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Über das Buch

Cat, Londons beste Meisterdiebin, hat sich Lord Peters Team angeschlossen. Ihre Mission: Raubkunst den rechtmäßigen Besitzern zurückbringen. Der aktuelle Auftrag: ein persischer Teppich im Haus eines holländischen Geschäftsmanns. Dumm nur, dass der Geschäftsmann aus mysteriöser Quelle gewarnt wird und sich ihnen eine Agentin des britischen Geheimdiensts anschließt. Unter verschärften Bedingungen müssen sie nach Singapur und in den sichersten Safe der Welt eindringen. Und währenddessen hat Cat doch noch ganz andere Pläne. Sie will endlich herausfinden, was Lord Peter über ihre Mutter weiß. Je mehr Dinge schiefgehen, desto drängender wird die Frage: Wer kann hier eigentlich noch wem trauen?

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Für Kristina – meine Freundin fürs Leben

INHALT

Grinsekatze

Doppelspitze

Fauxpas

Irrgarten

Problemzonen

Storyteller

Unheimliche Begegnungen

Schattenboxen

Höllentrip

Gotcha

Generalprobe

Ausgebremst

Reset

Rückzug mit Hindernissen

Notausgang

Mutprobe

Tick, Tack …

Paukenschlag

Ende gut …

TRACK: 01

TITLE: GRINSEKATZE

Ich hasse den Konjunktiv II. Dieses besserwisserische »hätte, würde, sollte, könnte«. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn man sich über mich lustig macht. So was bringt mich echt auf die Palme – beziehungsweise auf das Dach eines Hauses aus dem frühen 17. Jahrhundert im nobelsten Stadtteil von Amsterdam.

»Du müsstest jetzt direkt vor dem Giebelfenster sein. Hättest du das kleine Stemmeisen dabei, dann könntest du es direkt aufhebeln«, konjunktivte Asim mir über unser Kommunikationssystem ins Ohr.

Ich baumelte gute zehn Meter über dem Kopfsteinpflaster. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben, nebenbei gesagt. Allerdings in voller Absicht und gesichert mit einem Kletterseil Tendon Smart 10.0, mit einer maximalen Fangstoßkraft von acht Kilonewton, einer dynamischen Seildehnung von 36 Prozent und einer statischen Seildehnung von 7,2 Prozent. Oder kurz gesagt: Falls ich abstürzen sollte, schützte mich das Seil zwar nicht vor einer Rippenprellung, aber doch vor einem tödlichen Aufprall. Das Tendon Smart war an einem massiven Dachbalken befestigt, der dem Stadthaus seit seiner Erbauung als Flaschenzug diente. An meinem Hüftgürtel hing neben einer Stabtaschenlampe und einem luft- und wasserdichten Exhumierungssack auch die Tasche, in der meine kleine Ratte Simon schon aufgeregt auf ihren Einsatz wartete.

Unser Auftrag: Den windigen Kunstsammler Daan van de Boers um einen Perserteppich aus dem 16. Jahrhundert zu erleichtern, den sein Vater während der Unruhen der islamischen Revolution 1979 aus dem Teheraner Teppichmuseum hatte stehlen lassen. Leicht würde die Sache nicht werden. Nicht nur, dass das Haus bestens gesichert war. Das eigentliche Problem war der wertvolle Seidenteppich selbst. Unseren Informationen nach brachte das rund drei mal zwei Meter große Stück, das mit 400 000 Knoten pro Quadratmeter sehr dicht geknüpft war, locker 20 Kilogramm auf die Waage. So was legt man sich nicht cool über die Schulter und spaziert zur Vordertür raus.

Aber hey. Einfach kann jeder.

Der Plan war folgender: Ich nahm das millionenschwere Werk von der Wand, rollte es zusammen, verstaute es im Exhumierungssack und zog diesen dann mithilfe einer elektrischen Seilwinde die Treppe hinauf bis unter das Dach. Von dort aus würde ich ihn durch das Giebelfenster am Flaschenzug hinuntergleiten lassen. William, der sich im Nachbarhaus versteckt hielt, würde den Teppich in Empfang nehmen und einem vertrauenswürdigen Kurier übergeben, der alles in einem Sarg verstauen sollte und die Fracht im Wagen eines Beerdigungsinstitutes zum Flughafen Schiphol brächte. Die täuschend echten Papiere des Fahrers bestätigten die Überführung eines verstorbenen Mitarbeiters der iranischen Botschaft in Den Haag. Und für den Fall, dass der Zoll den Sarg durchleuchtete, obwohl er unter die diplomatische Immunität fiel, hatte Asim den Deckel von innen mit einer Folie beklebt, die die Umrisse eines Mannes in 3-D-Qualität zeigten.

Asim war zwei Jahre älter als ich und der Technikfreak in unserem Team. Zwischen uns herrschte eine merkwürdige Stimmung. Vor ein paar Monaten hatten wir uns fast geküsst. Aber nur fast! Und jetzt fauchten wir uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit an. Doch im Grunde war unser Verhältnis freundschaftlich-kumpelhaft geworden.

Um unsere Tarnung perfekt zu machen und die druckempfindlichen Sensoren an den Fenstern und Türen von Daan van de Boers Haus abzulenken, hatte Lord Peter das Nebenhaus gemietet und in eine Baustelle verwandelt. Wir hatten keine Mühen gescheut und das Gebäude mit einem Gerüst eingekleidet, inklusive gelber Eimerkette, die vom Dach in einen Bauschuttcontainer führte. Aus meiner Position in luftiger Höhe sah ich, dass irgendein Komiker eine alte King-Size-Matratze darin entsorgt hatte.

Es war empfindlich kalt geworden, und ich rieb die Hände an meinen schwarzen Hosenbeinen warm. Um vier Uhr früh schaukelten die Hausboote friedlich auf dem Wasser der Prinsengracht. Brackige Luft wehte zu mir empor, und für einen klitzekleinen Moment hatte ich Sehnsucht nach meinem Zuhause auf dem Londoner Regent’s Canal.

Für Asims pseudolustige Kommentare im Konjunktiv hatte ich jedenfalls keinen Nerv. »Das Stemmeisen bringt uns nichts. Das macht zu viel Krach. Ich geh lieber auf die feine, leise Art vor«, belehrte ich ihn über unser Funksystem.

Asim saß hundert Meter entfernt in der Kabine eines Schnellbootes der Marke Aqua Royal und überwachte die Bilder einer kleinen Kamera, die wir am Gitter des Souterrainfensters angebracht hatten. In dem Kellerraum befand sich die Sicherheitszentrale des Hauses, inklusive fünf bewaffneter Männer.

Um den wenigen Platz an den Wasserstraßen perfekt zu nutzen und Steuern für Grund und Boden zu sparen, hatten die findigen Niederländer ihre Waren- und Lagerhäuser in die Höhe gebaut. Allerdings nie mehr als vier Stockwerke hoch, damit sie nicht in der sandigen Amsterdamer Erde versanken. Folglich hatten die Grundrisse aller Gebäude eines gemeinsam: superenge Treppenhäuser. Und das wiederum erklärte den Flaschenzug, an dem ich hing, nur einen Meter von dem einzigen ungesicherten Fenster in Daan van de Boers Haus entfernt.

Man ging offenbar davon aus, dass niemand so blöd wäre, sich an einer frei einsehbaren Hauswand direkt an der Prinsengracht abzuseilen. Und keiner sich lautlos durch ein Loch quetschen könnte, dessen Maße lediglich 50 mal 50 Zentimeter betrugen.

Tja.

Da hatten sie die Rechnung ohne mich gemacht. Schließlich galt ich nicht ohne Grund als die beste Fassadenkletterin und Diebin von London.

»Wenn du drin bist, musst du leise sein. Sollten die Typen von der Sicherheitsfirma mitbekommen, dass du im Haus bist, sind wir niemals schnell genug da, um dir zu helfen«, belehrte mich Asim.

»Hierbei muss mir niemand helfen«, knurrte ich zurück, während ich mit einem Glasschneider ein Loch auf Höhe des Fenstergriffs schnitt. Damit das lose Glasstück nicht herunterfiel, hatte ich es mit einem Saugnapf fixiert.

»Weil dir nicht mehr zu helfen ist«, schickte William, unser Trickbetrüger-Ass, auf meine Reaktion hinterher, was mich fast die Konzentration gekostet hätte. Ich gewöhnte mich einfach nicht an das Gequatsche in meinen Ohren. Zum Glück hielt sich wenigstens Lord Peter zurück. Unser Chef studierte in unserer Amsterdamer Wohnung am alten Olympiastadion wahrscheinlich das Muster der Raufasertapete, während er darauf wartete, dass wir sein Projekt erfolgreich durchzogen.

Gott, wie vermisste ich meine Musik, die ich sonst immer für die Choreografie eines Einbruchs benutzte, um mich konzentrieren zu können! Für das Auffinden, Verstauen und Transportieren des Teppichs hatte ich weniger als sieben Minuten veranschlagt. Ich fing an, mein aktuelles Lieblingslied »Human« von Rag ’n’ Bone Man zu summen und schmunzelte in mich hinein. Ich wusste, dass Asim kurz davor war, sein Boot zu versenken, weil ich ihm die Ohren vollträllerte.

»Könnt ihr nicht ein einziges Mal Funkdisziplin halten? Mit euch zu arbeiten, ist schlimmer als einen Sack Flöhe hüten«, mischte sich nun doch Seine Lordschaft ein. »Wir haben keine Zeit für so was. Irgendwann ist das Rugbyspiel in Japan zu Ende, und spätestens dann schalten die Männer vom Sicherheitsdienst den Fernseher aus und machen ihren Rundgang. Sollten die Niederländer uneinholbar zurückliegen, dann könnte einer der Kerle schon früher durchs Haus streifen.«

»Das Spiel läuft gut. Im Moment führen die Niederländer mit zwei Punkten. Aber das heißt noch gar nichts. Mit einem geschickten Spielzug können die Deutschen sie locker wieder überholen. Wir liegen gut in der Zeit«, berichtete Asim.

Ich konzentrierte mich. Daan van de Boers hatte sein Haus von außen in eine beinahe uneinnehmbare Festung verwandelt. Wenn ich aber erst einmal drin war, dann hatte ich freie Bahn. Im Haus gab es keine Stolperfallen mehr! Ich war kurz vor dem Ziel.

»Alles klar. Gebt mir Bescheid, wenn es eng wird«, meldete ich zurück und ließ mich durch das Fenster in den Dachboden des Hauses gleiten. Staub und Dunkelheit schlugen mir entgegen. Sie waren die vorherrschenden Elemente in dem rechteckigen Raum, der geschätzte sechs mal vier Meter maß. Ich schaltete meine Stirnlampe an.

Der Boden bestand zu meinem Leidwesen aus Echtholzdielen. Eiche. Ich fluchte lautlos. Egal wie sorgfältig dieses Material verlegt wird, Holz arbeitet immer. Was dazu führt, dass diese Böden quietschten oder knarzten. Und keiner konnte vorhersagen wo. Der absolute Albtraum jedes Einbrechers!

Zu meiner Rechten konnte ich durch die Tür ein weiß lackiertes Geländer erkennen. Von hier aus wand sich das Treppenhaus bis ins Tiefparterre. Ich löste das Seil vom Flaschenzug, zog es vorschriftsmäßig auf und befestigte es mit einem Karabinerhaken an meinem Hüftgürtel. Simon schlüpfte in meine Hand. Nachdem ich den Sitz seines Geschirrs, an dem eine Minikamera befestigt war, kontrolliert hatte, setzte ich ihn vorsichtig auf den staubigen Holzboden.

»Alles klar, mein Schätzchen. Dein Einsatz!«

Simons Krallen kratzten fröhlich über die Eichenholzdielen in Richtung Treppenstufen. Dort blieb er für eine Sekunde stehen.

Auf Asims Monitor musste nun das Treppenhaus zu sehen sein.

»Die Luft ist rein«, hörte ich Asim. »Ihr könnt loslegen.«

»Okay«, gab ich zurück. In Zeitlupe rollte ich bei jedem Schritt von den Zehenspitzen auf den Fußballen ab. Dabei achtete ich darauf, mein Gewicht gleichmäßig zu verteilen. Auf diese Art dämmte ich die Gefahr ein, dass der Boden laute Geräusche von sich geben würde. An den Treppenstufen angekommen, folgte ich Simon hinunter.

Die Treppe war so eng, dass zwei erwachsene Personen nur schwer aneinander vorbeikamen, und hatte ein Gefälle, das selbst einem hartgesottenen Skirennfahrer Respekt abnötigte. Andererseits waren die Stufen mit schwarzem Samt überzogen, was jedes Geräusch hervorragend schluckte. Um diese nächtliche Uhrzeit flackerte auf jedem Treppenabsatz des vierstöckigen Hauses eine Lampe vor sich hin. Das Licht reichte aus, um sich ein wenig Orientierung zu verschaffen.

Mein Ziel war das Erdgeschoss, wo der Verkaufssalon und das Büro des kriminellen Kunsthändlers lagen. Eigentlich war ich mir nicht so sicher, den Teppich dort unten zu finden. Nicht mal dieser Kerl, der seinen Kunden in aller Welt von seltenen Briefmarken über fast ausgestorbene Tierarten bis hin zu unbezahlbaren Artefakten alles besorgte, wäre so dreist, einen gestohlenen Kunstgegenstand öffentlich zu präsentieren. Aber sicher ist sicher!

Tatsächlich gaben Galerie und Büro nichts her. Genau genommen war hier überhaupt nichts zu finden. Beide Räume waren leer. Weder Möbel noch Bilder, Plastiken oder andere Kunstgegenstände, die man bei einem Kunsthändler vermuten würde. Verwundert schlich ich in den ersten Stock, ins Schlafzimmer. Simon blieb auf mein Signal auf dem Treppenabsatz stehen und hielt Wache. Sobald Asim einen der Sicherheitsmänner über die Rat-Cam nach oben kommen sah, würde er mir eine Warnung über unsere Intercom schicken. Doch im Moment war es angenehm ruhig in der Leitung.

Im Schlafzimmer bot sich mir das gleiche Bild: Leere.

»Also mal ehrlich. Ich stehe ja auf Minimalismus und diese Entrümple-dein-Leben-Bewegung. Aber das hier ist echt übertrieben. Kein Schrank oder Bett. Nicht mal eine Matratze am Boden. Kapier ich nicht.«

Kopfschüttelnd warf ich noch einen Blick ins Bad: leer!

Zweifelnd zog ich die Augenbrauen zusammen. Langsam bekam ich ein mulmiges Gefühl. Dass von William oder Asim kein Kommentar kam, nahm ich gar nicht wahr.

Ich trat wieder auf den Flur und warf, eher aus Gewohnheit denn aus Vorsicht, einen Blick die Treppe hinunter. Alles war ruhig. Nur die Tür zum Büro stand einen Spalt offen.

»Merkwürdig. Ich dachte, ich hätte sie zugemacht«, murmelte ich. Doch das war jetzt egal. Ich musste endlich den Teppich finden!

In der absoluten Gewissheit, dass der Teppich nur noch im Wohnzimmer von Daan van de Boers sein konnte, folgte ich dem Licht meiner Stirnlampe in das oberste Stockwerk und trat selbstsicher durch die Tür.

»Was verdammt noch mal …?!« Ich blieb wie angewurzelt mitten im Raum stehen. Auch hier bot sich mir das gleiche Bild: gähnende Leere!

Mein Licht blieb an der gegenüberliegenden Wand hängen.

Kein Teppich.

Stattdessen grinste mich eine überdimensionale Katze an. Eine exakte Kopie dieser gruseligen Cheshire Cat aus »Alice im Wunderland«. Je länger mein Licht auf das Graffito schien, desto mehr löste sich das Bild vor meinen Augen auf, bis nur noch das blöde Grinsen übrig blieb. Keine Ahnung, wer Daan van de Boers war, aber der Mann hatte einen skurrilen Sinn für Humor.

»Leute, hier stimmt irgendwas nicht«, meldete ich tonlos über die Intercom. »Leute?«

Doch statt einer Antwort hörte ich einen lauten Knall aus der Küche.

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Vor dem Haus war alles ruhig. Die Bäume, die von niedrigen weißen Zäunen gesäumt waren, warfen einsam ihr Blätterkleid ab. In dieser Gegend, die am Tage nur so von Touristen überschwemmt wurde, trieb sich nachts keine Menschenseele auf der Straße herum. Die Mietpreise waren so exorbitant hoch, dass sich nur Versicherungen und finanzstarke Firmen hier ein Büro leisteten. Oder unternehmerisch begabte Einzelpersonen wie ein gewisser Kunsthändler. Bars oder Kneipen gab es in der direkten Umgebung keine.

Verstohlen blickte sich die junge Frau um, während sie ihr Fahrrad auf dem Kopfsteinpflaster ausrollen ließ. Die Hausboote am Ufer der Prinsengracht schaukelten träge vor sich hin.

Direkt vor dem Eingang des Hauses, einer schweren hölzernen Kastentür, kam die Radfahrerin zum Stehen. Sie stieg ab, lehnte das Rad gegen den gusseisernen Zaun, der die Fußgänger vor einem Sturz in den Kellereingang bewahren sollte, und schloss es ab. Während sie ihre roten Haare zu einem Pferdeschwanz bändigte, vergewisserte sie sich noch einmal unauffällig, dass die Luft rein war. »Schaltet die Anlage ab!«

Die angewiesenen Männer saßen drei Straßen weiter in einem Van, der als Firmenfahrzeug des Gasversorgers Vattenfall getarnt war. »Ist aus. Du kannst reingehen.«

Das ließ sich die junge Frau nicht zweimal sagen. Entspannt, so als gebe es nichts Normaleres auf der Welt, lief sie die vier Stufen zum Eingang hinauf, nahm ein kleines Etui aus einer Tasche ihres nachtblauen Jumpsuits und führte zwei schmale Stifte in das Schloss der roten Tür ein. Sekunden später öffnete es sich mit einem leisen Klick. Ohne sich umzusehen, verschwand sie im Haus.

Eine Lampe flackerte still vor sich hin. Die Frau hob den Kopf, schaute die schmale Treppe in den ersten Stock hinauf und horchte. Außer dem Summen des Transformators für die LED-Lichtanlage war nichts zu hören.

»Ist die externe Kommunikation abgeschaltet?«

Im Haus roch es moderig, so als hätte man hier in den vergangenen Tagen nicht gelüftet. Die klamme Kälte machte ihr eine Gänsehaut. Sie schüttelte sich leicht, als sie die Antwort auf ihre Frage über den Knopf in ihrem Ohr hörte.

»Wie geplant. Die Sicherheitsanlage des Hauses ist gespiegelt und diese merkwürdige externe Kommunikation inklusive der Bildübertragung ist unterbrochen.«

»Verdammt, unterbrochen ist nicht gut. Warum habt ihr das nicht auch gespiegelt?«, wollte sie wissen.

»Dafür blieb keine Zeit«, kam es beleidigt aus dem Van zurück.

Die junge Frau biss sich auf die Unterlippe. Dieser Missgriff konnte sich noch zu einem Problem auswachsen. Aber das war den Männern im Van egal. Es ging ja nicht um ihre Hintern.

Jetzt konzentrierte sie sich auf den positiven Aspekt der Mission. Für das Sicherheitspersonal sah es so aus, als funktionierten die Anlagen zuverlässig wie immer. In Wahrheit aber waren sie alle abgeschaltet. Für die externe Kommunikationsleitung, die vor zehn Minuten auf ihrem Radar aufgetaucht war, galt das unglücklicherweise nicht. Ihr war klar, dass noch jemand Daan van de Boers einen Besuch abstattete, der hier genauso wenig zu suchen hatte wie sie. Sie hoffte bloß, dass dieser jemand nicht auf den gleichen Job angesetzt war. Schließlich gab es bei dem Kunsthändler noch anderes zu holen als eine Festplatte mit hochbrisantem Inhalt.

Doch darüber konnte sie sich Gedanken machen, wenn ihr dieser Jemand tatsächlich über den Weg lief. Sie war auf Höhe des Büros angekommen und öffnete die Tür.

Die kleine Ratte, die am Absatz Wache hielt, fiel ihr nicht auf.

Die junge Frau ging von Raum zu Raum. Mehr als abgestandene Luft fand sie nicht.

»Das kann nicht sein«, sagte sie mehr zu sich selbst und erschrak, als eine Antwort auf ihre Bemerkung kam.

»Was ist los? Auf den Monitoren sieht alles gut aus. Die Leute vom Sicherheitsdienst kleben immer noch vor dem Fernseher.«

»Wenn die Niederländer so weiterspielen, dann werden sie das erste Mal in ihrer Geschichte an einer Rugby-Weltmeisterschaft teilnehmen«, hörte sie die Stimme des zweiten Mannes. »Verdammt, ich hätte bei meinem Buchmacher eine Wette platzieren sollen.«

»Darüber kannst du später heulen«, wandte die junge Frau tonlos ein. »Wir haben hier ein ganz anderes Problem. Ich kann nichts finden!«

»Was heißt ›nichts‹? Die Festplatte dürfte ziemlich klein sein. Die hat die Ausmaße einer Kreditkarte, vielleicht ein bisschen dicker.«

»Das ist mir bekannt. Ich war beim Briefing anwesend«, kam es leicht gereizt zurück. »Ich meine, hier ist nichts, wo ich suchen könnte. Die Räume sind leer. Hier stehen nicht einmal mehr Möbel drin. Ganz zu schweigen von einem Safe. Nichts, wo man die Festplatte verstecken könnte.«

Das Schweigen in der Leitung sprach Bände.

»Hast du schon das ganze Haus durchsucht?«

»Nein. Wohnzimmer und Küche sind noch übrig. Aber wenn ich dort auch nichts finden kann, dann sitzen die Kerle in der Sicherheitszentrale auf der Platte.«

»Ich würde sagen, erst dann haben wir ein Problem, und bis dahin schaust du dich in den anderen Räumen um.«

»Ihr habt vielleicht erst dann ein Problem. Ich schon jetzt«, gab die Frau missmutig zur Antwort und stieg die Treppenstufen zur Küche hinauf. Sie scheute sich fast davor, die Tür zu öffnen. Aber was sollte sie machen? Ihr Auftrag lautete, die Festplatte an sich zu bringen. Koste es, was es wolle. Man hatte ihr mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass es sich dabei um eine Sache der »nationalen Sicherheit« handelte. Hieß es das nicht bei all ihren Aufträgen? Diesmal jedoch hatte ihr Vorgesetzter ganz besonders darauf beharrt. »Ohne die Festplatte brauchst du nicht mehr nach London zurückzukommen!« Das waren die Worte, die ihr der Mann hinterhergerufen hatte, als sie sein Büro verließ. Damals hatte sie das für einen Scherz gehalten. Doch jetzt …

Sie machte sich daran, die Hängeschränke und Schubladen in der Küche gründlich abzusuchen. Sie fand nichts. Keine Brotkrümel oder Reste von losem Tee. Nicht einmal Silberfischchen.

Ihre Frustration wuchs proportional zu ihrer Enttäuschung. Da half es nicht, dass ihre Kollegen im Van gemeinsam mit den Sicherheitsleuten im Keller jubelten, als die niederländische Rugbymannschaft mit einem technisch hochriskanten Drop-Kick drei Punkte machte.

Wütend warf sie eine der Schubladen auf den gefliesten Boden. Der Knall hallte von den nackten Wänden auf sie herunter und knockte das Kommunikationsgerät in ihrem Ohr aus.

Noch bevor sie ihre Entgleisung bereuen oder sich fragen konnte, ob sie die Sicherheitsleute aus ihrem Beifallssturm aufgeschreckt hatte, schlug ihr plötzlich die Flügeltür zum Wohnzimmer entgegen.

Im Türrahmen stand eine Person, die sie hier niemals erwartet hätte.

TRACK: 02

TITLE: DOPPELSPITZE

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte. Normalerweise gebe ich nicht viel auf solche Sprüche. Dieser hier sollte sich aber auf unheimliche Weise bewahrheiten.

»Wie zur Hölle bist du denn hier reingekommen? Wieso bist du nicht in Paris?« Meine Stimme überschlug sich vor Überraschung, als ich Mae in der Küche des Kunsthändlers stehen sah. Sie war die letzte Person, die ich hier erwartet hätte. Mae, die sich auf dem Parkett der High Society so mühelos bewegte wie eine Elfe, hatte mich dabei unterstützt, in Lord Peters Adelskreisen nicht wie der letzte Trampel dazustehen. Von meinem Nebenjob als Einbrecherin ahnte sie nichts. Niemals hätte ich erwartet, sie selbst nachts in einem fremden Haus herumschleichen zu sehen. Ihrem letzten Tweet zufolge genoss meine Freundin gerade bei einem romantischen Candlelight-Dinner auf dem Eiffelturm einen Nachtblick auf Paris. Völlig verdattert starrte ich sie an.

Täuschte ich mich oder schien sie für den Bruchteil einer Sekunde ebenso verblüfft, mich zu sehen? Bevor ich mir sicher sein konnte, überzog ein spöttisches Grinsen Maes makelloses Gesicht. »Willkommen in der Welt der Fake News«, meinte Mae selbstsicher wie immer und hechtete schnell an mir vorbei ins Wohnzimmer. »Gestern Abend war ich tatsächlich in Paris. Ich hab einfach den Zeitstempel der Kamera umdatiert und das Bild abgeschickt. Muss ja nicht jeder wissen, wo ich mich heute aufhalte!« Sie lachte leise auf. »Verdammt noch mal, wo hat er das Teil versteckt?« Suchend tastete sie die äußere Wand ab.

Ich starrte sie noch immer mit offenem Mund an.

»Hilfst du mir oder willst du weiter Fliegen fangen?« Meine Freundin schaute mich herausfordernd an. »Mir läuft die Zeit davon. Hast du hier irgendwo ein schwarzes, glänzendes Teil gefunden, das ungefähr so groß ist wie eine Kreditkarte mit USB-Ausgang?«

»Meinst du so eins, das an der Seite immer orange blinkt?«

Mae schaute mich hocherfreut an.

»Nein«, antwortete ich und stemmte lässig meine Hand in die Hüfte. Was sie konnte, konnte ich schon lange. Taten wir eben so, als sei es völlig normal, sich zu nachtschlafender Zeit in Häusern anderer Leute in einem fremden Land über den Weg zu laufen!

»Ha. Ich lache später«, grunzte Mae massiv angesäuert und fuhr tastend mit den Fingerspitzen unter dem Fensterbrett entlang. »Für so einen Quatsch hab ich im Moment wirklich keine Nerven. Obwohl mich schon interessieren würde, was du hier allein im Haus eines schwerreichen Kunsthändlers zu suchen hast.«

In meinem Hirn rasten die elektrischen Impulse auf der Suche nach einer Antwort hin und her. Doch bevor sie ihr Ziel erreichten, tauchte Simon neben mir auf und unterbrach diesen unangenehmen Augenblick.

»Und was ist mit dir? Warum hast du mich nicht gewarnt?« Ich nahm meine Ratte auf den Arm und kontrollierte die Minikamera. Wieso zum Teufel konnte Mae hier herumstreichen, ohne dass Asim Alarm schlug?

»Wir haben eure Intercom lahmgelegt«, beantwortete Mae meine stumme Frage, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Woher wusste sie denn von unserem geheimen Kommunikationssystem? Und wer war »wir«?

»Keine Panik. Die Sicherheitsleute sitzen noch vor dem Fernseher. Die bekommen von all dem hier nichts mit. Wir haben auch das Sicherheitssystem des Hauses überlistet.« Mit geübtem Blick schaute sie sich im Wohnzimmer um. »Nettes Graffito. Was soll das sein?«

»Die Grinsekatze«, antwortete ich automatisch. »Wer ist ›wir‹?« Die Frage fand ich viel wichtiger.

»Kann ich leider nicht sagen«, meinte Mae geheimnisvoll.

»Dann sag mir wenigstens, was du hier suchst?«, wollte ich von ihrem Rücken wissen.

Mae drehte sich zu mir um, während ihre Augen weiter den Raum scannten. »Einen Safe oder so was. Wo man eben etwas sicher aufbewahren kann.«

Ich lachte trocken auf. »Das ganze Haus ist ein Safe. Du musst schon etwas konkreter werden, wenn ich dir helfen soll.«

»Eine Festplatte von der Größe einer Kreditkarte mit einem orangefarbenen Licht an der Seite«, antwortete Mae in einem merkwürdigen Tonfall.

»Hey, kein Grund gleich sarkastisch zu werden«, hob ich entschuldigend meine Hände. »Was ist denn so Wichtiges auf der Festplatte, dass du dafür hier eingebrochen bist? Noch dazu mit einem ›Wir‹?«

Ich spürte, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Doch eigentlich war mir die Antwort egal. Ich würde meiner Freundin auf jeden Fall helfen. Schließlich hatte sie mich gerettet, als ich mich in ein glaubhaftes Mitglied der englischen Adelsgesellschaft verwandeln sollte. Ohne sie wäre mein zweiter Job für das Team voll in die Hose gegangen und ich wäre heute nicht hier, auf der Suche nach einem verschollenen Teppich.

Apropos Teppich. Das Graffito grinste mich besserwisserisch an. Ich nahm das als Zeichen, dass ich meine Suche getrost aufgeben konnte. Das gute Stück würde ich hier nicht mehr finden.

»Da sind Bilder drauf«, brachte Mae leise hervor und senkte ihren Blick.

»Was für Bilder? Von kleinen Kätzchen, oder was?«

Mae kniff die Augen zusammen und schaute mich gespielt amüsiert an. »Jetzt tu doch nicht so naiv! Es sind kompromittierende Aufnahmen. Du weißt schon …«

»Nö!«

»Ach, Herrgott, Cat.« Mae hob entnervt ihre Hände. »Es sind Nacktfotos von mir!«

»Ups.«

»Ja.«

»Wie ist van de Boers denn an die gekommen?«

»Das ist doch jetzt egal, oder? Viel wichtiger ist, dass ich diese vermaledeite Festplatte auftreibe.«

»Woher weißt du, dass das Ding hier ist?«

»Van de Boers hat damit angegeben, das Teil sicher in seinem Haus verwahrt zu halten. Er hat regelrecht damit geprahlt, dass ich sie niemals in die Finger bekäme.«

»Aber was will er damit?« Ich konnte mir einfach nicht erklären, was ein bekannter Kunsthändler mit den Nacktfotos eines It-Girls anfangen wollte.

»Erpressen wahrscheinlich.« Maes Stimme klang gereizt. »Und, echt jetzt? Müssen wir das wirklich hier ausdiskutieren? In einem Haus, in dem fünf Sicherheitsmänner nichts lieber täten, als einem Einbrecher zu zeigen, wie gut sie mit ihren halbautomatischen Waffen umgehen können?«

»Na, dann. Was stehen wir hier noch rum?«, feuerte ich Mae an.

Wir legten los und tasteten jeden Winkel des Raumes ab. Ohne Erfolg.

Auf meiner Unterlippe kauend, ließ ich meinen Blick noch einmal durch den Raum schweifen, als ich Simon wahrnahm, der exakt in der Mitte der Fensterfront des Wohnzimmers saß. Was für sich genommen noch nicht bemerkenswert gewesen wäre, hätten seine Barthaare nicht wie die Nadel eines Seismografen gezittert.

Ich lief zum ihm hinüber und tatsächlich: Simon saß auf einer im Boden eingelassenen Metallplatte.

»Hier ist was!« Mein Ruf lockte Mae zu mir.

»Lass mal sehen.« Mae hockte sich neben mich.

Ich schaute auf ihr Profil und wunderte mich erneut über meine Freundin. Wer war Mae eigentlich? Das Partygirl, das um die Welt jettete, zeigte völlig unerwartete Seiten. Und wer half ihr dabei, in ein hochgesichertes Haus einzudringen? Noch dazu mitten in der Nacht?

In all dem Durcheinander in meinem Kopf bemerkte ich zu spät, dass Mae sich an der Abdeckung des Safes zu schaffen machen wollte.

»Stopp!«, rief ich. »Nicht anfassen. Das Teil kann noch mal extra gesichert sein. Außerdem hast du keine Handschuhe an.«

Ich riss Maes Hand weg.

Aufmerksam studierte ich den Safe und schob vorsichtig einen Zahnarztspiegel (diese kleinen Dinger, die sie einem immer in den Mund stecken) unter die Abdeckung.

»Du bist wohl immer auf alles vorbereitet?« Mae wirkte ehrlich beeindruckt.

Ich grinste. »Meine Hosentaschen sind tief. Keine sichtbaren Drähte oder Drucksensoren«, murmelte ich. »Keine Schalter oder Stifte, die nicht dort hingehören. Ich denke, der Deckel ist sauber.«

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Asim schritt hektisch auf dem Boot auf und ab. Irgendetwas lief gewaltig schief. Vor fünf Minuten war der Funkkontakt zu Cat abgebrochen. Alles Rufen und Neustarten half nichts. Cat reagierte weder auf William, Seine Lordschaft noch auf ihn. Simons Rat-Cam sendete nicht mehr. Und auch das Bild der kleinen Kamera, die Asim am vergitterten Fenster des Security-Raums von Daan van de Boers Haus angebracht hatte, war schwarz.

»Wir sind blind«, rief Asim entsetzt. »Ich hab keine Ahnung, was hier passiert.«

Im Wohnzimmer des Nebenhauses tigerte William hin und her. Er wollte eingreifen. Helfen. Doch im Augenblick war Panik kein guter Berater. Ein Alleingang könnte ungeahnte Folgen haben und sie alle in höchste Gefahr bringen. Es war besser, auf ein Zeichen von Asim zu warten. William nutzte die Zeit, um sich einen Rettungsplan zurechtzulegen.

Gute fünf Kilometer entfernt überlegte Lord Peter, was sie tun könnten.

»Ideen?«, fragte er über den Funkkanal in die Runde.

»Die Aktion sofort abbrechen und Cat da rausholen!«, schlug William vor.

Asim stimmte ihm zu. »Der Teppich ist nicht mehr im Haus.«

»Ist das ganz sicher?« Trotz der hörbaren Anspannung schwang in der Stimme Seiner Lordschaft Entschlossenheit mit.

»Ich überfliege gerade die alten Aufzeichnungen der städtischen Überwachungskamera. Vor zwei Wochen hat eine Umzugsfirma van de Boers Haus ausgeräumt. Es tut mir leid. Das hätte ich viel früher machen sollen, aber …«, hauchte Asim schuldbewusst.

»Der Typ ist getürmt. Weg«, meinte William. »Okay, aber was soll das dann mit der Security? Warum tun die so, als wäre alles wie immer?« Die Worte hatten noch nicht ganz seinen Mund verlassen, als er sich selbst die Antwort gab. »Das ist eine Falle! Sie wollten, dass wir glauben, alles wäre normal. Dann steigen wir da ein und werden von van de Boers Leuten festgesetzt, während der Kerl irgendwo auf der Welt genüsslich mit einem Glas Champagner auf seinen Sieg anstößt!«

Schweigen. Dann ergriff Lord Peter das Wort

»Holt Cat da raus, schnell. William, leg los! Asim, du lässt alle Spuren verschwinden! Und ich meine alle. Ich benachrichtige unseren Kontaktmann und blase die Aktion ab. Er soll den Bestattungswagen im Depot lassen und die Papiere verbrennen. Wir treffen uns in der sicheren Wohnung und verlassen wie geplant das Land.«

»Es tut mir leid«, hauchte Asim. »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte die Kameras in einem weiter gesteckten Zeitrahmen checken sollen. Wenn Cat was passiert …«

»Lass gut sein«, rief William. »Du hast deine Hausaufgaben nicht gemacht, kann jedem mal passieren.«

»Bewahrt die Ruhe und konzentriert euch.« Lord Peter gab das Startzeichen für die Jungs. Es ärgerte ihn, dass ihnen dieser immens wichtige Punkt bei ihrer Recherche entgangen war. Schließlich hätten sie sich die Reise nach Amsterdam und den gewaltigen Aufwand sparen können. Aber wenn alles glattging, dann konnten sie das hier als gutes Training verbuchen. Wenn …

Lord Peter wusste, dass der Fehler mit der Überwachungskamera nicht Asims Schuld war. Schließlich war er, Seine Lordschaft, der Kopf des Teams. Er hätte daran denken müssen, dass sie ihren Einsatzort länger als nur eine Woche hätten überwachen müssen. Da gab es keine Diskussion. Punkt.

Plötzlich hallten westernähnliche Gitarrenklänge an sein Ohr. Vincent, sein Butler, Freund und Spaßvogel, hatte es sich nicht verkneifen können, den alten 60er-Song »Runaway« von Del Shannon als Anruferkennung für diese spezielle Person in sein Handy einzuprogrammieren.

Lord Peter nahm den Ohrhörer der Intercom heraus und seufzte vernehmbar. »Mutter!«

»Sohn? Wo bist du?«

»Auf dem Kontinent, Mutter.«

»Bei dem Wetter?«

»Hier scheint die Sonne.«

»Wo genau ist denn hier?«

»Mutter, ist dir schon mal aufgefallen, dass die Menschen früher immer zuerst nach dem Befinden der Person fragten, die sie anriefen? Heute ist der Standort wichtiger.«

»Das machen diese neumodischen mobilen Telefone. Hätte ich deine Nummer am Eaton Place gewählt, dann wüsste ich ja, wo du bist.«

»Was kann ich für dich tun, Mutter?«

»Mir sagen, wo du bist!«

»Das habe ich getan«, antwortete Lord Peter und schickte stumm den Satz »Wie an jedem anderen vergangenen Tag« hinterher.

Seine Mutter merkte wohl, dass sie keine konkrete Antwort erhalten würde, und lenkte, sehr zur Überraschung ihres Sohnes, ein. »Also gut. Dann sag mir wenigstens, wann du wieder in London sein wirst.«

»Übermorgen«, log Lord Peter.

»Gut.« Grußlos beendete seine Mutter den Dialog, wenn man dieses Gespräch als solchen bezeichnen wollte.

Und Seine Lordschaft fragte sich einmal mehr, was die alte Dame mit ihren Anrufen bezweckte. Seit zwei Wochen rief sie jeden Tag bei ihm an. Manchmal sogar mehrmals, und immer wollte sie wissen, wo er war, was er tat und mit welchen Menschen er das gerade machte. Ihre Anhänglichkeit war völlig wider ihre Natur und so ärgerlich, dass Lord Peter Vincent den Auftrag erteilt hatte, ihn zu verleugnen. Seitdem war die Lady dazu übergegangen, ihn auf seinem Handy zu kontaktieren.

William stand am Fenster von Daan van de Boers Nachbarhaus und lauschte, wie Asim auf die Tastatur seines Computers einhackte. Sein Blick suchte durch das Tuch am Baugerüst die Gracht ab. Er überlegte, welches Ablenkmanöver sich am besten für ihre Situation eignete. Während er beobachtete, wie sich ein dunkler Punkt träge mit der Strömung des Wassers bewegte, kam ihm eine Idee. »Ich mach die ›Quakende Ente‹!«, murmelte er eher zu sich selbst.

»Das ist unmöglich. Für die ›Quakende Ente‹ braucht man mindestens zwei Leute«, ertönten Lord Peters Zweifel über die Intercom, in die er sich nach dem Telefonat wieder eingeschaltet hatte.

»Nicht zwingend«, mischte sich Asim ein. »Außerdem haben wir keine Wahl. Egal was ich versuche, ich komme einfach nicht in die Sicherheitszentrale des Hauses rein. Die Verbindung zu Cat kann ich auch nicht wiederaufbauen. Wer immer die beiden Systeme geknackt hat, muss ein verdammtes Genie sein. Das Programm lässt mich nicht mal in die Nähe des Servers. Das Teil hier hat NSA-Niveau.« Er schickte noch einen kleinen Fluch hinterher.

William schaute sich im Zimmer um. Für sein Ablenkungsmanöver musste seine Verwandlung glaubhaft sein. Zum Glück war sein Onkel Peter Perfektionist. Zu einer gut getarnten Baustelle gehörten nicht nur das Verkleiden der Fassade, sondern auch Stapel mit Tapetenrollen, eimerweise Wandfarbe (Arkticweiß), Tapeziertische, Leitern, das entsprechende Werkzeug und natürlich jede Menge Staub und Dreck. Ein paar umgekippte Campingstühle inklusive einem gut gefüllten Kasten Bier rundeten das Bild ab.

William brachte seine akkurat gelegten Haare in wilde Unordnung. Danach wechselte er in seinen 1000 Pfund teuren Armani-Anzug, den er für später in einer Sporttasche mit sich trug, und wälzte sich im Baustaub. Anschließend kippte er sich eine Flasche Bier über die Hose. Zum Schluss gurgelte er noch mit einem Schluck und trat vor das Haus. Er schaute sich kurz um und begann seine Show.

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»Lass mich mal!« Mit spitzen Fingern berührte ich das Ziffernrad und überlegte, auf welche Art ich die Kombination knacken konnte. Für diesen mechanischen Schließmechanismus kamen mehrere Methoden infrage. Eine war das Stethoskop. Mit ihm könnte ich hören, welche Ziffern eine starke Abnutzung aufwiesen, die sich in einem dumpfen Klicken ausdrückte. Nur leider hatte ich so ein Abhörgerät nicht bei mir. Eine andere Lösung wäre der Trick mit dem gefüllten Wasserglas. Hier kam das gleiche Prinzip zum Tragen, mit dem Unterschied, dass die Abnutzung die Flüssigkeit im Glas zum Schwingen brachte. Nun, wir hatten zwar Wasser, aber kein Glas.

Die dritte Möglichkeit bestand im Erspüren der richtigen Ziffern mit den Fingerspitzen. Dazu aber musste ich meine Handschuhe ausziehen und ganz ehrlich, ich wusste nicht, ob Mae das Risiko wert war.

Während ich die Möglichkeiten abwog, fiel mein Blick auf den Rand des kleinen Schließfachs. Wenn es richtig abgeschlossen war, lagen Platte und Gehäuse zu hundert Prozent plan ineinander. Aber hier hob sich ein schmaler Spalt nach oben. Ohne groß nachzudenken, schob ich den Zeigefinger meiner rechten Hand darunter. Der Deckel ließ sich einfach anheben!

»Der Safe ist nicht verschlossen.« Verwundert sah ich Mae an. »Und er ist …«

»Leer. Scheiße«, rief Mae. »Das kann doch nicht wahr sein! Daan van de Boers hat uns gelinkt.«

»Aber so was von«, gab ich trocken zurück.

Bevor wir uns weiter Gedanken machen konnten, ertönte vor dem Haus ein ohrenbetäubender Lärm. Im ersten Moment dachte ich, dass wir aus Versehen einen Alarm ausgelöst hatten. Aber es klang eher nach umgestoßenen Mülltonnen, begleitet von dem Gegröle eines Betrunkenen. Dann wurde plötzlich an der Haustür Sturm geklingelt.

»Was ist das denn?« Mae schaute aus dem Fenster auf die Straße. »Da unten steht einer und tritt mit voller Wucht gegen die Tür.«

Ich hörte das Wummern auch.

»Der Kerl ist stockbesoffen.«

Das Geschrei wurde immer lauter und trieb die Sicherheitsleute aus ihrem Zimmer. Sie ließen das Rugbyspiel Spiel sein.

»Sag mal …« Mae schaute mich fragend an. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass William da unten randaliert.«

Ich trat neben sie und schaute ebenfalls aus dem Fenster. Genau in dem Moment traten drei Typen von van de Boers’ Sicherheitsdienst vor die Tür und packten William am Kragen. Doch der wand sich aus den Griffen der Männer und schrie immer wieder: »Ihr müscht mich reinlassen in diss Haus, Jungs! Isch wohn da. Meine blöde Ex-hick-Frau soll nich denken, ihr jehört diss Haus alleine. Isch will meihn Anteil.«

Einer der Männer redete auf ihn ein. Es sah aus, als wolle er William schlagen. Der kam ihm aber zuvor.

»Wie hast du mich genannt?«, wollte er von dem Kerl wissen. »Du nennst mich nicht eine quakende Ente. Du nicht!«

Das war mein Zeichen. Dass etwas hier nicht stimmte, lag auf der Hand, aber jetzt wusste ich auch, dass Lord Peter zum sofortigen Abbruch des Auftrags drängte. Nur warum meldeten sie sich nicht über die Intercom? Auf einmal wurde mir klar, dass ich schon lange nichts mehr von meinem Team gehört hatte. Doch darüber nachzudenken blieb keine Zeit.

»Wir müssen raus. SOFORT«, rief ich Mae über meine Schulter hinweg zu, denn ich war bereits auf dem Weg in den Hausflur. Ich hob Simon auf und verstaute ihn vorsichtig in seiner Transporttasche an meinem Gürtel. Dann schnappte ich Mae am Arm und zog sie mit mir. Sie konnte ihren Blick offenbar nur schwer von dem Schauspiel vor dem Haus lösen.

»Los jetzt!«, trieb ich Mae an, und sie folgte mir.

Die Treppe nach unten war uns verwehrt. Zwei der Sicherheitsleute stiefelten gerade die Stufen herauf. Plötzlich verdoppelten sie ihr Tempo. Sie mussten uns gesehen haben!

Mae und ich sprinteten also in die andere Richtung, hoch zum Dachboden. Der Weg durch das Fenster war frei, nur leider nicht nutzbar. Die Zeit reichte einfach nicht aus, um das Seil am Balken zu befestigen und uns beide daran hinunterzulassen.

Mae lief zur Mitte des Raumes. »Hilf mir mal. Ich muss da hoch!«

Ich verschränkte meine Finger ineinander, drehte die Handflächen nach oben und hob Mae hinauf, die den Haken der Klappleiter löste. Dann zogen wir sie zu uns hinunter und kletterten, so schnell es ging, auf das Dach des Hauses.

»Hier entlang«, wies ich Mae an. »Ich weiß, wie wir wegkommen.«

Ich sprang auf das Nebendach und rannte weiter bis zur Eimerkette am Gerüst. Hinter mir fluchte Mae wie ein Bauarbeiter.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst? Können wir nicht einfach durchs Haus?« Mae hatte ihre Frage noch nicht beendet, als der erste der beiden Männer seinen Kopf durch die Dachluke streckte.

»Nicht mehr!«, rief ich und sprang in die Tiefe. Eigentlich war es wie die Rutsche in einem Spaßbad, nur dass am Ende kein warmes Wasser auf mich wartete. Der Lärm, den die aneinanderschlagenden Eimer machten, hallte betäubend in meinen Ohren wider, und ich betete, dass die blauen Flecken, die ich mir gerade holte, nicht so schmerzhaft sein würden. Zum Glück landete ich wenigstens weich. Dem unbekannten Scherzkeks, der seine Matratze hier entsorgt hatte, sei Dank. Augenblicklich rollte ich mich auf den Rücken, um Mae den Weg frei zu machen. Simon blieb ruhig in seiner Tasche. Ich hatte gut achtgegeben, nicht auf ihn draufzufallen. Gemeinsam wuchteten Mae und ich die Matratze über den Rand des Containers und sprangen hinterher. Die Männer vom Dach würden uns auf diesem Weg nicht folgen. Nicht, wenn sie sich nicht die Beine brechen wollten.

William, der unsere Aktion aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, machte sich auf den Rückzug. Theatralisch fiel er gegen das Gitter des Souterrainfensters, löste unauffällig Asims magnetische Minikamera und ließ sie in seine Jackentasche gleiten.

»Waaas?«, lallte er, um seinem Auftritt noch mehr Glaubwürdigkeit zu geben. »Is hier nich Nommer 17? Kann nich seein? Au weia, diss is mir jetz aber peinlich, weil, hick. Nüscht für ungut, Jungs.« Er schlug einem der Sicherheitsleute freundschaftlich auf die Schulter. »Dann verschwind ich mal wieder. Danke, Jungs.« Er schüttelte jedem der drei die Hand und lenkte sie so von uns ab. Nur für einen kurzen Moment, denn gleich darauf plärrte es aus dem Funkgerät eines der Männer. Keine Frage, das waren die Kerle vom Dach.

Für einen Sekundenbruchteil fror die Zeit ein, als die Männer alle gleichzeitig in unsere Richtung starrten.

»Ich mach mich vom Acker«, rief Mae und verschwand in der schmalen Seitengasse Richtung Frederiksplein. Auch ich ließ mich nicht lange bitten und sprintete in die entgegengesetzte Richtung am Ufer entlang über die nächste Brücke. Auf der Höhe des Amstelveld-Parks sprang ich zu Asim aufs Boot. Der Motor lief bereits, und kaum hatten meine Füße die Rückbank berührt, schoss Asim in einem U-Turn los und fuhr den Sicherheitsleuten davon. Ich landete erst einmal auf meinem Hintern und hielt mich krampfhaft an der linken Seitenstange fest, um nicht aus der Kurve zu fliegen.