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Petri Tamminen

MEERESROMAN

oder
Einige glückliche Momente aus dem
tristen Leben des Seekapitäns Vilhelm Huurna

Aus dem Finnischen von Stefan Moster

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Die Übersetzung wurde gefördert von FILI – Finnish Literature Exchange.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die finnische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Meriromaani bei Otava Publishing Company Ltd., Helsinki.

© 2015 Petri Tamminen and Otava Publishing Company Ltd.

© 2017 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Typografie (Hardcover) mareverlag

ISBN E-Book: 978-3-86648-336-1

www.mare.de

Inhalt

IM LOCH VON LOUHISAARI

SARDINIEN

WESTLICH VON BORNHOLM

BEI DEN SANDBÄNKEN VON SKAGEN

AUF DEM NORDPOLARMEER

AUF REEDE VOR LIVERPOOL

IN HAMBURG

BEI DER UNTIEFE VON BORKUM

IN LE HAVRE

VOR KRISTIANSAND

AUF DEM UME ÄLV

ABENDSTIMMUNG

QUELLEN

IM LOCH VON LOUHISAARI

Seekapitän Vilhelm Huurna schämte sich für gestern und fürchtete sich vor morgen, aber mit dem gegenwärtigen Augenblick war er immer gut fertiggeworden. Kletterte er als Schiffsjunge in den Großmast, hatte er Angst, aus der Höhe ins Meer zu fallen, und stieg er wieder zum Deck hinab, schämte er sich für die Fehler, die er im Mast gemacht hatte, aber oben im Wind öffnete er die Knoten wie in der Kindheit vor der Haustür die Schnürsenkel.

Als Vilhelm zwölf Jahre alt war und mit seinen Eltern die Stadt Turku besuchte, hörte er aus dem Mund seiner Mutter einen Vertrauensbeweis. Es geschah am Flussufer. Die Mutter fasste den Vater beim Arm und sagte, eines Tages werde Vilhelm als Kapitän eines großen Schiffes über die Weltmeere segeln. Nachdem sie dies gesagt hatte, warf sie einen Blick auf Vilhelm und lächelte.

Huurna erinnerte sich noch Jahre später an dieses Lächeln seiner Mutter. Dann aber begann ihn das Seepech zu plagen, und er dachte erschrocken, dass alles, was in ihm an Kapitän steckte, die Worte seiner Mutter waren. Wäre jemand gekommen, um die Kapitänswürde zurückzuverlangen, hätte er sie hergegeben. Weil aber niemand kam, merkte er, dass auch die anderen ihren Ehrgeiz irgendwoher nahmen und dass er den seinen eben von seiner Mutter hatte.

In seinem Heimatdorf glaubte man an die Kartoffel. Sein Vater indes fischte und behauptete, auf dem Meer komme man auf große Gedanken. Vilhelm reichte es, dass der Vater Fische vom Meer mitbrachte und sich auf der Welt zurechtfand. Vilhelm bewunderte jeden, der sich auf der Welt zurechtfand. Hatten die Menschen zusätzlich noch große Gedanken und sprachen sie gelegentlich aus, blieben ihm diese nicht in Erinnerung.

Seinen ersten Schiffbruch erlitt Vilhelm im Alter von sechzehn Jahren. Er sollte das Boot des Doktors zur Insel Pikisaari bringen. Im Loch von Louhisaari kenterte es. Vilhelm griff nach dem Seil und riss am Boot, und das Boot riss an ihm, und so trieben sie ab und liefen auf einem Felsenriff auf Grund. Dort wuchtete Vilhelm das Boot herum und schöpfte es mit dem Stiefel leer. Es war Anfang Oktober; während er sich abmühte, fror er nicht, aber sobald er merkte, wie kalt es war, erschrak er, sprang ins Boot und fuhr los, wie jemand, der auf dem Oktobermeer unterwegs ist, eben segelt.

Das Boot aber erinnerte sich an das Kentern von vorhin. Es zitterte und wackelte. Als es erneut Wasser schluckte, band sich Vilhelm an der Bootsflanke fest, und als es erneut kenterte, trieb er mit ihm in den Wellen. Bis an Land war es ein Stück. Der Tod erschien ihm ungerecht, denn nun würde er viele Dinge im Leben nicht zu Ende führen können.

Noch Jahre später erschrak Vilhelm Huurna im Augenblick des Schiffbruchs darüber, dass sein Leben jetzt unvollendet bliebe, aber wenn er ans Ufer kam und vom Ufer in ein warmes Haus, geriet das Gefühl des unvollendet Bleibens in Vergessenheit, und wenn er eine Woche später wieder über das Elend seines Lebens lamentierte und Erklärungen für die Gutsherren formulierte, denen das Schiff gehörte, das nun irgendwo in einem dänischen Belt oder Sund auf dem Meeresgrund lag, dachte er, dass dieses unvollendet Bleiben gar nicht so schlimm gewesen wäre.

Vilhelm schluckte Meerwasser. Allmählich war er sich sicher, dass sein Leben hier im Loch von Louhisaari enden würde, ans Boot des Doktors gebunden, überspült vom Oktobermeer. Der Wellenschlag trieb das Boot an einer Insel vorbei. Er sah, dass ihm die Kraft fehlte, bis an Land zu schwimmen, aber er löste das Seil und fing trotzdem an zu schwimmen. Als er so weit geschwommen war, wie es ging, beschloss er, alles seinen Gang gehen zu lassen. Er versuchte noch, sich an ein Kirchenlied oder so etwas wie ein Gebet zu erinnern, aber ihm fiel nichts ein, und er versuchte nach seiner Mutter zu rufen, brachte jedoch keinen Laut heraus. Er ging unter. Die Füße berührten Pflanzen. Mit einem Schrecken kam er zu sich, brachte die Nase über die Wasseroberfläche, atmete einen Mundvoll Wasser ein, schnappte nach Luft und schaufelte und watete und kroch an Land. Auf den Steinen blieb er liegen. Er fror gar nicht mehr richtig, eher brannte alles, und dadurch begriff er, dass er nicht liegen bleiben durfte.

Auf den Felsen und in den bewaldeten Abschnitten der Insel war es schwierig, voranzukommen. Besonders schwierig fand er es, einen Fuß vor den anderen zu setzen und den Steinen auszuweichen, die es auf der Insel überall gab. Auch die Baumwurzeln störten: Bekam er die Zehen über eine Wurzel, schickte er sich an, den nächsten Schritt zu tun, aber oft geschah es, dass die weißen und gefühllosen Zehen gegen die Wurzel stießen, und dann fragte er sich, warum die Welt so schwer begehbar gemacht worden war.

In einem Wäldchen verliefen Pfade. Einer davon endete an einem Fahrweg. Es dämmerte. Nach der dritten oder vierten Kurve erblickte er ein kleines Haus.

Die letzten fünfzig Meter ging es bergauf, nicht so steil, dass ein Karren von selbst vom Grundstück gerollt wäre, aber für Vilhelm war es sehr steil. Irgendwie schaffte er es trotzdem bis zur Tür und schlug mit der Faust dagegen.

Es dauerte eine Weile, bis aufgemacht wurde. Jemand stand in der dunklen Türöffnung und fragte, was er wolle. Er kam nicht dazu, es zu sagen, als man ihn schon über die Schwelle zog, und er hätte es auch nicht sagen können.

In der Stube wurde er wegen seines Äußeren bedauert; das Boot und die Ufersteine, die Bäume im Wald und die Erde hatten ihm zugesetzt. Es war dämmrig, obwohl überall Kerzen und Lichter und Feuer brannten, sodass seine Augen beim Blick auf die Lichter tränten. Die Wolldecke war hell, er legte sich darunter, und bevor er einschlief, konnte er noch denken, ja, es gibt Wolldecken auf der Welt.

Im Moment des Aufwachens stürzten die Ereignisse des Vortages auf Vilhelm ein. Er sprang auf und streckte sich nach seinen Kleidern, die zum Trocknen an einem Balken hingen, konnte sich aber nicht auf den Beinen halten, sondern fiel auf alle viere.

Als man ihn ans Festland ruderte, schämte er sich, und als man ihn ins Haus des Doktors brachte, fühlte er sich wie als Kind, wenn er Erbsen gestohlen hatte. Aber der Doktor, der geglaubt hatte, Vilhelm sei ertrunken, während er die Schaluppe für drei Mark Tageslohn zur Insel Pikisaari brachte, war herzlich und sagte, die Ufer seien voller lecker Boote und aus Holz könne man jederzeit neue bauen, doch an guten jungen Männern herrsche immer Mangel.

Der Doktor sandte eine Botschaft, und Vilhelms Vater kam, um seinen Sohn abzuholen. Die Mutter weinte vor dem Haus und war noch tagelang anders als sonst, und auch er war anders, starrte den ganzen Herbst immer wieder vor sich hin und pfiff grundlos.

Das nächste Frühjahr war kalt, und als an Land die Arbeit ausging, heuerte er auf einem Brennholzschiff an. Im Sommer sprach seine Mutter nicht mehr vom Segeln auf den Weltmeeren, aber sein Vater erkundigte sich, wie es auf dem Brennholzschiff zuging, und danach, was er auf dem Meer gesehen und erlebt hatte, und während er seinem Vater antwortete, merkte er, wie wichtig ihm das Transportieren von Holzscheiten geworden war.

SARDINIEN

Vom Brennholzschiff kam Vilhelm als Schiffsjunge auf einen Schoner und vom Schoner als Jungmann auf eine Bark, und nachdem er zwei Jahre als Matrose auf der Bark gesegelt war, wurde er Segelflicker. Er flickte Segel und war mit seinem Leben zufrieden, bis ihm auffiel, dass gewöhnlichere Kerle als er bereits als Boots- und Steuerleute herumbrüllten, und ihm kam in den Sinn, dass hinter dem Horizont womöglich etwas Neues und Gutes auf ihn wartete. In diesem Glauben heuerte er auf jedem erbärmlichen Schiff an, auch auf einer griechischen Bark, die Salz von Sardinien nach Schweden brachte.

Bald nach dem Auslaufen geriet das Schiff in einen Sturm. Die schlecht festgebundene Salzsackfracht geriet ins Rutschen, das Schiff krängte und hätte eiligst gewendet werden müssen, aber die Männer, die Freiwache hatten, lagen in der Back und kamen nicht heraus, obwohl jeder Seemann auf der ganzen Welt weiß, was drei lange Pfiffe aus der Trillerpfeife bedeuten. Vilhelm konnte nicht fassen, was für eine Müdigkeit die Männer plagte, dass sie sogar stärker war als die Seenot. Insgeheim bewunderte er die Männer freilich für ihre Sorglosigkeit, so wie er immer Leute bewundert hatte, die sorgloser waren als er, aber diesmal mischte sich unter die Bewunderung der Verdacht, die Sorglosigkeit könnte sie alle das Leben kosten.

Der Kapitän, ein mürrischer Grieche, der nur wenige Jahre älter war als er, ging hinunter, um die Männer brüllend herauszuholen. Inzwischen passierte an Deck allerhand, der Sturm ließ die Rah brechen, und Wellen, so hoch wie der Kirchturm von Huurnas Heimatort Askainen, zogen das Schiff auf die Felsenküste zu. Die Männer, die Wache hatten, waren keine Hilfe, sie schrien sich gegenseitig an, und der deutsche Steuermann, der im Hafen den Eindruck eines Mannes der Tat gemacht hatte, grollte unter dem Fockmast vor sich hin und sagte in einem fort, dass er es geahnt habe, er habe es geahnt, er habe es gleich geahnt, als er dieses Schiff betreten habe.

Der Kapitän blieb lange im Rumpf des Schiffes. Vilhelm fand, dass der Kapitän an Deck kommen sollte, um seinen Leuten Kommandos zu geben, also ging er ihn holen, fand ihn auch an der Tür zur Back und trug sein Anliegen vor. Der Kapitän sah Vilhelm an, als hätte dieser das Chaos angerichtet, und schlug mit der Lampe nach ihm. Sie traf Vilhelm mit einer Ecke am Auge. Er fiel auf die Knie, drückte sich die Mütze aufs Auge, dachte an seine sonderbare Haltung und schämte sich dafür, aber die Scham ließ bald nach, denn er hatte Angst, das Auge verloren zu haben und bald auch das Leben zu verlieren.

An Deck rannten die Griechen noch immer hin und her. Er hielt sich die Schläfe und überlegte, wie er die Männer dazu bringen könnte, dass alle ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache richteten, aber ihm fiel kein Mittel ein; er konnte sich nicht einmal auf den Beinen halten, sondern fiel jedes Mal hin, wenn ein Schwall Wasser über die Reling kam und ihn erfasste. Unter der Mütze lief Blut hervor und rann bis in den Mund, und er schmeckte das Aroma des Blutes und das scharfe Aroma des Mittelmeersalzes und erinnerte sich an das Wasser seiner Kindheit, in dem er geschwommen war, an das trockene Holz des Steges, und ihm kam der Gedanke, dass es eine Enttäuschung für ihn wäre, wenn er jetzt mit diesem Schiff, das eine Ladung Salz transportierte, in diesem salzigen Meer unterginge. War es Schutz von oben oder reiner Zufall, der das Schiff an der Felsküste vorbeiführte? Es mochte auch geholfen haben, dass niemand versuchte, auf seinen Kurs Einfluss zu nehmen. Stattdessen schrien sich die Griechen bis zum Schluss gegenseitig an und ließen das Schiff treiben, wie es wollte. Jeder, der schon einmal im Sturm gesegelt ist, weiß, dass Segelschiffe vieles tun, worum sie zu bitten der Mensch nicht einmal auf die Idee käme.

Im Schutz einer Halbinsel setzten die Männer ihren Streit immerhin so weit aus, dass sie die Anker warfen. Der Wind tobte in der Takelage, und das Schiff riss an den Ketten, blieb aber auf der Stelle, und da dachte Vilhelm wieder daran, zu atmen, und er beschloss, etwas zu unternehmen, sein Leben etwas oder jemandem zu widmen. Ihm fiel jedoch nichts und niemand ein, dem er sein Leben geben könnte, und so gelobte er in Ermangelung eines Besseren, von dem Geld, das für ihn auf dem Meer zusammenkam, die Seefahrtschule zu besuchen.

Von dem Streich des Kapitäns mit der Lampe blieb im Augenwinkel eine Delle mit Narbe zurück, die ihm einen traurigen Gesichtsausdruck verlieh. Noch im Herbst, als er in einer zugigen Unterkunft in Turku wohnte, war der gesamte Schläfenbereich empfindlich. An der Seefahrtschule lernte er Navigation, Buchhaltung, Deutsch und Englisch und blickte aus den Fenstern im obersten Stock auf die Bäume, die sich ganz in der Nähe bewegten, so nah, dass man in ihre Kronen hätte springen können. Vor allem an regnerischen Tagen litt er unter starken Kopfschmerzen.

Bis Weihnachten hörten die Schmerzen auf. Wenn sich seine Finger bisweilen zu der Narbe im Augenwinkel verirrten, fühlte er sich männlich und erinnerte sich an Geschichten über die Wikinger.

Von einem Segelschiff mit seinen wurmigen Zwiebacken und feuchten Kojen aus gesehen, ist jede Stadt das Paradies. Dort wartet eine solche Ausgelassenheit, dass allein der Gedanke daran das linke Bein veranlasst, zwei Schritte auf einmal zu machen. Wenn das Schiff im Hafen einläuft, wenn die Last gelöscht und der Rumpf gereinigt ist, stürmt der Mann dieses Paradies. Einen Tag lang geht es ihm gut, manchmal auch zwei, aber spätestens am dritten findet man ihn im hintersten Winkel einer Kneipe hocken, wo er über die Falschheit der Welt lamentiert. Einen Monat später, wenn bei ihm ansonsten schon wieder alles in Ordnung ist, muss ihm der Steuermann oder ein anderer, der als Schiffsarzt fungiert, die gräuliche Salbe mischen, mit der man versuchen kann, die Erinnerungen an die Freuden der Stadt wenigstens untenherum zu vertreiben.

In Vilhelms Gedanken wahrte Turku seine paradiesische Verheißung über viele Wochen. Auf dem Weg zur Schule nahm er die Stadt als Ansammlung von länglichen, übereinander angeordneten Granitblöcken wahr, zwischen denen Menschen und Herbstlaub umhertrieben, aber vom Pult im Klassenzimmer aus betrachtet schien vor den Fenstern und hinter den Baumkronen wieder die Sanftheit des Paradieses zu flimmern.

Vilhelm fand, dass der Schulbesuch viel mit dem Reisen gemein hatte. Denn in Zügen und auf Wagen rannte sein Geist stets für die Pferde mit oder trieb wie eine Kurbel die Lokomotive an, eilte all dem mühsamen Vorwärtskommen voraus und musste dann warten, bis er vom jeweiligen Fahrzeug eingeholt worden war. Dieses ständige Vorauseilen und Warten strengte ihn derart an, dass er am Ziel müder war als der Lokomotivführer, der sich immerhin nur auf das Fahren seiner Lokomotive zu konzentrieren hatte, oder als der Fuhrmann, dessen Gedanken bei den Pferden und bei der Straße geblieben waren. Er hatte das Gefühl, in der Seefahrtschule auf ähnliche Weise abwechselnd vorauszueilen und zu warten und deswegen müde zu werden.

Jeden Tag kam er auf dem Schulweg am Krankenhaus vorbei, und an manchen Morgen sah er dort auf den Balkonen graue Gestalten. In solchen Augenblicken fiel ihm wieder ein, dass es Schlimmeres gab, als Buchhaltung zu büffeln.

Paavo war zunächst lange sein Banknachbar, bevor sie Freunde wurden, und darum fragte er sich später oft, ob er sich auch mit all den anderen, die ihm nun fremd waren, hätte anfreunden können, wenn er nur im richtigen Moment neben sie geraten wäre.