BlueFiction


Özge Dogan, Alexander Karanikolas, Ramona Meyer und Stine Volkmann



Tiefe Liebe und andere Geschichten

Mit den Mentoren Katja Brandis, Ilona Einwohlt, Jana Frey, Christoph Marzi 

Herausgegeben von Lizzynet.de und digi:tales

 

 

Impressum


Ein Imprint der Arena Verlag GmbH
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017

ISBN: 978-3-401-84011-6

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In Kooperation mit Lizzynet.de




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Die vier Geschichten sind entstanden im Rahmen des Wettbewerbes Blue Fiction im Wissenschaftsjahr 2016*17 – Meere und Ozeane

 


Vorwort
von Katja Brandis

Hin und wieder trifft bei mir eine Anfrage ein, über die ich mich richtig freue: BlueFiction – Kurzgeschichten über das Meer … Ob ich in der Jury oder als Mentorin mitmachen wolle? Was für eine Frage! Junge Autoren zu betreuen macht mir schon seit vielen Jahren Spaß, und das Wasser ist mein Element. Ich bin selig, wenn ich im grünen Wasser eines Sees immer weiter hinausschwimme oder mich mit Tauchausrüstung rücklings hineinfallen lasse ins große Blau des Meeres. Keine der Begegnungen dort werde ich vergessen: die Meeresschildkröte, die vor mir zum Atmen hochschwimmt; die Krake, die mich ungnädig beäugt, weil ich es wage, vor ihrer Wohnhöhle zu schweben; der Fischschwarm, in dessen Mitte ich mich aufgenommen fühle; der Große Tümmler, der einen Moment lang neben mir durchs Meer zieht. Seit Jahren setze ich mich dafür ein, ihren Lebensraum zu schützen.

Also saust innerhalb von dreißig Sekunden mein „Ja!“ zu BlueFiction durchs Netz. Weil ich mich für die Rolle einer Mentorin entschieden habe, warte ich gespannt auf Nachricht von der Jury. Deren Mitglieder werden aus der Fülle der Einsendungen etwa fünfzehn Geschichtenideen auswählen, von denen anschließend vier von den jungen Autoren und Autorinnen mit Unterstützung der Mentoren umgesetzt und als E-Book veröffentlicht werden.

Neugierig und ein bisschen aufgeregt schaue ich mir an, welche Projektvorschläge die Jury in die engere Wahl genommen hat – so viele schöne Ideen! Schon die Exposés machen deutlich, dass sie so vielschichtig und unterschiedlich sind wie die jungen Autoren selbst.

Als einige Wochen später die von mir gewählte, fertige Geschichte eintrifft und ich die erste Seite lese, bin ich begeistert. Wie es der Zufall will, habe ich gerade eine Praktikantin, Jasmin, die selbst erfahrene Seglerin und Taucherin ist. Wir lektorieren „Tiefe Liebe“ gemeinsam und genießen die Zusammenarbeit mit Autorin Stine Volkmann, deren glasklarer Stil uns beide beeindruckt.

Mein „Ja“ zu BlueFiction hat sich eindeutig gelohnt. Es hat mir großen Spaß gemacht, Teil dieses Projekts zu sein, zu sehen, wie tiefgehend und einfühlsam sich die Jugend mit dem Thema Meer beschäftigt hat. Vielen Dank auch an das Team von digi:tales und LizzyNet und – ganz besonders – an das Ministerium für Bildung und Forschung, das den Wettbewerb im Wissenschaftsjahr 2016*17 – Meere und Ozeane möglich gemacht hat.
Nun haben Sie die Gelegenheit, sich durch die fertigen Geschichten zu schmökern. Es warten ganz unterschiedliche Storys auf Sie. Lassen Sie sich verzaubern von den poetisch-fantastischen Geschichten, faszinieren oder zum Nachdenken anregen von den realistischen.

 

Viel Spaß wünscht Ihnen

 

Katja Brandis

 

Stine Volkmann

mit Katja Brandis als Mentorin

Tiefe Liebe

Bayahibe, Dominikanische Republik, 2002

 

Meine Gedanken sind tosende Wellen. Sie überschlagen sich, brüllen sich mehrstimmig an, doch sobald ich meinen Kopf unter Wasser tauche, schweigen sie. Gedämpft streckt sich ein einzelner Gedanke in die Länge und löst sich langsam auf wie eine Tablette im Glas.

Ich sitze mit überkreuzten Beinen auf dem Boden des Hotelpools und halte mich an einem Gestell fest, das mich am Auftauchen hindert. Das Chlorwasser fühlt sich künstlich an. Es hat keinen Rhythmus, keine Strömung, nichts fließt, nichts lebt.

Meine Augen sind geschlossen, doch würde ich sie öffnen, sähe ich die braungebrannten Beine meines Vaters: zwei Baumstämme, deren Wurzeln fest auf den Fliesen verankert sind. Er bewegt sich nicht, um meine Konzentration nicht zu stören. Doch selbst in seiner Reglosigkeit spüre ich seine Anwesenheit.

Ich bin Apnoetaucherin. Mein Sport ist mein ganzes Leben. Das Wasser ist mein Zuhause. Hier unten gibt es nur mich, getragen durch eine dumpfe Schwerelosigkeit. Meine frühsten Erinnerungen sind tief mit dem Meer verbunden …

… Ich bin sechs Jahre alt, als ich in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werde. Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. In unserem Haus am Strand ist es still. Nur draußen tobt der Sturm über Marseille. Das Meer rauscht, der Wind schlägt wütend gegen Türen und Fenster. Dann zieht er sich etwas zurück und schickt den Regen vor.

„Lass uns rein, Maddy!“, rufen die Tropfen im Chor.

„Ich will ja, aber ich darf nicht“, antworte ich.

In meinem Zimmer ist es dunkel. Nur der Mond scheint, den Wolken zum Trotz, durch die unbehangene Scheibe über meinem Bett. Es ist ein schwaches, aber dafür tröstendes Licht.

Ich wickle mich aus meiner Decke, stelle mich auf die Matratze und schaue über den Strand. Das Meer fletscht mit Schaum vor dem Mund die Zähne und brüllt.

Unwetter machen mir keine Angst, sie sind mir lieber als die Stille im Haus. Vielleicht sollte ich dem Sturm doch ein wenig Eintritt gewähren. Sobald ich den Riegel nach unten geschoben habe, schlägt mir der obere Teil entgegen. Die Angeln halten das Fenster ächzend.

Die Tropfen schlagen an die Scheibe, platzen auf wie Motten im Feuer. Einige kriechen seitlich in mein Zimmer, laufen die Wand herunter und sammeln sich auf der Fensterbank.

„Maddy.“ Sie flüstern meinen Namen.

„Maddy, ich muss dir etwas sagen.“ Die Hand meines Vaters liegt schwer auf meiner Schulter. Erschrocken fahre ich herum. Er schließt das Fenster und wischt mit der Hand das Wasser von der Fensterbank achtlos auf den Boden. Ich erwarte Ärger, eine Ermahnung, aber er starrt nur auf die Tropfen.

„Maddy.“ Mein Name ist kaum hörbar. „Deine Mama …“, er

bricht ab. „Ein Unfall.“

Ich schaue zum erleuchteten Flur. Kommt sie gleich rein?

Sie hat mir heute nicht Gute Nacht gesagt.

„Ihr Auto …“

Ich springe aus dem Bett, laufe an meinem Vater vorbei.

„Mama?“ Der Flur ist leer. Er kommt mir kalt vor. Meine nackten Füße platschen auf den Boden. „Mama?“ Das Schlafzimmer liegt im Dunkeln. Im Wohnzimmer steht alles an seinem Platz. Bunte Vorhänge schreien mir ihre Fröhlichkeit ins Gesicht. „Mama!“ Auf der Kommode liegt ein Bilderrahmen mit dem Glas nach unten. Die Halterung reckt sich in die Höhe. Warum liegt er da?

Mein Vater folgt mir mit schweren Schritten. „Mama kommt nicht wieder.“

Ich höre einen langen, tiefen Schrei, wie ein entsetzliches Heulen. Das muss sie sein. Sie hat sich wehgetan. Ich werde mich um sie kümmern. Ich reiße die Terrassentür auf. Sie muss hier draußen sein. Der Schrei brennt durch die Luft. Halte durch, Mama. Halte durch, ich helfe dir. Ich renne durch den Garten, durchs Tor und über den Strand. Der Regen fällt skrupellos wie Hagelkörner auf mein Gesicht. Ich laufe so schnell ich kann. „Zu langsam, zu langsam“, rufen meine Schritte.

Dann ist es da.

Das Meer.

Tiefschwarz, nur der Schaum leuchtet im Mondlicht. Es ist so wild, dass es das Geheul fast erstickt, aber noch klingelt es mir in den Ohren. Ist sie etwa da drin? Gib sie wieder her!

Mein Vater reißt mich hart an sich. Wir fallen in den nassen Sand. Er zerdrückt mich fast mit seinen starken Armen, dann verstummt der Schrei endgültig.

Es muss ein Traum sein. Sie kommt wieder. Sie holt uns Handtücher und rubbelt mir den Rücken trocken. Warte, Papa, gleich kommt sie.

Mein Vater zittert. Wolken schieben sich über das trostlose Mondlicht. Es ist so verflucht dunkel …

… Ich spüre das warme Poolwasser. Die Erinnerungen drücken mir die Kehle zu, meine Brust schmerzt. Ich weiß nicht mehr, wann ich sie das letzte Mal gesehen habe. Haben wir zusammen zu Abend gegessen? Oder war es mittags?

Ich suche in meinem Kopf nach ihrem Gesicht, ihrer Stimme, ihrem Geruch. Nichts. Da sind nur noch verschwommene Erinnerungen an diese Finsternis vor zwanzig Jahren. Auch jetzt hüllt sie mich vollkommen ein …

Ich wache auf und blinzle ins grelle Sonnenlicht. Auf meine Brust drückt ein Gewicht, das mich zum Husten zwingt. Wasser läuft aus meinem Mund, seitlich die Wange herunter. Ein Gesicht schiebt sich über die Sonne. Die Augen meines Vaters funkeln. Seine ausgeprägten Falten auf der Stirn haben sich verstärkt und bilden tiefe Furchen zwischen seinen Augenbrauen.

„Maddy, bist du okay?“

„Wie lange habe ich es geschafft?“ Meine Stimme ist nur ein Krächzen.

„Du übernimmst dich.“

„Wie lange?“

Ich setze mich mit brummendem Schädel auf. François sieht auf seine Stoppuhr. „Fünf, dreiundvierzig.“

„Eine neue Bestleistung.“

„Draußen wärst du jetzt tot.“

Ich zucke die Schultern. „Draußen würde ich nicht so weit gehen.“ Ich stehe auf.

„Maddy, bleib hier.“

„Ich brauche eine Pause.“

„Du musst kontrollierter trainieren. Kenne deine Grenzen …“

„… und gehe über sie hinaus. Das hast du mir doch beigebracht.“

„Aber nicht bis zur Besinnungslosigkeit. Wenn du in hundert Metern Tiefe ohnmächtig wirst, kann dich niemand rausziehen.“

„Ich weiß, François.“

„Das ist kein Spiel.“

„Nein, es ist mein Leben.“

Ich werfe mir ein Handtuch um die Schultern und lasse meinen Vater am Pool stehen.

In der Hotellobby treffe ich André, einen meiner Konkurrenten, in voller Tauchermontur.

„Warst du heute draußen?“, frage ich.

Er nickt.

„Wie lief's?“

„Gut. Sehr gut. Ich bin heute zweimal über hundert Meter getaucht.“ André grinst und entblößt eine Reihe weißer Zähne. „Und bei dir?“

Ich zucke die Schultern.

„Einen schlechten Tag hat jeder mal.“ Er fährt sich durch das nasse, blonde Haar. André ist ein Mann, den die meisten Leute als gutaussehend beschreiben würden. Obwohl oder vielleicht gerade weil sich eine feine Narbe von seinem rechten Mundwinkel hoch zu seiner Nase zieht. Er behauptet, sie sei durch einen Haiangriff entstanden. Doch es hält sich hartnäckig das Gerücht, er sei als Kind von einer Katze gekratzt worden.

„Nur kann ich ihn mir nicht leisten. In zwei Wochen wollen wir es versuchen.“

„Den absoluten Weltrekord zu holen?“ André fragt so ungläubig, als höre er zum ersten Mal davon. Ich spare mir meinen Atem, anstatt zu antworten.

„Du bist eine klasse Sportlerin, aber lass das lieber mal die Männer machen.“

Ich werfe ihm einen bösen Blick zu. Er stöhnt. „Schiebe mir jetzt nicht die Sexismuskarte zu. Es gibt einfach keine Extremsportart, in der eine Frau besser ist. Das hat rein biologische Gründe.“

Ich baue mich vor ihm auf. André ist einen Kopf größer als ich und hat breite Schultern, doch mich schüchtert das nicht ein.

„Ich meine ja nur, wenn dir der Pool schon zu viel ist, dann bleib lieber bei den Frauenrekorden.“

„Wenn du so oft runtergehst, wird es dir noch wie Kimanski ergehen. Der hat auch viermal die Woche in der Tiefe trainiert und liegt jetzt im Koma.“

„Wenigstens muss ich mir nicht von meinem Vater die Hand halten lassen.“

Ich mache auf dem Absatz kehrt und laufe zurück zum Pool. „Wir machen weiter.“

François öffnet den Mund, als wolle er widersprechen, dann steigt er in den Pool und setzt die Uhr auf Null.