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Siegfried Alram

Die Nichte des Teufels

SOKO-Alpenland-Krimi

Der vorliegende Kriminalroman basiert auf einer frei erfundenen Geschichte. Alle darin vorkommenden Personen sind reine Fiktion und haben mit lebenden Personen nichts zu tun, es sei denn, es handelt sich um wichtige Personen aus der Zeitgeschichte. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt und reiner Zufall.

1. Auflage

© 2017 Siegfried Alram

MyMorawa

www.morawa.at

Alle Rechte liegen beim Autor und dem Verlag.

Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN978-3-99057-756-1Hardcover
ISBN978-3-99057-755-4Paperback
ISBN978-3-99057-770-7e-Book

Umschlag und Buchgestaltung: Siegfried Alram, Maria Enzfelder Fotobearbeitung: Siegfried Alram

Dieses Buch widme ich meiner liebsten Katze Elvira, die viele schöne Jahre an meiner Seite verbringen durfte.

Bei Michaela Glaser bedanke ich mich für die wichtige Ortsbegehung im schönen Waldviertel und bei meinen Bruder Chris, für sachdienliche Hinweise.

Die Zahl der Morde und Mordversuche in Wien stieg im Jahr 2016 von 56 auf 57 Fälle. Drei der 16 vollendeten Tötungsdelikte waren 2017 noch ungeklärt.

Quelle: Vienna Online

Prolog

 

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Es war wieder einmal so ein typischer Tag, an dem man am besten im Bett bleibt, gar nicht daran denkt aufzustehen, geschweige denn das Haus zu verlassen. Auch wenn die ersten warmen Sonnenstrahlen und ein tief blauer Himmel einen wunderbaren Tag versprachen.

Es gibt eben Tage, da will einfach nichts gelingen und da sollte man am besten die Decke über den Kopf ziehen und hoffen, dass die Zeit schnell vorübergeht.

So auch an diesem Morgen, als Major Wolfgang Schöppler, ein Beamter des Bundeskriminalamtes Wien, seine Augen aufschlug. Seit geraumer Zeit schon, nervte seine Katze Elvira, die immer wieder versuchte, ihn aus seinen schönen Träumen zu reißen. Gewöhnlich begann dieses Spiel schon um 5 Uhr morgens, da versuchte Elvira das erste Mal, ihren Dosenöffner wach zu bekommen. Wie man so etwas macht und anstellt, darin sind Katzen wahre Meister ihres Faches und man könnte ganze Bücher, was heißt Bücher, ganze Bibliotheken könnte man mit diesem Thema füllen. Vom herzzerreißenden Maunzen angefangen, über das Hinaufklettern an Gardinen und Vorhängen, am Kratzbaum Lärm machen bis hin zum geschickten Einsetzen der Pfoten und Krallen, sie haben eben vieles in ihrem Programm.

Elvira aber, die alte Katzenlady hatte da ihre eigene Methode. Sie legte sich auf den Bauch ihres Besitzers und versuchte durch minutenlanges Anstarren zu ihrem Ziel zu gelangen. Meistens hatte sie damit auch Erfolg und wenn der Major dann in die strengen, gelben Augen seines Stubentigers blickte, dann konnte er sowieso nicht widerstehen. Er war halt ein absoluter Tierfreund und rein aus Sicherheitsgründen hatte er weder Gardinen noch Vorhänge an seinen Fenstern. Nicht auszudenken, wenn Elvira an den Stoffen nach oben kletterte und das gesamte Haus zusammen schrie, weil sie sich vielleicht doch zu viel zugemutet hatte. Soviel mal zu Elvira und ihren Tricks.

Die Katze bekam was sie wollte und nach ihrem ausgiebigen Frühstück legte sie sich wie immer schnurrend neben Wolfgang Schöppler, der am Wohnzimmertisch saß und die Zeitung studierte. Zwischendurch nahm der Major immer wieder einen Schluck aus der Kaffeetasse und biss von der Schokoschnitte ab, die sein karges Frühstück darstellten. In der Zeitung stand wie so oft nichts Neues und so blätterte er gelangweilt die Seiten durch. Politik hasste er und so ignorierte er die ersten Artikel. Schließlich legte er die Morgenlektüre zur Seite, streckte seinen Körper in alle Richtungen und schaute auf die Uhr.

„Zeit wird´s“, murmelte er. Er schlüpfte in die Schuhe, nahm seine lederne Fliegerjacke und verließ die Wohnung, nicht ohne vorher noch Elvira darauf aufmerksam zu machen brav zu sein, was aber ohnehin sinnlos war.

Im Stiegenhaus kam ihm seine Nachbarin entgegen.

„Servus Wolfgang“, grüßte sie ihn freundlich. Sie hatte wie jeden Morgen schon sehr früh ihre Einkäufe erledigt und kam mit zwei vollen Plastiktüten die Treppe herauf.

„Geht´s wieder in den Dienst?“

„Ja, muss halt sein.“

„Ach ja, hast du von dem Banküberfall in der Hernalser Hauptstraße g‘hört? Des muss ja arg g‘wesen sein. Es wird immer schlimmer und nirgends ist man mehr sicher“.

„Ja, hab ich g‘hört, der Chefinspektor Koller hat‘s mir erzählt. Seine Leute haben damit ziemlich viel Arbeit, und Verletzte hat es ja auch gegeben. Ich beneide den Kollegen da nicht um seinen Job.“

„Heute soll‘s wieder heiß werden. Der Walter hat einen Urlaubstag genommen, er muss seine vielen Überstunden abbauen und die Kinder wollen unbedingt ins Schafberg-Bad gehen. Freunde von ihnen sind schon dort“.

„Na dann, viel Spaß ... du, Hanni, was ich dich noch fragen wollte, wie geht‘s dem Peter mit der Gitarre, macht er Fortschritte?“

„Er macht große Fortschritte, dank deiner Vorarbeit. Der Lehrer ist sehr zufrieden und bei der Kathrin ist es auch so. Auch sie kann schon sehr schwierige Stücke auf dem Cello spielen und sie hat am Mittwoch ein Vorspiel beim Wiener Jugendkammerorchester, die haben eine Stelle frei bei den Celli.“

„Na, da kann ich nur bravo sagen und weiterhin Erfolg wünschen.“

„Ich werd‘s ihnen gern ausrichten.“

Schöppler trat zur Seite, ließ Hanni vorbei und setze seinen Weg nach unten fort.

„Ich wünsch dir einen ruhigen Tag!“, rief sie ihm nach.

„Danke!“

Vor der Haustür stand sein grüner Opel Monza und es grenzte fast an ein Wunder, dass er am Vorabend überhaupt einen Parkplatz gefunden hatte. Es war zwar Ferienzeit, aber trotzdem war ab 19 Uhr bei ihm im 18. Wiener Stadtbezirk alles zugeparkt. Er ging um seinen Wagen und blieb plötzlich stehen. Er traute seinen Augen nicht, als er einen tiefen Kratzer an der Fahrertür entdeckte.

„Des gibt´s ned!“, schimpfte er und fuhr mit seinen Fingern an der beschädigten Stelle im Lack entlang.

„Na der Tag fangt ja scho hervorragend an“, murmelte er, startete den Motor und steuerte seinen Oldtimer durch den Frühverkehr. Seine Gedanken kreisten um die Beschädigung an seinem Wagen; was das wohl wieder kosten würde…. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich zur Reichsbrücke kam und dort seinen Wagen vor der Dienststelle der Sonderkommission abstellen konnte.

Ziemlich deprimiert betrat er das Gebäude, wo ihn einige uniformierte Beamte grüßten. Er grüßte zurück, aber er registrierte sie nicht wirklich.

Im Büro saßen schon die junge Gruppeninspektorin Michaela Kaltenhauser und der deutsche Major Kurt Wegener an ihren Schreibtischen.

Wegener war vor einiger Zeit nach Wien gekommen, im Austausch für einen Wiener Kollegen, der dafür nach Deutschland ging.

Michaela tippte wie wild auf der Tastatur ihres Laptops, als Schöppler das Büro betrat.

„Guten Morgen, Herr Kollege“, hörte er die aufmunternden Worte von Michaela, als sie ihn durch die Tür kommen sah.

„Morgen“, entgegnete er, setzte sich auf seinen Sessel und schaltete den PC ein. Da sein Computer aber Ewigkeiten brauchte, um sein Betriebssystem hochzufahren, stand er noch einmal auf und ging zur Kaffeemaschine.

„Die ist hinüber, kaputt“, sagte Kurt Wegener, der seinen Kollegen vom Bundeskriminalamt flüchtig beobachtete. Major Wolfgang Schöppler war vom Bundeskriminalamt der Sonderkommission Alpenland des Landeskriminalamts Wien zugeteilt worden.

Schöppler seufzte hörbar.

„Heute geht wohl alles schief.“ Fluchend ging er zu seinem Schreibtisch zurück und schaute zu Michaela hinüber, die immer noch ihre flinken Finger über die Tastatur jagte.

„Michi ... wie ist denn so deine Autowerkstatt?“

Die Kollegin reagierte nicht, also versuchte er es noch einmal.

„Michaela?“

Wieder keine Reaktion.

„Frau Gruppeninspektorin Michaela Kaltenhauser!“

Jetzt schaute sie endlich auf und erfasste den fragenden Blick von Schöpplers braunen Augen.

„Was ist?“

Schöppler sah schnell zu Wegener hinüber und der merkte sofort, dass der Kollege vom BK1 an diesem Tag nicht sonderlich gut drauf war.

„Ich wollte wissen, wie deine Werkstatt so ist?“

„Welche Werkstatt?“

„Na der Nöbauer.“

„Was brauchst du denn? Wennst das Pickerl2 brauchst, dann fahr lieber in eine Opel-Werkstatt.“

Wegener grinste voller Schadenfreude: „Ist dein Kübel im Kübel?“

Schöppler, der ebenso wie sein Kollege Oberstleutnant Helmuth Havlicek, nichts über seinen Wagen kommen ließ, quittierte diese Aussage mit einem gequälten Lächeln.

„Ich brauche einen guten Spengler.“

„Hat man dir die Stoßstange verbogen oder ne Delle gemacht?“

Schöppler schüttelte den Kopf.

„Nix ne Delle, irgend so ein Arschloch hat mir einen tiefen Kratzer in die Fahrertür geritzt.“

„Ja und?“, fragte Michaela Kaltenhauser, für die solche Parkplatzrempeleien nichts Besonderes waren.

„Das will ich wieder schön haben.“

„Kannst du es nicht raus polieren?“

„Der ist viel zu tief. Hat einer mit einem Schlüssel gemacht. Kann man sehr deutlich erkennen.“

Wegener grinste über das ganze Gesicht: „Dann ruf doch den Erkennungsdienst.“

Schöppler verdrehte die Augen, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

„Also, was is jetzt, kannst die Werkstatt empfehlen oder nicht?“

Michaela zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung.“

„Danke, ich habe verstanden.“

Der Major schaute resignierend beim Fenster hinaus. Michaela sah zu Wegener und dieser machte nur eine abwertende Handbewegung.

Oberstleutnant Helmuth Havlicek kam wie fast jeden Tag zu spät ins Büro. Die Kollegen hatten sich schon daran gewöhnt und sie verziehen es ihm immer wieder, da er dafür jeden Morgen ein gutes Frühstück in Form von Butterkipferl mitbrachte. Mit den Worten „Kipferl Express“ warf er jedem der Anwesenden ein Sackerl zu.

„Ach wie schön, der Hörnchen-Express mit Köstlichkeiten in der Tüte“, freute sich Wegener.

„Das ist der Kipferl Express, mit Kipferl im Sackerl.

Wir sind in Wien, Herr deutscher Kollege!“

Havlicek steuerte auf seinen Schreibtisch zu, der in der Nähe des Fensters stand und schwang seinen Allerwertesten auf den breiten Sessel. Er legte die Beine elegant auf den Tisch und biss in das Kipferl. Seine Augen erfassten Wolfgang Schöppler, der immer noch resignierend aus dem Fenster starrte.

„Wer hat denn deine grüne Kiste so verunstaltet?“

Schöppler schnaubte: „Erinnere mich bitte nicht daran.“

„Schaut echt beschissen aus.“

Havlicek biss erneut in sein Kipferl und putzte ein paar Krümel von seiner blauen Jeans.

Michaela Kaltenhauser stand von ihrem Platz auf, ging zum Drucker und griff nach zwei Blatt bedrucktem Papier. Dann ging sie hinüber in Oberst Dorfmeisters Büro und legte die Ausdrucke auf dessen Schreibtisch. Durch die gläserne Trennwand im Büro des Chefs schaute sie zum Kollegen Schöppler. Sie musste lächeln bei dem Gedanken, dass ihm sein Auto scheinbar wirklich so viel wert war. Sie band ihre bis dahin offenen Haare mit einem Gummiband zu einem Pferdeschwanz und kam durch die Glastür zurück.

Im gleichen Moment, als sie sich wieder an ihren Laptop setzte, betrat Oberst Maximilian Dorfmeister die Dienststelle der SOKO-Alpenland am Ufer der niemals blauen Donau.

„Guten Morgen“, sagte er kurz, als er seinen Kopf durch einen Türspalt steckte.

„Morgen Chef“, grüßten die Kollegen zurück und der Oberst ging mit schnellen Schritten in sein Büro. Er setzte sich auf seinen breiten Ledersessel und warf die zahlreichen Zeitungen, die er jeden Morgen mitbrachte, achtlos auf den Tisch. Er las den Bericht von Gruppeninspektorin Michaela Kaltenhauser, als das Telefon läutete.

„Dorfmeister ... ja ... aha ... und ...“, der Oberst runzelte die Stirn und zahlreiche Falten kamen zum Vorschein. „Was, schon wieder dort? Aha ... gut ... danke!“

Mit etwas Verzögerung legte er den Hörer auf und ging hinüber zu seinem Team.

„Herrschaften ... eine Leiche!“

Havlicek blieb für einen kurzen Moment der Bissen im Mund stecken.

„Und wo?“, wollte Kurt Wegener wissen und alle blickten ihren Chef erwartungsvoll an.

„In der Lobau.“

„Na, ned scho wieder!“ Havlicek warf den Rest des Kipferls vor sich auf den Tisch.

„Also dann Leut, auf geht’s“, hörten sie die Worte von Dorfmeister und das war ein Befehl.

*

48 Stunden vorher:

 

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Die Sonne versuchte ihre kräftigen Strahlen durch die nicht sehr sauberen Glasscheiben in das Buchgeschäft zu schicken, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen.

Die alten Schaufenster waren schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr geputzt worden und die zahlreichen Bücher, die sich auf dem alten Holz in den Auslagen stapelten, verhinderten jegliches Eindringen des hellen Lichtes.

Professor Doktor Günther Koch, ein älterer, weißhaariger Mann, Mitte Siebzig, kam aus dem hinteren Bereich des kleinen Geschäftes, vorbei an einem vergilbten, alten Vorhang nach vorne in den Verkaufsraum und legte einem Kunden ein Buch auf den Tresen.

„Dieses Buch kann ich Ihnen empfehlen.“

Der Kunde, ein Mann mittleren Alters, vornehm in blütenweißem Hemd und perfekt passender schwarzer Hose gekleidet, nahm es in die Hand und schaute es flüchtig durch. Bei manchen Seiten verweilte er etwas länger, als er eine Frage stellte.

„Und dieses Werk ist das Aktuellste auf dem Sektor der Uniformkunde?“

Koch nickte: „Sie haben alle Uniformen der Deutschen Wehrmacht drinnen, von der Infanterie, Panzerwaffe, Luftwaffe bis hin zur Kriegsmarine und alles schön mit Farbfotos und Illustrationen dokumentiert.“

„Waffen-SS auch?“ Der Kunde wog das Buch in seinen Händen.

„Von der Waffen-SS gibt es einen eigenen Bildband.“

„Und was kostet der Schinken hier?“

„35 Euro.“

„Ganz schön heftig.“

„Naja, aber wie ich schon sagte, es ist das beste Werk, das derzeit auf dem Markt ist.“

Der Kunde nickte anerkennend: „Gut, dann nehme ich es.“

Günther Koch holte einen Kassenblock hervor und stellte die Rechnung aus.

„Sie werden nicht enttäuscht sein“, sagte er, während er den Kassenzettel ausfüllte.

„Haben sie noch keine Registrierkasse?“, fragte der Kunde, als er den kleinen Kassenzettel in der Hand hielt.

„Die bekomme ich erst nächsten Monat.“

Koch gab das Buch in eine Plastiktüte und legte noch ein paar Werbebroschüren dazu und reichte es dem Kunden. Dieser bedankte sich und als er in Richtung der alten Holztür mit den geschwungenen Griffen ging, drehte er sich noch einmal um.

„Was tut sich denn bei Ihren Nachforschungen?“

Doktor Koch blickte den Kunden fragend an: „Welche Nachforschungen?“

Die Augen des Mannes im weißen Hemd blitzten auf, dann verließ er lächelnd das Geschäft. Koch blickte ihm nach, aber mit schnellen Schritten verschwand der Kunde im Verkehr der Lerchenfelderstraße.

Des Professors schaute auf die alte Uhr, die an der grauen Wand über der Eingangstür hing und in dem Moment betrat Sebastian, ein 17-Jähriger Junge, die alten Räume des kleinen Buchgeschäftes. Er war der Lehrling des Professors und arbeitete nun schon zwei Wochen bei ihm.

„Sebastian, hast du mal auf deine Uhr geschaut?“

„Tschuldigung, Herr Doktor, aber die U-Bahn …“

„Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass du zu spät kommst!“ Sebastian senkte den Kopf und wartete auf die Standpauke, die nun unweigerlich folgen musste. Aber der Professor beließ es bei einer weiteren Ermahnung.

„Sollte es wieder vorkommen, dann muss ich deine Mutter davon in Kenntnis setzten, oder ich spreche mit deiner Betreuerin von der Caritas.“

Der Lehrling hatte immer noch den Kopf gesenkt.

„Aber die U-Bahn …“

„Dann musst du halt früher aufstehen.“

Sebastian nickte. Was konnte er schon dafür. Jeden Morgen sehr früh aufstehen, der Weg zum Stockerauer Bahnhof war nicht gerade kurz, dann die lange Fahrt mit der Schnellbahn bis Wien-Floridsdorf. Dort musste er umsteigen in die U-Bahnlinie U6 und mit der bis Thaliastraße fahren, eine halbe Weltreise war das jeden Tag. Es war ja nicht seine Idee gewesen, eine Lehre als Buchhändler in Wien anzutreten. Viel lieber wäre er in dem kleinen Musikgeschäft geblieben, aber als dieses in Konkurs ging, blieben nicht viele Möglichkeiten und da seine Mutter eine Bekannte von Professor Doktor Koch war, verfügte sie darüber, ihren Sohn in das alte Buchgeschäft zu schicken, damit er dort die Lehre als Buch-und Musikaliensortimenter zu Ende zu bringen konnte. Hier allerdings nur mehr Buch und keine Musik, was ihn auch nicht gerade begeisterte.

Koch nahm seine Brille von der Nase und mit einem alten Tuch wischte er über das Glas. Prüfend hielt der die Augengläser gegen das Licht und setzte sie schließlich wieder an ihren Platz im rundlichen Gesicht.

„Ich muss nach hinten, noch einiges erledigen.“

Sebastian nickte und begab sich zu den Regalen, in die noch einige antiquarische Bücher einzuordnen waren. Koch ging in den hinteren Bereich des Geschäftes, in dem sich sein kleines, mit zahlreichen Akten und Büchern überfülltes Archiv befand. Er setzte sich an einen alten, schon von Holzwürmern befallenen Tisch und öffnete einen Aktenordner, den er am Vorabend aus einem der oberen Regale geholt hatte. Umständlich setzte er seine Lesebrille auf und betrachtete das gelblich verfärbte Papier. Sein Mobiltelefon läutete und er schaute auf das Display, doch es war kein Name und auch keine Telefonnummer darauf zu sehen, dafür konnte man „Unbekannt“ lesen.

„Koch“, meldete er sich mit freundlicher Stimme,

„John? …ach was, du bist in Wien? Ja … ja aber natürlich. So können wir das machen … bis dann … bye bye.“

2

„Innerhalb von drei Wochen sind wir jetzt schon zum zweiten Mal hier in der Lobau“, stellte Havlicek fest.

„Zufall?“, fragte sein Kollege Kurt Wegener.

„Zufall oder ned Zufall, gibt’s überhaupt Zufälle?“

Alexandra Meyer, die rundliche, aus Bayern stammende Gerichtsmedizinerin und Pathologin, kniete neben einem Leichnam und untersuchte den Körper. Fünf Schusswunden konnte sie erkennen und alle aus nächster Nähe abgefeuert. Havlicek ging neben dem Toten in die Hocke und wartete geduldig auf das Resümee seiner Kollegin. Franz Hafner, Kriminaltechniker und Forensiker, trat an Major Wegener heran und reichte ihm eine durchsichtige Plastiktüte mit einigen Utensilien, unter anderem ein Handy und ein Personalausweis.

„Wer ist der Tote?“, fragte Wegener.

Hafner zog die Augenbrauen hoch: „Ein gewisser John Smith, englischer Staatsbürger.“

„Und er wurde so hier gefunden?“

„Ja, hier gleich neben den Bahngleisen.“

„Und wer hat ihn gefunden?“

Hafner deutete in Richtung Michaela Kaltenhauser, die gerade mit drei Jugendlichen, zwei Burschen und einem Mädchen, im Gespräch war.

Wegener sah hinüber zu einem der zahlreichen Rad und Wanderwege, die durch dieses Naturschutzgebiet führten und wo Gruppeninspektorin Kaltenhauser ihr kleines Notizbuch zur Hand nahm.

„Wann habt Ihr denn den Toten entdeckt?“

„Ungefähr vor ana Stund, also so gegen 8 Uhr, da ham wir ja die Polizei auf 133 ang’rufen“, gab einer der Jugendlichen zur Antwort und kaute wie versessen auf einem Kaugummi.

„Habt Ihr sonst noch jemanden gesehen, der euch vielleicht verdächtig vorkam?“

Die drei schüttelten gleichzeitig den Kopf.

„Wir wollten eine Radtour machen und später dann rüber zum Donau-Oder-Kanal zum Baden fahren“, sagte das Mädchen, „aber als der Kevin pinkeln musste, hat er den Mann dort liegen g‘sehen.“

Die Polizistin notierte sich die Aussagen der drei Jugendlichen.

„Wolltest du mir noch etwas sagen?“, fragte sie den etwas nervösen Kevin, einen netten, schlanken Jungen mit blonden, kurzen Haaren.

„Ja … nämlich … zuerst hab ich glaubt, der schlaft“, stotterte Kevin. Er deutete gleichzeitig auf den Toten, der unweit des Schotterwegs im Gebüsch lag. „I hab ihm an leichten Stösser geben, aba der hat si ned g‘rührt und dann, wie die Lisa g‘sagt hat, i soll ihn in Rua lassen, hob i des Blut g´sehen.“

„Lisa?“, fragte die Polizistin nach und erblickte ihren Kollegen Schöppler, der gerade unter der Absperrung hindurch den Tatort betrat.

„Mei Freindin“, antwortete Kevin mit einem gewissen Stolz.

„I bin die Lisa!“, sagte das brünette Mädchen und stellte sich gleich neben ihren Freund. Michaela nickte lächelnd und notierte die Namen und Adressen der drei Jugendlichen.

Schöppler ging auf Havlicek und Wegener zu.

„Weiß man schon Näheres? Hast du mit den Kollegen von der Spurensicherung geredet? Was haben die herausgefunden?“

„Nicht viel, außer, dass es sich bei dem Toten um einen gewissen John Smith aus England handelt“, gab Wegener zur Antwort.

„Und die Mordwaffe hat ein Kaliber von 9mm Para“, ergänzte Havlicek. Er schob sich seine Sonnenbrille wie so oft in seine schon leicht ergrauten Haare.

Wolfgang Schöppler betrachtete das Opfer sehr genau und auch die fünf Einschusslöcher im Körper.

„Irgendwelche Hinweise auf einen Kampf oder so was in der Art?“

Wegener steckte seine Hände in die Jackentasche.

„Nichts, das Opfer scheint seinen Mörder gekannt zu haben.“

„John Smith aus England ... wie viele Menschen in England heißen Smith?“, fragte Havlicek.

„Das ist so wie bei uns Meier oder Schuster“, versuchte Wegener zu erklären.

„Oder Pospischil und Hrdlicka!“ Havlicek grinste seinen deutschen Kollegen von der Seite an.

„Sonst irgendwelche Spuren?“, fragte Schöppler.

„Ausweis und Handy, mehr leider nicht.“

„Wie alt ist der Tote?“

„Laut seinem Ausweis ist er am 23.12.1966 in Birmingham geboren.“

„Also, ist er 50 Jahre alt.“

„Rechnen können wir auch, Herr Kollege!“, antwortete Havlicek.

Michaela Kaltenhauser kam hinzu, sie hatte inzwischen die drei Jugendlichen verabschiedet.

„Also dieser Kevin hat den Toten entdeckt. Er gibt an, so gegen 8 Uhr in der Früh. Er hat das ja auch den uniformierten Kollegen gesagt, die vor uns hier waren“.

„Haben die Jungen sonst noch was bemerkt?“, fragte Wegener.

„Nichts.“

„Raubmord?“

„Brieftasche haben wir keine gefunden, also durchaus möglich“, antwortete Havlicek.

„Ein Raubmord mit fünf Schüssen?“ Schöppler zweifelte an der Theorie seines Kollegen: „Das ist mir zu viel.“

Alexandra Meyer, die Gerichtsmedizinerin bewegte ihren rundlichen Körper auf die vier zu.

„Achtung die Schildkröte kommt“, warnte Wegener leise.

„Sag das ja nicht zu laut, sonst gibt’s Probleme“, entgegnete Michaela.

„Also der Todeszeitpunkt kann ziemlich genau festgestellt werden“, teilte die Medizinerin lakonisch mit.

„Na, damit habe ich aber jetzt nicht gerechnet, Frau Kollegin!“, ließ sich Havlicek zu dieser schnippischen Bemerkung hinreißen. „Und wann wurde dieser Engländer ins Jenseits befördert?“3

„Gestern Abend zwischen 21 und 22 Uhr“, bekam er die trockene Antwort von Meyer, die seinen frechen Unterton einfach ignorierte.

„Dann schlage ich vor, alles Weitere nach unserem Bericht an den Chef.“

Michaela Kaltenhauser verließ als erste den Tatort.

„Na, haben wir eine neue Chefin?“, fragte Helmuth und kratzte wieder seine zahlreichen Bartstoppeln.

„Gott bewahre uns davor!“, antwortete Kurt Wegener und ging hinter der Kollegin her.

Auf dem unteren Parkplatz der Panozza-Lacke standen die Autos der Ermittler und als Havlicek am Auto von Schöppler vorbeikam, blieb er kurz stehen. Er wartete, bis sein Kollege neben ihm stand, dann zeigte Helmuth auf den tiefen Kratzer in der Fahrertür: „Schaut wirklich beschissen aus!“

„Ja ja, das hast du mir schon einmal g‘sagt, stocher nur in meinen Wunden herum.“

3

„Des is jetzt ned wahr!“ Oberstleutnant Helmuth Havlicek fasste sich an die Stirn. Mit diesen Worten lenkte er die Aufmerksamkeit der Anwesenden im Büro der Sonderkommission auf sich.

„Könnt´s ihr euch noch an den Fall mit dem Nagy erinnern?“

„Notsch“, antworteten die anderen drei gleichzeitig.

„Ja eh, den mein i eh!“

„Und was ist jetzt mit dem Notsch?“, wollte Wegener wissen.

„Der Notsch war doch Historiker.“

Die Kollegen nickten.

„Jetzt ratet mal, was dieser John Smith von Beruf war.“

„Historiker!“, antwortete Wegener und freute sich auf Havliceks überraschtes Gesicht.

„Woher weißt du?“

„Ja, wenn du schon so blöd fragst.“

Schöppler nahm einen Schluck aus der Kaffeetasse und stellte sie geräuschvoll auf seinen Schreibtisch.

„Ist hier jetzt das große Historikermorden ausgebrochen?“

„Vielleicht ein Zusammenhang?“, murmelte Havlicek. Oberst Max Dorfmeister betrat mit schnellen Schritten das Büro seines Teams.

„Und? Wisst ihr schon mehr?“

„Ein gewisser John Smith, Engländer und Historiker von Beruf.“, sagte Havlicek

„Des auch noch, muss des sein?“ Dorfmeister wollte es nicht glauben.

„Doch, muss es“

„Wie jetzt?“ Dorfmeister setzte wieder seine Sorgenfalten auf und irgendwie erinnerte sein Gesicht nun an einen chinesischen Faltenhund.

„Der Nagy ...“

„Notsch!“, ertönte der Chor der vier Ermittler.

„Ja eh, der war doch auch Historiker und jetzt wieder einer?“

Michaela Kaltenhauser tippte wie wild auf ihrem Laptop, als Franz Hafner, seinen blonden Schopf durch einen Spalt der Bürotür steckte.

„Störe ich?“

„Nie, aber bitte in Kurzfassung“, bekam er als Antwort vom Havlicek

Der Kriminaltechniker betrat den Raum und fing sofort mit seinem Vortrag an.

„Also, wir haben die Verbindungsnachweise vom Handy dieses John Smith geprüft und uns ist aufgefallen, dass er in letzter Zeit sehr oft mit einem gewissen Doktor Günther Koch telefoniert hat.“

„Wie schreibt sich der?“, wollte Michaela wissen.

„Günther mit th und dann Koch, so wie der Koch in der Küche.“

Die Gruppeninspektorin tippte den Namen ein und schon nach kurzer Zeit wurde sie fündig:

Professor Doktor Günther Koch, Professor für neuere Geschichte an der Uni Wien. Hat ein paar Bücher über die Habsburger, den Ständestaat, also die Zeit zwischen den Weltkriegen und dann noch über das Dritte Reich herausgebracht. Geboren in Zwettl, hat dort am Gymnasium unterrichtet, bevor er Ende der 80er Jahre einen Lehrstuhl an der Universität in Wien erhalten hat. Seit vier Jahren im Ruhestand. Betreibt heute eine Buchhandlung mit Antiquariat in der Lerchenfelderstraße im 8. Bezirk.

Betretenes Schweigen. Jeder blickte jeden an, ehe die Stille von Havliceks Worten unterbrochen wurde: „Unser Mörder?“

Michaela suchte unterdessen nach weiteren Hinweisen bezüglich des toten John Smith, der ja ebenfalls Historiker war.

„Unser Opfer, der John Smith hat sich ebenfalls mit dem Dritten Reich auseinandergesetzt, aber mehr auf dem militärischen Gebiet“, erklärte sie nach einem neuerlichen Blick auf den Bildschirm.

„Was da wäre?“, wollte Schöppler wissen und nahm erneut einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

„Ein Bildband über die Uniformen der Deutschen Wehrmacht, sowie eine Abhandlung über die Geheimwaffen der Nazis.“

Wegener lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

„Also wieder zwei Historiker, die sich anscheinend nicht grün waren … oder doch?“

Oberst Dorfmeister schaltete sich in das Gespräch ein: „Haben die Ermittlungen am Tatort noch etwas ergeben?“

Alle schüttelten den Kopf, bis auf Hafner, der dem Oberst ein vergilbtes Stück Papier zeigte.

„Ach ja, das habe ich noch unweit des Tatortes gefunden.“

„Und das sagen Sie erst jetzt?“

„Tut mir leid, in der Hektik habe ich es übersehen.“

„Und was steht jetzt auf dem Papierl drauf?“

„Es dürfte sich dabei um ein Schriftstück aus einer Gerichtsoder Ermittlungsakte handeln.“

„Was für eine Gerichtsakte?“

„Ich glaube, es handelt sich dabei um einen Gerichtsakt vom Amtsgericht München.“

Hafner deutete auf einen nur noch schwach erkennbaren Stempel.

„Eine Jahreszahl habe ich auch entdecken können ... 1932. Und hier etwas unterhalb ... der Fall der A.R.“

Wolfgang Schöppler stand langsam von seinem Sessel auf und ging zum Fenster.

„1932 gab es das Dritte Reich noch nicht. Was also sollte unseren Historiker dazu bewegt haben, mit alten Ermittlungsakten nach Wien zu reisen?“

„Welcher Gerichtsprozess könnte für einen Historiker, der sich mit dem Schicklgruber alias Hitler befasst, interessant sein?“, fragte Havlicek.

„Vielleicht der Marsch auf die Feldherrenhalle? Damals wurde ja dem Adolf der Prozess gemacht.“

„Eine Möglichkeit“, sinnierte Wegener.

Michaela Kaltenhauser, die unterdessen immer noch ihren Laptop bearbeitete, meldete sich zu Wort:

„Also, der Prozess gegen Hitler, wegen dem Marsch auf die Feldherrenhalle, der war bereits 1923 ... aber, es gab 1932 einen anderen Prozess, in den er auch eingebunden war.“

Die fünf Anwesenden schauten ihre Kollegin erwartungsvoll an.

„Ein Prozess bezüglich eines Suizidfalles in seiner Familie“, antwortete sie.

„Angelika Raubal! Der Fall A.R.“, hörten sie die Stimme von Wolfgang Schöppler.

„Na, der Herr Kollege kennt sich aber gut aus“, grinste Havlicek den Major an.

„Genannt Geli Raubal, Hitlers Nichte“, erklärte Schöppler.

„Die Nichte des Teufels“, stellte Havlicek nicht ohne Ironie fest.

„Schön Freunde, des hilft uns jetzt aber auch ned wirklich weiter!“ Oberst Dorfmeister nahm seine Brille ab und steckte sie in sein Sakko. „Wilde Spekulationen, die uns nichts bringen. Ich schlag daher Folgendes vor: Die Kollegen Havlicek und Wegener machen sich in Zwettl schlau. Vielleicht könnt ihr irgendwas in Erfahrung bringen, was diesen Doktor Koch betrifft, Familie, Verwandte und so weiter.“

„Und wir sollen nach England fliegen?“, scherzte Schöppler mit heiterer Miene.

Michaela musste lachen, als sie das Gesicht ihres Kollegen sah: „Herr Kollege, konzentrieren Sie sich Ihnen!“

Max Dorfmeister blickte streng auf die Gruppeninspektorin: „Was war jetzt des, Beamtendeutsch?“

Schöppler zuckte mit den Schultern.

„Na vielleicht sollen wir mehr über diesen John Smith herausfinden, Familie, Verwandte und so weiter.“

„Kommt nicht in Frage“, entgegnete der Oberst, „Ihr beide schaut´s euch das Geschäft in … wo war jetzt des?“

„Lerchenfelderstraße!“, antwortete Michaela blitzschnell.

„Ja, genau! Nehmt´s euch diesen Koch zur Brust“.

4

Helmuth Havlicek steuerte seinen roten Opel Commodore leise fluchend - „Heut haben die Idioten wieder Ausgang“ - durch den Großstadtverkehr und nach kurzer Zeit düste der Oldtimer die Donauuferautobahn entlang. An Korneuburg vorbei wechselten sie beim Knoten Stockerau auf die Schnellstraße S 5 in Richtung Krems.

Nach einiger Zeit meldete sich die Blase von Wegener.

„Ich muss mal.“

„Jetzt?“

„Vorher musste ich ja noch nicht.“

Havlicek verzog das Gesicht und kurbelte das Fenster etwas runter.

„Ich muss mal ganz dringend, oder hast du ein mobiles Klo in deiner Mühle?“

„Wennst ma auf den Sitz machst, dann ...“

„Na dann halt am nächsten Parkplatz an!“

In der Ortschaft Grafenwörth hielt der Commodore auf einem kleinen Parkplatz vor einem Gasthaus.

„Kirchenwirt“, las Havlicek und stieg aus. „Da können wir einen Kaffee trinken und du kannst deine Blase erleichtern.“

Sie betraten die kleine Gastwirtschaft und sofort fühlten sie sich von den Anwesenden beobachtet.

„Grüß Gott“, grüßte Havlicek und setzte sich an einen Tisch am Fenster. Wegener steuerte gleich auf die WC-Anlage zu. Mit langsamen Schritten kam eine rundliche Kellnerin zu Helmuth an den Tisch: „Brauchen´S a Kart‘n, oder wissen´S scho, was woll´n?“

„Zwa große Braune und zwa Mineralwasser ... aba ohne Kugerln.“4

Die Kellnerin nahm die Bestellung auf und ging zurück hinter die Theke, an der einige Einheimische standen. Kurt Wegener kam vom WC und setzte sich an den Tisch.

„Wo is´n des Häusl?“

„Immer den Fliegen nach.“

„Danke!“

Havlicek stand auf und verließ die Gaststube. Als er nach kurzer Zeit den langen, dunklen Gang von der Toilette zurückkam und an der Theke vorbeiging, vernahm er das Wort „Kiebera“5

Er blieb kurz stehen, drehte sich zum vermeintlichen Flüsterer, einem älteren, äußerst ungepflegten Mann und nickte: „Ganz genau, da ist aber einer ein ganz ein Schlauer.“

Wegener, der die ganze Szene beobachtete, blickte verschmitzt drein.

„Des riach i auf hundert Meter!“, sagte der ältere Mann und fuhr sich mit der Hand an die Nase.

Helmuth näherte sich dem unrasierten Gesicht bis auf wenige Zentimeter. Dann hörte er die Stimme seines Kollegen: „Helmuth ... komm, der Kaffee wird kalt.“ Havliceks Kopf ging auf und ab. Er ging einen Schritt zurück, drehte sich um und setzte sich an den Tisch.

Sie tranken den Kaffee und das Mineralwasser und zahlten. Dann standen sie auf und gingen in Richtung Ausgang. Als Wegener an der Theke vorbeiging, hörte er das Wort: „Scheipi.“6 Der deutsche Major blieb stehen, drehte sich nun ebenfalls zu dem älteren Mann und steckte seine Hände in die Taschen seiner Jeans. „Ja, was dagegen?“, fragte er und die Spitze seines rechten Stiefels bohrte sich langsam in das Schienbein des ungepflegten Typs. Dieser verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse.

„Kurtl, komm ... lass ihn.“

Wegener starrte in die Augen seines Gegenübers, dann drehte er sich um und die beiden Beamten verließen das Gasthaus. Kurze Zeit später verließ die MS Havlicek7 mit laut aufheulendem Motor den Parkplatz.

5

Gruppeninspektorin Michaela Kaltenhauser schaute sich in dem kleinen Buchgeschäft um und ihr Kollege Major Wolfgang Schöppler blätterte in einem der zahlreichen Exponate, die auf der alten Holztheke lagen. Hinter einem alten, vergilbten Plastikvorhang kam der Lehrling Sebastian hervor und fragte die vermeintlichen Kunden.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Nein, uns kann keiner mehr helfen, oder doch?“, antwortete Schöppler und legte das Buch zurück.

„Wir würden gerne mit dem Herrn Doktor Koch sprechen, ist er da?“ Michaela schaute dem Lehrling in die Augen.

„Moment, ich hole ihn“, sagte Sebastian und verschwand hinter dem Vorhang.

Die Gruppeninspektorin fuhr mit dem Zeigefinger über das Holz der Theke und betrachtete das staubige Ergebnis: „Wann wurde hier das letzte Mal saubergemacht?“

Schöppler zuckte mit den Schultern: „Wahrscheinlich im letzten Jahrhundert, wenn überhaupt.“

Koch kam aus seinem kleinen Archiv nach vorne in den Verkaufsraum.

„Ja bitte?“

Die Polizistin vom LKA8 zeigte ihren Dienstausweis: „Gruppeninspektorin Michaela Kaltenhauser, Kripo Wien, das ist mein Kollege Major Schöppler.“

Der Professor bekam rote Ohren, als er die Ausweise sah. Sogleich fing er an, sich zu rechtfertigen:

„Ich habe nichts Unrechtes in meinem Geschäft. Es ist alles ganz legal und im Rahmen der geschichtlichen Aufarbeitung unserer Vergangenheit.“

Schöppler nahm ein Buch in die Hand und las den Titel laut vor: „Die Uniformen der Waffen-SS von 1939 bis 1945.“ Er schlug das Buch auf und las auf der ersten Seite: „Copyright 2014 John Smith Junior Birmingham“.

„Etwas eigenartig finde ich es schon, dass dieses Buch zwar auch in Deutsch erschien, aber kein Übersetzer angeführt ist“, sagte Schöppler etwas erstaunt und zeigte auf die ausgeschlagene erste Seite.

„Aber das nur nebenbei, wir sind nicht wegen Ihrer zahlreichen Exponate hier, darum kümmert sich die Staatspolizei.“, bemerkte jetzt Michaela und betrachtete den Einband eines Buches, auf dem ein Soldat in gefleckter Tarnuniform abgebildet war.

„Und von der Gestapo sind wir auch nicht“, ergänzte Schöppler ironisch. Seine Lippen formten sich zu einem schmalen Strich.

„Wie kann ich Ihnen dann helfen?“ Der Professor wurde langsam wieder ruhiger.

„Wir sind von der Mordkommission“, sagte Michaela und wartete auf die Reaktion des Professors.

„Mordkommission?“

Die beiden Beamten nickten gleichzeitig. Koch winkte seinen Lehrling herbei: „Hast du heute schon Mittagspause gemacht?“ Sebastian schüttelte den Kopf.

„Gut, dann mach jetzt deine Pause.“ Mit diesen Worten schickte er den Lehrling aus dem Geschäft. Sebastian verschwand und der Doktor kam hinter dem Tresen hervor.

„Was habe ich denn mit Mord zu tun?“

„Sagt Ihnen der Name Angelika Raubal, genannt Geli etwas?“, fragte Schöppler.

Koch setzte ein nachdenkliches Gesicht auf: „Natürlich sagt mir der Name Angelika Raubal etwas. Sie war die Nichte des Führ ... ich meine die Nichte von Adolf Hitler.“

Michaela steckte ihre Hände in die hinteren Taschen ihrer Jeans: „Was wissen Sie von dieser Nichte des Führers, wie Sie eben sagen wollten?“

„Der Selbstmord ist ja schon Ewigkeiten her. Im Jahre 1931 hat sich die Geli, ich meine die Nichte vom Hitler selbst erschossen.“

Schöpplers Augen erfassten die zahlreichen Bücher in den Regalen, bis er seinen Blick wieder auf Professor Koch richtete: „War es Mord, oder Selbstmord?“

Koch kratzte sich am Kopf: „Es war Selbstmord, aber was habe ich damit zu tun?“

Michaela Kaltenhauser und Wolfgang Schöppler tauschten schnell ein paar Blicke aus.

„Kennen Sie diesen Autor John Smith Junior persönlich?“ Schöppler deutete auf das vor ihm liegende dicke Buch.

„Ja, ein netter Kollege aus England“, kam die prompte Antwort zurück.

„Wann haben Sie diesen John Smith das letzte Mal gesehen?“

„Er hat mich angerufen. Ich war etwas überrascht, dass er in Wien ist und wir wollten uns gestern Nachmittag in der Innenstadt treffen, aber er ist leider nicht gekommen.“

„Und wo genau wollten Sie sich mit ihm treffen?“, fragte die Polizistin nach.

„Im Café Hawelka, in der Dorotheergasse. Aber ... warum wollen Sie das wissen?“

„Ihr netter Kollege John Smith ist tot.“

Koch wurde kreidebleich im Gesicht, als er diese Worte aus Michaelas Mund vernahm.

„Wie bitte? Habe ich richtig verstanden, sagten Sie tot?“

„Ja, ich sagte tot und es sieht nach Mord aus.“

Wolfgang Schöppler entdeckte einen alten Holzstuhl und setzte sich. Gleichzeitig nahm er nochmals das Buch in die Hand.

„Wo waren Sie gestern Abend gegen 22 Uhr?“