Cover

Über dieses Buch:

Sein Schicksal liegt in ihrer Hand … Unfreiwillig belauscht die junge Miu den perfiden Plan, der nur eines bedeuten kann: den Mord am heiligen Pharao Tutanchamun! Um diesen zu warnen, verschafft sich die Tochter eines angesehenen Balsamierers Zugang zum königlichen Hof – nichtsahnend, dass sie dem Goldenen Prinzen in jungen Jahren bereits begegnet ist. Schon bald erweist sich ihr Verdacht als richtig: Am Hofe häufen sich mysteriöse Todesfälle. Während der Pharao um sein Leben fürchten muss, bleibt Miu an seiner Seite und schon bald entwickeln sich zwischen ihnen zarte Gefühle. Doch dadurch gerät auch Miu in Gefahr – denn langsam entspinnt sich um sie ein Netz aus Intrigen, das sich immer weiter zuzieht.

Über die Autorin:

Brigitte Riebe, geboren 1953 in München, ist promovierte Historikerin und arbeitete viele Jahre als Verlagslektorin. 1990 entschloss sie sichschließlich, selbst Bücher zu schreiben, und veröffentlichte seitdem über 30 historische Romane und Krimis. Brigitte Riebe lebt mit ihrem Mann in München.

Brigitte Riebe veröffentlicht bei jumpbooks auch das eBook Die Töchter von Granada.

Die Website der Autorin: www.brigitteriebe.de

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eBook-Neuausgabe August 2017

Copyright © der Originalausgabe 2009 cbj Verlag, München

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Copyright © 2017 jumpbooks Verlag. jumpbooks ist ein Imprint der dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Dmytro Buianskyi und des Gemäldes von David Roberts „Temple Island Philae“

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mh)

ISBN 978-3-96053-202-6

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Brigitte Riebe

Der Kuss des Anubis

Roman

jumpbooks

Für Stella

Folge deinem Herzen, solange du lebst!

LEHRE DES PTAHHOTEP

Wer kämpft, kann verlieren.
Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

BERTOLT BRECHT

PROLOG

Alle schienen nur noch zu rennen, als wäre auf einmal der ganze Palast in Bewegung geraten. Türen schlugen auf und zu, knappe Befehle ertönten. Etwas Fiebriges, Ungutes lag in der Luft.

Jetzt wartete sie schon so lange vor dem Raum, in dem ihr Vater verschwunden war, und noch immer war er nicht herausgekommen!

Längst hatte sie aufgehört, die bunten Wandfresken mit ihren Schmetterlingen und Vögeln zu bewundern, und auch die blauen Äffchen, von Ast zu Ast tanzend, so täuschend echt gemalt, als wären sie lebendig, interessierten sie nicht mehr.

Sie wollte nur noch weg von hier, zurück nach Hause, dorthin, wo sie sich endlich wieder sicher und geborgen fühlen konnte.

»Pass doch auf, Kleine!« Ein dunkelhäutiger Mann mit einem großen Wassergefäß wäre beinahe über sie gestolpert. »Hier bist du allen nur im Weg! Kannst du nicht nach draußen gehen, in den Garten? Dort wärst du besser aufgehoben!«

Etwas in seiner Stimme brachte sie dazu, zu gehorchen. Außerdem stand die Tür offen, die zum Garten führte, und ein leichter Sommerwind hatte zarte Duftwolken hereingeweht. Sie machte ein paar zögerliche Schritte, dann jedoch zog es sie unwiderstehlich weiter.

Es wurde angenehmer und kühler, je weiter sie kam. Über ihr hohe Bäume, deren Blätter leise raschelten, vor ihr Beete, in denen rote, weiße und blaue Blumen wuchsen. Wie groß und herrschaftlich hier alles war, verglichen mit dem Garten zu Hause!

Zwischen den Blumen entdeckte sie plötzlich eine Katze. Ihr Fell schien im Sonnenlicht zu lodern, so rot war es, während Beine und Ohren dunkler gezeichnet waren. Ohne nach links und rechts zu schauen, strebte die Katze einem niedrigen Busch zu.

Das Mädchen konnte gar nicht anders, als ihr zu folgen.

»Das wirst du schön bleiben lassen!« Woher war auf einmal dieser rundliche Junge mit den abstehenden Ohren gekommen, der sich ihr in den Weg stellte? Er war ein Stück größer als sie, trug die Jugendlocke, die seinen ansonsten rasierten Kopf schmückte, und schaute sie empört an. »Man stört keine Katzenmutter und ihre Jungen!«

»Sie hat kleine Kätzchen?«, rief das Mädchen. »Kann ich sie sehen?«

»Meinetwegen«, sagte der Junge und schob den Busch auseinander. Da lag sie, die Feuerkatze, und an ihren Zitzen tranken vier Junge, zwei flammend rot wie die Mutter, zwei so dunkel, als hätten die Flügel der Nacht sie gestreift.

»Die gehören alle dir?« Vor Aufregung konnte das Mädchen kaum noch schlucken.

»Natürlich«, sagte der Junge. »Und bald wird mir auch alles andere hier gehören.«

Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, aber das war ihr in diesem Moment auch egal. Alles, was jetzt zählte, waren diese flauschigen Fellbündel, von denen ihr eines der roten besonders gut gefiel, weil es ein wenig zerzaust und damit noch niedlicher aussah.

Eine Frage kam ihr in den Sinn: »Würdest du vielleicht ...«

Der Junge reckte seinen Hals, legte den Finger auf die Lippen.

»Der Falke ist zum Himmel geflogen!«, hörte sie eine Männerstimme aufgeregt schreien.

»Es ist so weit«, sagte der Junge. »Jetzt ist die Reihe an mir.«

Erst nach einer ganzen Weile schien er sich zu besinnen, dass sie noch immer neben ihm stand.

»Du kannst dir eines aussuchen«, sagte er.

»Ist das dein Ernst?«, fragte sie, beklommen vor Freude. »Darfst du das denn überhaupt?«

»Alles darf ich«, sagte er und in seine Augen kam ein seltsamer Glanz. »Der Falke ist zum Himmel geflogen – und der neue Falke und Pharao von Kemet* bin ich!«

ERSTES KAPITEL

»Der Falke muss zum Himmel fliegen ...«

Was hatte der Mann mit dem messerscharfen Profil da gerade gesagt? Mius Herz machte einen holprigen Satz und schien danach härter gegen die Rippen zu schlagen. Beinahe wäre der Krug mit dem Dattelbier auf dem Boden gelandet, so feucht fühlten ihre Handflächen sich auf einmal an.

Sie hatte diesen Satz niemals vergessen – doch damals hatte er anders geklungen. Und dieser scheinbar winzige Unterschied genügte, um am ganzen Körper Gänsehaut zu bekommen. Trotzdem brachte Miu es fertig, Becher und Krug halbwegs ruhig auf den Tisch zu stellen.

Dann sah sie sich die beiden genauer an.

Die Männer waren mittelgroß und kräftig, mit muskelbepackten Armen und breitem Brustkorb. Soldatentypen, wie sie unwillkürlich dachte, der eine beinahe im Alter ihres Vaters, der andere ihr lediglich ein paar Jahre voraus. Neben dem rechten Nasenflügel des Jüngeren saß eine dunkle Warze, an der er ständig herumfingerte. Man hätte sie ohne Weiteres für Onkel und Neffe halten können, die sich in der Schenke Zum Graureiher ein paar entspannte Stunden gönnten.

»Wollt ihr vielleicht auch etwas zu essen bestellen?«, fragte Miu. Das war das Erstbeste, was ihr einfiel, um sich noch länger in der Nähe der beiden Männer aufzuhalten.

Kopfschütteln. Die Männer sahen sich an. Das Mädchen konnte deren Anspannung fast körperlich spüren.

Irgendetwas trieb Miu zum Weiterreden. »Für Tante Tahebs berühmten Gänsebraten kommen die Gäste sogar von weit her. Sie legt das Fleisch über Nacht in Honig und Kräuter ein und röstet es anschließend auf dem Grill, so kross, dass ...«

»Verzieh dich, Kleine!« Die Stimme des Älteren war schneidend. »Wir haben alles, was wir brauchen.«

Widerstrebend setzten ihre Füße sich in Bewegung. Sie ging, als wäre der Boden klebrig.

»Du kannst mir ruhig vertrauen«, hörte sie nun hinter ihrem Rücken. »Den ersten Schlag hat er bereits einstecken müssen. Und was den zweiten betrifft, so verläuft alles nach Plan. Niemand schöpft bislang auch nur den geringsten Verdacht ...«

»Was ist mit dir, Miu?« Tante Taheb musterte sie besorgt. »Du bist ja auf einmal ganz grün um die Nase! Hast du etwa wieder unreife Feigen genascht?«

Niemand konnte so dreinschauen wie Taheb, vorwitzig und treuherzig zugleich. Miu öffnete den Mund, um ihr das Herz auszuschütten, schloss ihn allerdings sehr schnell wieder.

So einfach lagen die Dinge in der Familie nun mal nicht.

Genau genommen war Taheb gar nicht ihre richtige Tante, sondern die Cousine ihrer Mutter, die sie vor neun Jahren verloren hatte. Außerdem sah Papa es nicht gern, wenn sie im Graureiher aushalf, weil er sich seit einiger Zeit nicht mehr besonders mit Nefer verstand, Tahebs Mann, der, wie Miu aus Erzählungen wusste, früher als Schreiber und Vorlesepriester einen ungleich höheren Rang bekleidet haben musste.

»Hast du auf einmal deine Zunge verschluckt?«, sagte Taheb stirnrunzelnd.

Aus den Augenwinkeln sah das Mädchen, wie der Ältere ein abgeschabtes Kupferstück auf den Tisch legte. Beide schoben ihre Hocker nach hinten. Wenn sie jetzt nicht blitzschnell reagierte, würde sie womöglich gar nichts mehr über den perfiden Plan erfahren, den die beiden Männer offenbar ausheckten.

Miu verzog das Gesicht und presste sich beide Hände auf den Bauch, als ob ihr plötzlich übel geworden wäre.

»Dann sieh zu, dass du nach Hause kommst«, lenkte Taheb ein. »Und werd endlich vernünftig. Du bist schließlich alt genug, um zu wissen, dass eine Bedienung, die in der Mittagszeit schlappmacht, für ein Lokal die reinste Katastrophe ist!«

Sie zeterte noch ein wenig weiter, aber Miu nahm es ihr nicht krumm. Wer Taheb kannte, wusste, dass ihre schlechte Laune so schnell verfliegen würde wie ein Schwarm Ibisse, der sich aus dem Schilf erhebt.

Miu lief den beiden Männern hinterher. Schon nach ein paar Schritten fluchte sie halblaut, denn sie war auf eine gezackte Tonscherbe getreten. Im Graureiher verkehrten viele Schiffer, die nach der Zeche ihre Becher draußen achtlos wegwarfen. Flussgesindel, so nannte Taheb sie, während der sonst so penible Nefer sich in ihrer Gegenwart seltsamerweise wohlzufühlen schien.

Die scharfe Scherbe hatte ihre Sohle geritzt, es brannte, und Miu entdeckte ein paar Tropfen Blut, die sie mit dem Kleidersaum abwischte. Zum Glück ließ der Schmerz rasch nach. Dennoch leistete sie innerlich Abbitte bei ihrem Vater. Er konnte es nicht leiden, wenn sie barfuß herumlief wie ein Bauernmädchen, wo er ihr doch neue Binsensandalen geschenkt hatte. Sie gab sich alle Mühe, ab jetzt auf beides gleichzeitig zu achten: die zwei Männer vor ihr und den staubigen Boden unter ihren Füßen.

Schemu, die Erntezeit, neigte sich dem Ende zu, und ganz Kemet wartete inbrünstig auf die Flut. Niemals waren die Fliegen lästiger als in diesen unendlichen Sommerwochen, bevor die Tränen der Göttin Isis* den Nil endlich über seine Ufer treten lassen und dem ganzen Land Leben und Fruchtbarkeit zurückgeben würden. Heute schienen diese Plagegeister es ganz besonders auf Miu abgesehen zu haben. Wild wedelnd gegen die Attacken ankämpfend, bewegte sie sich vorwärts, hielt sich jedoch, um bloß keinen Verdacht zu erregen, stets ein ganzes Stück hinter den Männern.

Sie trennten sich schon nach Kurzem an einer Weggabelung.

Wem von beiden sollte sie sich nun an die Fersen heften?

Der Ochsenkarren, der den Älteren mitnahm, enthob sie einer Entscheidung. Jetzt also schlich sie dem Warzenkerl hinterher, der selber noch unschlüssig schien, wohin der Weg ihn führen sollte, denn er blieb zwischendrin stehen, kratzte sich am Schädel und schien zu überlegen. Schließlich wandte er seine Schritte zum Markt, was Miu nur recht sein konnte, denn im mittäglichen Gewimmel von Händlern und Käufern würde es um einiges leichter für sie sein, ihm unauffällig zu folgen. Plötzlich schien er es gar nicht mehr besonders eilig zu haben, sondern schlenderte von Stand zu Stand, ließ sich einen Mandelkuchen geben, den er genüsslich verschlang, und schlug danach auch den aufgebrochenen Granatapfel nicht aus, den eine lachende Bauersfrau ihm entgegenhielt. Als der Saft seinen Mund rot färbte, sah er aus wie ein Spitzbube, der heimlich in der Speisekammer nascht, und plötzlich begann Miu zu zweifeln.

Wenn sie sich doch getäuscht hatte?

Denn eigentlich konnte doch gar nicht wahr sein, was Miu in Tahebs Schenke zufällig gehört hatte – dass jemand einen Anschlag gegen Tutanchamun* plante, den göttlichen Pharao*!

Ein sirrendes Geräusch, das beide zusammenzucken ließ.

Es war lediglich ein Händler gewesen, der ein geflochtenes Seil geschickt durch die Luft tanzen ließ, um Käufer anzulocken. Doch der junge Mann, dem sie folgte, war zutiefst erschrocken. Sein Gesicht wirkte plötzlich angespannt, er sah sich nach allen Seiten um.

Instinktiv hatte Miu sich gebückt, als hätte sie etwas auf dem Boden verloren. Dabei zog sie sich das bunte Band aus dem Haar, mit dem Großmama Raia ihre Mähne jeden Morgen im Nacken bändigte, und schob es mit dem Fuß beiseite. Als sie sich wieder erhob, unterschied sie sich in nichts mehr von den meisten anderen hier: ein Mädchen in einem nicht mehr ganz sauberen Kleid, das trotz aller Ermahnungen meist ein wenig krumm ging.

Er spazierte weiter, bis zum Ende des Platzes, und plötzlich wurde Miu klar, zu welchem Stand er wollte.

Ihre Aufregung wuchs.

Der Schlangenbeschwörer hatte seine Flöte sinken lassen. Die Kobra, nicht länger von seinem Gefuchtel gebannt, kringelte sich in ihrem Korb ein, den er rasch verschloss, als drohe Gefahr. Reine Schau, wie sie wusste, denn diesen Tieren waren die Giftzähne gezogen worden, eine schmerzhafte Prozedur, die sie manchmal sogar das Leben kostete.

Der junge Mann beugte sich über die Körbe.

Miu sah, wie der Schlangenbeschwörer einen festen Lederhandschuh überstreifte, bevor er einen anderen Deckel öffnete und wilde Gesten folgen ließ. Augenblicklich schoss eine Schlange aus den geflochtenen Binsen, den Kopf hoch erhoben, den Hals gespreizt. Um den Hals trug sie ein breites, schwarzes Schuppenband, das sich von dem rötlichen Körper abhob.

Jetzt wich der Warzenkerl schnell zurück.

»Da tust du gut daran.« Der Schlangenbeschwörer grinste. »Denn bei ihr ist alles intakt. Man muss sie übrigens ordentlich aushungern, dann sind diese Kobras unschlagbar – wie dieses Schätzchen hier, das nach Beute giert.« Sein Handschuh drückte die Schlange wieder in den Korb zurück. »Hast du genug gesehen?«

Der andere nickte. »Ich komme wieder«, sagte er. »Wie vereinbart.«

Miu vertiefte sich scheinbar in ein reichhaltiges Angebot bemalter Töpfe, das nebenan auf einer Decke ausgebreitet war. Der junge Mann eilte an ihr vorbei und verließ den Markt. Er ging in Richtung Fluss und strebte der Anlegestelle der Fähre zu, die hinüber zum Westufer führte!

Jetzt begann die Angelegenheit brenzlig zu werden, denn dort drüben begann das Reich des Anubis*. Jenseits des Nils lagen nicht nur das Tal der Könige* und das Dorf der Nekropolenarbeiter, sondern auch die Arbeitshallen und Geschäftsräume ihres Vaters, der als Balsamierer die Menschen für ihre letzte Reise rüstete. Es war Miu nicht ausdrücklich untersagt, ihn dort aufzusuchen, aber sie wusste dennoch, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, sollte sie unangemeldet auftauchen. Vermutlich würde Papa dann über kurz oder lang wieder damit anfangen, dass man sie verheiraten müsse, damit er die Verantwortung los sei und endlich ein anderer auf sie aufpasste, was dann wieder tagelang die Stimmung zwischen ihnen vergiften würde. Außerdem gab es dort in den Arbeitshallen ihres Vaters jemand ganz Bestimmtes, dem sie vorerst besser nicht unter die Augen kam, um seine Fantasien nicht noch weiter anzustacheln.

Zögernd betrat sie die schwach besetzte Fähre.

Was, wenn der Kerl misstrauisch wurde und merkte, dass sie ihn verfolgte? Und wenn schon – sie konnte jetzt nicht einfach aufgeben. Nicht nachdem sie ihm bis hierher gefolgt war!

Doch Mius Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Kein einziges Mal drehte er sich nach ihr um, sondern starrte nach vorn, auf die grünliche Wasserfläche, die tief genug stand, um zahllose Sandbänke freizugeben, auf denen sich Krokodile in der Sonne räkelten.

Kaum drüben angekommen, sprang er ans Ufer und rannte los, als wäre ihm ein Rudel bissiger Hunde auf den Fersen. Miu ihm nach. Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen vor den Augen: Sein Ziel war der Palast der leuchtenden Sonne, die Sommerresidenz des Pharaos, ebenfalls auf dem Westufer gelegen, ein riesiges Areal mit zahllosen älteren und neu errichteten Gebäudeteilen, das einen eigenen Hafen besaß sowie einen Park, von dessen legendärer Schönheit ganz Waset* munkelte. Allerdings war es nur wenigen vergönnt, ihn mit eigenen Augen zu betrachten, denn die seltenen Bäume und exotischen Pflanzen, die dort unter sorgfältiger Obhut gediehen, waren allein für die Augen des Königs, seiner Großen Königlichen Gemahlin sowie des Hofstaats bestimmt.

Natürlich gab es eine vielköpfige Dienerschaft, die alles zu bewirtschaften und instand zu halten hatte, und zu jener musste der Warzenkerl gehören, denn er lief zielstrebig zu einer der Nebenpforten, die auf sein Klopfen hin geöffnet wurde.

Wie von Zauberhand war er dahinter verschwunden.

Miu blieb noch eine Weile schwer atmend stehen und spürte den Schweiß, der ihr in Bächen über den Rücken lief, ebenso wie die Wunde in der Sohle, die sie während der Verfolgung vergessen hatte. Wie schön wäre es, jetzt in dem kleinen Lotosteich zu baden, der das Herzstück ihres Gartens bildete! Doch von dieser Erfrischung trennte sie im Augenblick nicht nur das grüne Band des Flusses, sondern vor allem die schwere Last, die ihr auf dem Herzen lag.

Sie würde so gerne mit jemandem darüber reden können.

Papa kam nicht infrage. Sein Lieblingsmotto lautete: Ein kluger Mann verschließt die Augen vor Dingen, die ihn nichts angehen, und kümmert sich stattdessen um sein Geschäft und seine Familie.

Dann lieber doch zurück zu Tante Taheb?

Die Vorstellung, dort Nefer, ihrem Mann, zu begegnen, hielt Miu davon ab. Früher hatte sie es genossen, in seiner Gegenwart Schreiben und Lesen zu üben. In letzter Zeit aber mied sie nach Möglichkeit seine verdrossene Miene, und auch Nefer schien alles andere als erpicht auf ihre Anwesenheit, als würden sie sich in stillschweigender Übereinkunft aus dem Weg gehen.

Und Iset?

Die einstige Herzensfreundin hatte Miu viel zu lange vernachlässigt – auch wenn es auf strikte Anordnung ihres Vaters hin geschehen war –, um plötzlich mit einer Räubergeschichte wieder bei ihr aufzutauchen.

Es machte keinen Sinn, sich unter der stechenden Sonne weiterhin den Kopf zu zerbrechen. Erfrischt und ausgeruht würde ihr vielleicht eher etwas einfallen. Energisch zog Miu los, zur Fähre, die gerade wieder am Ablegen war, sprang mit einem Satz auf die Planken und versuchte beim gleichmäßigen Schlag der Ruder, so etwas wie Ordnung in ihre wirren Gedanken zu bringen.

Auf einmal war ihr, als höre sie Mamas ruhige Stimme.

»Wasser ist nachgiebig und es fließt. Du fühlst keinerlei Widerstand, wenn du hineintauchst, und es wird dich nicht aufhalten. Und dennoch geht es stets dorthin, wo es will, denn am Ende kann ihm nichts und niemand widerstehen ...«

Miu vermisste sie so schrecklich. Und schon den ganzen Vormittag hatte sie den Albtraum von letzter Nacht erfolgreich weggeschoben, doch jetzt überfiel er sie erneut mit aller Macht, jener schreckliche Albtraum, der sie schon seit Jahren verfolgte und stets verstört und nass geschwitzt aufwachen ließ.

Die winzige, dunkle Kammer, in der sie schon viel zu lange eingesperrt ist. Das Johlen und Grölen der Menschen draußen, das immer lauter ansteigt, bis sie Angst bekommt, ihre Ohren könnten platzen. Die Tür, die plötzlich aufspringt und Licht hereinströmen lässt, grelles, hartes Licht, das in den Augen schmerzt. Die große Hand, die sie am Arm packt und hinauszerrt.

»Das musst du sehen, Kleines, mach schon, so etwas darfst du keinesfalls verpassen ...«

Miu wurde speiübel, wie bislang jedes Mal, wenn diese Bilder sie quälten. Sie hielt den Kopf so ruhig wie möglich und versuchte, die bösen Gedanken zu verscheuchen.

»Du wirst mir doch nicht etwa seekrank?« Ein Mann stand auf einmal neben ihr. »Dabei könnte der Fluss gemächlicher gar nicht sein!« Sein mächtiger Bauch wabbelte beim Reden über dem Lendenschurz, den eine breite Borte zierte. Er schwitzte erbärmlich.

Offenbar hielt er Miu für leichte Beute. Sogar ihr ärgerliches Kopfschütteln schien er misszuverstehen.

»Brauchst doch nicht schüchtern sein.« Ein schmieriges Lächeln. Und näher kam er auch noch! »So ein hübsches, junges Ding wie du! Wenn du magst, kann ich dich gern ein bisschen ablenken. Würde dir das keinen Spaß machen?«

Wie konnte so ein widerlicher Kerl denken, dass er in irgendeiner Weise anziehend auf ein junges Mädchen wirkte?

Miu tat das, was Raia ihr für solche Fälle beigebracht hatte, machte Sichelaugen und setzte ihre arroganteste Miene auf. Es schien zu wirken, trotz der Übelkeit, gegen die sie noch immer zu kämpfen hatte. Er murmelte etwas Undefinierbares und zog sich auf die andere Seite der Fähre zurück.

Der kleine Sieg tat gut, und als sie am Ostufer anlegten, ging auch ihr Atem wieder ruhiger, wenngleich Miu plötzlich spürte, wie müde sie war. Steifbeinig wie ein alter Esel schlich sie durch die Straßen, die sich nur allmählich wieder mit Menschen und Karren füllten, weil jeder, der jetzt nicht unbedingt draußen sein musste, bis zu den Abendstunden die Hitze mied.

Erst als die weiße Mauer in Sicht kam, die ihr Haus umgab, atmete sie auf. Viel Zeit dafür blieb allerdings nicht, denn auf der Schwelle hatte sich Anuket aufgebaut, das dunkle Gesicht in besorgte Falten gelegt. Die alte Dienerin war schon so lange im Haus, dass sie dem Mädchen manchmal wie ein vertrautes Möbelstück vorkam.

»Wie siehst du denn schon wieder aus!«, rief sie voller Empörung und versperrte Miu mit ihrer schmächtigen Gestalt den Eingang. »Blutverschmiert und schmutzig wie aus der Gosse!«

»Ist Großmama da?« Am liebsten hätte sie Anuket einfach weggeschubst.

»Nein, aber ...«

»Wann kommt sie wieder?«, unterbrach Miu die Dienerin.

»Woher soll ich das wissen? Ich bin doch wie immer die Letzte, die in diesem Haus etwas erfährt!«

»Mutemwija«, dröhnte es hinter ihr. Es gab nur einen, der sie so nannte, und auch nur, wenn er besonders wütend war – Papa! Die steile Falte zwischen den Brauen verriet seinen Gemütszustand ebenso wie die gefährlich schmal gewordenen Lippen. »Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du besser auf dich achten musst. Wir sind schließlich nicht irgendjemand! Wann nur wirst du das endlich lernen?«

Wieso war er überhaupt zu Hause – mitten am Tag?

»Was machst du denn hier?«, stammelte Miu.

»Als ob ich es nicht im Blut gehabt hätte!« Er kam näher, schnüffelte an ihr und verzog dabei das Gesicht. »Du stinkst ja schlimmer als ein ganzer Trupp Soldaten nach einem strengen Fußmarsch! Ab mit dir in den Teich, und zwar schnell – und danach will ich ein frisches Kleid an dir sehen. Niemand aus meiner Familie lässt sich so gehen, schon gar nicht meine einzige Tochter!«

Miu hatte seinen wundesten Punkt getroffen.

Keiner in Waset achtete mehr auf Ordnung und Sauberkeit als der Balsamierer Ramose; sein unablässiges Bestreben, alles abzuwaschen, was mit seiner Tätigkeit im »Haus der Reinigung« auch nur im Geringsten in Verbindung gebracht werden konnte, grenzte fast schon an Besessenheit. Außerdem liebte er schwere Düfte. Auch jetzt roch er wieder, als hätte er in Moschusöl und Wasserlilienextrakt geradezu gebadet.

»Ist etwas passiert?«, fragte er. Es war ebenso einfach, Papa zum Poltern zu bringen, wie schier unmöglich, ihn auf Dauer hinters Licht zu führen. Er schien einen sechsten Sinn für alles zu besitzen, was hinter seinem Rücken geschah. Irgendetwas an ihrem Ausdruck hatte ihn wohl auch jetzt misstrauisch gemacht. »Hast du etwas angestellt? Dann heraus damit!«

Miu musste schlucken und war einen Augenblick lang versucht, seiner Aufforderung zu folgen und ihm alles zu erzählen. Doch dann wäre ja herausgekommen, dass sie wieder heimlich bei Taheb ausgeholfen hatte, und neuer Streit damit unausweichlich.

Was genau hätte sie ihm auch erzählen sollen?

Dass sie aufgrund eines einzigen Satzes, den sie aufgeschnappt hatte, überzeugt sei, das Leben des Königs sei in Gefahr? Sie, ein Mädchen von noch nicht einmal sechzehn Jahren, wollte so etwas Ungeheuerliches herausgefunden haben?

Stumm schüttelte Miu den Kopf, dann deutete sie auf ihren Fuß.

»Hab mir wehgetan«, sagte sie und schämte sich ein bisschen, wie kindisch das klang.

»Worauf wartest du dann noch? Die Wunde muss sauber werden – und die ganze Miu mit dazu.« Fürs Erste schien der Zorn ihres Vaters verraucht. »Und komm mir erst wieder unter die Augen, wenn du einigermaßen ordentlich aussiehst!«

Plötzlich war es ganz einfach, zu gehorchen.

Miu ging zum Teich, schlüpfte aus ihrem Kleid und spürte, während sie langsam hineinwatete, wie das Wasser bei jedem Schritt höher stieg und ihr erhitzter Körper sich abzukühlen begann. Dann hielt sie die Luft an und tauchte unter, bis sie das Gefühl hatte, alles, was heute passiert war, abgewaschen zu haben. Anschließend wickelte sie sich in ein Tuch, ging in ihr Zimmer und legte sich auf das Bett.

Eigentlich hatte Miu nur für ein paar Momente ausruhen wollen, doch als sie wieder erwachte, hatte die Göttin Nut* bereits ihre schützenden Flügel ausgebreitet und es war draußen stockdunkel geworden. Im Zimmer aber sorgte eine mit Öl gefüllte Tonschale, in der ein Docht schwamm, für gelbliches Licht.

Hell genug, um festzustellen, dass eine fürsorgliche Hand sich um ihr leibliches Wohl gekümmert hatte, wenngleich jemand sich bereits dreist davon bedient hatte. Das Schälchen Linsensuppe und das Fladenbrot auf dem Tablett am Fußende waren unberührt. Daneben jedoch lagen abgenagte Hühnerknochen und ein paar Knorpelreste.

Im ersten Moment glaubte Miu, noch zu träumen, denn das anmutige Wesen, das es sich neben ihrem Bett bequem gemacht hatte, war über Wochen verschwunden gewesen, und sie hatte schon befürchtet, es niemals wiederzusehen.

Miu streckte sich, legte ihre Hand auf den warmen Körper und begann, das weiche Fell zu streicheln, das unter ihrer Berührung vibrierte. Hart ragte der knöcherne Grat der Wirbelsäule heraus; alles Fleisch schien wie weggeschmolzen. Pau hatte keine einfache Zeit hinter sich, das konnte Miu spüren.

»Pau«, flüsterte sie, in unendlicher Erleichterung. »Meine Pau – dass du nur wieder da bist!«

Die Feuerkatze hob den Kopf und stieß ein helles Begrüßungszirpen aus. Ein zweiter Ton folgte, ein hohes, durchdringendes Fiepen.

Sie war nicht allein gekommen!

Da lagen zwei faustgroße, quicklebendige Fellknäuel an ihrem Bauch, die nach verlorenen Zitzen jammerten.

Eines dunkel gestromt, das andere lohfarben wie sie selber.

Irgendwann würde seine Frau sich zu fragen beginnen, warum Nefer jetzt immer freiwillig das nächtliche Aufräumen, Saubermachen und Zuschließen des Graureihers übernahm, zumal sie ja wusste, wie sehr er diese Arbeiten verabscheute. Vielleicht tat sie das ja schon längst, seine Frau, eine Lebenskünstlerin auch in schwierigen Tagen, die ihren wachen Kopf hinter einem kindlichen Blick und einem strahlenden Lächeln zu verstecken wusste. Aber selbst wenn es so war, blieb Nefer nichts anderes übrig, als trotzdem mit diesen verhassten Arbeiten weiterzumachen.

So lange, bis er endlich bekommen hatte, was er so dringend brauchte.

Nefer stellte die Hocker mit den Beinen nach oben auf die Tische, um leichter kehren zu können, und horchte in das Dunkel. Es war schon eine ganze Weile her, dass die Letzten hinausgetorkelt waren, Vater und Sohn, beide volltrunken. Ihre Zeche war trotzdem kaum der Rede wert gewesen. Kein Wunder, denn Taheb und er konnten es sich ja nicht leisten, den Bierpreis vernünftig zu erhöhen. Jedenfalls sofern sie nicht riskieren wollten, ihre Gäste zu verprellen.

Wenigstens hatte die Lage des Graureihers so nah am Wasser gewisse Vorteile, wenngleich Nefer vor neun Jahren noch nicht daran gedacht hatte, als sie die Pacht der kleinen Schenke übernommen hatten. Viel anderes war ihnen auch nicht übrig geblieben, nach der hastigen Flucht aus der Sonnenstadt*, mit nahezu leeren Händen und in ständiger Angst, die Häscher könnten sie jederzeit auch in Waset aufspüren und zur Rechenschaft ziehen.

Ein Dasein dritter Klasse, bestenfalls, das war es, was ihnen nun bevorstand, und vermutlich wäre es ohne große Änderungen bis zum Ende ihrer Tage genauso weitergegangen – hätte es nicht jene geheimen Lagepläne gegeben, die ihm ein unerwarteter Verbündeter kurz vor seinem Tod hatte zukommen lassen. Jemand von früher, als er noch als Schreiber hatte arbeiten dürfen, ein Mann, dem sie damals mindestens so übel mitgespielt hatten wie ihm.

»Tu du es für mich.« Manchmal glaubte Nefer, den rasselnden Atem des Sterbenden noch zu hören. »Ich selbst bin dazu nicht mehr in der Lage. Mach sie fertig, diese miesen Verräter, und bring sie zur Strecke, genauso wie sie uns damals gnadenlos zur Strecke gebracht haben. Verdient haben sie es allemal!«

Ein Hoffnungsschimmer, immerhin.

Und vielleicht sogar mehr als das, falls das Glück ihn nicht für immer vergessen hatte.

Nefer fluchte, weil die nachlässig gebundenen Binsen des Besens sich im feuchten Zustand aufzulösen begannen und den Schmutz auf dem Boden mehr verteilten als zusammenfegten. War das vielleicht die passende Arbeit für einen Mann, der einmal zu den größten Hoffnungen im Lebenshaus* gehört hatte?

Allein an das zu denken, was er für immer verloren hatte, genügte, um alle Kraft aus seinem Körper schwinden zu lassen. Schwach und mutlos fühlte Nefer sich in solchen Augenblicken, vor der Zeit gealtert, beschwert von einer unsichtbaren Bürde, die er auch jetzt noch nicht ablegen konnte, nicht nach all den Jahren, die seit seiner Erniedrigung vergangen waren. Eines nur hielt ihn dann aufrecht, und er versuchte, diese Vision auch jetzt wieder heraufzubeschwören, obwohl es immer schwieriger wurde, je mehr Zeit verstrich: der Gedanke an Rache.

War da nicht draußen ein Geräusch gewesen? Oder spielten ihm bloß seine Ohren einen Streich?

Nefer stellte den Besen beiseite und ging zur Tür. Es dauerte, bis seine Augen sich einigermaßen an das Dunkel gewöhnt hatten; es war Neumond und die Nacht so schwarz wie das Innere eines Grabes.

Niemand zu sehen, weit und breit.

»Hast du noch einen anständigen Schluck für einen guten Freund?« Nefer schrak zusammen, während der andere breit zu grinsen begann. Wie ein Geist stand er plötzlich vor ihm, ein recht korpulenter Geist allerdings, deutlich schwammiger als bei ihrer ersten Begegnung. »Mein Boot hab ich ein ganzes Stück weiter unten am Ufer festgemacht. Ganz nach deinen Wünschen. Musst also nicht gleich wieder loszetern wie beim letzten Mal! Deine Frau ist doch sicherlich nicht mehr hier, oder?«

Der Mann drängte sich dreist an ihm vorbei in die Schenke, packte einen Hocker, stellte ihn zurück auf den Boden und setzte sich. Dann erst ließ er den stoffumwickelten Packen, den er unter dem Arm getragen hatte, auf den Tisch fallen.

»Dass du dich auch mal wieder blicken lässt«, murmelte Nefer und stellte widerwillig Krug und Becher vor ihn hin. Er konnte nur hoffen, dass Taheb bereits schlief. Zum Glück wohnten sie jetzt in dem kleinen, zweistöckigen Haus, das einige Schritte entfernt lag, und nicht mehr in den engen, niedrigen Räumen direkt über der Schenke, wo an Ruhe niemals zu denken gewesen war. »Und spät dran bist du auch, Ipi. Ich war schon am Zuschließen.«

»Hab schließlich noch was anderes zu tun, von Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Dunkelheit, falls du dich vielleicht daran erinnerst? Außerdem kann es bei unserem Geschäft doch gar nicht spät genug sein. Oder wäre es dir lieber, ich würde tagsüber hier auftauchen und dein feiner Polizistensohn könnte uns zusammen sehen?«

»Lass gefälligst Ani aus dem Spiel«, zischte Nefer. »Wie oft hab ich dir das schon gesagt?«

»Ach, ich hör es immer wieder gerne.« Sein Spott war beißend. »Ein bisschen Spaß wird wohl noch erlaubt sein, bei der Plackerei, die du von uns erwartest!«

»Du machst dir ja nicht gerade die Hände dabei schmutzig!«

»Einer muss sagen, wo es langgeht. Und du kannst den Göttern danken, dass ich es bin«, entgegnete Ipi.

»Als ob ihr es um meinetwillen tun würdet!«, raunzte Nefer. »Ohne meine kostbaren Lagepläne könntet ihr euer Vorhaben ohnehin vergessen. Aber was bringt mir das? Immer nur warten, warten, warten – ich bin es so leid!«

»Was, wenn wir endlich fündig geworden wären?« Ipi schien jedes einzelne Wort zu genießen.

»Das hast du schon mehrmals behauptet. Und es war immer gelogen. Hör also lieber auf mit deinen fadenscheinigen Versprechungen. Ich glaube nur an das, was ich sehe.« Er deutete auf seinen Kopf. »Mit diesen meinen Augen!«

Ipi steckte seine lange Nase in den Krug, als gäbe es im Augenblick nichts Wichtigeres, wich aber schnell angewidert zurück. »Diese Plörre kannst du selber saufen, du verdammter Geizhals!«, rief er. »Wenn du nicht augenblicklich einen anständigen Wein rausrückst, bist du mich schneller los, als du bis drei zählen kannst.«

Nefer begann, vor sich hin zu grummeln, ging aber doch nach nebenan und kam mit dem Gewünschten zurück. Ipi trank gierig, dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.

»Und neugierig bist du gar nicht?« Seine Augen flackerten. »Das wäre mir aber ganz neu!«

»Lass endlich deine Spielchen ...«

»Schon gut, schon gut!« Ipis Hände schossen nach oben und Nefer wich unwillkürlich ein Stück zurück. Den Gestank des Todes wurde sein Besucher niemals ganz los, egal wie sehr er sich wusch oder parfümierte. »Wirst staunen, mein Alter!« Er begann, den Stoff aufzurollen, in Streifen geschnittenes, reichlich verschmutztes Leinen, wie es in Kemet hauptsächlich für das Einwickeln von Mumien in Gebrauch war. »Und?«, sagte er schließlich. »Hat es dir bei diesem Anblick endgültig die Sprache verschlagen?«

»Das ist alles?«, fragte Nefer und starrte ihn an.

»Was soll das heißen? Etwas mehr Begeisterung für mein Mitbringsel hätte ich von einem ehemaligen Schreiber schon erwartet!«

»Du bringst mir Papyrusrollen?«

»Ja, aber welche – direkt aus seinem Grab! Wir haben es gefunden, kapierst du endlich? Obwohl sie es so schlau versteckt hatten. Das ist es doch, was du die ganze Zeit wolltest! Damit hast du mir seit Jahr und Tag in den Ohren gelegen. Und ich hab es den anderen, die die Drecksarbeit erledigen müssen, genauso weitergegeben. Einer von ihnen kennt mehr als die paar jämmerlichen Zeichen, die ich tagtäglich gebrauche. Er sagt, es gebe keinerlei Zweifel. Wir sind genau da, wohin wir immer wollten. Ist das kein Grund zum Feiern, Alter?«

Nefer schüttelte den Kopf, so heftig und anhaltend, als würde es niemals wieder damit aufhören wollen.

»Nichts hast du verstanden! Gar nichts!«, presste er hervor. »Ich hätte ebenso gut zu einem Tauben reden können.«

»Moment mal! Wir haben endlich das Grab des großen Ketzers entdeckt, und du ...«

»Papyrus ist geduldig«, unterbrach Nefer ihn wutentbrannt. »So ein Schriftstück könnte jeder herstellen, der die heiligen Zeichen kennt, und es damit auf allereinfachste Weise fälschen. Damit komme ich nicht weit.« Jetzt schrie er vor Aufregung. »Ihr müsst ihn ganz auswickeln, bis auf die Knochen! Nichts, was ihr bereuen werdet, denn da ist mit Sicherheit noch einiges für euch Gierhälse drin, wenn ihr wirklich die Ersten gewesen sein wollt. Steckt euch meinetwegen die kostbaren Steine in die Backentaschen oder sonst wohin, daran bin ich nicht interessiert. Ich brauche etwas, das es nur ein einziges Mal gibt. Einen unschlagbaren Beweis!«

»Und was sollte das genau sein?« Ipi, der sonst das Maul gern weit aufriss, wirkte plötzlich eingeschüchtert.

»Den Herzskarabäus. Ja, bring mir den Herzskarabäus des Pharaos – und ich kann dir bald deinen größten Wunsch erfüllen!«

Ganz Waset lag in tiefem Schlummer, nur Miu war hellwach, obwohl sie sich inzwischen so müde fühlte, dass sie schon anfing, alles doppelt zu sehen. Immer wieder rief sie sich die Ereignisse des vergangenen Tages in Erinnerung, ließ vor ihrem inneren Auge ablaufen, was sie gesehen und gehört hatte, und zerpflückte jede Einzelheit, in der Hoffnung, sie hätte sich vielleicht doch getäuscht. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, die Dinge blieben, wie sie waren.

Selbst der Blick auf Pau und ihre Jungen, im Schlaf eng an den Leib der Mutter geschmiegt, machte sie nicht ruhiger, ganz im Gegenteil. Denn jedes Mal wenn Miu ihre wiedergefundene Katze ansah und das doppelte Geschenk, das sie ihr gemacht hatte, stiegen seltsame Erinnerungen in ihr auf, die ihre Ratlosigkeit nur noch vergrößerten.

Als erstes Rot am Himmel den Morgen ankündigte, fiel Miu schließlich doch in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie hochschrak, als sie Anuket im Hof mit dem Frühstücksgeschirr klappern hörte. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern bis zu Papas allmorgendlichen Ermahnungen, die heute gewiss besonders streng ausfallen würden. Großmama, die Einzige, die sie ab und zu davor retten konnte, liebte es, lange zu schlafen, und hasste es, dabei gestört zu werden. So blieb Miu nur eines: ein gezwungenes Lächeln aufzusetzen und zu ertragen, was eben nicht zu ändern war.

Sie wusch Gesicht und Hände in der Alabasterschale, die ihr Vater ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, zog sich an, kämmte sich, rührte frisches Malachitpulver auf der Schminkpalette an, um die Augen mit sattem Grün zu betonen, genau so, wie er es am liebsten an ihr sah – und machte sich innerlich auf das Schlimmste gefasst.

Aber sie hatte sich getäuscht.

Er schien so tief in Gedanken, dass er offenbar kaum bemerkte, wer ihm gegenübersaß. Er hatte auch keinen großen Appetit, nicht einmal Anukets berühmtes Feigenmus, von dem er sonst nicht genug bekommen konnte, schien ihm heute zu schmecken. Schon nach ein paar Bissen schob er seinen Schemel zurück und stand auf.

»Kann spät werden heute«, sagte er. »Ein Auftrag, der großes Fingerspitzengefühl erfordert.« Er verdrehte die Augen.

Das bedeutete reiche Kunden, wie Miu beizeiten gelernt hatte. Leute, die sich die Ewigkeit etwas kosten lassen.

Miu nickte. Der Blick ihres Vaters wurde streng.

»Und du bleibst bei Raia, verstanden? Ich will nicht wieder von meinen Kunden zu hören bekommen, dass man dich allein in der Stadt herumstromern sieht!«

Ihr zweites Nicken fiel deutlich zögernder aus.

Sie blieb sitzen, bis seine Schritte verklungen waren. Dann atmete sie erleichtert aus, längst entschlossen, ihre Beobachtungen von gestern zu vertiefen. Auf das Westufer würde sie heute allerdings verzichten, denn sie wollte nicht riskieren, dem Warzenkerl vor dem Palast der leuchtenden Sonne in die Arme zu laufen. Doch wer sollte sie schon daran hindern, Besorgungen auf dem Markt zu machen?

Anuket war mit dem schmutzigen Geschirr im Küchenbau verschwunden; die beste Gelegenheit, ihren Plan unverzüglich umzusetzen. Miu sprang auf, schaute vorsichtig nach rechts und links, aber niemand war zu sehen, der sie hätte aufhalten können. Also lief sie los.

Über der Stadt lag noch ein Rest von Morgenfrische, doch die dräuende Hitze, die nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, war bereits zu spüren. Trotzdem war der Markt gut besucht, ein Gewimmel von Menschen, Tieren und Waren, deren unterschiedliche Gerüche und Aromen ihr in die Nase stiegen. Jedes Fitzelchen Boden schien belegt; sie musste achtgeben, um auf keine der Binnenmatten zu treten, wo die Bäuerinnen ihr Obst- und Gemüseangebot ausgelegt hatten. Zwischendrin hatten sich die Oasenleute ausgebreitet mit dem gräulichen Salz, das zu jeder Jahreszeit begehrt war. Unter dem Geschnatter von Enten und Gänsen in engen Käfigen hielt Miu Ausschau nach dem Warzenkerl.

Doch leider entdeckte sie ihn nirgendwo.

Weil er gerade Dienst im Palast tun musste?

Weil sie sich doch getäuscht hatte und alles lediglich eine Ausgeburt ihrer Fantasie war?

Oder weil er bereits zugeschlagen hatte?

Ein fürchterlicher Gedanke, der Miu die Nackenhärchen aufstellte und sie umso schneller weitergehen ließ.

Am Stand des Schlangenbeschwörers, den sie als Nächstes ansteuerte, standen zwei Männer, die dessen übliche Vorführung verfolgten. Für Miu nichts Neues: die graubraune, giftlose Kobra, die müde tänzelte, kannte sie ja bereits von gestern. Ihre Augen flogen über die anderen Körbe auf dem wackligen Tisch.

Sechs, zählte sie. Sechs!

Waren es gestern nicht sieben gewesen?

Miu war sich alles andere als sicher, doch jetzt fühlte sie ihn wieder wachsen, jenen hässlichen Klumpen in der Magengrube.

»Ist das alles, was du zu bieten hast?«, sagte sie in forschem Tonfall. »Das arme Tier stirbt ja förmlich an Altersschwäche, so lahm bewegt es sich nur noch!«

Einer der beiden Männer lachte, der andere sah sie verdutzt an. Mit finsterer Miene öffnete der Schlangenbeschwörer einen weiteren Korb.

»Mit der hier im Kornspeicher werdet ihr alle Ratten und Mäuse los«, sagte er zu den Männern gewandt, als bestünde Miu aus Luft. »Die räumt überall gründlich auf!«

Das Tier war dick wie ein Kinderarm und auf dem Rücken strohgelb. Nicht das, wonach Miu Ausschau hielt.

Inzwischen schienen die Männer ebenfalls Lust bekommen zu haben, mehr zu sehen.

»Ja, zeig sie uns, deine gefährlichen Viecher«, rief der eine. »Ich will sie alle in Augenschein nehmen!«

Der Blick, den der Schlangenbeschwörer Miu zuwarf, während er hantierte, war beinahe so giftig wie das Sekret seiner Vipern. Doch sie war ja zum Glück nicht allein. Das machte ihr Mut, einen neuerlichen Vorstoß zu wagen.

»Da war doch noch so eine Rötliche«, sagte sie. »Mit einem breiten schwarzen Band um den Hals ...«

»Halt den Mund!«, fiel ihr der Schlangenbeschwörer ins Wort. »Und hau endlich ab! Hast du dich nicht schon gestern hier herumgetrieben?«

Miu zuckte die Achseln. »Kannst du oder willst du nicht antworten? Vielleicht weil du ...«

Sie konnte nicht weiterreden, so schnell war er bei ihr, umklammerte ihre Arme und begann, sie wie wild zu schütteln.

»Was willst du?«, schrie er. »Was hast du aufdringliches Balg hier zu suchen?« Seine Nägel waren lang wie Krallen und bohrten sich in ihr Fleisch. Er hatte den Mund mit den bräunlichen Zahnstumpen weit aufgerissen, als würde er sie am liebsten verschlingen. Sein Atem roch nach Kraut und Zwiebeln; Spucke rann ihm über das Kinn.

Keiner der beiden Männer machte Anstalten, Miu zu Hilfe zu kommen. Und wenn er als Nächstes seine Reptilien auf sie hetzte?

Sie stieß einen Schrei aus, denn jemand packte sie von hinten, und auch ihr Angreifer wurde von einem untersetzten Mann mit leuchtend blauer Schärpe von ihr weggerissen.

»Raufereien auf dem Markt sind verboten«, hörte sie eine Stimme sagen, die ihr nur allzu vertraut war. »Das dürfte doch jedem bekannt sein!«

Ani, ausgerechnet Ani! Röte schoss in ihr Gesicht und sie wünschte sich nur noch weit, weit weg.

»Was machst du denn hier, Miu?«, rief er.

Mit einem Mal schien ihr Mund sich mit zu vielen Wörtern zu füllen, ein zäher, klebriger Brei, der ihr das Antworten unmöglich machte.

Ani schien es nichts auszumachen. Er wandte sich an den Schlangenbeschwörer.

»So ein großer, starker Kerl wie du gegen ein hilfloses Mädchen – dass du dich nicht in Grund und Boden schämst! Noch ein einziges Mal etwas in dieser Art, und du betrittst den Markt nie wieder, dafür werde ich sorgen, verstanden?«

Der Schlangenbeschwörer nickte hastig. Seine beiden Kunden hatten inzwischen das Weite gesucht.

»Was soll jetzt mit der Kleinen geschehen?« Sein bulliger Kollege, ebenfalls von der Flusspolizei, wie seine blaue Schärpe zeigte, in der ein schmaler Dolch steckte, musterte Miu neugierig. »Wieso setzt du dich eigentlich so für sie ein? Kennst du sie etwa näher?«

»Das will ich meinen. Und lass dein anzügliches Grinsen. Miu gehört zur Familie.« Sein Blick war besorgt. »Ich bringe sie jetzt am besten nach Hause.«

Vorsichtig schaute sie auf zu dem jungen Medjai*, der ihr früher so vertraut wie ein großer Bruder gewesen war. Doch in letzter Zeit wusste sie nicht mehr genau, was sie fühlen sollte, wenn sie ihm begegnete. Manchmal träumte sie sogar von ihm, und es fühlte sich gut an, diese nächtlichen Bilder noch ein Stück weit hinein in den Tag zu tragen, damit Ani wenigstens auf diese Weise ein Weilchen länger bei ihr blieb. Jetzt gerade war es allerdings pure Verlegenheit, die sie in seiner Gegenwart durchflutete.

»Musst du nicht«, stieß sie hervor. »Ich kann ebenso gut allein gehen.«

»Keine besonders gute Idee«, erwiderte Ani. »Komm schon, Miu, ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit.«

Es blieb ihr nichts anderes übrig, als neben ihm herzutrotten, erneut wortlos, weil sie sich nun erst recht schämte. Er ging schnell und gab sich Mühe, das linke Bein dabei nicht allzu sehr nachzuziehen, aber sein Hinken fiel ihr dennoch auf. Der Feldzug nach Kusch* im Heer des Pharaos hatte ihn innerlich wie äußerlich verwandelt.

Wie erwachsen er binnen Kurzem geworden war!

Raia sagte, der kalte Atem des Anubis habe ihn gestreift. Auch wenn Ani niemals darüber redete – von dem großen, unbekümmerten Jungen, der heimlich von zu Hause fortgelaufen war, um Soldat zu werden, war jedenfalls nicht mehr viel übrig.

»Willst du mir nicht endlich sagen, was wirklich los war?«, fragte er nach einer Weile. »Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Was hattest du auf dem Markt zu suchen, in aller Früh und auch noch mutterseelenallein?«

Sie schielte schräg nach oben, was ihm natürlich nicht entging. Genauso hatte sie ihn immer angeblinzelt, wenn sie ihn zu etwas herumkriegen wollte, früher, als sie beide noch Kinder gewesen waren. In seine Augen kam ein winziges Lächeln, und Miu begann, sich ein wenig zu entspannen. Schließlich war Ani Polizist – und vielleicht genau der Zuhörer, den sie so dringend brauchte!

»Ich hab da zufällig etwas gehört, nein, eher aufgeschnappt«, sagte sie. »Sie wollen den Pharao töten. Zwei Männer, aber vielleicht sind es ja sogar noch mehr.«

»Das haben sie gesagt?« Sein Lächeln war verschwunden.

»Natürlich nicht. So unvorsichtig würde doch niemand sein. Sie haben es umschrieben, aber so, dass man es sofort versteht, wenn man sich einigermaßen auskennt.« Miu runzelte die Stirn und strengte sich an, den Tonfall des Gehörten so exakt wie möglich wiederzugeben: »Der Falke ist zum Himmel geflogen ...«

Er reagierte kaum, jedenfalls nicht so, wie sie es erwartet hatte. Und plötzlich wusste sie auch, weshalb. Bei den Krallen des Seth* – aus schierer Aufregung hatte sie sich versprochen!

»Der Falke muss zum Himmel fliegen.« Ja, so war es richtig! »Genau das haben die beiden Männer gesagt.«

Anis schmales, glatt rasiertes Gesicht blieb höflich und unbeteiligt.

»Du bist ihnen auf der Straße begegnet?«, fragte er weiter. »Wo genau?«

»Nein, es war bei euch im Graureiher. Als ich ihnen Bier serviert habe.«

Er blieb abrupt stehen. Die wulstige Narbe auf seiner Stirn, ebenfalls eine unschöne Erinnerung an den Feldzug nach Kusch, schien plötzlich dunkler geworden zu sein.

»Im Graureiher, bei meiner Mutter? Wenn das eine Art Spiel sein soll, Miu, dann ist es ein sehr dummes.« Ani sagte das so ruhig und flüssig wie einen Vers, den er vor langer Zeit auswendig gelernt hatte. »Und du solltest auf der Stelle damit aufhören.«

Er glaubte ihr kein Wort. Miu wurde heiß.

»Das ist kein Spiel«, sagte sie. »Was glaubst du denn, warum ich noch einmal hierher zurückgekommen bin? Die beiden planen einen Anschlag, oder was sonst sollte das deiner Meinung nach heißen? Deshalb hab ich sie ja auch verfolgt.«

»Du hast – was?«

»Na ja, wenigstens einen der beiden«, räumte sie ein. »Den mit der Warze am Nasenflügel. Der Ältere mit dem Geierprofil hatte sich beizeiten mit einem Ochsenkarren davongemacht, da bin ich eben dem jüngeren Warzenkerl nach, erst auf den Markt, wo er sich bei diesem Schlangenbeschwörer von vorhin herumgetrieben hat, später weiter auf die Fähre und dann hinüber bis zum Palast auf dem Westufer ...« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Plötzlich war er verschwunden. Ich wette, er gehört zur Dienerschaft des Pharaos!«

Anis lange Beine setzten sich in Bewegung. Es war, als wäre sie gar nicht mehr vorhanden.

»Was hast du denn auf einmal?« Miu gab sich Mühe, ihn wieder einzuholen. »Du kannst doch jetzt nicht einfach so davonrennen! Dabei weißt du noch nicht einmal alles ...«

Er hielt inne, sah sie eindringlich an.

»Und du musst endlich lernen, Fantasie von Wahrheit zu unterscheiden, Miu, sonst wirst du über kurz oder lang in allergrößte Schwierigkeiten geraten. Du oder die Menschen, die es gut mit dir meinen.« Noch nie zuvor hatte sie ihn derart ernst gesehen.

Er behandelte sie wie ein unreifes Gör, das sich irgendetwas ausgedacht hatte! Dabei spürte Miu seit diesem Morgen noch deutlicher, wie real die Gefahr war, in der der König schwebte.

Sie biss die Zähne zusammen, um ihre Enttäuschung nicht zu zeigen, und ging einfach weiter.

Schweigend erreichten sie das Haus ihres Vaters.

Anuket öffnete und zeigte ihre breitestes Lächeln, als sie Ani erblickte. Und auch Raia, ihre Großmutter, die gleich hinter der Dienerin erschien und Miu in Empfang nahm, schien über den unerwarteten Besuch höchst erfreut.