Sven Felix Kellerhoff

Die
NSDAP

Eine Partei und ihre Mitglieder

Klett-Cotta

Impressum

Die Rechtschreibung wurde den aktuell gültigen Regeln des Duden angepasst, auch in wörtlichen Zitaten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Fotos von ullstein bild

Motiv: Reichsparteitag NSDAP Nürnberg 1937, Adolf Hitler wird bei seiner Ankunft im Stadion von den Jugendlichen begrüßt (Fotomontage) – 11. 9. 1937

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98103-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10975-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Vor Hitler

Drexler und die DAP

Räteherrschaft in München

»Idealismus statt Materialismus«

Völkischer Antisemitismus

Der Reiz der Radikalität

Hitler

Erste Begegnung mit der DAP

Das vermeintlich »siebte Mitglied«

Erster Machtkampf

Ein völkisches Vorbild

Versammlung im Hofbräuhaus

Eine Bewegung

Ein neuer Name

Ausdehnung

Stuttgart

Schwäbische Provinz

»Fehlanzeige« im Ruhrgebiet

Holpriger Start in Berlin

Ostpreußen im Volkstumskampf

Konkurrenz aus Österreich

Machtkampf in München

SA und Völkischer Beobachter

An Wahlen teilnehmen?

Der DvSTB und die NSDAP

Putsch

Verzicht auf Abschiebung

Republikschutzgesetz

Durchbruch in Coburg

Gewalt als Geschenk

Tarnorganisationen in Berlin

Kompromisslos aggressiv

Umgang mit dem Verbot

Kritik am »Führer«

In der Sackgasse

Marsch auf Berlin

Scheitern

Spaltung

Comeback

Vorauseilender Gehorsam

Theatralischer Neuanfang

Probleme beim Comeback

Fraktionsbildung

Weltanschauung

Das »eherne« Fundament

Kampf den Juden

Dolchstoß und Marxismus

Nationaler Sozialismus

Propaganda

»Palaver« im Parlament

Die wichtigste Aufgabe

Unschwäbisch unbescheiden

Probleme selbst in München

Goebbels für Berlin

Halbherzige Sanktionen

Mitglieder

Eine junge Volkspartei

Hohe Fluktuation

Prominente Austritte

Rückkehr in die Partei

Ungenaue Statistik

Die SA als Mittel zum Zweck

Partei-Polizei SS

Parteigenossinnen

Alltag der Bewegung

Motive und Konsequenzen

Geld

Parteienfinanzierung

Die Kassen des Schatzmeisters

Mythos Großspenden

Hitlers private Finanzen

Klamme Gaue

Robert Bosch als Gegner

Selbstfinanzierung

Bürgerkriegsversicherung

»Einer der besten Witze der Demokratie«

Erfolg

Vorbeben

Willkommener Märtyrer

Durchbruch in Ostpreußen

Streit in Berlin

Triumph

Erklärungsversuche

Gewaltexzesse

Legalitätskurs und Übergriffe

Antisemiten im Zwiespalt

Rebellion der SA

Entscheidungsjahr 1932

Misslungener erster Anlauf

Wirkungsloses Verbot

Folgenlose Siege?

Vabanque

Abgewiesen

Reaktionen

Rückschlag

Spaltung?

Folgenreiches Gerücht

Am Ziel

Der Reiz der Macht

Märzgefallene

Falsche Erwartungen

»Braune Inflation«

Eine andere Partei

Mitgliedersperre

Alternativen

Korruption

Patronage für Parteigenossen

Verwaltung

Staatsbetriebe

Privatwirtschaft

Karrieren

Persönliche Bereicherung

Fremd- und Selbstwahrnehmung

Volksgemeinschaft

Eine neue Aufgabe

Ein enges Netz

Blockwarte und »Goldfasane«

Kreativer Hass

Rückschläge in Österreich

Kontrolle

Denunziationen

Organisierte Übergriffe

»Heim ins Reich«

Organisierter »Volkszorn«

Krieg

»Schubladengesetze«

Liebesgaben für die Front

Ehrendienst und uk-Stellung

»Für Führer, Volk und Vaterland«

Kinderlandverschickung

Nothilfe für Ausgebombte

»Totaler Krieg«

»Volksschädlinge«

»Fremdvölkische« Hilfe

Volkssturm

Endkampf

Nach Hitler

»Mit Stumpf und Stiel«?

»Automatic Arrest«

Entnazifizierung

Rückkehr ins öffentliche Leben

Zauberformel »Antifaschismus«

Von den »Alliierten aufgezwungen«

SRP und NPD

Anhang

Danksagung

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Bildteil

Vorwort

Als politischer Verband ist die NSDAP von der zeitgeschichtlichen Forschung lange vernachlässigt worden. […] In der Regel wurde sie als Derivat der politischen Biografie Hitlers betrachtet.

Hans Mommsen, Historiker 1

Kein Nazi, nirgendwo. Als im Frühling 1945 amerikanische Soldaten von Westen her in Deutschland einmarschierten, erlebten sie zwar viele harte, oft tödliche Gefechte – doch damit hatten sie gerechnet. Verwirrend hingegen war für die Männer der Fronteinheiten und die wenigen Frauen in ihrem Gefolge, dass Dutzende Städte und Hunderte Dörfer widerstandslos übergeben wurden. Alles Mögliche hatten sie erwartet, nicht aber weiße Fahnen. Noch erstaunlicher schien ihnen, was die Menschen oft erzählten, deren Land sie gerade besetzten. Der Chronist der 78. US-Division fasste die Erfahrungen seiner Kameraden zusammen: »Es gab keine Nazis, auch keine Ex-Nazis, und nicht einmal irgendeinen Nazi-Sympathisanten.«2 Die Armeezeitung Stars and Stripes schrieb am 15. April 1945: »Die Deutschen benehmen sich alle gleich, wenn man sie verhaften will. Sie sagen, sie hätten niemals ernsthaft an den Nationalsozialismus geglaubt.« Natürlich diente der Artikel auch der Vorbereitung der Soldaten auf Argumente, denen sie im Gespräch mit Deutschen begegnen würden: »Sie haben die unglaublichsten Entschuldigungen für ihr Verhalten. Es spielt gar keine Rolle, ob sie 1927 oder 1939 in die Partei eintraten. Alle sagen, sie seien aus geschäftlichen Gründen zum Eintritt gezwungen gewesen – selbst jene, die bereits 1927 eintraten.«3

Die Kriegsberichterstatterin Martha Gellhorn bündelte ihre Eindrücke in einer Reportage, die mit den Worten begann: »Niemand ist ein Nazi. Niemand ist je einer gewesen. Es hat vielleicht ein paar Nazis im nächsten Dorf gegeben, und es stimmt schon, diese Stadt da, 20 Kilometer entfernt, war eine regelrechte Brutstätte des Nationalsozialismus.« Noch mehr überraschte die Journalistin, wie freundlich viele Deutsche die feindlichen Truppen empfingen: »Wir haben schon lange auf die Amerikaner gewartet. Ihr seid gekommen und habt uns befreit.« Die Nazis seien Schweinehunde, die Wehrmacht wolle eigentlich aufgeben, wisse aber nicht wie. Das demonstrativ gute Gewissen vieler Deutscher machte Gellhorn ratlos; sie reagierte mit Zynismus: »Man müsste es vertonen. Dann könnten die Deutschen diesen Refrain singen, und er wäre noch besser. Sie reden alle so. Man fragt sich, wie die verabscheute Nazi-Regierung, der niemand Gefolgschaft leistete, es fertigbrachte, diesen Krieg fünfeinhalb Jahre durchzuhalten.« Ein Widerspruch, den die Reporterin folgendermaßen kommentierte: »Ein ganzes Volk, das sich vor der Verantwortung drückt, ist kein erbaulicher Anblick.«4

Genauso erging es ihrer Kollegin Margaret Bourke-White: »Ein amerikanischer Major gab unserer Verwirrung über das allgemeine Verleugnen jeder Verbindung mit dem Nazismus Ausdruck, als er meinte: ›Die Deutschen tun, als seien die Nazis eine fremde Rasse von Eskimos, die vom Nordpol gekommen und irgendwie in Deutschland eingedrungen sind.‹«5 Weniger überrascht denn wütend reagierte Lee Miller, die für das Modemagazin Vogue bei der Army akkreditiert war. »Erstaunlich fand ich die Dreistigkeit der Deutschen«, schrieb sie: »Wie wollen sie sich von allem, was war, distanzieren? Welche Verdrängungsleistung in ihren schlecht belüfteten Hirnwindungen bringt sie zu der Vorstellung, sie seien ein befreites Volk und kein besiegtes?«6 Dieser Irrglaube hielt sich über die ersten Tage der Besatzung hinaus. Als der britische Schriftsteller Stephen Spender im Juli 1945 eine Erkundungsreise durch Deutschland unternahm, erzählte ihm in Bonn ein Student, dass er kurz vor Kriegsende an der Universität eine antinazistische Gruppe gegründet habe. Irritiert hielt der Poet fest: »Von den Nazis sprach er wie von einer mythischen Rasse, die völlig vom Antlitz der Erde verschwunden war.«7

Lee Millers Beobachtung traf es indes genau: Beim im Frühjahr 1945 allgegenwärtigen »Verschwinden« des Nationalsozialismus handelte es sich um Verdrängung. Die weitaus meisten Deutschen wollten instinktiv, dass die zwölf braunen Jahre wirkten, als seien sie aus der Zeit gefallen. Obwohl alle erwachsenen Deutschen der Nachkriegszeit das NS-Regime miterlebt und sehr viele daran aktiv mitgewirkt hatten, schien es schlagartig fern. Psychologisch war das nur zu erklärlich angesichts der Verbrechen, die in deutschem Namen und meistens von Deutschen verübt worden waren: Es handelte sich um einen Schutzmechanismus. Zugleich verdeckte diese Tabuisierung, dass der Nationalsozialismus eine sehr breite und aktive Volksbewegung gewesen war. Man richtete sich lieber ein in der Vorstellung, selbst ein Opfer Hitlers und seines Krieges zu sein.

Dieses Buch behandelt die Funktion der NSDAP während des Aufstiegs des Nationalsozialismus sowie im Dritten Reich. Ohne seine Bewegung hätte Hitler weder die Macht errungen noch hätte sich seine Herrschaft bis in den April 1945 hinein aufrechterhalten lassen. Doch Organisationen führen kein Eigenleben, sondern sind die Summe ihrer Mitglieder. »Wer heute den Sieg des Nationalsozialismus in seinen tiefsten Gründen kennenlernen will«, schrieb 1934 der Trierer SS-Mann Theodor Schieben, »wird nicht umhinkommen, die Frage aufzuwerfen: ›Was sind das für Menschen, die jahrelang fast blindlings nur auf das Wort eines fast unbekannten Menschen hörend und vertrauend, mit verbissenem Eifer für eine Idee stritten, im festen Glauben auf einen endlichen Erfolg?«8 Was also brachte Deutsche dazu, Nationalsozialisten zu werden und bis weit in den Krieg zu bleiben?

Es gibt eine Reihe bekannter Erklärungen: die Niederlage im Ersten Weltkrieg, die Angst vor einem kommunistischen Umsturz und der demütigende Versailler Vertrag, die Verunsicherung durch die extreme Inflation der Jahre 1922/23 und der wirtschaftliche Absturz infolge der Weltwirtschaftskrise ab 1930, die Suche nach Schuldigen für die als verzweifelt wahrgenommene eigene Lage, für die meist Sozialdemokraten und natürlich Juden verantwortlich gemacht wurden. All das ist zutreffend und erklärt doch nicht, warum Hunderttausende, bald Millionen Menschen die Hasspredigten von Hitler und vielen anderen NSDAP-Rednern ernst nahmen, ja ihnen geradezu hörig wurden. »Es war für mich, als wenn ich das Evangelium hörte«, beschrieb der Berliner Fritz Junghanß seine erste Begegnung mit dem Redner Joseph Goebbels. Er fand, dass die Idee des Nationalsozialismus wie »das Licht in mein Leben« gekommen sei.9

In diesem Buch werden zum ersten Mal inhaltlich umfassend die subjektiven Berichte ausgewertet, in denen fast 550 Männer und 36 Frauen Auskunft über ihren Weg in Hitlers Partei gaben, vor allem solche, die schon vor ihrem Durchbruch bei den Reichstagswahlen 1930 mit der NSDAP sympathisierten. Der Soziologe Theodore Abel von der Columbia University New York hatte 1934 ein Preisausschreiben gestartet; prämiert werden sollte »die beste persönliche Lebensgeschichte eines Anhängers der Hitler-Bewegung«. Insgesamt 400 Reichsmark deponierte Abel für 18 Preise zwischen 125 und zehn Reichsmark bei der Deutschen Bank. Die Teilnehmer sollten ihre familiäre Situation, Ausbildung und Gefühlslage beschreiben und wie sie zur NSDAP gestoßen waren. Als Grund gab er an: »Der Zweck des Wettbewerbs ist die Sammlung von Material über die Geschichte des Nationalsozialismus, sodass das amerikanische Publikum sich aus realen, persönlichen Geschichten darüber informieren kann.«10

Damit stieß Abel, in Lodz geboren und 1923 in die USA ausgewandert, auf offene Ohren, denn viele Nationalsozialisten waren sehr mitteilsam, sobald es um ihre Leistungen in der »Kampfzeit« bis Ende 1932 ging. Verschiedene staatliche und NSDAP-Dienststellen unterstützten das Vorhaben, manche warben sogar in Rundschreiben für das Projekt.11 Besonders stark setzten sich offenbar, gemessen an den eingereichten Beiträgen, Parteifunktionäre in der Reichshauptstadt, in Ostpreußen und der Pfalz für Abels Vorhaben ein.12 Ausdrücklich lobte der Berliner Otto Hinz die Initiative: Die Deutschen wünschten sich »nichts sehnlicher«, als dass im Ausland die Vorurteile über den Nationalsozialismus fallen gelassen würden. Daher begrüße er »aus vollem Herzen« den Plan, frühen Anhängern »Gelegenheit zu geben, die Gründe, die sie zum Eintritt in die NSDAP bewegten, zu schildern und ihre Eindrücke der Bewegung zu beschreiben«.13

In der gesetzten Frist von drei Monaten trafen 683 Berichte ein – weniger als Abel erhofft hatte, was aber eine Folge seiner begrenzten Ressourcen war. Gestützt auf dieses Material veröffentlichte er 1938 zwar ein Buch mit dem Titel Why Hitler Came into Power, doch systematisch wertete er das Material nie aus. Sein Nachlass in der Hoover Institution in Stanford enthält noch 584 Berichte mit mehr als 3700 Seiten, rund 100 sind verschollen. Ihre Länge ist sehr unterschiedlich, von einer guten halben bis zu mehreren Dutzend Seiten.14 Noch größer ist die inhaltliche Differenz: Die Mehrheit ist erkennbar stilisiert, wirkt manchmal formelhaft. Doch es gibt auch selbstkritische Berichte.15 Ein zweiter Anlauf von Abel, auf dieselbe Weise zu einer auch statistisch relevanten Zahl aussagekräftiger Berichte zu kommen, erbrachte 1939 rund 3000 Beiträge, die aber verschollen sind.

Der deutsch-amerikanische Sozialwissenschaftler Peter H. Merkl stützte Anfang der 1970er-Jahre seine Studie Political Violence Under the Swastika auf Abels praktisch vergessene Sammlung. Einem Trend der Zeit folgend nutzte er komplizierte statistische Verfahren, um verallgemeinerbare Schlüsse zu ziehen.16 Repräsentativ jedoch konnten seine Ergebnisse nicht sein, denn die Datengrundlage war einerseits zu schmal, andererseits zwar zufällig, aber eben auch willkürlich; es gab und gibt keine Möglichkeit, daraus gewonnene Werte seriös auf die Gesamtmitgliedschaft der NSDAP hochzurechnen.17

Erst in den vergangenen Jahren griffen Historiker vereinzelt auf die Sammlung zurück, um Einzelaspekte der NS-Geschichte zu beleuchten. Thomas Rohkrämer etwa interessierte, »was die Aktivisten an der Bewegung faszinierte und welche Schlüsselerlebnisse zu ihrem Engagement für den Nationalsozialismus führten«; Arndt Weinrich untersuchte das Kriegserlebnis der jungen Generation; Katja Kosubek edierte die 36 Berichte von »alten Kämpferinnen« der NSDAP.18 Doch abseits weniger Spezialstudien harrte der umfangreichste und schon deshalb wichtige Bestand von Selbstdarstellungen überzeugter Nationalsozialisten bis jetzt einer Auswertung. Immerhin hat die Hoover Institution im Januar 2017 alle Berichte online gestellt.19

Zusammen mit anderen, verstreut überlieferten Schilderungen von »kleinen« Parteimitgliedern, teilweise aus Entnazifizierungsverfahren, bildet die Abel-Sammlung eine Säule dieses Buches. Man muss diese Selbstdarstellungen freilich quellenkritisch betrachten. Verfasst wurden sie im Sommer 1934; die Texte reflektieren die Propaganda der »Kampfzeit«. Deutlich wird das an der Schilderung der politischen Gewalt: Schuld an Ausschreitungen trugen angeblich meistens die Kommunisten, oft aber auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, eine SPD-nahe Organisation, deren Mitglieder von Nationalsozialisten bis hinauf zu Joseph Goebbels gern als »Reichsbananen« oder »Bananenjünglinge« geschmäht wurden.20 Natürlich schilderten sich die Nationalsozialisten selbst als unschuldig: »Es gab wüste Schlägereien und Saalschlachten, in denen immer wir die Angegriffenen waren.«21 Unbedachte Formulierungen lassen die realen Verhältnisse erkennen, die sich durch Polizeiakten der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, die zweite Säule dieses Buches, rekonstruieren lassen: In sehr vielen Fällen provozierten die Hitler-Anhänger. Der Berliner Armin Franz berichtete freimütig, dass seine Kameraden und er 1927/28 bei informellen Treffen auf dem Potsdamer Platz gern den »Boshaften und Überschlauen«, die Hitler und Goebbels zu kritisieren wagten, »eins aufs Maul« gaben.22 Der Ulmer Parteikassierer Wilhelm Protz schrieb: »Der Gegner wurde gezwungen, sich zu stellen.«23 Der Ostpreuße Wilhelm Bischof rühmte sich, dass seine Freunde und er Veranstaltungen der SPD »sprengten«.24 Emil Setny schilderte, wie man allabendlich »geschmückt mit dem Hakenkreuz« am Berliner Bahnhof Zoo saß, um »uns mit den dort bummelnden Juden und Judenknechten zu reiben«. Dabei benutzten sie »die vor uns stehende, schnell geleerte Bouillontasse, die unheimlich dick und stabil gebaut war und, richtig angefasst, im Meinungskampf gute Dienste« leistete.25

Eine dritte Säule sind erhaltene Akten der NSDAP sowie darauf beruhende Lokalstudien. Da trotz der Bombardements deutscher Städte und Vernichtungsaktionen in den letzten Kriegswochen 1945 unüberschaubar viel Originalmaterial erhalten ist, konzentriert sich dieses Buch exemplarisch auf sechs regionale Schwerpunkte: München als Geburtsort der NSDAP und Berlin als wichtigstes Schlachtfeld; das Ruhrgebiet, speziell die gut dokumentierte Doppelstadt Gelsenkirchen-Buer, als industriell geprägte Region; Stuttgart und sein württembergisches Umland als zugleich entwickeltes wie ländliches Gebiet; sowie Ostpreußen als Provinz. Hinzu kommt Wien, denn hier entwickelte sich eine spezifische Form des Nationalsozialismus teilweise in Verbindung mit, teilweise in deutlicher Abgrenzung von der Person Hitler.

Die vierte Säule des Buches bilden schließlich jene Quellen, die auch bisher schon vielen Studien über den Nationalsozialismus zugrunde liegen: Hitlers Reden und sonstige Äußerungen, die Tagebücher des Propagandachefs und Berliner Gauleiters Joseph Goebbels, der Völkische Beobachter und bis 1933 die unabhängigen Zeitungen, dazu Depeschen und Erinnerungen ausländischer Diplomaten und Journalisten, die Deutschland-Berichte der Exil-SPD aus der Zeit 1934 bis 1940 und für den Zweiten Weltkrieg die Meldungen aus dem Reich des SS-Inlandsnachrichtendienstes SD.

Eine allgemeine Geschichte der Hitler-Partei gibt es bisher nicht – obwohl kein Zeitabschnitt der Menschheitsgeschichte intensiver erforscht worden ist als die zwölf braunen Jahre. Natürlich kommt die NSDAP in allen der fast hundert seriösen Hitler-Biografien vor, die seit den 1930er-Jahren veröffentlicht wurden, aber nirgends wird ihre Bedeutung angemessen behandelt. Verschiedentlich interessante Einsichten finden sich in vielen Darstellungen zur Geschichte des Dritten Reiches, zuletzt in Michael Grüttners nützlichem Band Das Dritte Reich im Rahmen des Gebhardt – Handbuch der deutschen Geschichte oder in Richard Evans 3000-Seiten-Werk Das Dritte Reich. Doch nicht einmal Bücher, die ausdrücklich das Wort »Nationalsozialismus« im Titel tragen, behandeln überwiegend die Partei, sondern stets die Geschichte Deutschlands zwischen 1933 und 1945, wenn auch mit einem Prolog zum Aufstieg der Hitler-Bewegung – zum Beispiel Hans-Ulrich Wehlers letztes großes Werk Der Nationalsozialismus, Michael Burleighs Gesamtdarstellung Die Zeit des Nationalsozialismus und Michael Wildts kurze Geschichte des Nationalsozialismus.

In deutscher Sprache hat bisher nur ein einziges Buch versucht, die NSDAP als zentrale Organisation der Zeitgeschichte zu beschreiben, verfasst von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker. Die beiden DDR-Historiker folgten orthodox-marxistischen Geschichtsbildern; ihr Werk ist, wiewohl nach dem ersten Erscheinen 1981 gleichzeitig in Ost-Berlin und Köln fünfmal und teilweise deutlich erweitert wiederaufgelegt, deshalb praktisch nutzlos. Fündig wird hier nur, wer sich über die SED-Sicht auf den unscharf »Faschismus« genannten Nationalsozialismus informieren will. Vor allem das ideologisch begründete Missverständnis der Autoren, die NSDAP als »wählerstärkste Partei des Kapitals« zu sehen, verhindert Erkenntnisse.26 Denn wer die Hitler-Bewegung nicht von deren Mitgliedern her betrachtet, kann ihre Rolle nicht verstehen.

Viel besser ist die Lage auch in der Weltwissenschaftssprache Englisch nicht. 1969 und 1973 erschien eine zweibändige History of the Nazi Party von Dietrich Orlow, einem US-Historiker mit Wurzeln in Hamburg; sie wurde jedoch niemals übersetzt und erlebte keine Nachauflagen. Auch die stark sozialhistorisch angelegte Arbeit The Nazi Party von Michael Kater, erstmals erschienen 1983, fand in Deutschland kaum Beachtung.

Natürlich gibt es eine schier unübersehbare Fülle von Spezialstudien zur NSDAP. Darunter sind zahlreiche Qualifikationsarbeiten, häufig regional oder sogar lokal beschränkt. Sie arbeiten, genauso wie Ausstellungskataloge und Sammelbände zu Jahrestagen, Einzelaspekte oft gut auf, quellengesättigt und analytisch. Pars pro toto kann man Carl-Wilhelm Reibels Dissertation Das Fundament der Diktatur über die NSDAP-Ortsgruppen nennen oder Christian Rohrers Arbeit über die Nationalsozialistische Macht in Ostpreußen. Jedoch eröffnet keine dieser Studien die Chance, einen Gesamteindruck über das Phänomen NSDAP zu gewinnen.

Drei deutsche Historiker haben sich trotzdem hochverdient gemacht um die Untersuchung der Hitler-Partei – Peter Longerich, Jürgen W. Falter und Armin Nolzen. Longerich hat wesentlich mitgewirkt am Großprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München, das aus verstreut in zahlreichen Archiven erhaltenen Kopien den Aktenbestand der Parteikanzlei der NSDAP rekonstruierte. Dazu verfasste er eine Arbeit über den Apparat unter Leitung erst von Rudolf Heß, ab 1941 von Martin Bormann – allerdings ist auch dies keine Gesamtgeschichte der NSDAP. Der Wahlforscher Falter, von Hause aus Politologe, hat mit hochkomplexen sozialwissenschaftlichen Methoden schon in den 1980er-Jahren den Mythos von der »Mittelstandspartei NSDAP« widerlegt und treibt seit seiner Emeritierung 2012 ein großes Unterfangen voran, bei dem erstmals die gewaltigen erhaltenen Bestände der Parteiregistratur im Bundesarchiv umfassend ausgewertet werden. Zudem eröffnet der 2016 von ihm herausgegebene Sammelband Junge Kämpfer, alte Opportunisten neue Perspektiven. Armin Nolzen schließlich, sicher der beste Kenner der NSDAP in der jüngeren Forscher-Generation, veröffentlicht einen bemerkenswerten Spezialaufsatz nach dem anderen, aber bisher keine Zusammenfassung seiner Ergebnisse.

Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu schließen. Wie schon bei meinen Bänden Hitlers Berlin. Geschichte einer Hassliebe (2005), Berlin im Krieg. Eine Generation erinnert sich (2011) und »Mein Kampf«. Die Karriere eines deutschen Buches (2015) beruht auch Die NSDAP. Eine Partei und ihre Mitglieder ganz auf den Quellen; theoretische Analysen und Forschungsdiskussionen spielen bewusst keine Rolle. Wichtige Erkenntnisse, beispielsweise aus Falters Projekt, sind gleichwohl eingeflossen und werden in Anmerkungen nachgewiesen.

Zwei Drittel dieses Buches behandeln die Zeit bis Januar 1933, also den Aufbau und den Aufstieg der NSDAP; nur ein Drittel beschäftigt sich mit den zwölf Jahren des Dritten Reiches. Das hat drei Gründe: Erstens stammen die Berichte der Abel-Sammlung aus dem Sommer 1934 und legen ihren Schwerpunkt ausdrücklich auf die »Kampfzeit«, wie die NSDAP die Jahre von 1919/20 bis zur Machtübernahme nannte. Zweitens ist für die Zeit ab 1933 keine saubere Trennung zwischen Partei- und Staatsapparat mehr möglich, war doch die NSDAP in Person von Rudolf Heß als Reichsminister ohne Geschäftsbereich auf Weisung Hitlers bei allen Gesetzesvorlagen zu beteiligen. Drittens schließlich konzentrierte sich die NSDAP ab 1933 bis weit in den Krieg hinein zunehmend auf die Durchdringung der Volksgemeinschaft und deren Überwachung; erst infolge der Luftangriffe auf deutsche Städte bekam sie mit der Kinderlandverschickung und bald darauf mit der Nothilfe für Ausgebombte wieder zusätzliche Aufgaben, die ausführlich dargestellt werden.

Dieses Buch kann gewiss nicht alle Fragen über die NSDAP beantworten. Wenn es jedoch ein besseres Verständnis für die Funktionsweisen einer populistischen, radikalen Bewegung fördert und verdeutlicht, dass vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme immer in die Irre führen, mitunter sogar in eine Katastrophe, dann erfüllt es seinen Zweck.

Berlin, Pfingsten 2017

Sven Felix Kellerhoff

Vor Hitler

In Wirklichkeit kann der Zuschnitt der neuen Partei […] gar nicht bescheiden und kleineleutemäßig genug gedacht werden.

Joachim Fest, Hitler-Biograf 1

Drexler und die DAP

Wer an einem Vorhaben festhält, das wiederholt gescheitert ist, darf als hartnäckig gelten; dahinter kann gleichermaßen Standhaftigkeit stehen wie Starrsinn. Die rund zwei Dutzend Männer, die sich am 5. Januar 1919 in einem Münchner Wirtshaus versammelten, waren dem beharrlichen Wunsch eines Kollegen gefolgt. Anton Drexler litt seit August 1914 darunter, dass er wegen seiner kränklichen Konstitution als Kriegsfreiwilliger abgelehnt worden war. Statt an der Front zu kämpfen, arbeitete er als Werkzeugschlosser des örtlichen Bahnausbesserungswerkes – ohne Zweifel wichtig, doch seiner Meinung nach nicht so ehrenvoll wie der Dienst im Heer. Seine Enttäuschung kompensierte Drexler durch politischen Ehrgeiz: Er wollte eine nationale Alternative zur internationalistischen proletarischen Bewegung zustande bringen, den Klassenkampf überwinden und die Arbeiterschaft mit dem Bürgertum versöhnen. Dazu gründete er Anfang 1919 eine eigene Partei; ihren Kern sollten seine Bekannten aus dem Bahnwerk bilden. Es war bereits sein dritter Anlauf, politisch tätig zu werden.

Den ersten hatte Drexler knapp ein Jahr zuvor gestartet, am 7. März 1918. Beflügelt von der Hoffnung auf eine Offensive an der Westfront hatte er den Freien Arbeiterausschuss für einen guten Frieden gebildet, als oberbayerischen Ableger einer ähnlichen Gruppe in Bremen. Sein Ziel war, den »Siegeswillen der Bayern, besonders der Arbeiterschaft, zu stärken, die Zuversicht zum Endsieg durch Vorträge und Versammlungen zu heben und die Hemmungen des Durchhaltens wie Kriegswucher […] zu bekämpfen«.2 Neben der Forderung nach einem »guten«, also die Lasten des Krieges lohnenden Frieden gehörte von Anfang an Judenhass zu Drexlers Botschaft. Denn »Wucher« empfand er als »typisch mosaisch«, auch wenn die Kriegsgewinnler in München weit häufiger christlich waren als jüdisch.

Der Erfolg seiner ersten Gründung war überschaubar: Der »Freie Arbeiterausschuss« brachte es »in München zunächst auf kaum 40 Mann«. Für Drexler konnte das nur einen Grund haben: »Wieder ein Beweis des Misstrauens und der vergiftenden Wirkung der Parteiliteratur und damit des unpolitischen Sinnes der Münchner Arbeiterschaft.«3 Seine Feindbilder pflegte er schon rund anderthalb Jahrzehnte – seit er als Berufsanfänger angeblich »durch marxistisch-gewerkschaftlichen Terror brotlos« geworden war, dann von einem »jüdischen Viehhändler« ausgenutzt wurde und sich deshalb für einige Zeit seinen Lebensunterhalt durch nächtliches Zitherspiel in Cafés verdienen musste: »Durch meine Erlebnisse war ich radikaler Antisemit und Marxistengegner geworden.«4

Angesichts der geringen Resonanz dauerte es sieben Monate, bis Drexlers Neugründung öffentlich tätig wurde. Im Wagnersaal, einem Bierausschank in der Münchner Altstadt, fand am 2. Oktober 1918 die erste Veranstaltung des Arbeiterausschusses statt. Drexler hatte den Vorsitzenden des Bremer Vorbildes als Gastredner gewonnen, mühte sich zuvor aber, in seiner Begrüßung möglichst viele der Besucher anzusprechen: »Aus den politisch Obdachlosen, die zu Hunderttausenden unter den Beamten, Kleinbürgern und Arbeitern aus Unzufriedenheit mit ihren alten Parteien entstanden sind, soll ein neuer nationaler Bürgerbund (oder wie man es sonst nennen will) entstehen.«5 Doch Drexler drang nicht durch, was sicher auch an seinen begrenzten rhetorischen Fähigkeiten lag. Statt zu begeisterter Zustimmung kam es zu heftigen Tumulten im Publikum; auch die Resonanz in der Münchner Presse war durchwachsen. Anton Drexlers erster Versuch, eine politische Organisation zu gründen, war gescheitert.

Nach der Veranstaltung sprach ihn ein kriegsbeschädigter Mann von knapp 30 Jahren an, der Sportjournalist Karl Harrer. Er gehörte zu einem Bund extrem nationalistischer Münchner Bürger, der sich selbst Thule-Gesellschaft nannte. Harrers Aufgabe war es, »einen Arbeiter-Ring zu bilden«.6 Er hatte die Versammlung im Wagnersaal verfolgt und war »ganz meiner politischen Anschauung«, erinnerte sich Drexler: »Ich solle mich mit meinen Leuten des Arbeiterausschusses zur Bildung eines Politischen Arbeiterzirkels zusammensetzen, der die Aufgabe hat, Ursachen und Wirkungen des Weltkrieges, der Revolution in Russland und Deutschland zu untersuchen und Wege zu suchen, die aus diesem furchtbaren Zusammenbruch herausführen.«7 Harrer und Drexler wurden sich schnell einig, denn zu Juden wie zum »Marxismus« hatten sie ähnliche Auffassungen. So gründeten die beiden im November 1918 eine Gruppe, zu der man nur auf persönliche Einladung stoßen konnte – Drexlers zweiter Anlauf, eine politische Organisation zu schaffen.

Nach dem Vorbild der Thule-Gesellschaft sollte dieser Zirkel hinter verschlossenen Türen tagen; Vorsitzender wurde Harrer, der das notwendige Geld beschaffte, Drexler sein Stellvertreter. Ab Anfang Dezember 1918 gab es wöchentlich einen Vortrag des Vorsitzenden, stets in Hinterzimmern einfacher Gasthäuser. Das Publikum war äußerst begrenzt: Mehr als drei bis sechs Zuhörer fanden sich den Protokollen zufolge nie ein. Themen waren unter anderem die »Zeitung als Mittel der Politik« oder »Wer ist der Schuldige am Weltkrieg?« sowie »Deutschlands größter Feind – der Jude«.8 Doch Harrer war rhetorisch noch weniger talentiert als Drexler und las seine Ausführungen meist ab.9 Auch der zweite politische Vorstoß des ehrgeizigen Werkzeugschlossers stand vor dem Scheitern.

»Eine Woche vor dem Weihnachtsfest 1918 erklärte ich bei einer Zirkelsitzung, dass es keinen Wert mehr hätte, in solch einem kleinen Kreis über die Rettung Deutschlands Beratungen anzustellen«, erinnerte sich Drexler. »Wir bräuchten eine neue Partei, und zwar eine Deutsche Sozialistische Arbeiterpartei, die judenrein ist.«10 Für ihn klang der Begriff »Sozialismus« positiv; an der Heimatfront hatte er die Überzeugung gewonnen: »Die einen sollen nicht im Überfluss schwelgen, während die anderen darben.«11 Doch damit konnte er Harrer und dessen Hintermänner von der Thule-Gesellschaft nicht gewinnen. Deren fast ausnahmslos bürgerliche, teilweise ausgesprochen reiche Mitglieder lehnten jede Form von »Sozialismus« vehement ab – hielten sie doch ihre Treffen im eleganten Hotel Vier Jahreszeiten an Münchens Maximilianstraße ab. Harrer wandte sich gegen den von Drexler vorgeschlagenen Namen und bestand darauf, dass die neue Gruppe Deutsche Arbeiterpartei heißen sollte. Da nur von der Thule-Gesellschaft die nötigen Mittel kommen konnten, hatte Drexler keine Wahl.

Immerhin konnte er, der sich gleich zum Chef der einzigen Ortsgruppe bestimmen ließ, beim ersten Treffen handschriftlich verfasste »Richtlinien der Deutschen Arbeiterpartei« durchsetzen, denen zufolge ein Hauptziel der Gruppe war, »gelernte und ansässige Arbeiter« aus dem Proletariat zu befreien und auf eine Ebene mit Bürgern zu stellen. Zugleich attackierte er das »Großkapital« und forderte eine »Sozialisierung«.12 Angesichts solcher Formulierungen war es wenig erstaunlich, dass diese »Richtlinien« niemals gedruckt wurden – denn dafür hätte Drexler Geld von der Thule-Gesellschaft gebraucht. Vermutlich auch kein Zufall war, dass wenige Tage später eine Zusammenkunft im Hotel Vier Jahreszeiten folgte, bei der aus rechtlichen Gründen ein Deutscher Arbeiterverein als formaler Träger der DAP gegründet wurde. Erster Vorsitzender wurde auch hier Harrer, sein Stellvertreter Drexler. Diese Zurücksetzung störte den Bahnschlosser nicht, denn er hatte am 5. Januar 1919 beschließen lassen: »Der Ausschuss der Ortsgruppe München hat bis zu anderer Regelung durch einen Parteitag außer der Führung der Geschäfte der Ortsgruppe München auch die Führung der Gesamtpartei.«13

An der konkreten Tätigkeit Drexlers änderte sich wenig nach dem dritten, auf bescheidenem Niveau gelungenen Versuch, eine eigene Organisation zu bilden. Er arbeitete weiterhin bei der Zentralwerkstatt der Bahn in der Werkzeugausgabe; die Funktion als DAP-Ortsgruppenchef kostete ihn nur wenig Zeit, denn in den ersten Monaten des Jahres 1919 gab es keine öffentlichen Veranstaltungen und nur wenige Mitgliedertreffen. Parallel bestand der zuvor begründete Arbeiterzirkel weiter; auf den Teilnehmerlisten tauchte nur ungefähr ein Dutzend verschiedener Namen auf, wobei nie mehr als sechs Personen gleichzeitig anwesend waren. Angesichts dessen war das Selbstbewusstsein der winzigen Gruppe bemerkenswert, das sich in der ersten und einzigen Satzung vom 24. März 1919 ausdrückte: »Der politische Arbeiterzirkel ist eine Vereinigung ausgewählter Persönlichkeiten zwecks Besprechung und Studium politischer Angelegenheiten.«14

Räteherrschaft in München

Zwei Wochen später begann die kurze Herrschaft der kommunistischen Räterepublik über München. Sie unterbrach die Aktivität der DAP und des Arbeiterzirkels. Auf einmal ähnelte das Straßenbild den bewegten Wochen der Revolution zwischen November 1918 und Januar 1919. Bewaffnete Milizen fahndeten nach vermeintlichen oder echten Gegnern. Gehamsterte Lebensmittel wurden beschlagnahmt; sie sollten an Bedürftige verteilt werden, doch meist bedienten sich die selbst ernannten Rotarmisten. Streiks gegen alles Mögliche brachten die Wirtschaft und das öffentliche Leben zum Erliegen. Zeitungen wurden zensiert oder verboten, Milizionäre öffneten gewaltsam Banksafes.15 Der Universitätsdozent Victor Klemperer, nebenbei freier Journalist, beschrieb es sarkastisch: »Eines muss man der neuen Regierung bewundernd zugestehen – sie gibt der Stadt ein überaus kriegerisches Gepräge. Sie versteht es, die Bevölkerung zu beeindrucken.«16

Die kaum 2000 aktiven Anhänger der Räterepublik konnten den Alltag der mehr als eine halbe Million Münchner zwar lahmlegen, die Stadt aber nie wirklich unter Kontrolle bringen. Bald tauchten in ärmeren Vierteln Plakate auf, denen zufolge die Bewohner leerstehende Wohnungen in besseren Stadtteilen besetzen und Nahrung bei »Reichen« requirieren sollten, doch die wohlhabenderen Bürger verbarrikadierten sich – zu ausgedehnten Plünderungen kam es nicht. Bayerns nach Bamberg geflüchteter Ministerpräsident Johannes Hoffmann übertrieb, als er per Proklamation zur Befreiung der Hauptstadt aufrief: »Bayern! Landsleute! In München rast der russische Terror, entfesselt von landfremden Elementen. Diese Schmach Bayerns darf kein Tag, keine Stunde weiterbestehen. Hierzu müssen alle Bayern helfen, ohne Unterschied der Partei!«17 In Wirklichkeit hatte von den Revolutionsgarden nicht allzu viel zu befürchten, wer nicht auffiel: »München nimmt sein tragikomisches Schicksal passiv hin, auch das scheinbar herrschende Proletariat ist ganz passiv«, fand Klemperer und fügte hinzu: »Das eigentliche München sieht dem Revolutionsspiel fremder närrischer Gesellen zu.«18

Von Berlin aus betrachtet handelte es sich jedoch um einen »Karneval des Wahnsinns«, wie der für das Militär zuständige SPD-Minister Gustav Noske bemerkte.19 Er ließ Truppen anrücken, um in München Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Zuerst kamen württembergische Regimenter in Oberbayern an, die den kürzesten Weg hatten, dann preußische Soldaten. Reguläre bayerische Einheiten waren kaum beteiligt, wohl aber einheimische Freikorps, bestehend überwiegend aus demobilisierten Heeresangehörigen. Ende April 1919 errichteten einige Hundert kommunistische Milizionäre Barrikaden in der Innenstadt. Sie hatten keine Chance – in Schwabing, dem vormaligen Hauptquartier der Räterepublik, begrüßte die Bevölkerung die anrückenden Württemberger und Preußen sogar mit Geschenken und Blumen. Am 1. und 2. Mai kam es zu Straßenkämpfen, denen mehr als zweihundert Revolutionäre sowie mindestens ebenso viele Zivilisten zum Opfer fielen. Noch mehr starben in den folgenden Tagen, als die Sieger Rache übten, besonders die Männer der Freikorps. Nach dem Ende der Kämpfe sorgten bayerische Offiziere für Ordnung in München, denn es hatte sich eine unerwartete Konfrontation ergeben: »Wegen des Einschreitens preußischer Truppen macht sich schon wieder eine ganz bedenkliche Preußenhetze bemerkbar«, berichtete der württembergische Gesandte in München, Carl Moser von Filseck, nach Stuttgart.20

Der Grund dafür war die Scham vieler Münchner, die Herrschaft der Rätekommunisten nicht selbst abgeschüttelt zu haben. Schlimmer noch: Die von der SPD dominierte Regierung in Berlin hatte die Truppen in Marsch gesetzt. Also Politiker, die für die Novemberrevolution verantwortlich waren, die in München als »jüdisch« galt – auch wenn ihre wesentlichen Akteure Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Gustav Noske oder Matthias Erzberger gerade keine Juden waren. Das verstärkte einerseits bei vielen Bürgern, aber auch konservativ gesinnten Arbeitern und Handwerkern in München die ohnehin vorhandene Abneigung gegen Preußen. Andererseits erwuchs daraus das Gefühl, selbst für das nationale Deutschland zu stehen, im Gegensatz zum angeblichen »Internationalismus« der vermeintlich »jüdischen Marxisten«.

»Idealismus statt Materialismus«

Unmittelbar nach dem Ende des linksradikalen Zwischenspiels hielt Anton Drexler am 3. Mai 1919 wieder eine geschlossene Versammlung der DAP ab. Doch über den äußerst überschaubaren Kreis ihrer Anhänger hinaus erzielte sie auch jetzt, nach der Erfahrung des Bürgerkriegs, keine nennenswerte Wirkung. Auch der Politische Arbeiterzirkel kam erneut zusammen. Ungefähr zu dieser Zeit formulierte Drexler »Grundsätze« für seine Partei, die jedoch vage ausfielen: »Die DAP erstrebt eine ideale Weltordnung, Idealismus statt Materialismus. Dazu genügt nicht nur ein Personenwechsel unter den Machthabern. Die Voraussetzung ist vielmehr das möglichst ausnahmslose Vorhandensein von ideal gesinnten und ideal tätigen Staatsangehörigen.« Daher sei es die Aufgabe der neuen Partei, ihre Mitglieder »in idealem Sinne zu erziehen und sie zu einer höheren Weltauffassung emporzuheben«.21

Konkreter wurde es in Drexlers Broschüre Mein politisches Erwachen. Sie erschien im Sommer 1919 im Deutschen Volksverlag, der eigens für die Herausgabe vornehmlich antisemitischer Schriften gegründet worden war. Vorgeblich eine Zusammenstellung von »Tagebuchblättern«, handelte es sich bei dem 40-seitigen Heft um eine Montage von Auszügen aus Drexlers wenigen Reden, Artikeln und öffentlichen Telegrammen in einem autobiografischen Rahmen. Sich selbst stellte der Autor als leidenden Vorkämpfer einer neuen Politik dar: »Nur unter schweren inneren Kämpfen bin ich meinem National-Sozialismus treu geblieben, wofür ich jetzt dem Schicksal dankbar bin. Die Stürme zu schildern, die mich auf meiner einsamen Insel im Arbeitermeer umbrandeten, die Erfahrungen, die ich in politischen Dingen machen konnte, der Arbeiterschaft und jedem Schaffenden zu übermitteln, ist der Zweck dieser Schrift.« Nachdem sich durch den Versailler Vertrag im Juni 1919 sämtliche Hoffnungen auf einen »guten Frieden« zerschlagen hatten, trat Drexler umso stärker für seine beiden anderen Ziele ein: »Nur durch vollständige Entjudung der sozialistischen wie auch der anderen Parteien, nur dadurch, dass Bürger und Arbeiter zueinander und miteinander gehen, wird es möglich sein, sich des zersetzenden jüdischen Einflusses […] zu erwehren.«22

Seine Schrift nutzte Drexler, um bei völkisch-antisemitisch gesinnten Honoratioren in München zu antichambrieren. So lernte er auch im Sommer 1919 den deutschbaltischen Emigranten Alfred Rosenberg und den Schriftsteller Dietrich Eckart kennen, die beide der Thule-Gesellschaft nahestanden. Anderthalb Jahrzehnte später erinnerte sich Rosenberg: »Um diese Zeit kam ein uns bis dahin gänzlich unbekannter Mann zu uns, der sich als Anton Drexler vorstellte. Er brachte eine kleine Broschüre mit, die er geschrieben hatte, betitelt Mein politisches Erwachen, und erzählte uns, dass in einem anderen Stadtteil von München sich ebenfalls eine antisemitische Gruppe gebildet hätte, die sich Deutsche Arbeiterpartei nannte.«23 Eckart, der eine Wochenzeitschrift mit dem Titel Auf gut deutsch herausgab, zeigte sich angetan: Drexlers »Ideen leuchteten mir ohne Weiteres ein«, sagte er später aus, »und ich beschloss, der jungen Bewegung nach Kräften zu dienen«.24 Das war ein wichtiger Erfolg; Drexler zeigte sich freudig erregt, den in völkischen Kreisen Münchens bekannten Publizisten gewonnen zu haben: »Die DAP gedeiht zu unserer Freude und kann Ihnen mitteilen, dass heute für die Partei ein großer Tag ist. Dietrich Eckart, der inzwischen Mitglied geworden ist, hält einen Vortrag.«25 Es erschienen am 14. August 1919 immerhin 38 Zuhörer, doppelt so viele wie zu den meisten Treffen bisher. Doch ein Durchbruch war auch das nicht.

Völkischer Antisemitismus

Damit stand die DAP nicht allein. Drexlers Gründung war nur eine von mehreren Dutzend Grüppchen im nationalistisch-völkischen Spektrum, die seit Kriegsende in München entstanden waren. Manche gaben sich betont seriöse Namen, etwa Dietrich Eckarts Deutsche Bürgervereinigung, deren Devise lautete: »Wie jeder nur Bürger sein kann, der arbeitet, so ist jeder Arbeiter ein Bürger.«26 Andere Gruppen wählten aggressive Selbstbezeichnungen, so die Eiserne Faust um den Hauptmann Ernst Röhm. Auch dieser informelle Offiziersbund wollte die Arbeiterschaft vom »internationalistischen Marxismus« lösen und wieder der »deutschen Volksgemeinschaft« zuführen.27

In vielen der kleinen Organisationen hatten dieselben Köpfe das Sagen, die Themen ihrer Veranstaltungen ließen sich kaum unterscheiden: Oft ging es um die »Schmach von Versailles«, genauso wichtig waren zwei Feindbilder, die miteinander verschmolzen: der »Marxismus«, oft auch in Anlehnung an die Kommunisten in Russland »Bolschewismus« genannt, und »die Juden«. In Versammlungen, Flugblättern und Broschüren wurden sie gleichzeitig verantwortlich gemacht für die Niederlage Deutschlands, weil sie die Siegermächte lenkten, wie für die innere Schwäche des Kaiserreichs, weil sie einerseits als »Kapitalisten« und »Kriegsgewinnler« die Wirtschaft ausgebeutet, andererseits die deutschen Arbeiter mittels »marxistischer« Parteien in die Irre geführt hätten. So verbreitete sich in den Monaten nach der Niederschlagung der Räteherrschaft die Vorstellung, »der Jude« sei der ultimative Gegner jedes »nationalen Deutschen«.