Cover
Werner Münchow
SCHARFES GLAS
Ein Krimi mit Datterich
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2010 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Schutzumschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-024-6

1

„Mer sinn geschwolle, Freindche.“
„Ich kumm heit uf kahn grihne Ast. Wann Se die Spitz zu dritt gehatt hette.“
„Ja, wann is kah Keeskorb.“
„Geld will ich sähe, meine Herrn. Des leer Stroh dräsche duschur bin ich dick. Von Ihne krie ich jetz zwelf Kreizer, so viel mache grood mei zwah halwe Schoppe.“
„Glei, Freindche. – Lisettche!“
„Was steht zu Dienste?“
„Kenne Se mer en breißische Dahler wächsele?“
„Warum dann net?“
„Schee von Ihne. Des wollt ich nor wisse – gehn Se nor widder; – ich wollt nor emol Ihne Ihrn gute Wille sähe.“
Reiser saß wie jeden der letzten Abende auf seinem Platz in der hinteren Ecke der Gaststube. Er hielt die Zeitung ein wenig gesenkt und beobachtete über ihren Rand hinweg die Szene am Nachbartisch. Vier Männer spielten Solo, eine Runde nach der anderen, und tranken Wein dazu oder umgekehrt. Der ihm den mächtigen Rücken zuwandte, hatte soeben seine Karten triumphierend auf den Tisch geblättert, worauf sein hagerer Gegenüber in ein jämmerliches Klagen ausbrach. Der lange Schlacks mit dem aufgedunsenen Gesicht hatte über den Tisch und quer durch den Saal nach der Kellnerin gerufen. Sie hatte sich zu ihm bemüht, nur um nach wenigen Worten mit empörtem Schnauben und beleidigtem Blick wieder ihren Posten am Tresen einzunehmen.
Aus dem, was er sah, hatte Reiser sich zusammengereimt, worum es gehen mochte. Auf das, was er hörte, konnte er sich allerdings keinen Vers machen. Seine eigenen Landsleute waren auch schon mal schnoddrig, barsch oder vorlaut, und bei dem einen oder anderen Ausdruck mochte ein Ortsfremder fragend die Stirn runzeln. Aber wer des Deutschen einigermaßen mächtig war, folgte jedem Gespräch in Berlin ohne Probleme. Hier in Darmstadt hatte der Auswärtige keine Chance. Zumindest nicht, wenn er von Havel und Spree kam und Main und Rhein bisher nur aus Landkarten kannte.
Wie selbstvergessen schob Reiser sich einen Streifen Käse in den Mund, ließ ein Stück Brot folgen, kaute missmutig darauf herum, nippte an seinem Wein, stellte das Glas wieder ab und verharrte reglos, den Kopf in die Hände gestützt. Für eine Weile schien es, als betrachtete er andächtig das Stillleben vor ihm auf der blank gescheuerten Tischplatte, das Weinglas, Messer und Gabel, den Kanten Brot und das Holzbrett mit dem restlichen Zipfel Wurst, einem Stück Salzgurke und den Käsestreifen, die exakt kreisrund aufeinander gelegt serviert worden waren und nun einem halb zusammengeklappten Fächer glichen.
Schließlich hob er den Kopf, ließ seinen Blick wie abwesend durch die Gaststube schweifen, fixierte einen unsichtbaren Fleck unter der Decke, betrachtete versonnen den Spruch an der Wand, den jemand in verschnörkelten Buchstaben auf den ehemals weißen Putz gemalt hatte: „Wer den Apfel nicht ehrt, ist den Schoppen nicht wert“. Eine Fliege lief in sinnlosem Zickzack mal hierhin, mal dorthin über den Tisch, um vor jedem Richtungswechsel abrupt stehen zu bleiben. Es machte den Eindruck, als sei sie kurzatmig. Bei ihrer nächsten Verschnaufpause fing Reiser sie mit einer blitzschnellen Bewegung in der hohlen Hand, die er wieder öffnete, als er das Kitzeln der wild schlagenden Flügel auf seiner Handfläche spürte.
Wer ihn beobachtete, mochte glauben, Reiser versuche, die Zeit tot zu schlagen, und kümmere sich bei seinem belanglosen Treiben um nichts und niemanden. Umso mehr würde dieser Beobachter sich allerdings wundern, dass dem scheinbar Geistesabwesenden kaum etwas entgangen war, was um ihn herum passierte. Keiner scherte sich indes um den stillen Gast in der Ecke und das, was er wahrnahm oder nicht.
Reiser hatte jahrelange Übung darin, hinter seiner stoisch gelangweilten Miene jeden noch so kleinen Hinweis zu registrieren. „Uhu“ wurde er genannt, weil man ihm nachsagte, er bekäme sogar mit, was in seinem Rücken geschah, ohne dabei wie dieser gefiederte Nachtjäger seinen Kopf nach hinten drehen zu müssen. So wie man ihm nicht ansah, was er gerade mit leerem Blick verfolgte, vermutete auch niemand, dass ihm noch im größten Getöse kein wichtiges Wort entging. Wenn es sein musste, konnte er Gesprächen folgen, die drei Tische weiter geführt wurden, und dabei geschwätzige Tischnachbarn durch Gesten, Mimik und kurze Bemerkungen glauben lassen, er widme ihnen seine ganze Aufmerksamkeit.
Leute vom Fach sprachen von „ausbaldowern“. Er hasste jedoch, wenn man es von ihm sagte. Außerdem würde er hier ganz aus der Übung kommen. Was nutzte es, dass er jeden einzelnen Buchstaben, der geflüstert wurde, deutlich hörte, die Worte aber nicht verstand. Er war sich nicht einmal sicher, ob er aus den Gesprächen am Nachbartisch klug würde, wenn die Herren sie ihm in Druckschrift vorlegten.
Er setzte sich aufrecht, holte mit hoch gezogenen Schultern tief Luft und überlegte, ob er nicht seine Zeit vertat, als die Tür zur Gaststube aufflog. Einige Gäste warfen einen flüchtigen Blick zum Eingang, die übrigen zeigten keine Reaktion. Niemand begrüßte den Neuankömmling, der eintrat. Aus dem Augenwinkel nahm Reiser einen Gendarmen wahr, der angestrengt die Anwesenden taxierte. Reiser überlegte, ob er aufstehen sollte, als ginge er zum Abort, um dann das Lokal durch die Hintertür zu verlassen. Aber wieso eigentlich? Warum sollte ein Polizist ihn ausgerechnet hier suchen? Sicherheitshalber rutschte er auf dem Stuhl etwas tiefer.
Schon nach dem zweiten Schritt war klar, dass die Uniform auf seinen Tisch zusteuerte. Reiser musterte ihren Träger abschätzend. Keine Spur von preußischem Drill bei dem Kerl, einen Daumen nachlässig hinter den Schulterriemen geklemmt. Es würde leicht sein, ihm das Gewehr zu entreißen, bevor er es überhaupt in Anschlag brachte. Das Gesicht wollte er sehen, wenn der Trottel plötzlich in die Mündung seiner eigenen Waffe blickte.
Für einen unbemerkten Abgang war es jedenfalls zu spät. Vielleicht war es ja eine Verwechslung, die der Soldat beim Nähertreten bemerken würde. Der baute sich mit starr geradeaus gerichteten Augen vor ihm auf. Seine Miene nahm einen gewichtigen Ausdruck an. Alles an dem Burschen zeigte, wie er sich mühte, einen hoheitlichen Auftrag nur ja richtig und möglichst stramm durchzuführen. Die Lippen bewegten sich mechanisch und stumm wie bei einer Stockpuppe. Der Büttel sagte wohl einen sorgfältig formulierten Text noch einmal unhörbar auf, um ihn dann ohne Versprecher, mit der gebotenen Betonung und dem notwendigen Nachdruck vorzutragen.
Was zum Teufel geht hier eigentlich vor, schoss es Reiser durch den Kopf. Seit er vor gut einer Woche angekommen war, hatte er sich so unauffällig wie möglich verhalten. Keiner, den es nicht anging, wusste um seine wahre Identität und was er hier tat. Und nun stand plötzlich wie aus dem Nichts diese Vogelscheuche vor ihm. Am Nachbartisch scharrten Füße. Kurze Blicke wurden herübergeworfen. Das dichte Stimmengewirr begann, sich im Qualm und Mief der Gaststube zu verflüchtigen.
„Der Untersuchungsrichter Bertram schickt mich, Sie umgehend zu ihm zu bringen.“
Viel lauter konnte das Klappmaul wohl nicht bellen. Selbst der letzte Zecher am entferntesten Tisch hörte mit. Reiser ließ die Zeitung achtlos fallen, schob mit einer raschen Handbewegung Glas und Teller beiseite und stand auf, um eilends das Lokal zu verlassen, bevor der Tölpel noch mehr herausposaunte.
„Es geht um die tote Leiche, die gefunden wurde.“
Eben noch hatten die Tischnachbarn verstohlen anzügliche Blicke ausgetauscht, mit freundlichem Kopfnicken und erhobenem Glas lautlose „Wohlsein“ über den Tisch gewünscht und erwidert, der Bedienung quer durch den Saal viel sagende Handzeichen gegeben, den Nachschub nicht zu vergessen. Mit einem Schlag blieben die Augen der Zecher, Esser, Schwätzer und Kartendrescher starr geradeaus gerichtet.
Was mochte dieser Ochsenkopf jeden Moment wohl noch verkünden? Reiser machte eine hastige Handbewegung, von der er hoffte, sein Gegenüber würde sie verstehen und niemand sonst etwas bemerken. Das Gegenteil war der Fall. Der Dämel nahm das Handzeichen als Aufforderung, auch den ausstehenden Rest der so gewissenhaft vorgekauten Benachrichtigung loszuwerden.
„Folgen Sie mir, Herr Kommissar “.
Nun war es also heraus. Hatte der Narr nicht mitbekommen, dass er schon dabei war, genau das zu tun? Wozu die Aufforderung? Die drei Handwerksgesellen, die in ihrem Trinklied innegehalten hatten, drehten wie auf Kommando ihre Köpfe herum und starrten Reiser mit offenen Mündern an. Die übrigen Gäste bewiesen, dass sie ausreichend Übung hatten, nichts von dem zu hören und sehen, was um sie herum passierte. Sie musterten die Karten in ihren Händen, als wäre ein völlig unbekanntes Blatt ausgegeben worden, dessen Farben und Werte sie zu entziffern versuchten, schauten versunken dem Nachbarn ins Gesicht, der ihnen gerade eine völlig neue Seite seines Charakters offenbarte, kontrollierten aufmerksam den Füllstand ihres Glases, rieben versonnen Nasen, Ohren oder sonstige Körperteile, wo auch immer sich ihre Hände gerade befanden.
Bleierne Stille hatte das an- und abschwellende Getöse der Gaststube verdrängt. Niemand sagte auch nur noch ein einziges Wort. Gleich würden die Herrschaften sich mit Gebärden unterhalten, wie Taubstumme, aus lauter Rücksicht, dieses einsame Gespräch nur ja nicht zu stören.
Reiser kochte innerlich. Weshalb saß er hier wohl in unauffälligem Zivil und stolzierte nicht in einer dieser farbenprächtigen Uniformen umher? Hatte er der großherzoglichen Gendarmerie nicht ausführlich von den neuen Methoden berichtet, mit denen sie in Berlin so erfolgreich Hinweise sammelten, Ermittlungen führten, Ganoven auf die Schliche kamen?
Ohne den Büttel eines Blickes zu würdigen und ihm auch nur ein einziges Wort zu sagen, schob er mit ausdrucksloser Miene seinen Stuhl beiseite und langte im Gehen hinter sich, um den Mantel vom Wandhaken zu nehmen. Der Gendarm machte zackig kehrt und stelzte zum Ausgang. Reiser folgte ihm, so schnell es die eng stehenden Tische zuließen. Die Gäste begannen schon, ihre Kehlen zu räuspern und Lippen zu benetzen. Reiser warf die Tür mit wütendem Schwung hinter sich ins Schloss.
Der Lärm, der vor wenigen Momenten so leicht verflogen war, hatte sich in der Zwischenzeit zusammengebraut und hing, von niemandem bemerkt, wie eine dunkle, schwere Wolke unter der Decke der Gaststube. Das Krachen der Tür löste ein Donnergrollen aus, das in Windeseile zu einem wahren Orkan anschwoll, bei dem keiner mehr sein eigenes Wort verstand.
Vor dem Wirtshaus trat der Gendarm von einem Bein aufs andere, unschlüssig, ob er vorangehen oder auf einen Befehl zum Abmarsch warten sollte. Reiser schnaubte nur „Los“. Der großherzogliche Landjäger setzte sich würdevoll in Bewegung, um die wichtige Persönlichkeit durch die Gassen der Altstadt zu geleiten. Reiser konnte sich ein „mit Verlaub, es eilt“ nicht verkneifen. Sofort verfiel sein Führer in eine Art Laufschritt, dessen Echo durch die Gassen hallte. Reiser hatte Mühe, zu folgen.
Er kannte sich in den verwinkelten Gassen des alten Darmstadt nicht so recht aus. Einmal sichtete er vor sich im herbstlichen Abendnebel einen freien Platz, der dann zu seiner Linken wieder auftauchte. Das mussten Marktplatz oder Paradeplatz sein, die das Schloss umgaben. Nach einer scharfen Kehre machte der Soldat plötzlich Halt. Reiser, der mittlerweile in einen stoischen Trott verfallen war, hätte ihn fast von hinten umgerannt. Ein kurzes „Hier“ bremste ihn gerade noch rechtzeitig. Anscheinend waren sie am Ziel.

2

Reiser stand vor dem Eingang eines der Fachwerkgebäude, wie sie dicht an dicht die ganze Altstadt besiedelten. Die solide, schlicht gestrichene Haustür war geschlossen. Neugierige Gaffer, die zu jeder sich bietenden Gelegenheit wie aus dem Nichts erschienen, sollten wohl ausgesperrt werden. Der Gendarm pochte an die Tür und verlangte in barschem Ton Einlass. Von innen war das Quietschen aufeinander schabenden Eisens zu hören. Reiser drückte die Klinke, öffnete die Tür und prallte zurück. Das schummrige Licht ließ zwar keine Einzelheiten erkennen, aber es war deutlich zu sehen, dass Flur und Treppe voller Menschen standen, und man konnte förmlich spüren, wie sie gebannt lauschten, was im ersten Stock des Hauses vor sich ging. Jemand hatte wohl den Riegel vorgelegt, damit die Enge nicht erdrückend wurde, wenn sich hier die halbe Stadt drängelte.
„Wo bleibt denn der Herr Kommissarius aus Berlin? Ich habe Dringenderes zu tun, als auf ihn zu warten und ihm zu zeigen, wie effizient die Justiz des gnädigen Großherzogs arbeitet.“
Untersuchungsrichter Bertram beurteilte seine Leistungen am liebsten selber, hatte aber gerne Untergebene dabei, die er verantwortlich machen konnte, wenn mal etwas schief ging. Reiser war sich unschlüssig, ob ein deutliches „Hier“ am Platze sei, verzichtete aber darauf, sich zu melden. Nur, wie sollte er dort hin kommen, wo eben nach ihm verlangt worden war? Die Leute standen so dicht, dass es auf der Stiege kein Vor und Zurück gab. Entschlossen senkte er den Kopf in den hochgeschlagenen Kragen seines Mantels und murmelte vernehmlich vor sich hin.
„Leute, macht Platz für einen, der den Toten ihr Recht verschafft und die Lebenden ihm ausliefert!“
Dabei zwängte er sich durch die Menge, stieß mit einem Ellenbogen die neben ihm Stehenden zur Seite und zog sich gleichzeitig mit dem anderen Arm an den Kleidern der vor ihm Stehenden die Treppe hoch. Als er sich auf der obersten Stufe endlich aus dem zähen Gedränge herausgewunden hatte, blickte er auf die gezückte Waffe eines Feldjägers.
„Lass er mich durch!“
Stierer Blick.
„Zur Leiche.“
Keine Reaktion.
„Zum Untersuchungsrichter.“
Der Säbel machte eine Scheinattacke. Reiser wich zurück. Im Hintergrund befahl jemand lauthals „Ruhe!“. Das Scharren und Rascheln auf der Treppe hielt inne.
„Kommissar Reiser?“
„Herr Untersuchungsrichter?“
„Hier im Zimmer!“
„Geben Sie Befehl!“
„Das kann ich nicht.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Sie sind preußischer Beamter.“
„Nicht mir, Ihrer Wache.“
„Mach er Platz!“
Der Säbel senkte sich.
Reiser zwängte sich an dem Soldaten vorbei und betrat einen Raum, in dem er zunächst kaum etwas sah, so duster, wie er war. Auf dem Fußboden stand eine Ölfunzel und blakte vor sich hin. Neben ihr zeichnete sich in Umrissen etwas ab, das Reiser beim Nähertreten als menschlichen Körper erkannte, auf dem Rücken liegend, Beine zur linken Seite eingeknickt, Arme angewinkelt, Hände neben den Hüften flach auf dem Boden, helles Hemd, mitten darauf eine dunkle Verfärbung, rund 10 Zoll im Durchmesser. Woher sie stammen mochte, ließ sich auf den ersten Blick nicht erkennen. Bauch und Wülste an den Hüften ließen Reiser vermuten, dass dies kein junger Mann mehr gewesen sein mochte. Obwohl, seit die Zeiten ruhiger und beschaulicher geworden waren, setzten die Leute früher an.
Vom Gesicht war fast nichts zu sehen. Es lag im Dunkeln, auf der dem Öllicht abgewandten Seite. Reiser beugte sich über den Körper, berührte den Fleck und zerrieb, was an seinem Finger hängen geblieben war. Gleichzeitig sog er tief Luft durch die Nase. Ohne Zweifel Blut, womit er aber auch schon am Ende seiner Erkenntnis angelangt war. Für eine genauere Untersuchung war es einfach zu dunkel. Offensichtlich hatte sich niemand darum gekümmert, für mehr Licht zu sorgen, und seien es auch nur einige Kerzen, die man um den Körper herum aufgestellt hätte. Er streckte die Hand aus, um das Lämpchen näher heranzuholen.
„Aah, da ist ja der Herr Kriminalkommissar!“
Bertram stand im Zimmer, hinter ihm ein Büttel mit einer Sturmleuchte in der Hand. Sie waren wohl aus der Nachbarwohnung gekommen.
„Hat unser strammer Bote Sie der sanften Umarmung der Muße entrissen und der Pflicht in ihre groben Pranken getrieben? Das tut mir Leid, aber so pflege ich es auszudrücken, wer Recht und Ordnung ehrlich mag, kennt Stunde nicht und auch nicht Tag.“
Offenbar hatte der Richter nicht irgendeinen Gendarmen geschickt, der zufällig in der Nähe war, als er jemanden brauchte. Er kannte den Mann, hatte ihn gewählt, weil er wusste, wie strohdumm er war und wie tölpelhaft er sich benehmen würde.
„Haben Sie unseren Kammermusikus Niklas eigentlich gekannt? Nein? Da sind Sie wohl einer der wenigen.“
Reiser hatte weder jemals den Namen gehört noch die Person gesehen, vermutete aber, dass es sich dabei um den Toten handelte.
„Wohnte der Mann hier?“
„Was glauben Sie denn, wie er hierher gekommen ist?“
„Wurde die Wohnung schon durchsucht?“
„Warum suchen? Sehen Sie sich um, gibt es einen Schrank, eine Kommode oder gar ein geheimes Kabinett? Es liegt alles offen herum.“
„Sind die genaueren Tatumstände schon bekannt?“
„Wie meinen Sie das?“
„Die Art und Weise, auf welche dieser Mensch vom Leben in den Tod befördert wurde.“
„Lieber Herr Kriminalkommissar, Ihre Späße können Sie sich schenken. Vielleicht ist das Ihre Art in Berlin. Wir hier nehmen unsere Arbeit ernst. Oder wollten Sie mich etwa aufs Glatteis führen?“
„Ich bitte um Verzeihung Herr Untersuchungsrichter. Das war keineswegs meine Absicht. Aber meine Neugierde, zu erfahren, was Sie schon herausgefunden haben, überwältigte mich.“
„Na schön, da Sie nun mal aus dem großartigen Berlin in unser kleines Darmstadt gekommen sind, will ich Ihnen zeigen, dass wir durchaus nicht hinter dem Mond leben, auch unsere Leichen haben und meistens recht bald wissen, was sich zugetragen hat. So schnell wie in diesem Fall klappt es allerdings nicht immer.“
Es entstand eine Pause, während der Reiser nicht wusste, ob er Bertram drängen sollte, fortzufahren, um damit sein Interesse an dessen Ausführungen zu beweisen, oder ob er es mit einer rhetorischen Kunstpause zu tun hatte, die er besser nicht unterbrach. Aber langes Schweigen kannte der Richter doch gar nicht. Er wollte sich wohl nur bitten lassen.
„Man weiß schon, wer der Täter ist?“
„Der Täter ist das Opfer.“
Was mochte Bertram damit meinen? Für ihn gab es doch nur Böse oder Gute, die einen die Täter, die anderen die Opfer. Wollte er wirklich sagen, der Täter hätte nicht aus niederer Gesinnung oder verbrecherischem Antrieb gehandelt? Er sei Opfer einer übergroßen Macht geworden, die ihn zur Tat gezwungen hatte? Jemand, den das Leben in eine aussichtslose Lage gebracht hatte, aus der es keinen anderen Ausweg gab, als zu töten?
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Ja, sehen Sie denn nicht? Beide liegen vor Ihnen. Opfer und Täter sind ein und dieselbe Person.“
Das hätte Bertram auch einfacher sagen können. Oder fand er seine verquere Ausdrucksweise witzig? Selbstmord war natürlich möglich. Aber wer versucht, sich auf derart qualvolle Weise umzubringen? Einen solchen Fall hatte er noch nie erlebt. Es wurde erzählt, dass in Japan grimmige Kriegsfürsten sich bisweilen den Bauch aufschlitzten, wenn sie einen Tod in Ehre dem Leben ohne sie vorzogen. Und angeblich haben sich im alten Rom pflichtbewusste Feldherren ins Schwert gestürzt, wenn ihnen das Kriegsglück untreu wurde. Nur, ein Musiker, in Darmstadt, im Jahre 1834?
Aber das war ja alles reine Spekulation. Er war eben erst angekommen, hatte sich noch nicht einmal umgesehen, geschweige denn mit seiner Untersuchung begonnen. Solange dieser Wichtigtuer hier bliebe, käme er auch nicht dazu. Wie konnte man ihn nur los werden? Am besten, er brachte Bertram ohne viel Federlesens dazu, ihm die brillante Lösung des Falles zu präsentieren.
„Darf ich erfahren, womit er es vollbracht hat, oder haben Sie die Tatwaffe, nun, wie soll ich sagen, das Suicidinstrument, also das corpus delicti, schon ins Gericht geschafft?“
„Wie denn, bei dem Gedrängel da draußen.“
Der Richter hätte die Leute ja wegschicken lassen können. Warum tat er es eigentlich nicht? Hoffte er, unter ihnen Zeugen zu finden? Unsinn, mit Selbstmorden sind die Leute so diskret wie mit kaum etwas anderem. Niemand lädt dazu ein, antike griechische Philosophen einmal ausgenommen. Es stört das Intime des Aktes, und es gehört sich auch nicht. Bertram hatte einfach gern Publikum und würde es wegschicken, sobald er es nicht mehr brauchte.
„Darf ich es sehen?“
„Das tun Sie doch die ganze Zeit, es steht deutlich sichtbar vor Ihnen.“
Reiser schaute sich genauer um. „Es steht“ hatte Bertram gesagt. An der Wand hing eine einfache Leiste, in die einige Haken geschraubt worden waren. Daran baumelten ein kariertes Tuch und ein Paar Hosenträger. Auf dem Tisch lag ein Geigenbogen, der ein Notenblatt beschwerte. Auf dem Sitz des einzigen Stuhls, der zu sehen war, lag säuberlich zusammengelegt eine frisch gebügelte Hose. An ihm lehnte ein Gehstock. Ein Rapier, war es das? Er nahm dem Gerichtsdiener die Sturmleuchte aus der Hand, ging auf den Stuhl zu und stutzte.
In der entfernten Ecke des Zimmers lehnte ein Cello, das ihm in dem schummrigen Licht bisher nicht aufgefallen war. Er schaute genauer. Um den Stachel herum hatte sich auf der Diele ein kleiner Fleck gebildet. Reiser trat näher. Die trockene Oberfläche gab unter dem Druck seines Fingers nach. Darunter fühlte es sich klebrig an, Blut. Worüber sollte er sich mehr wundern, über die Tatsache, dass er das große Instrument übersehen hatte, oder über die Vorstellung, wie jemand sich damit das Leben nehmen konnte?
„Wie hat er das denn angestellt?“
Die Frage war ihm einfach so herausgerutscht und schien Bertram viel ungläubiger zu klingen, als sie sollte. Der jedenfalls warf ihm einen gereizten Blick zu und verfiel in einen ziemlich blasierten Tonfall und in eine Lautstärke, die in dem kleinen Raum nicht notwendig gewesen wäre. Mochte das Publikum ruhig mitbekommen, wie der Untersuchungsrichter aus Darmstadt diesem ach so klugen Ermittler der Berliner Kriminalabteilung die Aufklärung des Falles erläuterte.
„Mein lieber Kommissar Reiser, gründliche Untersuchung und kritisches Nachdenken in allen Ehren. Aber falls Sie in Berlin immer so lange brauchen, wenn die Dinge klar vor Augen liegen, werden Sie nicht nachkommen und bald viele ungelöste oder soll ich sagen unbearbeitete Fälle haben.“
„Sie glauben, der König würde das durchgehen lassen?“
„Reden Sie keinen Unsinn, niemand behauptet so etwas. Ich meinte das metaphorisch. Was aber diesen Mann angeht, der hier vor uns liegt, so hat er sich selbst entleibt. Ob mit Vorsatz, kann uns egal sein. Ich bezweifle es aber. Viel eher wird es ein Unfall gewesen sein. Der Herr Niklas war uns bekannt. Als er jünger war, hat er seine Arme gern um die Taille mancher Frau gelegt, von der sich sagen ließ, sie hätte vorzugsweise Form und Maße seines Instruments gehabt und unter seiner meisterlichen Bogenführung auch ähnliche Töne von sich gegeben. In den letzten Jahren hatte er wohl sein Pulver, wenn man es so nennen will, verschossen und trank ein wenig viel. Also wird er sein Liebchen in den Arm genommen haben, als er sich wieder mal einen auf die Lampe gegossen hatte, um mit seinem Gefiedel ehrbaren Bürgern im Ohr zu liegen, ist dabei gestürzt und hat sich dieses spitze Ding da unten in den Leib gerammt. Mich wundert, dass damit nicht viel häufiger etwas passiert.“
Bertram wies mit einem für seine Kürze zu dicken Finger auf den Stachel des Instruments. Reiser schaute pflichtschuldig in die Richtung. So, so, da ist der Herr Richter ja ordentlich in Rage geraten und noch dazu richtig poetisch geworden. Warum wohl? War er neidisch auf diesen armen Schlucker, dessen Finger solch entzückende und entzückte Töne hervorbringen konnten? Hasste er Leute wie diesen Musiker, die ihr Leben lebten, ohne nach Ehre, Rang und Ruhm zu streben? War für ihn jemand, dessen ganzes Hab und Gut aus den notwendigsten Möbeln, ein paar armseligen Kleidern und einem altgedienten Musikinstrument bestand, überhaupt ein vollwertiger Mensch? Befiel ihn bei der Vorstellung, wie viele Frauenzimmer der Strolch wohl verdorben haben mochte, bigotte Wut oder blanker Neid? Wie groß musste der Groll erst sein, dass er dieses sittenlose Individuum nun nie mehr für sein schamloses Treiben würde zur Rechenschaft ziehen können? Fast hätte Reiser über diesen Fragen, die er sich in Gedanken selber stellte, die überhört, die Bertram quer durch das Zimmer an ihn richtete.
„Nun, verehrter Herr Reiser, sehen Sie, wie wir hier Fälle aufklären?“
Er schaute Bertram an, machte ein belangloses Gesicht und suchte nach einer Antwort, die es ihm erlaubte, sich endlich in Ruhe dem toten Cellisten und seinem Instrument widmen zu können, ohne dass es danach aussah, als zweifelte er die Ergebnisse und Fähigkeiten des Richters an. Und ohne ihm Honig um den Bart zu schmieren.
„Ja, erstaunlich. Dennoch würde ich gerne die Details im Einzelnen betrachten und meine Untersuchungsmethoden an ihnen schärfen. Der Fall ist doch recht ungewöhnlich, und man lernt nie aus, wie man so zu sagen pflegt.“
„Nun, ich hoffe, ich habe bereits etwas zu Ihrem reichen Erfahrungsschatz beitragen können. Untersuchen Sie den armen Sünder und sein Weniges, das er besaß, nur in Ruhe, wenn Sie meinen, es könne für weitere Erkenntnisse von Nutzen sein. Ich für meinen Teil betrachte den Casus für abgeschlossen und werde mich zurückziehen.
Ich muss Ihnen allerdings etwas auferlegen. Ein genauer Bericht der Ermittlungen ist notwendig, damit wir ein ordnungsgemäßes Protokoll der Untersuchung anfertigen können. Widmen sie dem Rapport bitte angemessene Priorität. Papier ist ungeduldig, zumindest, was das Amt betrifft. Und schließen Sie hinterher nur die Tür gut zu, damit nichts wegkommt. Wir wollen doch nicht, dass die Erben des Bedauernswerten ganz leer ausgehen.“
Der Untersuchungsrichter deutete eine knappe Verbeugung an und wandte sich zur Tür. Als er auf den Flur trat, standen die Leute immer noch dicht gedrängt auf der Treppe und versuchten, mucksmäuschenstill zu erlauschen, was es gleich lauthals herumzuposaunen galt.
„Gerichtsdiener, das Treppenhaus räumen, und zwar mit Bravour. Bewohner des Hauses gehen in ihre Stuben.“
Erst gab es ein enttäuschtes Murren, dass die Vorstellung nun zu Ende sein sollte, dann ging es polternd die Treppe hinab und eilends die Gasse entlang. Schließlich fiel die Haustüre ein letztes Mal ins Schloss, und im Haus herrschte endlich eine Ruhe, die Reiser erleichtert aufatmen ließ.
Er betrachtete das düster wirkende Musikinstrument. Wie kann einem der Stachel in den Leib gelangen? Er hatte noch nie ein Cello in der Hand gehabt. Sollte er es ausprobieren? Dazu müsste er es aus der Ecke nehmen. Hatte es dort gestanden, als Bertram zur Leiche gerufen wurde, oder hatte es auf dem Boden gelegen? Wenn es ein Unfall war, wie der Untersuchungsrichter glaubte, musste es wohl so gewesen sein. Sicherlich war der Musiker mit seinem Instrument sorgsam umgegangen. Aber dass er sich damit versehentlich ersticht und es erst sorgsam in die Ecke stellt, bevor er in der Mitte des Zimmers sterbend zu Boden sinkt, war wenig wahrscheinlich. Wie konnte es überhaupt zu einem tödlichen Unfall kommen?
Reiser griff nach dem Hals des Instruments und trug es in die Nähe des Lichts. Tatsächlich hätte er sich mit einer unvorsichtigen Bewegung leicht eine Stichwunde zufügen können. Nur bestand die Gefahr bestand darin, sich den Stachel in den Fuß zu rammen, aber in den Leib? Er versuchte, das Cello auf den Kopf zu stellen. Das unhandliche Instrument rutschte ihm aus den Händen und fiel auf den Boden. Der Resonanzkörper gab einen tiefen Ton von sich, die Saiten schepperten. Es kam ihm vor, als habe der Tote kurz gezuckt.
Als es ihm endlich gelungen war, das Instrument umzudrehen, musste er es mit beiden Händen halten, damit es nicht umkippte. Wenn er versuchte, es so zu neigen, dass der Stachel seine Brust treffen konnte, rutschte es jedes Mal auf den Holzdielen ab. Unabsichtlich konnte der Stachel unmöglich die tödliche Wunde verursacht haben. Schon gar nicht bei jemandem wie Niklas mit seiner jahrelangen Routine.
Wenn nun Alkohol im Spiel war, wie Bertram so hämisch unterstellte, und Niklas der Übermut gepackt hätte? Reiser stellte sich den Musiker vor, wie er mit seinem Cello einen bizarren Tanz aufführt, bei einer wilden Drehung stolpert und mit dem Leib in den Stachel stürzt. Konnte das tatsächlich passieren? Musiker mochten ja allerlei Ulk veranstalten. Aber nächtliche Tänze mit einem Cello, das einen falschen Schritt mit einem tödlichen Stich bestraft? Musiker spielen auf Instrumenten, nicht mit ihnen. Außerdem, wenn Niklas derart betrunken war, dass er in sein Instrument stürzte, dann läge es jetzt zerstört am Boden und sein Besitzer mit ihm, todunglücklich zwar, aber durchaus am Leben. Allenfalls ein paar Holzsplitter hätten sich ihm in die Haut gebohrt.
Wenn Niklas selber für seinen Tod verantwortlich sein sollte, hätte er einen geeigneten Platz suchen müssen, um das Cello sicher abzustützen oder umständlich einzuklemmen, hätte es in eine geeignete Position bringen, mit beiden Händen festhalten und sich mutwillig in den Stachel stürzen müssen. Dann war es aber alles andere als ein zufälliger Unfall, sondern vorsätzlich geplant und sorgfältig ausgeführt. Dann war es Selbstmord.
Reiser nahm das Cello, stützte die Schnecke in einer Ecke das Zimmers ab, zielte mit dem Stachel auf seinen Bauch. So konnte es irgendwie gehen. Wie schräg musste er das Instrument halten, damit die Spitze des Stachels auf die Höhe der Einstichwunde des Toten wies? Er ging zur Leiche, legte das Cello neben sie und richtete das Instrument aus, bis der Stachel auf den dunklen Fleck wies und der Griff mit den Füssen eine Linie bildete. Er hätte gern mehr Licht gehabt. Das Sturmlicht hatte der Büttel mitgenommen und leuchtete dem Herrn Untersuchungsrichter einen bequemen Nachhauseweg. Das Flackern der Funzel auf dem Boden war unstet und dünn und ließ nicht erkennen, wo genau sich die Wunde befand. Das würde ihm morgen der Amtschirurg sagen können, wenn er den Toten untersucht hatte. Fürs erste mochte es genügen, den Stachel auf die Mitte des Blutflecks zu richten.
Reiser zog den Stuhl näher und setzte sich auf dessen Kante, den Kopf in eine Hand gestützt. Er massierte seine Schläfen, zwirbelte am rechten Ohrläppchen, legte die Hände flach aneinander gedrückt über die Nasenspitze und bog sie hin und her. Nach einer Weile erschien ihm der Anblick des toten Niklas neben seinem Musikinstrument, den Stachel aufs Herz gerichtet, wie das grelle Arrangement eines skurrilen Kultes. Reiser erhob sich, drehte das Cello und schob es über den Boden, sodass es neben dem Toten zu liegen kam, als ruhten dort zwei enge Freunde dicht beieinander.
„Das finde ich sehr teilnahmsvoll.“
Reiser schreckte hoch. Die Person, die sich in der Türöffnung abzeichnete, hatte er nicht kommen hören und konnte von ihr nicht mehr erkennen, als dass sie dunkle Kleidung trug. Ihre Stimme gehörte offensichtlich einer Frau. Er fühlte sich irgendwie ertappt und wünschte, er hätte das Cello besser an seinem Platz in der Ecke des Zimmers gelassen.
„Guten Abend, kannten Sie Herrn Niklas?“
„Ja, aber Sie habe ich nie mit ihm zusammen gesehen.“
„Was führt Sie her?“
„Dasselbe wie Sie. Man hat mir gesagt, Hellmuth liege tot in seinem Zimmer.“
„Kannten Sie ihn schon längere Zeit?“
„Seit 20 Jahren.“
„Dann sind Sie eine Verwandte?“
„Nein, mit denen hat er seit mehr als 30 Jahren nichts mehr zu tun.“
„Tatsächlich.“
„Wir sind zur gleichen Zeit in das Hoforchester des Großherzogs eingetreten.“
„Ah ja, interessant, also, Reiser mein Name.“
„Ich weiß, der Kommissar aus Berlin.“
„Hat es sich so schnell herumgesprochen?“
„Woher hätte ich es denn sonst wissen sollen?“
„Darf ich Ihren Namen erfahren?“
„Teresa Grüneisen, Sopran.“
Reiser hatte sich mittlerweile aufgerappelt und war nun unschlüssig, was er tun sollte. Er hätte sich mit der Dame gern über Niklas unterhalten. Aber war es nicht reichlich rücksichtslos, eine gute Bekannte des Toten auszuhorchen, kaum dass sie gekommen war, um ihn zu betrauern? Noch dazu hier in dieser engen Stube, mit dem Leichnam quasi auf Tuchfühlung? Ob sie den Fleck auf dem Hemde schon entdeckt hatte? Er rückte zwischen sie und den Toten. Sollte er sie hereinbitten oder fortführen? Die Frau unterbrach ihn in seinen Überlegungen.
„Sie gestatten?“
Zögernd trat er einen Schritt zurück. Sie kniete neben dem Toten nieder. Reiser stellte den Stuhl beiseite. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass ihre Schultern bebten, dann hörte er ein Schluchzen, schließlich erhob sie sich laut weinend und öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer, die er noch gar nicht bemerkt hatte. Er folgte ihr und setzte sich neben sie auf den Rand einer schmalen Liege, das einzige Möbel im Raum. Sie hatte die Hände vorm Gesicht und jammerte leise vor sich hin. Reiser war unschlüssig, was er tun sollte, tätschelte ein wenig ihre Schulter, wusste dann nicht, wohin mit seiner Hand, und ließ sie schließlich, ziemlich verloren, wie er fand, auf ihrem Arm liegen. Die Frau beruhigte sich allmählich.
„Wer macht so etwas, er konnte niemandem etwas zu Leide tun. Er war der gütigste Mensch auf der Welt.“
„Wir wissen noch gar nicht, ob überhaupt jemand etwas getan hat. Der Untersuchungsrichter glaubt an einen Unfall. Das dürften Sie wohl auch schon gehört haben.“
„Ja, und alle die Hellmuth eins auswischen wollen, zerreißen sich jetzt das Maul darüber, wo er hier liegt.“
„Aber kann es denn nicht möglich sein?“
„Ein tödlicher Unfall mit seinem Cello? Ja, wie denn? Haben Sie es versucht? Können Sie mir vormachen, wie das gehen soll?“
„Nun, vielleicht war ja ein Gläschen zu viel im Spiel?“
„Ist bei zweien eines schon zu viel?“
„Wie meinen Sie das?“