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Über den Autor
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Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann zahlreiche Reisen nach Afrika und Asien. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und zahlreich ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Klaus Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinderund Jugendliteratur und den Sonderpreis 2016 des Deutschen Jugendliteraturpreises.
Bei Beltz & Gelberg erschienen unter anderem die berühmte »Trilogie der Wendepunkte« mit den Romanen Die Roten Matrosen, Mit dem Rücken zur Wand und Der erste Frühling, sowie die »Jacobi Saga« mit den Romanen 1848. Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand und Im Spinnennetz. Das Karussell ist die Vorgeschichte zum autobiographisch gefärbten Roman Krokodil im Nacken, der mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.
Impressum
Die „Trilogie der Wendepunkte“ von Klaus Kordon umfasst die Romane
Die roten Matrosen oder Ein vergessener Winter
Mit dem Rücken zur Wand
Der erste Frühling

Mit dem Rücken zur Wand wurde mit dem Zürcher Kinderbuchpreis »La vache qui lit«, dem holländischen Jugendbuchpreis »Der Silberne Griffel« und mit dem Preis der Leseratten ausgezeichnet.
Den Roman Mit dem Rücken zur Wand gibt es auch als gekürzte Schulausgabe (Gulliver 78884).
Ebenfalls lieferbar:
Mit dem Rücken zur Wand – Arbeitsheft für Lehrer/-innen ISBN 978-3-407-99111-9
Beltz Medien-Service, Postfach 10 05 65, 69445 Weinheim Kostenloser Download: www.beltz.de/lehrer
Dieses Buch ist erhältlich als:
ISBN 978-3-407-78922-8 Print
ISBN 978-3-407-74841-6 E-Book (EPUB)
© 1999 Gulliver
in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel
Werderstraße 10, 69469 Weinheim
Alle Rechte vorbehalten
© 1990 Beltz & Gelberg
Neue Rechtschreibung
Einbandgestaltung: Max Bartholl
Einbandfoto und Foto S. 2/3: akg Berlin
E-Book: publish4you, Bad Tennstedt
Weitere Informationen zu unseren Autoren und Titeln finden Sie unter: www.beltz.de

Inhalt

1. TEIL
STEIN UND EISEN
Ein Montag im August
Herz des Nordens
Mit Stumpf und Stiel
Augen wie Kastanien
Ein dumpfer Schlag
Rirarutsch
Fürs ganze Leben
Auf der Liste
Kösliner Nr. 10
Bongse
2. TEIL
WEM GEHÖRT DIE STRASSE?
Das einzige Rezept
Am Schäfersee
Wenn erst der Führer regiert
Wahlkampf
Große Ideen und kleine Kinder
Eine Art Held
Laut und leise
Mit ruhig festem Schritt
Ein Wiedersehen
Der Auftrag
3. TEIL
FACKELN DER NACHT
Ein schöner Abend
Deine Juden
Streichhölzer
Hinter den Wolken
Die Niederlage
Überwintern
Herzkönig
Zweierlei Vertrauen
Mitten in der Stadt
4. TEIL
ES BRENNT
Alle guten Menschen
Wohnung ist Wohnung
Ein für alle Mal
Das bisschen Unser
Eine Kerze anzünden
Nur ein Anfang
Entscheidungen
NACHWORT
ANHANG
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Berlin 1932. Über vier Millionen Menschen leben in der deutschen Reichshauptstadt. Im Zentrum pulsiert der Verkehr, rattern Sund U-Bahnen, fahren Busse und Straßenbahnen. Hier erscheinen täglich weit über hundert Tageszeitungen, gibt es mehr Theater als irgendwo sonst auf der Welt, reiht sich Geschäft an Geschäft, Warenhaus an Warenhaus, Tanzlokal an Tanzlokal. Von hier aus wird das Deutsche Reich regiert.
Im Zentrum und im Westen der Stadt lebt man – im Norden, Osten und Süden kämpft man ums Überleben. Dort stehen die Fabriken und Mietskasernen, wohnen die Menschen dicht an dicht, spürt einer den Atem des anderen. Über 600 000 von ihnen sind arbeitslos, kaum ein Kind hat sein eigenes Bett, viele sterben früh an Unterernährung. Ständig wechselnde Regierungen finden kein Rezept gegen die Not. Einer sagt, er wisse den Weg in eine bessere Zukunft: Adolf Hitler. Die Mehrheit der Berliner Bevölkerung ist gegen Hitler und seine NSDAP, die Mehrheit wählt Kommunisten und Sozialdemokraten. Doch die Führungen der beiden Arbeiterparteien stehen einander feindlich gegenüber …

1. TEIL
STEIN UND EISEN

Ein Montag im August

Hitze liegt über der Stadt, hängt schwer in den Straßen, nistet in den Höfen und erfüllt die engen Wohnräume der Hinterhäuser mit drückender Schwüle. Besonders heiß ist es unter den Dächern; dort nimmt die Hitze Gestalt an, ächzt und stöhnt und flüstert im Gebälk, beunruhigt und beklemmt noch in der Nacht. Immer wieder schrickt Hans auf, blickt sich hastig atmend in der Dachkammer um und versucht weiterzuschlafen. Im Halbschlaf sieht er Traumbilder, doch sie lösen einander viel zu rasch ab, als dass er sie klar erkennen könnte.
Im Morgengrauen kann er dann gar nicht mehr einschlafen. Hellwach starrt er zur Zimmerdecke hoch und denkt an den Tag, der vor ihm liegt.
Martha schläft noch. Trotz der Hitze hat sie die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, macht wieder ihr Babygesicht. So erinnert sie sehr an das Mädchen, das sie mal war, an die Schwester, mit der er herumbalgen konnte oder schmusen, streiten oder Verschwörungen aushecken.
Leise steht Hans auf, stellt sich ans offene Fenster und schaut in den noch stillen Hof hinunter. Der Gestank der Müllkästen dringt zu ihm hoch. Er bleibt trotzdem stehen, schaut in das Grau hinaus, das nun schon langsam von einem rötlichen Hauch überzogen wird, und sieht Bilder vor sich auftauchen: die Montagehalle an der Hussitenstraße, die lange Häuserfront der Backsteinfabriken an der Voltastraße, das Eingangstor zum Werksgelände am Humboldthain. Von heute an wird alles anders. In der Maschinenfabrik wird es nicht sein wie in der Schule, dort sitzt er nicht die ganze Zeit in der Bank, wird ab und zu was gefragt und kriegt dafür eine Zensur; ab heute muss er arbeiten,
Lasten hin und her karren, Kisten auspacken, die Lagerhalle fegen, springen, wenn der Meister ruft. Springt er nicht, wird er gefeuert. Nolle Feldmann hat ihn gewarnt: »Im Lager wird kein Knäckebrot gestapelt. Wer nicht zupacken kann, ist fehl am Platz. Aber für einen Turner kein schlechtes Training.«
Für Nolle ist er immer nur der Turner, für Nolle gibt es nichts außer dem Turnverein. Wenn er nicht bei Fichte wäre, hätte Nolle ihm die Stelle nie besorgt …
Das Rot über den Dächern wird stärker, langsam taucht die Sonne auf. Erst ist sie nur eine gleißende Scheibe, die das Rot über den Dachziegeln schnell in ein kräftiges Rosa verwandelt, dann wird sie größer und aus dem Rosa wird ein warmes Gelb.
Ist das ein gutes Zeichen – ein solcher Morgen, solche Sonne? Will sie ihm Mut machen? Als er am Abend ins Bett ging, war er mutlos. Der Wahlsonntag gestern war wieder ein sehr bedrückender Tag. Mehrere Tote soll es gegeben haben, und die Eltern quälte die Ungewissheit, wie diese Wahl wohl ausgehen würde, ob die Nazis noch mehr Stimmen gewinnen oder endlich wieder welche verlieren würden. Er aber hat immer nur an den Tag denken müssen, der nun vor ihm liegt, diesen Montag, an dem er das erste Mal in die Fabrik gehen wird. Werkzeugmacher hat er werden wollen oder wenigstens Maschinenbauer wie Helle, der große Bruder. Aber natürlich, sein gutes Schulzeugnis hat ihm nichts genützt. »Zurzeit bilden wir nicht aus.« Überall haben der Vater und er diesen Spruch zu hören bekommen, und dabei haben sie sich wirklich die Hacken abgelaufen, den ganzen Wedding abgeklappert, Moabit, Kreuzberg, Neukölln, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Weißensee; in allen Bezirken, in denen es Fabriken gibt, hat er sich vorgestellt und nichts als Bedauern geerntet: »Tut uns Leid.« – »Ja, die Zeiten sind schlimm!« – »Wenn nicht bald was passiert, gehen wir noch alle zugrunde.«
Hans beugt sich vor und blickt die viereckige Röhre aus Mauern und Fenstern hinab. Fast alle Fenster stehen offen, aber noch schläft das Haus. In ein paar Minuten wird sich das ändern, werden Türen klappen, im Parterre die Klospülungen rauschen, Teekessel pfeifen. In so mancher Wohnung jedoch wird es still bleiben, wird man länger schlafen und dann am Fenster sitzen, im Hof oder an der Straße die Zeitung lesen oder mit den Nachbarn reden, wie nun schon so lange der olle Krause, Fritze Haberschroth, der dicke Müller, Paule Groß und auch der kleine Lutz, der noch nie gearbeitet hat und auch längst keine Arbeit mehr sucht, obwohl er nun schon zweiundzwanzig ist.
Nein, er darf sich wirklich nicht beschweren. Es gibt so viele, die mehr Pech haben als er. Er sieht sie ja jeden Tag, sieht sie durch die Straßen laufen, mit Schlipsen oder Schnürsenkeln handeln oder gleich betteln; sieht sie die Leihhäuser betreten, wo sie ihr letztes bisschen Habe versetzen, oder vor den Arbeitsämtern um Stempelgeld anstehen, und das sogar im Winter bei bitterster Kälte. Es gibt die Arbeitslosen in den Erdhütten am Stadtrand und Jungen und Mädchen, die sich im Humboldthain irgendwelchen Männern anbieten; es gibt fromme Alte, die plötzlich zu stehlen beginnen, und ehemals feine Leute, die sich schon längst nicht mehr genieren, in Müllkästen nach Essbarem zu kramen. Er hat wirklich Glück gehabt, riesengroßes Glück, hat Arbeit, wird Geld verdienen und der Mutter Kostgeld zahlen können. Von dem, was ihm bleibt, wird er sich ab und zu selbst was kaufen können, etwas zum Anziehen oder auch mal eine Kinokarte …
Hans gegenüber, im dritten Stock, tritt ein Glatzkopf ans Fenster. Die Hosenträger spannen sich über der nackten Brust, der altmodische Schnurrbart wird noch von der Bartbinde bedeckt. Hans tritt ein Stück zurück und beobachtet den Mann. Der Sauer ist noch neu im Haus, hat erst vor ein paar Wochen bei der Kuderka eingeheiratet, die nun auch Sauer heißt, wie sie beim Bäcker, beim Lebensmittelhändler und auch sonst überall stolz verkündet hat. Alle im Haus wunderten sich, dass die über sechzigjährige Frau noch mal geheiratet hat – immerhin zum dritten Mal. Aber dann, kurz nach der Hochzeit, stellte der Sauer zum ersten Mal seinen Radioempfänger an und alles lachte: Also das war der Grund, die Kuderka hatte nur billig zu einem Radio kommen wollen!
Zwei Tage später lachte niemand mehr. Es war aufgefallen, dass der Sauer immer nur ganz bestimmte Sendungen hörte, mit viel Marschmusik und lauten Reden, und dass er offensichtlich in voller Absicht den ganzen Hof beschallte. Vor kurzem ist er dann auch noch in Uniform über den vierten Hof gelaufen – wie nun schon zu erwarten war, in brauner. Die Kuderka hatte sich einen von der SA geangelt! Und das sie, deren verblichener Otto doch schon vor seiner Geburt Sozialdemokrat gewesen war … Obwohl alle es sahen, wollten die meisten es lange nicht glauben. Die Kuderka aber erwidert stolz die neugierigen bis feindseligen Blicke, denen sie seither ausgesetzt ist. Und ihr Maxe stellt sein Radio von Tag zu Tag lauter.
Hans mag diesen Maxe Sauer nicht. Das hat nichts mit der SA zu tun; schon vom ersten Tag an, als er ja noch nicht wusste, dass Frau Kuderkas Neuer ein Nazi ist, war ihm dieser Mann unsympathisch. Wie der auf dem Hof herumstolziert ist! Als wollte er sofort von jedem alles wissen. Und was er neulich zum Vater gesagt hat: »Wo es kein Brot gibt, gibt es auch kein Gesetz.« Ein typischer Nazispruch! So was kommt an, wenn die Leute Hunger haben …
»Kannste nicht schlafen?«
Martha ist aufgewacht. Noch ganz verschlafen schaut sie zu ihm hin.
»Ist so heiß«, sagt Hans.
»Im Ernst?« Die Schwester lacht leise. Dann mault sie müde:
»Mach das Fenster zu. Die Müllkästen … Mir wird gleich ganz kotzerig.«
Hans tut ihr den Gefallen, dann setzt er sich zu ihr aufs Bett und schaut sie an. Das klappt immer noch – ein Blick, und Martha weiß, wie ihm zumute ist. »Na?«, sagt sie. »Ab heute biste erwachsen, was?«
Die Schwester ist eine hübsche Frau, manche nennen sie trotz ihrer mageren und ein wenig eckigen Figur sogar eine Schönheit. Morgens im Bett ist sie keine Schönheit, nur eine zerknautschte und zerzauste Martha, die wieder mal viel zu spät nach Hause gekommen ist.
Martha tippt ihm mit dem Finger auf die Nase, wie sie es früher oft getan hat, als er noch kleiner war. »Haste Schiss?«
Er hat Schiss. Diese riesige Fabrik mit den vielen Werkhallen, Büroräumen und Lagerhallen macht ihm Angst. Bisher ist er nur ein einziges Mal da gewesen, zum Vorstellungsgespräch, und nun soll er dort arbeiten; zwischen all den Männern und Frauen, die schon ihr halbes Leben dort verbracht haben, er, ein Junge, nicht mal fünfzehn Jahre alt.
»Du schaffst das schon.« Martha gähnt herzhaft. »Bist doch kein Doofer und Muskeln haste auch. Mein Gott, wenn ich an meinen ersten Tag denke!«
Als Martha zum ersten Mal arbeiten ging, war Hans erst neun, aber er sieht sie noch vor sich in dem blauen Kleid mit dem weißen Schillerkragen, das sie sich extra für diesen Tag geschneidert hatte. Es gab damals viel Stunk, weil Martha unbedingt ins Büro wollte und der Vater meinte, ein Arbeitermädchen hätte bei den Schreibtischmenschen nichts verloren. Martha aber setzte sich durch und fand nach langem Suchen tatsächlich eine Lehrstelle – als Stenotypistin bei einer Versicherungsgesellschaft. Am ersten Arbeitstag putzte sie sich so heraus, dass der Vater ärgerlich wurde. »Willste Bürofräulein werden oder Schönheitstänzerin?«, fragte er sie. Und Martha in ihrer schnippischen Art antwortete prompt: »Mal sehen, wer besser zahlt.«
Der Vater sagt, in einem Büro werde man gezwungen, sich selbst zu verkaufen, im Büro lerne der Mensch das Buckeln, weil er einerseits ständig nach oben schiele, um aufzusteigen, andererseits aber auf all jene herabblicke, die nicht im Büro sitzen. Nun ist Martha schon seit über fünf Jahren »Bürofräulein«, sitzt den ganzen Tag an der Schreibmaschine und stöhnt jeden Abend über Rückenschmerzen; der Vater aber hat seine Meinung nicht geändert. Und Martha bestärkt ihn noch darin, schwärmt von den jungen Männern im Büro und dem blitzweißen Sportwagen ihres Chefs. Sie übertreibt, weil es sie schmerzt, dass der Vater kein Verständnis für sie hat.
Wir hämmern auf die Schreibmaschinen.
Das ist genau, als spielten wir Klavier.
Wer Geld besitzt, braucht keines zu verdienen.
Wir haben keins. Drum hämmern wir.
So geht ein Gedicht, das Martha sich aus einer Zeitung ausgeschnitten hat. Erich Kästner heißt der Autor. Es ist das einzige Gedicht, das Martha kennt, aber sie liebt es sehr, weil es ihr Leben beschreibt, wie sie sagt – ein Arbeitsleben, nicht viel anders als in der Fabrik.
»Na los! Mach schon!« Martha hat zur Uhr geschaut und gesehen, dass es höchste Zeit für ihn ist. »Wasch dich. Sonst kommen wir noch zu spät. Dann schicken sie dich gleich wieder nach Hause und ich darf wieder mal Schwarzbachs Köter Gassi fahren.«
Marthas Chef hat drei Pudel; jedes Mal, wenn seine Frau sich zum Einkaufen in die Friedrichstraße fahren lässt, bringt er sie mit ins Büro. Hat eine seiner Stenotypistinnen einen Fehler gemacht oder ist zu spät gekommen, darf sie die Viecher ausführen. Das ist eine Strapaze, weil die drei, alles Rüden, jeder in eine andere Richtung ziehen, bis sie ihr Geschäft genau dort erledigt haben, wo sie es erledigen wollen. Martha hasst die drei Tölen, noch mehr aber hasst sie dieses entwürdigende Gassigehen. »Bin doch kein Dienstmädchen«, schimpft sie oft.
Hans will schon in die Küche gehen, um sich zu waschen, da quietscht und pfeift und knarrt es plötzlich über den Hof: Sauers Radioempfänger!
»Der fehlt mir gerade noch, der olle Spinner.« Martha zieht sich die Bettdecke über den Kopf. »Mitten in der Nacht das Radio anstellen!«
Hans tritt ans Fenster, um zu hören, ob Kuderkas Dritter einen Sender reinbekommt. Er hat den Radioapparat mal gesehen, als er der Kuderka half, Kartoffeln hochzutragen. Er steht auf einem kleinen Tisch, direkt unter einem Hitlerbild, das von vielen bunten Lämpchen umrahmt ist. Das Ding besteht aus einem Lautsprecher und einem Schaltkasten mit vielen Knöpfen und Drähten und einem Akku. Wie eine kleine Funkstation sieht es aus, aber es funktioniert, der ganze Hof kann es hören. Auch jetzt. »Hier spricht Berlin«, kommt es ein wenig verzerrt aus dem Lautsprecher. »Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer, hier spricht Berlin …«
»Und hier sprech ick!« Martha wirft ihr Kissen nach Hans.
»Wasch dich jetzt endlich! Los! Sonst kommen wir wirklich zu spät.«
Es ist keine richtige Küche, die zu der Dachkammer gehört, nur eine Nische mit einem Waschbecken und einem kleinen Gasherd, den Martha selten benutzt, weil sie kaum jemals was Warmes isst. Hans stellt sich vor den Spiegel, der über dem Wasserhahn hängt, und schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. So sieht also einer aus, der heute zum ersten Mal arbeiten geht …
»Hänschen!«, drängelt Martha. »Nun mach doch.«
Er muss sich immer vor ihr waschen, damit er ihr nichts wegguckt, wenn sie nackend in der Küche steht. Das hat sie sich ausbedungen, bevor sie ihm erlaubte, zu ihr hochzuziehen. Schließlich zahlt sie für die Kammer die Miete. Er war einverstanden; bei den Eltern, eine Treppe tiefer, müsste er mit dem kleinen Bruder in einem Bett schlafen – einer mit dem Kopf am Kopfende, der andere mit dem Kopf am Fußende, so, wie sie jahrelang die Nächte verbracht haben. Dabei kam er nur selten richtig zur Ruhe, weil Murkel sich im Schlaf ständig hin und her warf. Oft schreckte der Bruder mitten in der Nacht auf, heulte wie ein Wolf und musste stundenlang getröstet werden, bevor er wieder einschlief. Hier oben hat er sein eigenes Bett und auch tagsüber seine Ruhe; vor dem späten Abend kommt Martha ja nie nach Hause.
Auf dem Hof singt eine Kinderstimme: »Wir sammeln Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgeschlagene Zähne sammeln wir. Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, jaaa, das sammeln wir …«
Das ist Schnuppe, Dieter Schnipkoweit, neun Jahre alt wie Murkel und sein bester Freund. Immer stecken die beiden zusammen, ständig hecken sie was aus. Der Witz an Schnuppes Lied: Sein Vater ist tatsächlich Lumpensammler. Jeden Tag nach der Schule zieht er mit seinen Kindern los. Alle unterernährt, zwei oder drei von den sieben haben Tbc, trotzdem sind sie den ganzen Tag in den Straßen unterwegs. Kein Müllkasten ist vor ihnen sicher, kein Gebüsch; überall stöbern die kleinen Schnipkoweits herum, um etwas zu finden, was ihr Vater verkaufen kann. Und dann singt ausgerechnet Schnuppe dieses Lied …
»Hanne!« Jetzt ist Martha ernsthaft wütend, im Nachthemd kommt sie in die Küche. »Willste mich zur Weißglut bringen?«
»Bin ja schon fertig.« Hans überlässt Martha das Waschbecken, bleibt aber noch ein bisschen stehen. Solange er hier rumsteht, traut sie sich nicht, sich auszuziehen.
Martha kapiert. In gespieltem Zorn greift sie nach der Seife, um damit nach ihm zu werfen. Lachend stürzt er aus der Küche. Wenn Martha erst mal loslegt, kennt sie keine Verwandten mehr. Da bringt sie es sogar fertig und vergisst Schwarzbachs Pudel.
Schnuppe Schnipkoweit singt immer noch sein Lied, übertönt sogar Maxe Sauers Morgenmusik. »Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ja, das sammeln wiiir!«, grölt er, bis seine Stimme sich überschlägt und er husten muss. Nun ist wieder nur Maxe Sauers Marschmusik zu hören.
Wie fast immer um diese Zeit war schon jemand auf dem Klo im Parterre und hat danach die Wohnungstür nur angelehnt; Hans muss nicht klopfen.
»Da biste ja.« Die Mutter steht im Flur und kämmt sich vor dem neuen Spiegel, den der Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hat. »Gut siehste aus.« Noch am Abend zuvor hat sie Hans die Hose aufgebügelt und ein frisches Hemd vom Vater mitgegeben. Jetzt mustert sie ihn von allen Seiten und fährt ihm zärtlich durch das dunkle Haar. »Richtig erwachsen siehste aus.«
»Du auch«, antwortet Hans ernsthaft.
Die Mutter lacht, das macht sie jünger. »Hier.« Sie deutet auf die Thermosflasche und die in Papier gewickelten Brote auf der Flurkommode. »Das ist für dich. Das nimmste mit. Und der hier«, sie zeigt auf den verblichenen blauen Arbeitsanzug, auf dem die Brote liegen, »ist auch für dich. Ist noch von Helle, passt ihm aber schon lange nicht mehr.«
Hans wird Helles Arbeitsanzug gern anziehen. Im Moment aber beschäftigt ihn was anderes: Die Mutter ist voller Unruhe. Also denkt sie noch an die gestrigen Reichstagswahlen. Wenn der Vater Recht behält, wird ihre Partei heute Abend sehr enttäuscht sein. Bis dahin werden die ersten Ergebnisse ja vorliegen.
»Iss mal erst.« Die Mutter schaut auf die Uhr und schiebt Hans in die Küche. »Wirst es brauchen können.«
Murkel steht am Wasserhahn und putzt sich die Zähne. Er hat schlechte Laune, weil er trotz der Ferien so früh aufstehen muss, wenn er was Warmes in den Bauch kriegen will. Nur aus den Augenwinkeln schmult er zu Hans hin. Der Vater sitzt bereits am Frühstückstisch und liest in der Berlin am Abend von gestern. Als er Hans bemerkt, blickt er auf. »Alles klar?«
»Ja.« Hans klatscht dem Bruder zur Begrüßung auf die nackte Schulter. Der kleine, dünne Junge zuckt übertrieben heftig zusammen und guckt wütend. »Mach das nicht noch mal mit mir, sonst …« Er zeigt Hans seine Muskeln.
Murkel heißt eigentlich Heinz, so wie es sich gehört, wenn der älteste Bruder Helmut und der zweitälteste Hans heißt. Und wie so oft ist auch bei ihnen das jüngste Kind das Nesthäkchen, das alles darf, alles bekommt und überhaupt die Leuchte der Familie ist. An diesem Tag aber scheint das anders zu sein.
»Hab dich nicht so«, flüstert die Mutter Murkel zu. »Hans geht heute zum ersten Mal in die Fabrik, da darf er das schon mal.«
Murkel ist anderer Meinung. Er zeigt Hans einen Vogel und bearbeitet weiter seine Zähne. Dabei behält er alles, was in der Küche geschieht, im Auge; guckt mal nach links, mal nach rechts und dreht sich ab und zu ganz um, um nur ja nichts zu verpassen. Hans setzt sich dem Vater gegenüber, nimmt sich ein Brot und will Marmelade draufschmieren. Mit der Stahlgabel seiner Armprothese schiebt der Vater ihm ein Stückchen Wurst hin.
Murkel fallen fast die Augen aus dem Kopf. Wurst zum Frühstück, das gibt es sonst nie. Hans grinst schadenfroh und schneidet das Stückchen Wurst in viele dünne Scheiben. Je mehr es sind, desto mehr Brote kann er damit belegen.
Ein Weilchen schaut der Vater zu, wie Hans isst, dann bittet er ihn, sich in der Maschinenfabrik nur ja nichts gefallen zu lassen.
»Hab immer deine eigene Meinung, hörste? Die andern essen auch bloß Kartoffeln. Was du dir am ersten Tag gefallen lässt, musste dir immer gefallen lassen.«
Die Mutter schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. »So was gibste dem Jungen nun mit auf den Weg! Sag ihm lieber, dass er sich überlegen soll, was er sich gefallen lässt und was nicht. Arbeitsplätze bei der AEG fallen nicht vom Himmel.«
Der Vater lässt sich nicht beirren. »Wenn er jedes Mal erst lange nachdenkt, was er sich bieten lassen darf und was nicht, machen sie mit ihm, was sie wollen. Lieber soll er verdursten, als aus jedem Napf zu saufen, den ihm einer hinstellt.«
Der Vater sagt immer solche Sachen. Die Mutter nennt ihn deswegen einen Sturkopf, einen, der sich noch die letzten Freunde vergrault. Sogar aus seiner Partei ist er geflogen, weil er eine andere Meinung hatte als die Mehrheit. Die Mutter gibt ihm zwar oft Recht in dem, was er sagt, aber sie sagt es anders; deshalb ist sie immer noch in der KPD. Wegen der Genossen und »weil wir doch alle dasselbe wollen, nur über den Weg streiten wir«.
Seufzend knöpft die Mutter sich die Bluse zu. »Wenn er auf dich hören würde, brauchte er gar nicht erst hinzugehen. Ein Vierzehnjähriger, der alles besser weiß – auf so einen haben die gerade gewartet.«
»Erstens wird er in einem halben Jahr fünfzehn«, gibt der Vater zurück, »zweitens soll er nicht den Besserwisser spielen, sondern nur kapieren, dass er der AEG zwar seine Arbeitskraft verkauft, nicht aber sein Gewissen.«
Die Mutter gibt auf.
»Die Klara ist krank«, sagt sie zu Hans. »Ich will noch bei ihr vorbeischauen, bevor ich zur Arbeit gehe.« Und dann, mit einem letzten Blick auf den Vater: »Und was das andere betrifft: Bleib, wie du bist, so biste richtig.«
»Sag ich ja.« Der Vater muss lachen, Hans grinst mit, und sogar Murkel schafft es, seine miese Morgenlaune zu überwinden. Als die Tür hinter der Mutter zufällt, spült er sich nur noch rasch den Mund aus, dann sitzt er schon am Tisch und macht Glupschaugen, um auch ja etwas von der Wurst abzubekommen.
»Iss! Sonst fällste mir noch vom Stängel.« Hans schiebt dem Bruder ein paar Wurstscheiben zu, die Murkel sich sofort aufs Brot legt. »Wenn ich erst arbeiten gehe«, verspricht der kleine Bruder dem Vater dann kauend, »lass ich mir überhaupt nichts gefallen. Und für weniger als nichts arbeite ich auch nicht.«
Der Vater sagt oft, er arbeite für weniger als nichts. Als Invalide – er hat im Krieg einen Arm verloren – kam er in seinem Beruf nicht mehr unter; Maurer brauchen zwei Hände. Deshalb versieht er nun schon seit dreizehn Jahren als Pförtner seinen Dienst
– bei Borsig in der Chausseestraße. Aber was er damit verdient, trägt die Katze auf dem Schwanz weg.
»Du geh mal erst zur Schule und lern was. Nötig genug haste’s. Hans wird jetzt keine Zeit mehr haben, mit dir zu pauken.« Der Vater versucht ein strenges Gesicht zu machen; es gelingt ihm nicht, nicht bei Murkel.
Der schiebt sich den Rest Stulle in den Mund, kaut, schluckt und murmelt: »Maurern kann man ooch mit schlechten Zensuren.«
Natürlich will Murkel Maurer werden; weil das ja mal Vaters Beruf war und weil er dann den ganzen Tag an der frischen Luft ist, wie er sagt.
Der Vater schmunzelt nur; je pfiffiger Murkel sich gibt, desto stolzer ist er auf ihn.
»Haste denn jetzt gar keine Zeit mehr, mit mir Schularbeiten zu machen?«, fragt Murkel Hans vorsichtig.
»Viel jedenfalls nicht.«
»Is ja nur Rechnen. Der Hübner ist immer gleich so streng, bei dem macht’s keinen Spaß.«
Hans zögert noch. Mit Murkel Schularbeiten zu machen ist kein Vergnügen, und wenn er jetzt immer erst so spät nach Hause kommt …?
»Mach doch, Hanne«, bettelt Murkel. »Martha ist ja nie da. Und Helle erst recht nicht.«
»Gut«, sagt Hans da. »Aber nur, wenn du für mich abwäschst. Eine Pfote wäscht die andere.«
Das ist kein Geschäft in Murkels Sinne, doch ihm bleibt nichts anderes übrig, als brav zu nicken, wenn er Ostern nicht sitzen bleiben will. Im Rechnen ist er der Klassenletzte.
Hans schaut zur Uhr, dann steckt er sich den Rest Brot in den Mund und steht auf. Er hat nun keine Ruhe mehr. Wenn man ins kalte Wasser muss, ist es am besten, man springt gleich; lange draußen stehen und mit den Zähnen klappern nützt nichts.
»Viel Glück!«, ruft ihm der Vater noch nach. »Viel Glück!«, kräht auch Murkel. Hans nickt nur, dann zieht er die Tür hinter sich zu und läuft die Treppe runter.

Herz des Nordens

Die Ackerstraße hoch bis zur Hermsdorfer, rechts eingebogen, und schon sieht Hans die Maschinenfabrik vor sich liegen. Vom Humboldthain bis zur Voltastraße, von der Hussiten bis zur Brunnenstraße reicht sie. Ein riesiges Quadrat aus Werkhallen, kleinen Fabriken und Verwaltungsgebäuden steht hier mitten zwischen den Mietshäusern, die noch mit den Fahnen vom Wahlsonntag beflaggt sind; meist rote, wie es sich für den Wedding gehört. Und jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend, immer zu Schichtbeginn, sind die Straßen ringsherum schwarz von Menschen, die zur Arbeit wollen oder gerade von der Arbeit kommen. Viele von ihnen fahren mit der Soder Straßenbahn, die meisten jedoch gehen zu Fuß in die Fabrik, wohnen in einem dieser Häuser, die hier so dicht an dicht stehen, als stütze eines das andere.
Die Fabrik war zuerst da, ohne die Fabrik gäbe es die Häuser nicht. Aber so ist es nicht nur hier, so ist es überall am Wedding, dem eisernen und steinernen Norden der Stadt – eisern wegen der vielen Fabriken, steinern wegen der endlosen Reihen von Mietskasernen mit ihren vier, fünf, manchmal sogar sechs Hinterhöfen.
Hans ist hier aufgewachsen, alles ist ihm vertraut; die vielen Menschen jedoch, die nun wie er den Werkstoren entgegeneilen, beeindrucken ihn. Bald werden die Straßen hier fast menschenleer sein, werden nur noch ein paar Kinder herumspringen, Frauen einkaufen gehen und der eine oder andere Rentner oder Arbeitslose vor seiner Haustür herumstehen; jetzt sind die Straßen so etwas wie steinerne Adern, in denen das Blut zum Herzen strömt, um es in Gang zu halten.
Ja, diese riesige Fabrikanlage ist das Herz des Nordens. Tag und Nacht pulsiert es, immer bleibt es im Takt, und jeder kann es hören, dieses Hämmern, Klingen und Fauchen, das aus den Glas-, Stahl- und Betongebäuden bis in die angrenzenden Wohnungen dringt. Oft klingt es rhythmisch, manchmal aber scheint es, als brülle das Herz unter seiner Last gequält auf. Dann dröhnt der Lärm in den Ohren, kann man ihn kaum noch ertragen; dann fragt sich jeder, wie die Menschen in den Häusern rings um das Werk diesen ewigen Lärm nur aushalten können. Die aber nehmen ihn schon lange nicht mehr wahr. Der Lärm gehört zu ihrem Leben wie der Himmel über der Stadt, der auch immer da ist, manchmal freundlich und blau, manchmal düster drohend.
Vielen erscheint die immer währende Geräuschkulisse sogar beruhigend; sie sagen, ohne den Lärm aus dem Werk könnten sie gar nicht mehr einschlafen. Und es zeigt sich: Jetzt, da das Herz wegen der schlechten Wirtschaftslage weniger laut schlägt, schlafen die Menschen in den angrenzenden Häusern nicht mehr so gut. Oft stehen sie in ihrer Freizeit am offenen Fenster oder auf dem Balkon und lauschen: Ist es noch gesund? Schlägt es noch kräftig genug, um sie am Leben zu erhalten?
Hans packt die alte Schultasche fester, von der er nur die Schulterriemen abmontiert hat, um sie zu seiner Arbeitstasche zu machen, aus der nun die mit kaltem Tee gefüllte Thermosflasche herausragt, und blickt den Menschen ringsum in die Gesichter. Die meisten sind noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Oft werden die Alten zuerst entlassen und Neueinstellungen gibt es kaum noch. Fröhlich aber sehen sie alle nicht aus, die da den Weg mit ihm gehen; ein langer Arbeitstag in den fast unerträglich heißen Fabrikhallen liegt vor ihnen.
Tor 3, Eingang zur Kleinmotorenfabrik. Hier biegen viele ab; nur die Bessergekleideten gehen weiter zum Beamteneingang, wie das Tor 1 in der Brunnenstraße im ganzen Wedding genannt wird, weil es fast nur von den Beamten und Angestellten benutzt wird, die in den Verwaltungsgebäuden arbeiten.
Auch Hans soll sich am Tor 1 melden, dort wird man ihm den Weg zur Personalabteilung zeigen. Aber jetzt wird er langsamer. Irgendwas macht, dass er den Schritt verzögert, obwohl dieser Meister Bütow, dem er sich vorgestellt hat, nicht aussah wie einer, vor dem man Angst haben muss: Halbglatze, randlose Brille, blauer Kittel – und ein Turner, auf den ersten Blick ein Turner; federnder, elastischer Gang, muskulöse Oberarme, schlank, beweglich. Nur weil der Meister auch ein Turner ist, hat er ihn genommen. Er ist mit Nolle Feldmanns älterer Schwester verheiratet und kennen gelernt haben sich die beiden beim Turnen. Nolle turnte für Fichte, Bütow für die Freie Turnerschaft. Damals waren beide Vereine noch im ATSB; inzwischen wurden die Fichte-Leute dort rausgeekelt, und Nolle spricht, wenn er von der Freien Turnerschaft redet, nur noch von der Sozi-Konkurrenz.
Nolle ist der beste Übungswart, den es gibt. Nur um Hans in der Fabrik unterzubringen, bat er seinen Schwager, zum Fichte-Turnfest in die Rehberge zu kommen. Der kam tatsächlich, und Nolle wusste auch, warum: um Hans abzuwerben, falls der wirklich so gut turnte, wie er ihm vorgeschwärmt hatte. Und natürlich hatte Nolle Angst, dass das wirklich passieren könnte. Eine Arbeitsstelle aber steht über solch kleinlichen Erwägungen; großzügig nahm Nolle Hans nur das Versprechen ab, bloß nicht weich zu werden und etwa doch mit der Freien Turnerschaft fremdzugehen. »Arbeitsstelle annehmen, brav Danke sagen und ansonsten auf doof stellen«, riet er ihm.
Hans war die ganze Sache eher peinlich, deshalb gab er sich an jenem Tag keine besondere Mühe. Diesem Meister Bütow aus dem Rohmateriallager aber musste seine Kür trotzdem gefallen haben, schon am nächsten Tag durfte er sich bei ihm vorstellen – und wurde genommen.
Tor 1, der Prachteingang mit den beiden Türmen rechts und links und der Aufschrift Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft in der Mitte. Und in jedem Turm in verschnörkelter Schrift die drei Buchstaben, die nicht nur am Wedding jeder kennt: AEG. Auch über der Apparatefabrik in der Ackerstraße stehen sie, an deren Mauern Martha und er als Kinder so oft Prellball gespielt haben, über der Turbinenfabrik in der Huttenstraße, in der Marthas Freund Günter eine Zeit lang gearbeitet hat, und über dem Kabelwerk draußen in Schöneweide, in dem der Vater beinahe mal angefangen hätte. Auch Helle, der große Bruder, war mal ein AEG er – und ist es immer noch, wie er manchmal spottet; nur gehöre er jetzt zur Allgemeinen Erwerbslosen-Gesellschaft, und das sei der größte Betrieb im Land, der habe sechs Millionen Angestellte.
Hans bleibt stehen und schaut zu, wie die Angestellten und Beamten durchs Tor gehen, an die Stechuhren treten, ihre Karten ziehen und sie in den Schlitz stecken, in dem die Uhrzeit aufgestempelt wird. Die Pförtner machen hin und wieder eine Bemerkung über das Wetter, keiner blickt zu ihm hin.
Wieso verspürt er keine Freude? Ist er etwa traurig, weil es nicht die richtige Arbeit ist, die er gefunden hat? Natürlich, ein Lagerarbeiter ist kein Werkzeugmacher, aber ist das denn überhaupt wichtig? Helle hat Maschinenbauer gelernt, erst in der Großmontagehalle gearbeitet und später in der Turbinenfabrik in der Huttenstraße. Und was hat er nun davon? Gibt es einen Unterschied zwischen einem arbeitslosen Werkzeugmacher und einem arbeitslosen Lagerarbeiter, mal abgesehen von der Höhe des Stempelgeldes?
Kurz entschlossen tritt Hans auf den ihm am nächsten stehenden Pförtner zu, sagt seinen Namen und dass er zum Personalbüro will.
Der Pförtner, ein kugelbäuchiger Mann, dem die Uniform ziemlich knapp sitzt, mustert ihn von oben bis unten, dann nickt er verwundert, als wollte er sagen: Da hast du aber Glück gehabt, mein Junge! Eine Einstellung in dieser Zeit? Alle Achtung!
Er sagt es aber nicht, murmelt nur: »Warte hier!«, und verschwindet in der Pförtnerbude.
Hans schaut weiter zu, wie die Angestellten und Beamten durch das Tor kommen und ihre Karten abstempeln. Sie haben keine so grauen Gesichter wie die Arbeiter, die in der Kleinmotorenfabrik verschwanden, sind sogar für die Scherze der Pförtner zu haben, nicken freundlich und scherzen auch mal zurück.
Der kugelbäuchige Pförtner winkt Hans ans Fenster des Wachhäuschens.
»Name?«, fragt er mit amtlicher Miene.
Hans sagt ihm seinen Namen noch mal, der Mann trägt ihn in ein Formular ein.
»Geboren?«
»17. 2. 1918.«
»Adresse?«
»Ackerstraße 37.«
»Acker – straße – sieben – und – dreißig!« Der Pförtner zeichnet das Formular ab und reicht es Hans. »Das musste im Personalbüro abgeben. Dafür kriegste deinen Laufzettel. Weißte, wo das Verwaltungsgebäude ist?«
»Nein.«
Der Pförtner lehnt sich weit über den Tisch mit den Zetteln, Federhaltern, Stempeln und Stempelkissen. »Siehste das große Backsteingebäude dahinten?«
Hans nickt.
»Das ist es. Gleich neben dem großen Kistenstapel geht’s zur Personalabteilung. Wenn du drin bist, fragste nach der Einstellungsabteilung für Arbeiter. Nicht verwechseln, hörste? Für Arbeiter! Da kriegste den Laufzettel. Die wissen schon Bescheid, dass du kommst.«
»Danke schön!« Hans wendet sich dem Werksgelände zu.
»Und viel Glück bei uns, Junge«, ruft ihm der Pförtner noch nach. »Wirst es sicher brauchen können.«
Hans dreht sich um und bedankt sich. Das ist nun schon das dritte Mal an diesem Morgen, dass ihm Glück gewünscht wird. Langsam müsste es wirken.
»Alles erledigt?« Der Meister studiert den Laufzettel, sieht, dass Hans sich in allen Abteilungen, die darauf verzeichnet sind, ordnungsgemäß angemeldet hat, trägt selbst noch was ein und legt den Zettel in einen der Kästen auf seinem Schreibtisch.
In dem Büro riecht es nach -l und Staub, Eisen und Staufferfett. Hans scheint es, als liege dieser Geruch schon seit vielen Jahren über den Lagerräumen. Neugierig blickt er durch die trüben Glasscheiben des Meisterbüros.
Das Rohmateriallager besteht aus mehreren, in große Verschläge eingeteilten Räumen. Einige befinden sich im Keller, andere im Erdgeschoss, wieder andere in der Etage darüber. In den Verschlägen steht Regal an Regal, Kiste neben Kiste, Karton neben Karton. An den Fenstern, von denen man aufs Werksgelände hinausschauen kann, rollen Güterwaggons vorbei. Sie werden hier entladen. Doch damit, das hat Meister Bütow schon gesagt, hat er nichts zu tun. Er gehört nicht zu der Truppe der Waggonentlader, die er vorhin gesehen hat: ein Haufen kräftiger Männer, von denen die meisten trotz der Hitze Mützen trugen, absichtlich sehr schief aufgesetzte Mützen, die sie sehr verwegen aussehen ließen.
Meister Bütow rückt sich die Brille zurecht und sieht Hans aufmerksam an. Eigentlich sind sie miteinander fertig, Hans wartet nur noch darauf, dass der Meister ihm sagt, wo er sich umziehen kann. Doch der Meister lässt sich Zeit. »Du bist doch der Bruder vom Helmut Gebhardt, nicht wahr?«
Hans nickt verwundert. Woher weiß der Meister das? Hat Nolle es ihm erzählt?
Der Meister muss lächeln. »Ich kenne deinen Bruder vom Sehen. Wohne auch in der Kösliner Straße. Sogar im gleichen Haus, direkt unter ihm.«
Hans schweigt. Was kommt nun? Irgendwas muss doch noch kommen.
»Dein Bruder ist Kommunist, nicht wahr?«
»Ja.« Was soll diese Frage? Viele sind Kommunisten, besonders am Wedding.
»Ich hab ihn gesehen, damals am 1. Mai, als sie an der Straßenecke die Barrikade gebaut haben. Und dich habe ich auch gesehen. Warst damals bei ihm. Stimmt’s?«
Bütow, Bütow … Natürlich! Das Türschild im dritten Stock, messingfarben ist es und die Schrift groß und steil: H. Bütow. Er ist schon oft daran vorbeigekommen, wenn er Helle und Jutta besuchte, natürlich auch an jenem 1. Mai vor drei Jahren. Helle und Jutta waren damals gerade erst zwei Wochen miteinander verheiratet. Er, Hans, stand mit Jutta hinter der Gardine und schaute auf die dunkle Straße hinunter. Jutta sorgte sich um Helle, und er sich um Helle und Jutta. Es wurde geschossen an jenem Abend, sogar Tote gab es. Und als Jutta zu Helle auf die Straße runterwollte, nahm er, damals noch das Hänschen der Familie, einfach ihre Hand und hielt sie fest. Und so standen sie dann da: Hand in Hand, um Helle bangend. Stunden, die er nie vergessen wird und die wohl auch Jutta nicht vergessen hat. Seitdem ist es wie ein geheimes Einverständnis zwischen ihnen, dass sie Freunde sind und nicht nur Schwager und Schwägerin.
Meister Bütow hat irgendeine Antwort erwartet; als Hans nichts sagt, fängt er selbst wieder an: »Ich bin Sozialdemokrat, aber ich habe nichts gegen euch. Ihr macht eure Fehler, wir machen unsere. Das Schlimme ist nur, dass andere aus unseren Fehlern Kapital schlagen.«
Der Meister meint die Nazis. Und er spricht fast so, als sei er ein SPD-Versöhnler. Bei den Kommunisten gelten all jene, die für ein Zusammengehen zwischen KPD und SPD sind, um besser gegen die Nazis auftreten zu können, als Versöhnler. Helle ist so einer und die Mutter ist so eine. Warum soll es nicht auch bei der SPD »Versöhnler« geben?
»Die Wahl gestern«, der Meister runzelt die Stirn, »all diese Kämpfe gegeneinander … wo soll das nur hinführen? Damit stärken wir doch nur unseren gemeinsamen Feind.«
Will der Meister wissen, was er von alledem denkt? Glaubt er, er wäre im Kommunistischen Jugendverband, nur weil Helle in der KPD ist? Soll er ihm sagen, dass er sich für Politik nie sehr interessiert hat? – Hans sagt es nicht, er kennt den Meister ja noch gar nicht richtig. Vielleicht will der ihn wirklich nur von Fichte weglotsen.
Der Meister wartet noch immer darauf, dass Hans irgendwas sagt. Hans steht nur da, schaut den Mann hinter dem Schreibtisch an und fühlt sich unwohl in seiner Haut. Mit dem Vater, der Mutter, Helle oder Jutta könnte der Meister über all diese Probleme reden, nicht mit ihm. Zwar weiß er, was in der Politik passiert, aber das meiste bedrückt ihn bloß. All diese großen Reden, die vielen Wahlplakate und dazu die Aufmärsche mit Tschingdarassabum, geballten Fäusten oder ausgestreckten Armen sind nichts für ihn. Er liest lieber, geht ins Kino oder zu den Turnabenden. Es reicht, wenn die Eltern und Helle da mitmachen.
»Tut mir Leid, dass dein Bruder nun schon so lange arbeitslos ist – noch dazu, wo seine Frau jetzt was Kleines erwartet«, versucht es der Meister noch einmal. Aber auch dazu kann Hans nichts sagen. Ihm tut der Bruder ebenfalls Leid, aber von Mitleid können Helle und Jutta sich keine einzige Stulle schmieren.
»Sehr gesprächig bist du nicht gerade.« Endlich gibt der Meister auf. »Na, dann zeig ich dir jetzt mal das Lager, damit du dich bei uns nicht verläufst. Danach ziehste dich dann um und meldest dich bei mir. Mal sehen, was wir mit dir anfangen.«
»Tagchen.« Der dicke Mann mit den kurz geschorenen Haaren drückt Hans kräftig die Hand. Dann stellt er sich augenzwinkernd vor: »Löffler, Alfred Löffler. Kannst Ali zu mir sagen.«
Hans reicht auch dem kleinen grauhaarigen Mann mit dem Buckel die Hand, der neben dem Dicken steht und ihn neugierig ansieht. »Hans Gebhardt«, sagt er wieder. Der Bucklige nimmt seine Hand, lächelt und lässt sie schnell wieder los.
»Wie alt biste denn?«, will der Dicke wissen.
»Vierzehn. Fast fünfzehn.«
»Fast fünfzehn?« Der Dicke lacht. »Na, da kommste ja frisch von der Mutterbrust. Und sollst schon arbeiten?«
Verlegen schaut Hans sich in dem Verschlag um, zu dem Meister Bütow ihn geschickt hat. Dicht aneinander stehende Regale lassen kaum Platz zum Durchkommen, und wo keine Regale stehen, sind große, bauchige Flaschen aufgestellt oder Drahtbündel gestapelt, stehen offene und verschlossene Kisten neben- und übereinander, lehnen Stahlstangen an den Gitterwänden, liegen Motorenteile herum. Hier riecht es nicht nur nach -l, Staub und Staufferfett, hier riecht es auch nach dem Schweiß der Männer, die in dieser Hitze in dem Verschlag arbeiten müssen.
»Na, dann wollen wir mal.« Ali Löffler spuckt übertrieben geschäftig in die Hände, um mit seiner Sackkarre die nächste Kiste durch den engen Raum zwischen den Regalen zu jonglieren. Vor dem Regal mit der Aufschrift Buchsen und der Typenbezeichnung dahinter stellt er sie ab, nimmt Hammer und Nageleisen und entfernt mit kurzen, wuchtigen Schlägen einen Nagel nach dem anderen aus der Kiste. Das geschieht so schnell und geschickt, dass Hans nur staunen kann. Als die Kiste offen ist, stellen der Dicke und der Bucklige den Deckel zur Seite, und der Bucklige macht sich daran, die Kiste auszupacken, während Ali Löffler schon die nächste holt, um sie zu öffnen.
Hans hilft dem Buckligen. Zusammen stapeln sie die blanken, in Holzwolle verpackten Stahlbuchsen im Regal aufeinander und tragen die leere Kiste auf den Gang hinaus. Da steht die nächste offene und das Auspacken geht weiter.
Das Tempo der beiden Männer ist so schnell, dass Hans bald ins Schwitzen kommt. Immer rascher bringt der dicke Mann die Kisten heran, immer blitzartiger entfernt er die Deckel, immer emsiger arbeitet der Bucklige. Hans muss sich dem Arbeitsrhythmus anpassen, ob er will oder nicht. Die Schweißtropfen perlen ihm von der Stirn, immer öfter fährt er sich mit dem Arm übers Gesicht, immer öfter blickt er heimlich zu dem Buckligen hin. Doch der alte Mann schwitzt nicht; trotz der Hitze in dem Verschlag kann Hans in dem grauen, unbewegten Gesicht keinen einzigen Schweißtropfen entdecken. Und das, obwohl dieser kleine Mann ohne Unterbrechung, ohne ein einziges Aufrichten und Luftholen arbeitet. Wie ein Automat bückt er sich, greift zu, legt weg, bückt sich, greift zu, legt weg. Und trotz des hohen Tempos alles voller Ruhe, ohne Hast.
»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragt Hans, um den alten Mann wenigstens mal zu einer kurzen Pause zu bewegen. Der sieht ihn mit seinen hellen Augen kurz an, lächelt und zeigt dabei ein paar schwarze Zahnstummel, antwortet aber nicht, sondern arbeitet still weiter.
»Emmes heißt er.« Ali Löffler, der gerade wieder eine Kiste öffnet, richtet sich kurz auf. »Eigentlich Emmerich, aber seit fünfundvierzig Jahren – seit er bei der AEG ist! – ist er nur noch der Emmes. Stimmt’s, Emmes?«
Der Bucklige nickt kichernd, hält aber nicht in seiner Arbeit inne.
Hans stemmt die Arme in den Rücken, der ihm nun schon ziemlich wehtut, und sieht den Alten bestürzt an. Er schätzt ihn auf ungefähr sechzig. Als er vor fünfundvierzig Jahren bei der AEG anfing, war der Mann also so alt wie er.
»Da staunste, was?« Ali Löffler strahlt, als wäre er selbst es, der auf eine so lange Firmenzugehörigkeit zurückblicken kann.
»Erst hat er fünfzehn Jahre lang in der Apparatefabrik geackert, jetzt ist er schon seit über dreißig Jahren hier.«
»Kann er nicht sprechen?« Hans findet es seltsam, dass der Bucklige bisher noch kein einziges Wort gesagt hat.
»Doch. Kann er. Will er aber nicht. Wozu denn auch? Was man ihm sagt, versteht er und Fragen stellt er nicht.«
Löffler lacht breit und Hans muss sich abwenden. Der dicke Mann erinnert ihn an eine Kröte: dicker Hals, sehr unreine Haut und kleine, weit auseinander stehende Augen. Diese Augen sind es, die Hans nicht lange anschauen kann; sie wirken irgendwie schlau und verschlagen, andererseits aber sehr einfältig.
Der Bucklige hat mitbekommen, was Löffler über ihn gesagt hat. Wieder lächelt er Hans zu, aber seine Arbeit unterbricht er immer noch nicht. Hilflos lächelt Hans zurück. Wird er in fünfundvierzig Jahren genauso aussehen wie dieser alte Mann? Wird er genauso ausgemergelt sein von all der Arbeit, so grau – und so stumm?
»Nu mach mal.« Ali Löffler wird ungeduldig. »Gleich kommt der Meister. Der will sehen, dass wir was geschafft haben.«
Hans bückt sich und arbeitet weiter, aber jetzt liegt eine Last auf ihm, die ihm jeden Schritt und jeden Griff schwer macht. Immer wieder sieht er zu dem wie aufgezogen arbeitenden Buckligen hin, immer wieder versucht er, sich ihn als jungen Burschen vorzustellen – und immer wieder sieht er dabei nur sich selbst. Angst überkommt ihn. Ist dieser Alte da sein Leben? Steht ihm genau das Gleiche bevor?
Zweiundzwanzig Mark und fünfzig Pfennig wird er pro Woche ausbezahlt bekommen. Das ist nicht viel – als Preis für ein Leben. Aber darf er so was überhaupt denken, muss er nicht still und dankbar sein? Zwanzig Mark von seinem Lohn wird er der Mutter geben, das ist Kostgeld und schon so gut wie weg. Bleiben ihm zwei fünfzig die Woche, mehr, als er je hatte. Frack und Zylinder wird er sich davon nicht kaufen können, aber ein Groschen in der Hand ist mehr als eine Kiste Hundertmarkscheine auf dem Mond, wie Martha immer sagt. Und hat sie damit etwa nicht Recht?

Mit Stumpf und Stiel

Die Feierabendsirene! Hans empfindet sie wie eine Erlösung. Steif richtet er sich auf und presst beide Fäuste ins Kreuz. Die letzten Stunden hat er allein gearbeitet, hat ein Regal nach dem anderen leer geräumt, weil die Regale neu bestückt werden sollen. Nun steht er da, sieht sich an, was er geleistet hat, und kann es nicht glauben: Das alles hat er geschafft, er ganz allein? Die Regale sind leer, die Kisten, in die er die Teile legen sollte, übervoll.
Fast ist er stolz auf sich. Doch dann fragt er sich, ob es genug ist, was er getan hat. Hätte der bucklige Emmes das nicht in viel kürzerer Zeit erledigt?
Meister Bütow kommt, sieht sich alles an und nickt.
Soll das heißen, dass er zufrieden ist? Oder ist er nur nicht unzufrieden? Hans wagt nicht, den Meister danach zu fragen; er ahnt, dass es kein Maß dafür gibt, was einer schaffen kann oder nicht. Wenn der Meister unzufrieden wäre, hätte er es sicher gesagt.
Der Meister sieht, wie Hans sich den Rücken stützt. »Bisschen viel für den ersten Tag, was?«
»Es geht.«
»Tja! Daran wirste dich gewöhnen müssen. Hier wird gearbeitet, den ganzen Tag – und manchmal auch noch ein bisschen länger. Stehen einfach zu viele draußen, die nur darauf lauern, dass eine Stelle frei wird. Das ist nicht gut für die, die Arbeit haben.«
Deshalb Emmes’ Arbeitstempo! Ein kleiner Buckliger ist kein großer Starker; kleine Bucklige müssen schneller sein als andere, wenn sie bestehen wollen.
»Na, dann wasch dich und zieh dich um.« Der Meister geht weiter. »Und steig heute Abend früh in die Kiste. Die ersten Tage sind immer die schwersten.«
Hans schaut dem Meister noch einen Augenblick lang nach, dann verlässt auch er den Verschlag und steigt müde die steile Kellertreppe hinunter, die zum Waschraum führt.
Der Waschraum ist bereits voll, die metallenen Garderobenspinde sind weit geöffnet, und an jedem Wasserhahn der Waschanlage, die quer durch den Raum führt, steht ein Arbeiter und wäscht sich. Manche stehen in Unterhose und mit freiem Oberkörper da; der dicke Löffler hat sich gänzlich ausgezogen, sein Bauch steht weit vor, sein Hintern ist eher klein.
Einige der Männer und jungen Burschen blicken zu Hans hin, wenden sich aber gleich wieder ab. Die meisten reden mit ihren Nebenleuten, rufen sich was Lustiges zu oder pfeifen vor Freude über den Feierabend laut vor sich hin.
Hans öffnet sein Spind, zieht schon mal Jacke und Hemd aus und wartet. Irgendwann muss einer der Wasserhähne ja mal frei werden.