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Erste Auflage August 2017

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgend­einer Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale

ISBN 978-3-89656-643-0

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Querverlag GmbH

Akazienstraße 25, 10823 Berlin

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Vorwort

Am 4. März 2017, einem Samstag, erschien im Tagesspiegel-Wochenendmagazin „Mehr Berlin“ die fünfzigste und letzte Folge unserer Kolumne „Queer weiß das“, in der vier Autorinnen und Autoren ein Jahr lang im wöchentlichen Wechsel Fragen zu ihrem queeren Leben beantwortet hatten.

Am 5. März 2017, dem darauffolgenden Sonntag, brachte ein offensichtlich erboster Tagesspiegel-Leser die folgenden handschriftlichen Zeilen zu Papier, wobei er einzelne Satzteile zur Betonung dick unterstrich.

An den Tagesspiegel, Redaktion „Mehr Berlin“

Als Familienvater drehe ich den Spieß um:

Ich bin froh, dass die 50 Beiträge zur Rechtfertigung und Verherrlichung der sog. „queeren“ Lebensform endlich zu Ende sind.

Lassen Sie nun vier andere Mitarbeiter 50 Punkte anführen, die die Lebensform z.B. von Familien mit hart arbeitenden Vätern und Müttern ohne Selbstverwirklichungsdrang loben.

Die – auch emotionale – Ablehnung des angepriesenen „queeren“ Lebens aus religiösen, biologischen und moralischen und sonstigen Gründen ist anzuerkennen, sofern sie Gewalt und Hass ausschließt. Das ist nicht Homophobie!

Das anhaltende Bedürfnis der „queeren“ Minderheit nach Selbstdarstellung, Selbstbeweihräucherung, Selbstinszenierung, Selbstrechtfertigung usw. verstärkt eher die Ablehnungstendenzen der Mehrheit. Es gibt andere Minderheiten, die nicht so viel Aufhebens von sich machen.

Eine bestimmte sexuelle Orientierung gibt nicht das Recht, eine bevorzugte Anerkennung in der Gesellschaft zu erzwingen, auch wenn Angehörige dieser Gruppierung überproportional in Wissenschaft (Gender!), Politik und Medien vertreten sind.

Die Versuche, Sprache und Stil („queer“, Sternchen *, LGBT u.a.) „hintenherum“ zu ändern, sind lächerlich und führen eher zur Ausgrenzung als zur Anerkennung der Minderheit.

Danke fürs Durchlesen

G*** S***, Berlin

Warum ich diese Hasspost hier so ausführlich zitiere? Weil sie meiner Meinung nach deutlich macht, wie richtig und wichtig es war, unsere Queer-Kolumne im Tagesspiegel erscheinen zu lassen.

Daran hatte es im Februar 2016 nämlich durchaus noch Zweifel gegeben, als eine Redaktionsgruppe mit gemischten sexuellen Präferenzen die Idee bei einem Kantinengespräch aus der Taufe hob. Als „pseudoprovokativ“ bezeichneten einzelne skeptische Kolleginnen und Kollegen das Projekt: Homosexualität, argumentierten sie, sei doch nun wirklich kein Tabuthema mehr, gerade in Berlin renne man damit allseits offene Türen ein, und wenn man tatsächlich gegen homophobe Vorurteile ankämpfen wolle, sei das Tagesspiegel-Publikum wohl sicher nicht der erste Adressat.

Schön wär’s – der oben zitierte Leserbrief war zwar einer der krasseren, aber leider nicht der einzige seiner Art, und zahlreiche Online-Kommentare schlugen in die gleiche Kerbe. Nicht immer fiel es uns leicht, mit solchen Reaktionen umzugehen, doch gleichzeitig gaben sie uns das Gefühl, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Intuitiv schienen wir die richtigen Fragen aufzuwerfen, denn jeder einzelne Punkt, den der zitierte Brief beklagt, war in den 50 vorhergehenden Kolumnenbeiträgen verhandelt worden – angefangen mit der Frage, ob Homosexualität eine Form der Selbstverwirklichung ist (siehe Folge 20), über die Frage, warum queere Menschen ihr Queer-Sein thematisieren müssen (Folge 21), bis hin zur sprachkritischen Frage nach der Notwendigkeit alternativer Schreibkonventionen (Folge 15). Trotz seiner inneren Ablehnung schien der Leserbriefschreiber die Kolumne ziemlich aufmerksam verfolgt zu haben.

Dabei stand am Anfang des Projekts nicht so sehr ein abstrakter ideologischer Gedanke als vielmehr ein handfestes aufklärerisches Anliegen. Was uns vorschwebte, war eine Kolumne, die Verständnis schafft, indem sie queeres Leben begreifbar, vorstellbar, nachvollziehbar macht, ein Format, das auf ganz konkrete Fragen ganz konkrete Antworten bietet: Wie läuft das bei euch, wie macht ihr das, wie geht ihr damit um? Welche Probleme habt ihr, was klappt bei euch besser oder schlechter als bei uns, was können wir voneinander lernen? Ein Teil der Fragen wurde dabei von Leserinnen und Lesern eingesandt, die übrigen formulierte der heterosexuelle Teil der Tagesspiegel-Redaktion.

Nicht immer lief das konfliktfrei ab. Manche Fragen und Antworten zogen auch innerhalb der Redaktion kontroverse Diskussionen nach sich. Wenn ich es als Hetero belästigend finde, von Schwulen aggressiv angebaggert zu werden, bin ich dann homophob? Und wenn ich als Homo die Schuld an solchem Unbehagen nicht dem Baggernden, sondern dem Angebaggerten zuschreibe, argumentiere ich dann chauvinistisch? Die etwas plakative Aufspaltung in ein „Wir“ und ein „Ihr“, die wir durch die Formel „Heteros fragen, Homos antworten“ eingeführt hatten, erwies sich als nicht ganz unproblematisch, durchaus zu Recht hatten die Redaktions-Homos mitunter das Gefühl, von uns Redaktions-Heteros exotisiert und zur Rechtfertigung genötigt zu werden.

Trotz solcher Konflikte, vielleicht auch gerade ihretwegen, gab es im Verlauf der Kolumne aber immer wieder echte Aha-Momente, von denen ich hoffe und glaube, dass sie sich nicht nur innerhalb der Redaktion, sondern auch bei den Leserinnen und Lesern der Kolumne einstellten – und damit nun auch bei allen, die dieses Buch zur Hand nehmen.

Als die Kolumne im März 2017 ihrem Ende entgegenging, entschieden wir, für die letzte Folge den Spieß umzudrehen: Diesmal lautete das Motto nicht „Heteros fragen, Homos antworten“, stattdessen fragten nun die Homos, was wir Heteros aus den 49 vorhergehenden Folgen gelernt hatten. Die Antwort fiel mir zu. Ich las dafür alle Kolumnenbeiträge noch einmal am Stück durch – und merkte schnell, dass es „die Homos“ natürlich genau so wenig gibt wie „die Heteros“, dass weder die abstrakte LGBTI-Gemeinde noch das konkrete schwul-lesbische Kolumnenkollektiv dieses Buchs auf einen Nenner zu bringen sind. Keine überraschende Erkenntnis eigentlich, da ja auch Heteros in mehr als einer Form auftreten. Aber Heteros haben nun mal deutlich mehr Gelegenheit, ihre Verschiedenartigkeit der Welt zu demonstrieren – nicht zuletzt im Tagesspiegel.

Genau deshalb hat der eingangs zitierte Leserbriefschreiber in einem Punkt auch vollkommen Recht – wenn auch nicht in dem Sinne, in dem er ihn formuliert hat, sondern im genau umgekehrten:

Eine bestimmte sexuelle Orientierung gibt nicht das Recht, eine bevorzugte Anerkennung in der Gesellschaft zu erzwingen, auch wenn Angehörige dieser Gruppierung überproportional in Wissenschaft, Politik und Medien vertreten sind.

Ihr Wort in Gottes Ohren, guter Mann.

Jens Mühling: Der Tagesspiegel, für die Redaktion „Mehr Berlin“

Proud to be gay

Ich habe eine ganz einfache Frage: Wärt ihr, zumindest manchmal, lieber hetero? Das wäre doch viel praktischer, oder?

Sebastian, Kreuzberg

Gleich eine Gegenfrage: Was genau soll noch mal am Hetero-Sein attraktiv sein? Dass man auf einem Date für beide bezahlen muss? Dass die Beziehungsanbahnung ohnehin ziemlich umständlich ist, wenn ich das richtig mitbekomme? Lothar Matthäus und Eva Herman als Rollenvorbilder?

Aber ernsthaft. Natürlich gibt es Homos, bei denen man annehmen kann, sie wären lieber hetero. Auf schwulen Datingportalen gibt es dafür sogar einen Fachausdruck: straight acting – „straight“ steht im Englischen für heterosexuell. Das meint Typen, die sich ostentativ männlich geben und kleiden, etwa so wie der heiße Hetero-Nachbar. Sie legen Wert darauf, nicht „in der Szene“ auszugehen, besuchen keine Schwulenbars, lehnen Tunten ab und kumpeln mit ihren Hetero-Buddys. Straight acting wird von nicht wenigen Schwulen ausdrücklich gewünscht.

Dazu passt, dass sich viele Schwule und Lesben so vehement nach der Ehe sehnen. Ich persönlich verstehe das nicht. Wir haben doch nicht jahrzehntelang gekämpft, um uns freiwillig einem Institut zu unterwerfen, das dank des Ehegattensplittings die ungleiche Partnerschaft befördert! Ich kann mir das nur mit dem Wunsch nach bürgerlicher, von den Heteros vorgelebter „Normalität“ erklären. Einige wünschen sich auch einen „normaleren“ CSD – zu viel Fummel mindere die Akzeptanz, lautet ihr Argument. Sie vergessen, dass 1969 in der Christopher Street nicht Anzugträger, sondern Dragqueens für unsere Rechte demonstriert haben.

Ein Freund von mir sagt gern: „Fürs straight acting gibt es keinen Oscar, Schätzchen.“ Meine Schauspielkünste sind eh begrenzt, daher: Nein, ich wäre nicht lieber hetero. Und ich kenne auch niemanden in meinem queeren Bekanntenkreis, bei dem oder der das anders wäre. Ich empfinde es eher als befreiend, dass ich das ganze Hetero-Klimbim nicht mitmachen muss. Auf Alltagsdiskriminierungen könnte ich natürlich dennoch gut verzichten.

Womöglich kann ich mir das Hetero-Sein aber einfach nur nicht vorstellen, weil ich es nie praktiziert habe. Deswegen ein Vorschlag: Wollen wir einfach mal eine Woche tauschen, lieber Sebastian? Sie homo, ich hetero? Ich nehme dann auch das mit Lothar Matthäus und Eva Herman zurück. Die beiden als Rollenvorbilder hat die Heterosexualität wirklich nicht verdient.

P.S.: Lebte ich in Russland, würde ich die Frage vielleicht anders beantworten.

Tilmann Warnecke

Mamma mia

Wenn ein lesbisches Paar ein Kind bekommen will – wie wird entschieden, welche der beiden Frauen es austrägt?

Jan, Kreuzberg

Da haben verschiedene Paare verschiedene Strategien. Klar ist aber: Diese Frage gehört zu den leichteren, wenn es darum geht, dass zwei Frauen zusammen ein Kind bekommen. Am einfachsten ist es, wenn sich ohnehin nur eine der beiden vorstellen kann, schwanger zu werden. Hegen beide den Wunsch, werden sie eine pragmatische Lösung suchen: Welche der beiden ist jünger? Bei welcher ist aufgrund der gesundheitlichen Konstitution ein reibungsloser Schwangerschaftsverlauf zu erwarten?

Soll es nicht nur bei einem Kind bleiben, einigen sich Frauenpaare auch gern auf ein Wechselmodell: Erst wird die Ältere schwanger, dann die Jüngere. Am besten jeweils mit dem Samen desselben Spenders. Womit wir bei der weitaus schwierigeren Frage wären: Woher kommt das Sperma? Die Dienste von Samenbanken sind teuer, und sie in Anspruch zu nehmen, kompliziert. Daher suchen lesbische Paare oft im Freundes- und Bekanntenkreis nach einem Spender. Das kann zu einem langen Auswahlprozess führen, bei dem es vor allem abzuklären gilt, welche Rolle der biologische Vater im Leben des Kindes spielen soll. Mal einigt man sich darauf, dass er sich komplett raushält, mal wird eine Dreier- oder Viererkonstellation angestrebt, in der das Kind bei den Frauen wohnt, der Vater aber regelmäßig Umgang hat. Üblicherweise adoptiert die Partnerin der Mutter das Baby, womit Unterhaltsansprüche gegenüber dem Samenspender erst mal ausgeschlossen sind.

Bei der Gründung von Regenbogenfamilien gibt es also vorher viel mehr zu besprechen und zu regeln als bei einer traditionellen Familiengründung. Spontaneität gehört bei queeren Familien selten dazu – dafür sind alle Babys Wunschkinder. Sie wachsen in einer noch relativ neuen Familienform auf, in der vieles erst ausgehandelt wird, was in Vater-Mutter-Kind-Haushalten häufig unhinterfragt läuft wie schon seit Jahrhunderten.

Darin liegt ein großes Glückspotenzial. Ein Baby, das Mama, Mami, Papa und vielleicht sogar noch Papi an seiner Seite hat, wird die vielfache Aufmerksamkeit nicht nur wegen des erhöhten Geschenkeaufkommens zu Geburtstagen zu schätzen wissen. Aber Achtung: Regenbogenfamilien können Neidgefühle beim Nachwuchs traditioneller Familien auslösen. So brach neulich in einer Berliner Kita ein Mädchen in Tränen aus, dessen Freundin bei einem Lesbenpaar groß wird: „Ich will auch zwei Mamas“, schluchzte die Kleine.

Nadine Lange

Von der Rolle

Auch wenn beide Partner biologisch das gleiche Geschlecht haben: Ist bei Homo-Paaren nicht trotzdem auch immer eine/r der Mann und eine/r die Frau?

Annemarie, Charlottenburg

Nö! Aber ich kann mir denken, wie Sie auf die Frage kommen. Denn bei Hetero-Paaren scheint ja immer einer der Mann und eine die Frau zu sein. Da liegt es erst mal nahe, diese Rollenaufteilung auch bei Homos zu vermuten. Außerdem können viele Heteros kaum glauben, dass Begehren zwischen zwei Frauen und zwei Männern überhaupt möglich ist. Darum stellen sie sich vor, dass die Homos die Heterowelt, so gut es geht, nachspielen müssen.

Es ist ja auch richtig, dass Homos und Heteros viel gemeinsam haben. Homos fallen schließlich nicht einfach vom Himmel. Sie wachsen in einer heterosexuell geprägten Umwelt auf. Ihr Verständnis der Geschlechterrollen und ihr Begehren wird modelliert bei der Lektüre heterosexueller Literatur oder heterosexueller Filme. Weil Homos von dieser Welt sind, kleiden sie sich üblicherweise auch nicht in Fantasie-Uniformen, sondern greifen auf das Verfügbare zurück, genau wie Heteros.

Bei Homos ist die Vielfalt dabei aber größer. Es gibt völlig rollenkonforme Homos: Lesben, die nicht auf den ersten Blick als solche erkannt werden, weil sie „feminin“ aussehen. Und Schwule, die als harte Männer auftreten, muskelbepackt und mit Lederhosen. Viele andere weichen in ihrem Bekleidungsstil und in ihrem Verhalten von der heterosexuellen Norm ab. Manche schwule Männer schmachten Operndiven an, unter lesbischen Frauen scheint es überdurchschnittlich viele Motorrad- und Fußballfans zu geben. Andere Homos changieren androgyn zwischen den Polen.

Erotische Spannung kann zwischen allen Ausprägungen und in allen Kombinationen entstehen. Keineswegs muss immer eine/r im Paar „maskulin“ und der/die andere „feminin“ auftreten, weder auf der Straße noch im Bett. In der Schöneberger Frauen-Tanzschule Donnadanza lernen Lesben gleich die Schritte für beide Rollen: führen und folgen.

Homos unterlaufen heterosexuelle Geschlechterstereotype, deuten sie um, machen aus starren Vorschriften ein Spiel. Darum fühlen sich Homos auch keineswegs als missglückte Kopien von Hetero-Originalen. Vielmehr verstehen sie ihre „Maskulinität“ und „Femininität“ (und alles dazwischen) als Ausdruck einer Geschlechteridentität jenseits von „Mann“ und „Frau“. Sie genießen die Freiheit, ihre Persönlichkeit auszuleben, zelebrieren sie sogar.

Und ist bei den Heteros eigentlich wirklich immer einer der „Mann“ und eine die „Frau“? Zum Glück immer seltener. Auch Heteros lieben die Freiheit.

Anja Kühne

Unerwünschte Flirts