich schätze, sie wollte nicht, dass ich sie mir als Frau vorstellte, die ins Lager ging, um einen Herrenschuh Größe 7 zu holen.

Ein paar Minuten später lag sie ausgestreckt auf dem Teppich vor Hoffmans Kamin und wartete auf eine Wiederholung. Ich hatte wenig Lust auf ein zweites Mal, aber ich wollte ihr nicht die Chance nehmen, noch ein bisschen was zu verdienen. Mein Motiv unterschied sich nicht so sehr von damals, an dem Abend im Gemeindehaus, als ich ganz am Schluss Paula Woods Mutter zum Tanzen aufforderte. Höflichkeit, oder einfach eine Unkenntnis dessen, was Frauen wollen.

Als wir fertig waren, gab ich dem Mädchen noch einmal zwanzig Dollar, die es mit einem Dankesnicken zusammenfaltete und in seinem Portemonnaie verstaute.

»Was ist das für eine Narbe auf deiner Schulter?«, fragte sie.

»Eine Schusswunde. Eine Pistole.«

»Wie –«

»Das willst du nicht wissen.«

Ich holte ihren Mantel und hielt ihn ihr hin; als sie sich verabschiedete, gab es einen Moment der Verlegenheit. Musste ich sie küssen, und wenn ja, wie? Sie tippte mir auf die Wange und drückte dann ihre Lippen flüchtig auf die Stelle, wo die Finger gewesen waren. Auf seine Art war dies der erotischste Moment, den es zwischen uns gegeben hatte.

Als ich wieder allein war, ließ ich mich in den großen Armsessel fallen und sah über den Central Park hinweg. Ein paar einzelne Frauen liefen dort, jede vermutlich mit einer Pfefferspraydose in der Tasche ihrer Jogginghose; Mütter mit Kindern waren selbst zu dieser helllichten Tageszeit nicht zu sehen. Auch einige Männer mit Walkman-Kopfhörern trabten die Wege entlang – Gewalttäter oder Mitglieder einer Bürgerwehr, das war schwer zu sagen, jedenfalls sahen sie nicht wie Sportler aus. Die ganzen Mayor-Koch-Autoaufkleber hin oder her – niemand liebte das New York von 1980. Was sollte man an einer Stadt auch lieben, in der der Türsteher darauf bestand, dass man beim Verlassen der Stammkneipe wartete, bis das Taxi mit schon geöffneter Tür hart am Bordstein stand, abfahrbereit. Es waren nur drei Blocks bis zur Wohnung, aber man hatte mir eingeschärft, niemals zu Fuß zu gehen.

Nachdem ich im Badezimmer von Hoffmans Mutter geduscht hatte, goss ich mir noch einen Gin ein, ging zurück ins Wohnzimmer und dachte über die Hure nach. Es heißt, wenn man mit einer Frau schläft, sind alle ihre früheren Partner mit im Bett, aber ich habe das nie so empfunden. Und auf jeden Fall hätte es ein Bett sein müssen, das zum Repertoire einer Professionellen gepasst hätte. Dagegen habe ich immer schwach die Gegenwart meiner eigenen früheren Geliebten gespürt. Das Haar auf dem Kopfkissen, die Unbequemlichkeit der Matratze, die verschiedenen Abstufungen von Schuldbewusstsein … Was ich als junger Mann gehört und gelesen hatte, hatte in mir den Glauben geweckt, anhaltende sexuelle Leidenschaft, romantische »Liebe« sei die höchste Form der Beziehung überhaupt – vielleicht sogar die höchste Form der Existenz, die ein menschliches Wesen erstreben kann. Wie erbärmlich hatte ich da versagt. Wie selten hatte ich die Erfüllung und Gewissheit gespürt, eins mit jemand anderem zu sein – aber immerhin erinnere ich mich an das erste Mal, als das passierte.

Ich war achtundzwanzig Jahre alt und stand in der italienischen Hinterhofwohnung des Mädchens, das ich seit einigen Wochen umworben hatte. Selbst mit diesem zeitlichen Abstand fällt es mir schwer, sie beim Namen zu nennen, jene drei Silben ohne Schmerz auszusprechen, also nenne ich sie L. Es war Krieg – daher stammte meine Schusswunde –, und wir hatten miteinander geschlafen. Als ich dort stand, kam es mir vor, als hätten die Kommode, die langweilige Daunendecke auf dem Bett und die Wände des Zimmers in allen Regenbogenfarben zu schillern begonnen. Selbst das dünne Rollo schien zu leuchten. Ich schaute mich um, ob vielleicht irgendwo eine Lampe umgekippt war; dann sah ich sie, wie sie sich einem Spiegel entgegenbeugte und für den Abend zurechtmachte, sich mit einem weißen Taschentuch die Mundwinkel betupfte. Sie hielt inne, drehte sich zu mir um und lächelte. Ich trat einen Schritt zurück. Den ganzen Abend lang trug sie dieses Licht durch jeden Raum, den wir gleichsam mit unserem Leuchten erfüllten.

Als ich wieder unter Leute ging, hatte ich das Gefühl, dass der Besuch des Callgirls nicht unbemerkt geblieben war. Nicht nur, dass der Portier sich räusperte, als ich vorbeiging, nicht nur, wie der Barkeeper in der Kneipe an der Ecke das Gesicht verzog, als er mir meinen Drink einschenkte, selbst der Bettler im Hauseingang schien zu grienen, als er mich sah. Am Tag darauf dachte ich dann, ich sollte besser abhauen aus New York.

Eigentlich kam der Moment gerade recht. Ich war wegen einer medizinischen Tagung hierhergekommen und hatte in den Hörsälen der Columbia University in Upper Manhattan diversen Vorträgen gelauscht. Das Sponsorengeld der Pharmafirmen war dermaßen reichlich geflossen, dass die jüngeren Teilnehmer im letzten Moment von Bed-and-Breakfast-Unterkünften in der Gegend von Murray Hill ins Plaza umquartiert worden waren. Ich hatte mich in einer der obersten Etagen in einer Suite vom Ausmaß einer Scheune wiedergefunden, mit der ich nicht viel anfangen konnte. Das Ganze erinnerte weniger an ein Hotel als an eine Baustelle. Ich kämpfte vergebens mit der Regulierung der Klimaanlage; nachts seufzten und murmelten die Rohrleitungen in meinem unbenutzten Wohnzimmer wie die Gedankenmaschine eines erschöpften Irren.

Als die Konferenz zu Ende ging, entschloss ich mich, länger zu bleiben und in Hoffmans Apartment zu ziehen. Ich hatte Jonas nach dem Krieg auf der Medizinischen Hochschule in London kennengelernt, wohin er auf einer Art amerikanischem Zauberteppich durch die G. I. Bill of Rights oder durch ein Rhodes-Stipendium gelangt war. Unsere Freundschaft hatte die Tatsache überlebt, dass er es zu Geld gebracht hatte, indem er in seiner Praxis in der Park Avenue wissbegierige Frauen durch ihre Vergangenheit führte, während ich in einem Haus in Kensal Green praktizierte, das nur ein paar Schritte vom Friedhof entfernt lag. Die Erträge aus diesen langen Stunden des Zuhörens hatten es Hoffman ermöglicht, das Apartment zu erwerben, aus dessen Extrazimmer ich durchs Fenster die herbstliche Färbung der Bäume sehen konnte, während ich im Bett lag und die Zeitung las.

Mein Flug nach London war aufgerufen worden, also nahm ich meinen Aktenkoffer und verließ die Anonymität der Lounge – wie ich zugebe, nicht ohne einen plötzlichen Schmerz: Ich war nicht erpicht darauf, mich mit dem zu beschäftigen, was jenseits dieses Vakuums lag. Ich überlegte, wie viele hundert Male ich die Gangway eines Flugzeugs schon hochgestiegen war und ihre Scharniere und Nieten berührt hatte, während ich den Kopf einzog und ein Lächeln für das Bordpersonal aufsetzte, das mich mit untadelig gefalteten Händen erwartete. Sobald ich auf meinem Platz am Fenster saß, schluckte ich eine Schlaftablette und schlug ein Buch auf. Die Maschine setzte aus dem Stand zurück und lief auf ihren plumpen Reifen leer, dann verwandelte sie sich in eine Bestie, jagte wie verrückt über die Startbahn und presste mich gegen die Rücklehne meines Sitzes.

Die anderen Passagiere schlugen bald ihre Rätselhefte auf oder starrten nach oben auf die Trennwand, um den Film zu sehen. Mein Sitz befand sich in einem ungünstigen Winkel, sodass das Licht, das auf die Leinwand traf, alle Figuren als kolorierte Negative erscheinen ließ, wie Öl in Wasser. Den Fluggast vor mir schien es aber gepackt zu haben, denn er beugte sich vor und mampfte aus seiner Tüte mit Nüssen.

Nach einigen Gins spürte ich, wie die Schlaftablette in meine Blutbahn eindrang und sich dort auflöste. Ich zog das Rollo herunter, deckte mich mit einer dünnen Decke zu und sagte der Stewardess, sie möge mich nicht wecken, wenn es Essen gab.

Der Nachtflug hatte mich um halb sieben Uhr morgens in Heathrow ausgespuckt, und als mich das Taxi durch die tristen Seitenstraßen von Chiswick fuhr, kam der vor mir liegende Tag mir schier endlos vor. Als ich die Haustür aufschloss, war ich versucht, direkt ins Bett zu gehen, aber ich wusste aus Erfahrung, dass das alles nur noch schlimmer machte. Mrs. Gomez, die Zugehfrau, hatte die Post von drei Wochen auf dem Tisch in der Diele gestapelt. Ich ging sie rasch durch, um zu sehen, ob irgendetwas in Annalisas Handschrift dabei war, aber es gab nur einen einzigen Umschlag, der nicht mit Maschine adressiert war. Ich riss ihn auf und las auf normalem Papier:

Lieber Mr. Hendricks, wir sind gerade in die Wohnung ganz oben eingezogen und geben am Samstagabend eine Party. Wenn Sie Lust haben, schauen Sie doch bitte vorbei. Ab 8. Lockere Kldg.
Sheeze und Misty

Ich bewohnte Erdgeschoss und Souterrain des Hauses, das größer als die meisten im Viertel war. In der ersten Etage lebte seit über zwanzig Jahren eine polnische Witwe, aber im obersten Stock gab es ständige Fluktuation. Die Namen schienen mir darauf hinzudeuten, dass die Neuen Australierinnen waren. Ich ging davon aus, dass es ziemlich laut werden würde und sie meinen Beschwerden zuvorkommen wollten, vermutlich hatten sie auch die arme alte Mrs. Kaczmarek eingeladen.

Im Arbeitszimmer stand der Anrufbeantworter, den ich mir vor Kurzem angeschafft hatte. In einem Geschäft hatte ich verschiedene ausprobiert und mich für diesen entschieden, weil man dafür ganz normale Kassetten benutzen konnte und er mit seinen drei deutlich markierten Knöpfen einfach zu bedienen war. Aus der Zeit, die er zum Zurückspulen brauchte, schloss ich darauf, dass er beinahe voll war. Eine Besonderheit des Geräts war es – vielleicht hatte ich bei der Installation auch etwas falsch gemacht –, dass ich meine Ansage erst noch einmal anhören musste, bevor die eingegangenen Nachrichten abgespielt wurden. »Dies ist der Anrufbeantworter von Robert Hendricks …«

Meine Stimme missfiel mir jedes Mal. Sie klang wie Schmirgelpapier und außerdem noch verlogen. Während das Band zurücklief, nahm ich Stift und Schreibblock zur Hand und wappnete mich innerlich gegen den vertrauten und nervenden Klang; wie jeder Narziss stellte ich mir äußerst ungern vor, wie sich meine Stimme für andere anhören mochte.

Aber aus dem Gerät kam die Stimme einer Frau. »Wir wissen, was du getan hast, du dreckiger Bastard! Wir wissen, was du der armen Frau angetan hast. Kein Wunder, dass du aus New York abgehauen bist!«

Ich kannte die Stimme nicht. Sie hatte einen amerikanischen Akzent und schien einer Frau zu gehören, die mindestens Mitte fünfzig war. Ich ging raus in die Diele und wartete, bis es zu Ende war; ich wollte es nicht löschen, denn ich fürchtete, damit gleichzeitig andere Nachrichten zu löschen. Das Quietschen, das den Beginn einer neuen Nachricht begleitete, hörte ich nicht, aber schließlich war eine tiefere, männliche Stimme im Arbeitszimmer zu vernehmen. Ich ging wieder rein. Es war meine eigene Stimme: die übliche Ansage, die mit der Versicherung abschloss, dass ich so bald wie möglich … Dann kamen die Anrufer.

»Hi, Robert, hier ist Jonas. Tut mir leid, dass ich dich in New York verpasst habe. Die Sache in Denver war so was von nervtötend. Ich hätte mich wirklich lieber mit dir im Lorenzo’s besoffen. Ruf mal an.«

Es folgte das übliche hohe Piepsen, dann die nächste Nachricht. »Dr. Hendricks, hier ist Mrs. Hope, Garys Mutter. Ich weiß, Sie haben gesagt, ich soll Ihre Praxishilfe anrufen, aber es geht ihm wieder schlechter …«

Ich setzte mich an den Tisch und griff nach dem Notizblock. Es gab vierzehn weitere Nachrichten, darunter nichts Außergewöhnliches. Als ich alles notiert hatte, was wichtig war, löschte ich das gesamte Band. Dann drückte ich Play, um mich zu vergewissern, dass meine Ansage noch drauf war. Tatsächlich summte es und dann: »Dies ist der Anrufbeantworter von Robert Hendricks …«

Ich begriff einfach nicht, wie die ausfällige Anruferin meine Ansage umgangen hatte.

Ich wachte mitten in der Nacht mit einem Jetlag-Koller auf. Ich mag diese Aufwallungen, es ist, als hätte man etwas von der kinetischen Energie Manhattans in sich aufgenommen. Ich ging in die Küche und machte mir eine Kanne Tee. Was ich an den Amerikanern wirklich mag, ist, dass sie sich selbst ernst nehmen. In New York braucht man keine tiefen Wurzeln und keine Selbstironie; man hat ein Messingschild an der Tür, ein Diplom, eine Position – und folglich steht man über dem gemeinen Volk, das gerade erst vom Kennedy Airport reingekommen ist. Und sie haben recht, so zu denken. Das eigene Leben mag nichts Großes sein, aber warum sollte man es nicht schätzen? Ein anderer wird’s nicht tun.

Mit einem Becher Tee ging ich an den Schreibtisch und fing an, den Stapel Briefe zu öffnen, die an Robert Hendricks, MD, MRCP oder FRCPsych adressiert waren. Das sah doch wirklich nach einer Karriere aus. Diese Qualifikationen hatten nichts Unfertiges und nichts Unechtes an sich, ich hatte sie durch Knochenarbeit und Zeitaufwand erworben – und Hingabe an ein bestimmtes Gebiet, auf dem nur wenige bis zum Ende durchhielten. Ich fragte mich, ob es wohl eine spezifisch englische Eigenart ist, sich sein ganzes Leben lang wie ein Hochstapler zu fühlen, beständig zu fürchten, man könne durchschaut werden – oder ob es ein menschliches Grundgefühl ist. Und als praktizierender Psychiater hätte ich es wirklich wissen müssen.

Ich nahm meine Aktentasche und holte die Hotelrechnung und einige Visitenkarten für die Ablage heraus. Als ich die Schublade aufzog, in der die Papiere lagen, mit denen ich mich nicht beschäftigen wollte, entdeckte ich einen Brief wieder, der mich einige Wochen zuvor, als ich ihn erhalten hatte, vor ein Rätsel gestellt hatte. Er kam aus Frankreich, trug den Poststempel »Toulon« und war in der Handschrift eines älteren Mannes mit Tinte geschrieben.

Lieber Mr. Hendricks,

verzeihen Sie, dass ich Ihnen einfach so schreibe, aber ich bin im Besitz von etwas, von dem ich glaube, dass es für Sie von Interesse sein könnte.

Im Ersten Weltkrieg war ich in der britischen Armee und diente bei der Infanterie an der Westfront. (Nebenher bemerkt, habe ich auch als Stabsarzt im Zweiten Weltkrieg gedient.) Von Beruf bin ich Neurologe und spezialisiert auf Altersleiden – Gedächtnis und Vergesslichkeit und Ähnliches. Da sich nun auch mein eigenes Leben dem Ende zuneigt – ich bin inzwischen sehr alt und längere Zeit krank gewesen –, bin ich darangegangen, meine Papiere zu ordnen. Im Zuge dessen fand ich in alten Tagebüchern Hinweise auf einen Mann, der denselben etwas ungewöhnlichen Namen wie Sie trug. Er war von 1915 bis 1918 in meiner Kompanie.

Ich hatte jahrzehntelang nicht in dieses Tagebuch geschaut, aber bei seinem Namen läutete sozusagen eine zweite Alarmglocke in meinem Inneren, und dann fiel es mir ein. Ein Buch, das ich sehr hoch geschätzt hatte, als es vor fünfzehn Jahren erschien, verfasst von einem Robert Hendricks – The Chosen Few. Ich ging an mein Bücherregal und zog es heraus. Sie können sich vielleicht meine Erregung vorstellen, als ich das kleine Autorenfoto auf der hinteren Umschlagklappe prüfte und dann vor meinem geistigen Auge sehr deutlich das Gesicht eines jungen Soldaten auftauchte, den ich vor sehr langer Zeit einmal gekannt hatte.

Meine Aufregung nahm noch zu, nachdem ich mich hingesetzt hatte, um das Buch wieder zu lesen – was ich in einem Zug tat, in einer einzigen Nacht. Im fünften Kapitel stieß ich auf eine Bemerkung des Autors – also von Ihnen, Dr. Hendricks, wie ich annehme –, die sich darauf bezieht, dass sein Vater ein Schneider gewesen sei – so wie der Mann, den ich im Krieg gekannt hatte.

In dieser Manier ging es noch eine Weile weiter, und am Ende stand eine Einladung, den Verfasser des Briefes zu besuchen. Er hieß Alexander Pereira, und offensichtlich wollte er mir etwas zu tun geben.

Am Samstagnachmittag machte ich mich zu einem Spaziergang in den Wormwood Scrubs auf. Auf dem Weg dorthin holte ich Max, meinen hochbeinigen Terriermischling, aus der Wohnung der Zugehfrau in Cricklewood ab, die sich während meiner Abwesenheit um ihn gekümmert hatte. Obwohl Mrs. Gomez ihn verwöhnte – ich nahm an, sie fütterte ihn mit Paella und Keksen –, freute er sich immer ganz rührend, wenn er mich wiedersah. Ich hatte ihn als Welpen aus einem Teich in Northamptonshire gerettet, und er schien ein ausgeprägtes Dankbarkeitsgefühl zu haben.

Wir machten einmal die Runde um die Scrubs und kamen unten im Süden bei den Häusern der Gefängniswärter wieder raus, gingen dann zum Gefängnis selbst. Ich dachte flüchtig an die armen Kerle, die dort einsaßen, eingesperrt in die zwanghaften Abläufe einer Anstalt. Aber nur flüchtig. Mich beschäftigte die Frage, ob Annalisa am Nachmittag Zeit haben würde. Das Komische an einer »Beziehung« ist, dass man oft erst im Rückblick merkt, dass man offenbar eine solche aufgebaut hat. Während sie besteht, fühlt es sich eher nach einer Reihe von Begegnungen an: eine Abfolge ohne innere Notwendigkeit. Nur die Möglichkeit, dass ich Annalisa vielleicht nicht sehen könnte, ließ mich innehalten und darüber nachdenken, wie viel Platz der Gedanke an sie in meinem Leben einnahm. Aus irgendeinem Grund konnte ich die Tiefe dieses Gefühls in mir nicht anerkennen oder ihm einen Namen geben.

Wir hatten abgemacht, dass ich sie niemals anrief, weil eventuell ihr »Freund« den Hörer abnehmen könnte; sie aber konnte mich jederzeit anrufen und tat das häufig. Ich schob Max auf den Rücksitz des Wagens und ging zu einer Telefonzelle direkt am Rand des Parkplatzes der Wormwood Scrubs. Ich konnte Nachrichten auf dem Anrufbeantworter aus der Ferne abrufen, wenn ich meine eigene Nummer wählte und dann ein kleines Zubehörteil in die Sprechmuschel des Telefons steckte, sobald die Ansage kam. Ich hörte meine Stimme und startete die Fernabfrage. Ich hatte keine neuen Nachrichten.

Annalisa und ich hatten uns vor etwa fünf Jahren kennengelernt, in der Praxis des Osteopathen in Queen’s Park, wo sie am Empfang arbeitete. Ich hatte Probleme mit meinem Rücken, seit durch einen Wachstumsschub in meinen Teenagerjahren meine untere Wirbelsäule labil war; die großen Muskeln meinten, bei der kleinsten Reizung in schützende Krämpfe verfallen zu müssen (es reichte, dass ich mich bückte, um den Fernseher anzuschalten). Ich hatte es mit Übungen, Schmerzmitteln und Yoga versucht, aber die einzig spürbare Erleichterung verschafften mir die brachialen Handgriffe eines Neuseeländers namens Kenneth Dowling.

Annalisa war in den Vierzigern, eine gut aussehende und offensichtlich ehrbare Frau, die elegante Röcke und dazu Pullover trug. Erst bei meinem dritten Besuch bemerkte ich etwas in ihren Augen – einen träumerischen Ausdruck, der überhaupt nicht zu dem Kalender auf dem Pult und zur Tätigkeit einer Sprechstundenhilfe passte. Während wir darauf warteten, dass Dowling den Patienten vor mir entließ, fragte ich sie nach ihrer Arbeit und ob sie einen weiten Weg hierher habe. Sie war sehr umgänglich und schien sich gern zu unterhalten, als nähmen nur wenige Menschen größere Notiz von ihr. Am Ende eines weiteren Besuches blieb ich noch ein bisschen, nachdem ich den Scheck ausgeschrieben hatte. Ich erfuhr, dass Dowling sie donnerstags und freitags nicht brauchte, erwähnte beiläufig, dass ich in meiner Praxis durchaus eine Hilfe gebrauchen könnte, die den Papierkram erledigte, und fragte sie, ob sie interessiert sei.

Meine Praxis befand sich in einem Apartment in North Kensington, über einem kleinen Gemischtwarenladen, der von ugandischen Einwanderern betrieben wurde. Das war keine glanzvolle Umgebung, spiegelte aber recht exakt den Status meines Fachgebiets innerhalb der britischen Medizin wider. Wenigstens war es eine ruhige Straße, und die Praxis selbst war hell und luftig. Es gab auch eine Kochnische und eine Dusche, außerdem einen kleinen Büroraum, der früher vermutlich das Schlafzimmer gewesen war und in den ich einen Aktenschrank gestellt hatte – und wo ich jetzt Annalisa hinter einen Schreibtisch setzte. Ich achtete nicht weiter darauf, wie sie mich scheinbar unabsichtlich streifte, wenn sie etwas ablegte, ich ignorierte auch, dass sie keinerlei Anstalten machte, ihren Rock nach unten zu ziehen, wenn sie am Schreibtisch saß und er ihr über die Schenkel hinaufgerutscht war. Man spricht von »erotischer Spannung«, als ob die eindeutig messbar wäre, dabei kann man doch nie mit Sicherheit sagen, was wirklich von beiden Seiten empfunden wird und was man sich nur einbildet.

Es muss am dritten Tag ihrer Arbeit bei mir gewesen sein, als die Dinge sich klärten. Ich stand hinter ihr, da machte sie absichtlich einen halben Schritt zurück. Der Kontakt war da. Sie drehte sich um und berührte meine Hose an der Stelle, wo unsere Kleidung sich aneinander rieb. Es dürfte weniger als eine Minute gedauert haben, bis wir voll bei der Sache waren. Ihr Bauch war ein ganz klein wenig gewölbt, und ihre Schenkel hatten hinten die Festigkeit der Jugend verloren – doch ich fand diese Zeichen der Hinfälligkeit ebenso rührend wie erregend, als sie sich über den Schreibtisch beugte.

Annalisa war verheiratet gewesen und lebte jetzt in einer langjährigen Beziehung mit einem Mann namens Geoffrey, der in den Fünfzigern war; sie war ihm wirklich zugetan und wollte ihr gewohntes Leben nicht aufs Spiel setzen. Geoffrey war Fachanwalt für Vermögensrecht, und nach allem, was Annalisa erzählte, klang er für mich homosexuell. Ich sprach das aber nie aus, es gab keinen Anlass, das getroffene Arrangement aus dem Gleichgewicht zu bringen.

An jenem Samstagabend nahm ich ein ausgedehntes Bad und trank einigen Gin mit Wermut und Eis. Danach wollte ich auf die Party im obersten Stock gehen. Ich wusste, dass sie schon im Gang war, denn die Musik rieselte die Treppen runter, wenn auch nicht so, dass es Mrs. Kaczmarek erschrecken müsste. Tatsächlich hatte sich der Lärm, der aus dem oberen Stock kam, in jüngster Zeit geändert. Vor zehn Jahren war das Haus noch von apokalyptischen Donnerschlägen erschüttert worden, inzwischen schienen die Songs maschinell erzeugt und nicht im Geringsten bedrohlich zu sein. Mich interessierten diese Musikrichtungen alle nicht, aber der jüngere Sound war leichter zu ertragen, etwa wie die Hintergrundmusik auf einer Fachtagung.

Die Tür wurde von einem lächelnden Mädchen mit schwarz geränderten Augen und blond gefärbtem Haar geöffnet. »Hallo. Ich bin Misty. Kommen Sie rein.«

Sie holte mir einen Wein von der Küchentheke, auf der nebeneinander eine Batterie verschiedener Flaschen aufgereiht war.

»Bitte schön! Chateau Oblivion.« Sie hatte den munteren australischen Tonfall, den ich mir vorher ausgemalt hatte, ebenso wie Sheeze, ihre Mitbewohnerin, die sich dazugesellte. Misty war kleiner und hübscher, mit attraktiven, zarten Gesichtszügen, während Sheeze kleine Pusteln im Gesicht hatte. Ansonsten sahen sie wie Zwillinge aus, mit blauen Augen und der ungetrübten Zuversicht der Jugend, die fest damit rechnete, glücklich zu werden.

Auch ihre Freunde waren jung, kultiviert und zuversichtlich, so kam es mir wenigstens vor. Die Musik wurde langsam lauter, aber ich konnte noch immer alles verstehen, als ich mich einer Gruppe von Fremden vorstellte und das alte Spiel von Selbstoffenbarung und vorsichtiger Neugierde begann. Ich erzählte anderen ungern, was ich beruflich machte, weil es sie zu beunruhigen schien; ich gab mich als Allgemeinmediziner aus, und das wurde gut aufgenommen. Dann versuchte ich, die Unterhaltung auf weniger persönliche Themen zu lenken: auf eine bemerkenswerte Sendung, die ich im Radio gehört hatte, oder einen Film, der gerade angelaufen war.

Ich bin mir nie ganz sicher gewesen, was man auf Partys von mir erwartet. Ich bin in England auf dem Land aufgewachsen und bin auf Dorffeste gegangen und war zu Geburtstagen oder zu Weihnachten bei anderen Leuten zu Hause. Diese Abende – zum Beispiel der, an dem ich Paula Wood küsste – konnten ganz schön schlüpfrig sein, selbst damals in den Dreißigerjahren. Oft gab es einen Anlass oder eine Veranstaltung: ein Tennisturnier auf dem Freizeitgelände oder ein Dorffest im Gemeindesaal. Im Sommer verschwanden die Leute gern in der Dunkelheit, es gab genügend Rhododendren, zwischen denen man abtauchen konnte. Ich erinnere mich an aufglimmende Zigaretten, Gelächter, an die unter Schritten raschelnden Blätter und das Betatschen eines kühlen, nackten Schenkels.

»Robert, ich möchte Ihnen jemand vorstellen. Das ist Mandy. Sie ist Krankenschwester.«

Vielleicht war es die medizinische Verbindung, die meine Gastgeberin glauben ließ, ich käme gut mit ihrer Freundin aus. Diese Krankenschwester machte es mir leicht, denn sie redete ohne Unterlass; ich glaubte zuerst, es ginge ihr darum, mir eine komplizierte Angelegenheit zu erklären. Aber nachdem meine Versuche, ihr auf die Sprünge zu helfen, abgeblitzt waren, erkannte ich, dass sie überhaupt nicht auf etwas Bestimmtes hinauswollte, sondern einfach nur Angst vor der Stille hatte.

Bald hatte die Musik den Pegel erreicht, an dem kein weiteres Gespräch mehr möglich war, außer in der kleinen Küche. Da ich es für unhöflich hielt, vor zehn Uhr schon wieder zu gehen, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und ergab mich in weitere fünfzehn Minuten, in denen ich gegen die Waschmaschine gedrückt wurde. Ich sprach mit einem jungen Mann in einem rot karierten Hemd, der sich als Luftakrobat vorstellte, und seinem Bruder, der in einem Reisebüro arbeitete.

Mir schien, dass beide betrunken waren. Sie waren auf eine etwas verwirrte Art freundlich zu mir, als würde es sie überraschen, dass jemand wie ich überhaupt auf eine Party ging. Ich spürte einen Anflug von Neid, als ich mir ihr Alltagsleben ausmalte: jede Menge bereitwilliger Mädchen mit jugendlichen Brüsten und strahlend weißen Zähnen.

»Also lasse ich den Kunden in der Warteschleife, während ich die Fluggesellschaft anrufe und mir den Flugplan kopiere«, sagte der Reisebüromann und goss sich Rotwein nach. »Das ist nicht gerade Gehirnakrobatik.«

»Das ist nicht mal Luftakrobatik«, sagte ich.

Keiner der beiden Brüder merkte, dass ich einen Witz zu machen versuchte, und als ich mich umdrehte, um mein Plastikglas aufzufüllen, sah ich wieder die Krankenschwester vor mir.

»Kann ich Sie was fragen? Nehmen Sie auch Privatpatienten?«

Ich sah sie mir genau an – die weit aufgerissenen Pupillen, die glasige Iris. »Nein, mache ich nicht.«

Sie presste ihre Hand gegen meinen Brustkorb. Ich fürchtete schon, dass sie sich übergeben würde, aber vermutlich wollte sie nur das Gleichgewicht halten.

»Ich kenne jemanden, der Hilfe braucht. Er hat eine furchtbare Depression und –«

»Ich sagte es bereits. Ich bin Allgemeinmediziner: Mit so was habe ich nichts zu tun.«

»Ach. Weil Misty gesagt hat –«

»Vergessen Sie einfach, was Misty gesagt hat. Ich habe sie gerade erst kennengelernt.«

Ich drängelte und schubste mich zwischen den Leuten aus der Küche heraus, blieb kurz stehen, um mich bei Sheeze zu bedanken, und schaffte es nach draußen ins Treppenhaus. Unten in meiner Wohnung schaltete ich den Fernseher an und schenkte mir einen großen Whisky ein, bevor ich mich in den Liegesessel sinken ließ. Das Stimmengewirr der letzten Stunde fiel von mir ab; ich zündete mir eine Zigarette an und lehnte den Kopf zurück. Ich befand, es war früh genug, um ein Video anzusehen, etwa nach der Hälfte würde ich eine Schlaftablette nehmen; nach dem Film würde ich die Musik von oben mit Ohrstöpseln ausblenden, die Tagesdecke abziehen und dem nächsten Morgen entgegenschlafen.

Nur zwanzig Minuten später klopfte es vorsichtig an der Tür.

»Kann ich reinkommen?«

»Woher wussten Sie, dass ich hier wohne?« Es war Mandy, die Krankenschwester.

»Misty hat’s mir gesagt.«

»Ist alles in Ordnung? Wollen Sie ein Glas Wasser?«

Sie setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer und fing an zu weinen. »Entschuldigung, Robert. Ich weiß selbst nicht, was ich tue. Es ist nur, weil du älter bist … Und du bist Arzt. Ich sitze in der Klemme.«

Ich setzte mich zu ihr. »Wie viel hast du getrunken?«

»Ich weiß nicht. Ich habe schon ein paar Gläser Wein gehabt, bevor ich auf die Party kam.«

»Soll ich dir ein Taxi rufen? Wo wohnst du?«

»Balham. Kann ich nicht ein bisschen hierbleiben? Ich fühle mich … Es dreht sich alles.«

»Ich mache dir einen Tee.«

Hauptsache, so dachte ich, während ich mit dem Kessel und der Tasse klapperte, ich bekomme dieses Mädchen so schnell wie möglich aus meiner Wohnung. Als ich mit dem Tee ins Wohnzimmer zurückkam, sah ich, dass sie sich die Schuhe ausgezogen und die Füße aufs Sofa gelegt hatte. Eine Haarsträhne fiel ihr über eine Hälfte des Gesichts, und an den Sohlen ihrer Nylonstrumpfhose sah ich Flecken, die feucht wirkten.

»Trink das hier, ich rufe dir ein Taxi.«

»Ich kriege eins auf der Straße.«

»Das bezweifle ich.«

»Aber sicher kriege ich eins. Es ist noch nicht mal elf.«

Wenn es sein musste, überlegte ich, würde ich sie wieder nach oben zu ihren Freundinnen bringen: Sie hatten die Verantwortung. Mandy schwang sich in Sitzposition und beugte sich vor, um die Tasse hochzunehmen, wobei ihr Rock ihre dicken Schenkel hochrutschte.

Ich ging ans Fenster.

»Wohnst du allein?«

»Nein, ich wohne mit zwei anderen Mädchen zusammen. Sie sind aber nicht da. Und du?«

»Ja. Allein«, sagte ich.

»Bist du nicht verheiratet?«

»Nein.«

»Freundin?«

»Hör mal, Mandy, warum verfrachten wir dich jetzt nicht in ein Taxi und bringen dich sicher zurück nach Clapham?«

»Balham. Warum so eilig? Morgen ist Sonntag. Ich … ich brauche einfach nur ein bisschen Gesellschaft.«

»Was hast du denn?«

Es folgte eine Geschichte über einen Mann, eine gewisse Entrüstung – der billige Versuch, mein Mitgefühl zu wecken … Aber es gab keinen logischen Zusammenhang in dem Ganzen, und ich hatte keine Lust, danach zu suchen.

»… finde ich. Und wo bleibe ich bei der Sache? Ich meine, ich habe doch auch mal ein Wörtchen mitzureden. Und … Was ist das?«

»Da ist jemand an der Tür. Noch jemand.«

Ich ging in die Diele und drückte den Türöffner. Es war Annalisa, und ihre Miene zeigte so viele widersprüchliche Gefühle, dass ich fröstelte.

»Gott sei Dank bist du zu Hause«, sagte sie und schob mich in die Diele und dann ins Wohnzimmer, ohne auch nur für einen Kuss innezuhalten.

Sie blieb stehen und starrte. Ich machte eine ungeschickte Vorstellung.

Was dann geschah, lief wie in einem Trickfilm ab, wie die Szenen auf dem Bildschirm im Flugzeug aus New York. Es gab Geschrei und Anschuldigungen. Annalisa dachte selbstverständlich, dass ich mit der Krankenschwester schlafen wollte und sie deshalb von oben hier in meine Wohnung geschleppt hatte.

Die Scheidewand zwischen Liebe und Zorn ist dünn. Ich vermute, es geschieht aus Selbstschutz und Angst vor noch mehr Verletzungen, dass wir diejenigen Menschen anschreien, die wir lieben.

Schließlich waren beide Frauen weg. Ich ließ mich aufs Sofa fallen. Ich bin so allein, dachte ich. Alle Beziehungen, die ich in den mehr als sechzig Jahren meines Lebens mit anderen aufgenommen habe, können nichts daran ändern, dass ich vollkommen allein bin.

ZWEITES KAPITEL

Am nächsten Morgen erwachte ich früh, noch ganz benommen von einem Traum voller Gewalt. Beim Waschen und Rasieren versuchte ich, mich aus den Fängen meines Unbewussten zu befreien und ins wache Leben zurückzukommen. Das alles war für mich ein ganz normaler Start in den Tag.

Nachdem ich Max gefüttert und die Zeitung gelesen hatte, kamen meine Gedanken langsam wieder auf die Reihe, aber sie drehten sich nicht um Annalisa. Es war der Brief von Alexander Pereira, der mich beschäftigte. Pereira behauptete, meinen Vater gekannt zu haben – das war mehr, als ich von mir selbst sagen konnte. Als er starb, kurz vor dem Waffenstillstand, war ich zwei Jahre alt. Auch wenn es ein Foto von ihm gab, wie er mich als Baby auf dem Arm hielt, besaß ich keinerlei Erinnerung an ihn.

Meine Mutter war mein Schutzschild und meine Ernährerin. Sie war eine kleine, magere Frau, die immer mit dem Schlimmsten rechnete. Sie arbeitete hart in der Verwaltung eines Hofes, der Ackerbau und Viehzucht betrieb, und wenn sie am Ende der Woche ihren Lohn abholte, rechnete sie jedes Mal damit, entlassen zu werden. Die monatlichen Rechnungen nahm sie als Beweis dafür, dass der Milchmann oder die Elektrizitätsgesellschaft sie persönlich verfolgten; wir hatten nie Leute zum Tee bei uns zu Gast, weil sie von Unterhaltung »nichts hielt«, und sie misstraute denen, die uns zu sich nach Hause einluden, also gingen wir auch selten aus. Sie erzählte mir, ihre Eltern hätten eine Pension irgendwo an der Südküste betrieben, aber dann habe es einen Brand gegeben. Ich glaube eher, dass sie sich getrennt oder sich hatten scheiden lassen, aber sie bemäntelte das mit einer Naturkatastrophe. Meinen Vater hatte sie im Haus einer Tante bei London kennengelernt. Vor dem Krieg war er Schneider gewesen, nach ihren Aussagen allerdings sehr viel mehr als ein kurzsichtiger Mann mit Nadel und Faden in einem Hinterzimmer: Als er 1915, mit dreißig Jahren, als Freiwilliger in den Krieg zog, hatte er schon sechs Angestellte und ein Geschäft in der Hauptstraße. Sie besaß ein Foto von meinem Vater und sich selbst am Tag ihrer Verlobung; ihr Gesicht zeigte ein Lächeln, wie ich es im richtigen Leben nie an ihr gesehen habe, wobei zugleich auch eine Spur Unsicherheit darin zu lesen war.

Mein Vater hatte einen älteren Bruder, Onkel Bobby, der in einer Einrichtung lebte. Nach dem Tod meines Vaters 1918 besuchte meine Mutter meinen Onkel jedes Jahr zu Weihnachten, und einmal, als ich etwa sieben war, nahm sie mich mit. Erst fuhren wir endlos mit verschiedenen Buslinien, um in die Außenbezirke der Kreisstadt zu kommen. Der letzte Bus ächzte und schleppte uns einen Hügel hinauf, wo wir vor einer Reihe heruntergekommener Geschäfte ausstiegen. Hundert Meter die Straße hinunter erreichten wir zwei hohe Eisengatter mit einer hölzernen Pförtnerloge daneben, in der ein Pförtner neben einem rauchenden Kohleöfchen saß. Er winkte uns durch.

»Was ist mit Onkel Bobby?«, fragte ich. »Warum lebt er hier?«

»Er hat einen leichten Knacks«, sagte meine Mutter.

Zu beiden Seiten der Auffahrt erstreckte sich ein Parkgelände. In der Entfernung sah ich Häuser, die Farmgebäuden ähnelten, und eine Werkstatt, aus deren Ziegelschornstein Rauch aufstieg, wie bei einer kleinen Fabrik. Das Hauptgebäude war fast so lang wie eine Straße. Wir gingen durch den Haupteingang bis zu einer Glaskabine, wo eine Frau unsere Namen notierte. Durch ein hohes Kuppeldach fiel Licht in den Korridor, der einen Steinfußboden hatte. Ich freute mich für Onkel Bobby, dass alles so sauber war.

Wir gingen los. Links von uns folgte ein Fenster auf das nächste, und alle gingen sie auf den Park hinaus, rechts von uns befanden sich verschlossene und nummerierte Türen, hinter denen merkwürdige Geräusche zu vernehmen waren. Schließlich kamen wir in einen weiteren Gemeinschaftsbereich, ähnlich der Eingangshalle, jedoch nicht so groß; von ihm ging ein Raum mit Blick auf den Hinterhof ab, und hier erwartete uns Onkel Bobby.

In diesem Aufenthaltsraum standen ungefähr ein Dutzend Stühle, die schon bessere Tage gesehen hatten. Ein Mann in einem langen braunen Jackett, der aussah wie ein Lagerist in einem Möbeldepot, stand mit verschränkten Armen da. Er hakte unsere Namen auf einem Klemmbrett ab und deutete mit dem Kopf auf einen Mann, der am Fenster in einem der besseren Armsessel saß.

Für meine siebenjährigen Augen sah Onkel Bobby wie »ein Erwachsener« aus, mindestens wie vierzig. Er hatte dunkelbraunes Haar, das dünn geworden war, und trug eine Brille mit verschmierten Gläsern; sein Anzug war alt und seine Krawatte vom vielen Tragen ganz fadenscheinig.

»Hallo, Bobby. Wir wollten dich mal wieder besuchen. Wie geht’s dir?«

Es war schwer herauszufinden, wie es Bobby ging, weil er auf Fragen nie direkt antwortete – was nicht heißen soll, dass er nicht gesprächig war. Er nannte meine Mutter zwei- oder dreimal beim richtigen Namen – Janet –, während er ihr erzählte, was andere Leute gesagt oder getan hatten. Sie nickte ermutigend und kicherte oder gackerte, wo es ihr passend erschien.

Meine Mutter versuchte, mich in die Unterhaltung einzubeziehen, aber Onkel Bobbys Blick rutschte jedes Mal von mir ab, als könne er keine dritte Person erkennen. Seine Geschichten hatten etwas Gnadenloses und wurden, wie unterschiedlich die Dinge auch waren, um die es ging, in immer demselben Ton vorgetragen. Es hörte sich an, als würde er laut in einer Sprache vorlesen, die er nicht verstand.

Damals empfand ich das nicht so. Ich dachte: Dies ist der Bruder meines Vaters. Er muss stark sein und freundlich, denn er ist mein Fleisch und Blut. Bald werde ich es richtig verstehen; bald wird alles klar.

Dann betrachtete ich seine Hände und fragte mich, welche Spiele sie gespielt hatten, als er ein Kind gewesen war, ob er der Werfer und mein Vater der Schlagmann gewesen war und ob sie in dieser Jahreszeit zusammen einen Schneemann gebaut hatten. Ich suchte seine Augen und hoffte auf ein Zeichen des Wiedererkennens. Erwachsensein war merkwürdig. Es schien keinen Spaß zu machen.

Auf einem Servierwagen wurde Tee gebracht, und Onkel Bobby schlürfte geräuschvoll aus der Tasse. Ich wandte zum ersten Mal den Blick von meinem Onkel ab und stellte fest, dass meine Mutter noch immer ihren Filzhut aufhatte, in dessen Krempe eine Feder steckte.

Die Unterhaltung erstarb langsam. Meine Mutter schien sich unbehaglich zu fühlen, und Onkel Bobby zog eine Zigarette aus der Tasche seiner Strickjacke und zündete sie sich mit zittriger Hand an.

Ich sah mir gründlich sein zerfurchtes Gesicht an, das, mit Ausnahme einer kleinen Stelle unterhalb der Unterlippe, sauber rasiert war. Ich fixierte seine Augen. Näher als jetzt konnte ich meinem Vater nie kommen. Ich hätte ihn gern berührt.

Am Abend nach der Party und den sich daran anschließenden Missverständnissen nahm ich mir den Brief von Alexander Pereira noch einmal vor, dem Mann, der behauptete, meinen Vater gekannt zu haben. So endete er:

Ich lebe auf einer sehr kleinen, aber recht schönen Insel vor der französischen Südküste, die man mit dem Wassertaxi von der presqu’île südlich von Toulon erreichen kann. (Die Insel liegt etwa fünf Kilometer von Porquerolles entfernt, wenn Sie es auf der Karte nachschauen wollen.) Was halten Sie davon, hierherzukommen und für einige Tage mein Gast zu sein? Ich habe Ihren Vater nicht gut gekannt, aber ich habe einige Erinnerungsstücke aus dem Krieg, Fotos und andere Sachen, die mit ihm zu tun haben. Auf der Insel gibt es ein Weingut, dessen Weine zwar kaum bekannt, es aber unbedingt wert sind, dass man sie kennenlernt.

Ich möchte Ihnen zum Schluss noch einmal versichern, dass meine hohe Meinung von Ihrem Buch absolut aufrichtig ist. Ich habe auf dem Gebiet, auf dem Sie gearbeitet haben, selbst einige Entdeckungen gemacht, und wenn wir mit meinem Krempel aus dem Großen Krieg durch sind, werden wir über unseren gemeinsamen Interessen einiges zu bereden haben, dessen bin ich sicher. Und ich hoffe, wenn dann alles nach Plan verläuft, könnten Sie sich mit einem Arrangement anfreunden, bei dem Sie nach meinem Tod meine Arbeitfortführen und mein literarischer Nachlassverwalter werden.

Ich weiß, dass dieses Angebot vonseiten eines völlig Unbekannten sehr ungewöhnlich klingt, ich hoffe jedoch, dass Sie Nachsicht üben mit einem alten Mann! Und selbst wenn der Vorschlag der Nachlassverwaltung Sie nicht reizt, kann ich Ihnen versichern, dass Sie hier eine sehr angenehme und erholsame Zeit verbringen würden.

Mit kollegialen Grüßen

Alexander Pereira

Am Tag darauf ging ich in die London Library am St. James’s Square und sah nach, was ich über diesen Pereira finden konnte. In der Präsenzabteilung fand ich den Conseil de l’Ordre des Médecins en France. Tatsächlich gab es einen Alexander Pereira, geboren 1887. Der Eintrag umfasste ein Verzeichnis der Stationen seiner klinischen und akademischen Arbeit. Seine Karriere schien nach dem Zweiten Weltkrieg ein ziemlich abruptes Ende gefunden zu haben. In einem anderen Nachschlagewerk entdeckte ich, dass er eine ganze Reihe Zeitschriftenartikel und außerdem fünf Bücher veröffentlicht hatte, die alle mit dem Themenfeld Gedächtnis und Demenz zu tun hatten. Vor dem Krieg hatte er einige bemerkenswerte Positionen eingenommen, und offenkundig hatte er jenen privilegierten Weg des französischen Bildungssystems beschritten, der die künftige Elite behutsam durch das Lycée und die Grande École zu den wenigen Spitzenpositionen im Ingenieurwesen, in der Medizin und der Finanzwelt führt.

Ich konnte nicht umhin, daran zu denken, wie himmelweit sich das von meinem eigenen Ausbildungsweg unterschied. Unsere Dorfschule lag am Rande eines Ackers und bestand aus drei Räumen in einem Haus, dessen Pforte fünffach verriegelt war. Ist das wirklich so gewesen? So wie ich es beschreibe, klingt es nach einem Kuh- oder Schweinestall. Und vielleicht war’s auch einer. Das Geld war in dieser Zeit, den frühen Zwanzigern, sehr