Für meine Eltern und meinen Bruder
und die gemeinsame Zeit
in einer anderen Welt

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Dies ist die erste und letzte Warnung. Ganz gleich, welcher gute Rat oder böse Zufall, welches Licht oder welche Dunkelheit dich hierhergeführt hat, wenn du weiterliest, solltest du es schnell tun.

Denn sie suchen bereits nach dir, wie sie es bei all den anderen getan haben. Jeder deiner Schritte hinterlässt in der virtuellen und der wirklichen Welt Spuren. Brotkrumen aus Bits und Bytes, denen sie so lange folgen, bis sie dich haben oder die Raben dein ganzes kurzes Leben aufgefressen haben und du nie wieder dorthin zurückfindest.

Wenn du Angst hast – und das solltest du –, kehre um und verwische deine digitalen Fußabdrücke, so gut es geht. Laufe weg, verstecke dich und bete zu allem, was dir heilig ist. Nichts anderes bleibt dir übrig. Vielleicht hast du Glück und sie kriegen dich nicht. Vielleicht. Ganz vielleicht. Leb wohl.

Du hast es nicht anders gewollt und ich danke dir für deinen Mut. Diese Dateien und Dokumente sind eine Flaschenpost, eine versunkene Insel im uferlosen Meer des Internets. Nichts von dem, was du erfahren wirst, kannst du ungesehen machen oder ungeschehen. Doch jede Seite wird dich gegen die niemals schlafenden Seeungeheuer wappnen, gegen die Riesenkraken und schwarzen Haie. Jedes Wort ist ein Pfeil, jeder Satz ein Speer, jede Seite ein Netz.

Die vor dir liegende Geschichte ist wahr und falsch zugleich. Es ist alles genau so passiert, doch es hätte niemals so weit kommen dürfen. Es wurden Türen geöffnet, die sich nicht mehr schließen lassen, Dämonen beschworen, die wir nicht mehr loswerden, doch fürchten sollten wir uns vor allem und für alle Zeit vor den Gespenstern, die wir selbst geworden sind.

Nicht die Augen sind die Fenster zur Seele, sondern unsere Smartphones, Tablets und PCs, unsere Autos, Fernseher und Kaffeemaschinen. Weit haben wir diese Fenster geöffnet, sind herausgestiegen und lachend in die Tiefe gesprungen. Ob wir wollen oder nicht, durch sie geben wir all unsere Geheimnisse preis und brüllen unser Innerstes in die Welt hinaus. Wir sind nicht mehr als billige Malen-nach-Zahlen-Bilder aus Einsen und Nullen. Sie wissen, woher du kommst, wo du bist und wohin du gehst. Sie kennen dich bereits jetzt besser als du dich selbst, denn ihre Blicke füllen den Himmel und ihre Taten die Hölle.

 

Ich werde dir alles erzählen, so gut ich es vermag, denn Wissen ist selbst im Zeitalter von ferngesteuerten Kriegen ein mächtiges Schwert. Allein wer ich bin, werde ich dir nicht sagen. Noch nicht. Dieses Rätsel ist der Preis, den du gewinnen oder bezahlen wirst.

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Der Schmerz ließ Anton aufstöhnen, noch bevor er auf dem Hallenboden aufschlug. Doch es war weder der Ellenbogen seines Gegenspielers, der ihm gerade ein blaues Auge verpasst hatte, noch der verpatzte Drei-Punkte-Wurf, der ihm zusetzte. Da war noch etwas anderes, ein Brennen in seiner Brust, als kratzte die Wut wie ein wildes Tier an seinem Innersten, als warf sie sich gegen seine Rippen, den Käfig, der sie gefangen hielt. Anton fühlte sich wie ein verbeulter Kampfroboter, den irgendein Arschloch vom anderen Ende der Welt aus fernsteuerte und der gerade den Selbstzerstörungsknopf gedrückt hatte.

Mit ordentlichem Wumms schlitterte er in die erste Reihe der Tribüne und kegelte einige Zuschauer krachend um. Den Aufprall spürte er kaum, als er mit ansehen musste, wie sich die Potsdamer Mannschaft den Rebound schnappte. Er stöhnte. Zum zehnten Mal lag er heute im Dreck.

»Komm schon, Thiele«, feuerte ihn jemand aus dem Publikum an und half ihm auf. »Noch zwanzig Sekunden. Du packst das!«

Und ob er das packen würde. Antons Muskeln spannten sich und er sprang auf. Im Vollsprint jagte der Shooting Guard durch das Heer der Potsdamer Riesen dem Ball hinterher. Deren Spielführer führte den Ball geradewegs Richtung Freiwurflinie. Der nächste Korb entschied das Spiel. Gerade als Anton den letzten Gegner passierte, setzte der Ballführende zu einem Sprungwurf an. Niemand stellte sich ihm entgegen, niemand hielt ihn auf, niem… Anton machte einen langen, donnernden Schritt und sprang. Die Zeit schien stillzustehen. Die Rufe der anderen Spieler und die Schreie der Zuschauer vermengten sich zu einem einzigen tiefen Dröhnen. In voller Streckung wischte Antons Arm über den Kopf des Werfers hinweg, doch der Ball verließ bereits dessen Hände.

Erst als Anton wieder den Boden unter seinen Füßen spürte, drehte sich die Welt in normaler Geschwindigkeit, seine Fingerspitzen schickten ein verzögertes Signal an das Gehirn. Er hatte es geschafft und den Ball noch gestreift! Der Ball prallte an die Innenseite des Rings, von wo aus er wieder zurück ins Feld sprang. Anton hechtete ihm entgegen, bekam ihn zu fassen und schlug einen Haken weg vom wütenden Potsdamer Spieler. In der Ferne, über dem gegnerischen Korb, flimmerten ihm rot die Ziffern der verbleibenden Spielzeit entgegen. Es blieben fünf Sekunden für ein letztes Fast Break. Mit einem Doppelpass überspielten er und ein Teamkamerad zwei Gegner. Um einen dritten drehte er sich, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren, bis ihn nur noch ein paar Meter vom Korb trennten. Darunter stand der größte seiner Gegenspieler – die gewaltigen Arme ausgebreitet wie Bahnschranken. Erneut verengt sich das Spielfeld zu einem schwarzen Tunnel.

Ohne zu wissen, ob er wirklich brüllte oder ob es ihm nur so vorkam, sprintete Anton mit gesenktem Kopf auf den Verteidiger zu, täuschte eine Rechtsbewegung an, zog links vorbei und schraubte sich zum Korbleger in die Höhe. Doch der menschliche Leuchtturm drehte sich überraschend schnell und sprang ihm mit erhobenen Armen entgegen. Instinktiv zog Anton den Ball zurück und ließ ihn auf der anderen Seite des Rings gegen das Brett prallen.

Während die letzte Sekunde erstarb und die Sirene das Ende des Spiels verkündete, sank der Ball ins Netz. Den Jubel von den Rängen und seiner Mannschaft hörte Anton nicht mehr. Das Geräusch seiner brechenden Nase versetzte seinen ganzen Körper in Schwingung. Als hätte seine Wut nur auf diesen kleinen Riss in ihrem Gefängnis gewartet, brach sie aus ihm heraus und hinterließ nichts als einen schweren, roten Schleier, hinter dem Antons Welt verschwand.

»Was machst du nur, Junge?«, brummte Herr Ribbentrop, als er die Tür der Umkleidekabine hinter sich schloss.

»Tut mir leid«, war alles, was Anton herausbrachte. Im leeren Raum klang seine Stimme viel zu laut. Der Dampf aus der Dusche legte sich langsam. Handtuch und Hirn fühlten sich ganz klamm an. Er wusste nicht, was mehr schmerzte: sein Auge, seine Nase, sein Knie oder sein Schädel.

»Schau mich an, wenn ich mit dir rede!«, sagte sein Trainer und trat näher. Seine Stimme klang ernst und besorgt.

Als Anton den Kopf hob, war er froh, durch die Plastiktüte mit dem zerstoßenen Eis das enttäuschte Gesicht von Herrn Ribbentrop nicht richtig erkennen zu können. So wirkte der massige Körper nur wie ein Kaleidoskop aus Bauch und Glatze, Schnäuzer und rot glänzendem Trainingsanzug.

»Hast du Stress?«, fragte der Trainer knapp.

»Nee, läuft alles.« Die ganze Sache war Anton ziemlich unangenehm. Zum Glück waren die anderen Jungs schon abgehauen.

»Und warum bist du dann ausgetickt? Normalerweise bist du doch nicht so.« Herr Ribbentrop runzelte die Stirn. »Anton, ich habe dich für die Landesauswahl vorgeschlagen und wollte dich nächste Saison in die U18 stecken. Was, wenn die Scouts von Alba da waren? Dann kannst du dir das verdammte Leistungszentrum in Berlin abschminken!«

»Darüber wollte ich eh noch mal mit Ihnen reden«, wich Anton aus. »Ich bin ständig verletzt – da wird das doch sowieso nichts. Und ich weiß auch gar nicht, ob ich das alles noch will.« Hoffentlich gab sich der Trainer mit seiner Antwort zufrieden!

Herr Ribbentrop musterte Anton nachdenklich. »Okay, darüber reden wir noch. Jetzt komm erst mal wieder runter und auf die Beine, Junge. Wenn deine Eltern mitkriegen, dass sich ihr Sohn nach dem Spiel mit der halben gegnerischen Mannschaft prügelt, legen die uns beide übers Knie.« Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem aufmunternden Grinsen.

»Ich weiß doch auch nicht, was los war«, sagte Anton tonlos. »Die Typen hatten mich das ganze Spiel über auf dem Kieker.«

»Klar hatten die das. Du bist unser bester Spieler. Wäre ich ihr Trainer, hätte ich das genauso gemacht.« Der Trainer zögerte. »Na, bis auf das Nasebrechen vielleicht.«

Anton musste lachen. »Aua, das tut weh. Ich glaube, eine Rippe hat’s auch erwischt.«

Herr Ribbentrop hockte sich vor ihn und nahm ihm den Eisbeutel aus der Hand. Anton musste bei diesem Anblick an ein großes, gutmütiges Nilpferd denken. Während der Trainer sich Antons Gesicht anschaute, murmelte er vor sich hin: »Das Auge wird wahrscheinlich nicht weiter anschwellen und die Nase wieder gerade anwachsen. Der Sani glaubt nicht, dass du ins Krankenhaus musst. Ich hatte übrigens nicht den Eindruck, dass du ganz bei dir warst, als ich dir den Zinken gerichtet habe.«

»Vielleicht hab ich eine leichte Gehirnerschütterung oder so?«

»Kann sein. Jedenfalls hast du jetzt eine Weile Zeit, dich auszukurieren. Die werden dich wahrscheinlich für die halben Play-offs sperren.«

»Aber das ist total unfair!« Anton sprang auf, Adrenalin pumpte mit einem Mal heiß durch seinen Körper. »Warum sperren die mich? Der Typ hat doch angefangen.«

»Trotzdem kriegt er für das Foul nur ein oder zwei Spiele«, stellte der Trainer nüchtern fest. »Deine Aussetzer konnte ich zumindest nicht mehr zählen.«  

»Oh …«

»Im Spiel warst du ja schon immer mit ganzem Herzen bei der Sache, aber das heute war neu. Vielleicht redest du mal mit deiner Mutter darüber. Sie wartet übrigens vor der Halle. Hab ihr gesagt, du bist gestürzt. Vielleicht sollte sie morgen besser keine Zeitung lesen.« Der Trainer gab Anton eine lasche Ohrfeige und wuchtete sich hoch. »Mach einfach mal ein bisschen ruhiger! Hast du dir verdient.«

Als Herr Ribbentrop gegangen war, saß Anton noch eine Weile reglos da. Anstatt sich anzuziehen, starrte er auf die gegenüberliegende Wand. Aus dem schmalen beschlagenen Spiegel, der dort hing, blickte ihm ein Junge entgegen, der bis vor zwei Stunden das vielversprechendste Talent Brandenburgs gewesen war: schmale, athletische Figur, braune Locken, ein längliches, feines Gesicht. Die grünen Augen blickten traurig zurück. Er erkannte sich selbst nicht wieder, alles war verschwommen und fremd.

 

»Da bist du ja!« Seine Mutter winkte ihm schon von Weitem. Perfekt zurechtgemacht wie immer lehnte sie am Familienkombi, der allein auf dem großen Parkplatz stand und sich nahtlos in die graubraune Herbstbrühe einfügte.

Anton seufzte. Widerwillig humpelte er mit seiner Sporttasche über der Schulter auf die zierliche Frau zu. Den Kopf eingezogen und die Hände in den Taschen ließ er ihre Umarmung über sich ergehen.

»Mama, du sollst mich doch nicht abholen. Ich kann mit dem Zug fahren. Der Verein bezahlt die Fahrkarte.«

Annette Thiele löste sich von ihrem Sohn, um die Schwellung an der Schläfe und die geklammerte Platzwunde über dem Nasenbein in Augenschein zu nehmen.

Sie sog scharf Luft ein. »Meine Güte, Anton, das sieht ja schlimm aus. Du musst wirklich besser auf dich aufpassen. Tut es weh, mein armer Schatz?« Sie strich ihm über die Wange und Anton zuckte zurück. »Also ehrlich – da kannst du ja gleich zum Kickboxen gehen statt zum Basketball.«

»Mama …«

»Wir fahren jetzt in die Notaufnahme, um das abzuklären.«

»Mama, bitte …«

»Jetzt gibt mir erst mal die Tasche, dann …«

»Verflucht, Mama!«, schrie Anton und ließ seine Tasche krachend auf den Boden fallen. »Ich bin fünfzehn, verdammt. Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist, wenn du mich überall hinfährst und abholst und anrufst, wenn ich mal zehn Minuten zu spät bin? Ich bin kein Kind mehr.« Ohne zu wissen, woher die Wut plötzlich erneut kam und die Tränen, die mit dem Regen über sein Gesicht liefen, schnappte sich Anton die Tasche und rannte Richtung Bahnhof. Obwohl an diesem nassen Sonntagabend im Oktober keine Menschenseele vor die Tür ging und die Jalousien bereits heruntergelassen waren, hatte er das Gefühl, von tausend Augen angestarrt zu werden.

»Liebling, nimm wenigstens einen Schirm!«, rief ihm seine Mutter nach. Doch Anton hörte sie nicht mehr.

 

Tropfend saß er im Fahrradabteil des Zuges. Wenigstens hatte er hier seine Ruhe, denn bei dem Wetter fuhr niemand Rad. Anton gähnte und schaute in die Dämmerung hinaus. Hinter dem nassen Fenster zogen die Lichter der fernen Dörfer wie ins Meer gefallene Sternschnuppen vorüber. Mit dem Finger folgte er den Regentropfen auf dem verkratzten Glas, bis sie einer nach dem anderen verschwanden. Krächzender Lärm aus den Lautsprechern ließ ihn aufschrecken. 25 Minuten blieben bis zum Zehdenicker Bahnhof und noch einmal so lange, bis nach Hause, wo seine Eltern wahrscheinlich ein ernstes Gespräch führen wollten, während seine kleine Schwester in ihrem Zimmer ein schiefes Lied auf ihrer Gitarre klimperte, damit sie den Streit nicht hörte.

Eine Chatbenachrichtigung seiner Smartwatch riss Anton aus seinen Gedanken. Die höllisch teure Uhr war die einzig sinnvolle Prämie, die seine Mutter jemals von ihrer Firma bekommen hatte. Auf Knopfdruck projizierte sie eine virtuelle Tastatur auf seinen Unterarm.

>>Nico: Hey, Anton! Glückwunsch zum Buzzer Beater. Dein siebter diese Saison. Noch einer mehr und du hast den Vereinsrekord geholt!

>>Anton: Danke, Mann, aber der Rest ist nicht so gut gelaufen.

>>Nico: Hat schon einer im Forum was von geschrieben. Dicke Luft nach dem Schlusspfiff – und du mittendrin?

>>Anton: Keine Ahnung. Muss wohl so gewesen sein. Hab irgendwie rot gesehen.

>>Nico: Kann ich verstehen. Die Statistik ist gerade online gegangen. Dutzend Fouls gegen dich. Ich benutz jetzt übrigens so ein geiles Analysetool im Netz. Soll angeblich KI-gesteuert sein. Wenn das funktioniert, fange ich demnächst mit dem Wetten an. Jedenfalls wollten die dich wohl kaltstellen. Weißt du schon was wegen einer Sperre?

>>Anton: Egal, Hauptsache, wir haben gewonnen. Wie läuft’s bei dir?

>>Nico: Um bei den Statistiken zu bleiben, gab es heute zum neunten Mal diesen Monat Grießbrei, und die Nachtschwester hat mehr geschlafen als ich.

>>Anton: Haben deine Eltern schon mal darüber nachgedacht, das Krankenhaus zu wechseln?

>>Nico: Ich glaube nicht. Ist trotzdem die beste Privatklinik in Berlin, und ich bin jetzt schon so lange hier. Mit meinen fünfzehn Jahren will ich endlich mal sesshaft werden.

>>Anton: Soll echt nicht blöd klingen, aber ich bewundere dich dafür, wie du damit umgehst. Wenn ich mein Leben lang ans Bett gefesselt wäre, käm ich damit nicht so locker klar.

>>Nico: Ich nehm das mal als Kompliment, Mr Weirdo.

>>Anton: Sorry, Nico, bin heute nicht gut drauf. Vielleicht sollten wir nachher weiterschreiben.

>>Nico: Alles klar. Gehst du heute noch auf Neles Geburtstagfeier?

>>Anton: Weiß nicht. Wir haben so ein Familiending, da muss ich eigentlich mit. Aber ich hab echt keine Lust …

>>Nico: Und sie ist deine Freundin!

>>Anton: Ich schau mal. Ich schreib später vielleicht noch mal.

>>Nico: Bye!

Als Anton wieder aufschaute, hatte sich die Dämmerung in Dunkelheit verwandelt. Für einen Augenblick war ihm, als stünde er neben sich und beobachtete einen Typen, dessen Gesicht offensichtlich in eine Käsereibe geraten war. Was war nur los mit ihm?

Als der Zug Zehdenick erreichte, kreischten die Bremsen auf, und Anton hätte gerne eingestimmt.

Nachdem er die Alte Post, das ehemalige Krankenhaus und den alten Friedhof hinter sich gelassen hatte, konnte er sein Zuhause schon sehen. Zwischen den mehr oder weniger unscheinbaren Einfamilienhäusern wirkte es wie ein Hochsicherheitsgefängnis. An dem hohen Metallzaun waren so viele Bewegungssensoren angebracht, dass jeder Nachtfalter ein Dutzend Außenscheinwerfer auslöste. Bestimmt war das zweistöckige Haus nachts vom Mond aus sichtbar. Auf hohen Stangen saßen surrende Kameras wie hungrige Geier und hielten Ausschau nach ihrem nächsten Opfer. Lediglich eine Selbstschussanlage fehlte, vermutlich nur, weil sie gegen zu viele Gesetze verstieß. Den Rest bezahlte die Computerfirma, für die Antons Mutter als Programmiererin arbeitete. Ganz genau wusste er gar nicht, was sie machte, aber es musste wichtig genug sein, um extra eine Glasfaserleitung für Überlichtinternet bis zu ihnen nach Hause zu legen. Dass die Nachbarn davon nichts abbekamen, machte Familie Thiele nicht unbedingt beliebter. Selbst nach zehn Jahren in Zehdenick galten sie immer noch als frisch zugezogene Berliner. Anton hatte keine Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre in Berlin. Nur ein großes Durcheinander wie ein bekritzeltes Bilderbuch, aus dem Seiten herausgerissen und falsch wieder eingeklebt worden waren.

»Alles klar, Kumpel?«, bellte ihn überraschend der viel zu gut gelaunte Wachhund seiner Mutter von der anderen Seite des Tores an, als Anton das Haus endlich erreichte. »Wie war dein großes Spiel?«

»Ganz okay«, seufzte Anton. Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht und seine Keycard durch den Schlitz.

Herr Freitag schob seinen Maßanzug und den Haarsprayhelm durch den sich öffnenden Spalt und musterte eingehend Antons völlig durchnässte Erscheinung.

»Was machen Sie so spät noch hier? Außerdem ist Wochenende.«

»Das Business schläft nie, mein Junge. Dataland Cyber Systems ist zwar eines der weltweit führenden Datenanalyseunternehmen, aber manche Sachen übergeben auch wir lieber per Hand«, antwortete Herr Freitag und zwinkerte verschwörerisch. Anton hatte sich von der freundlichen Fassade nie täuschen lassen. Entweder war der Typ der Mr Universe der Bürohengste oder er war sein eigener Bodyguard. Antons Schwester glaubte sogar, einmal eine Pistole unter seinem Jackett gesehen zu haben.

»Jetzt aber rein mit dir, Sportsfreund. Deine Eltern machen sich schon Sorgen. Und morgen ist wieder Schule angesagt.« Der Mann in Schwarz zwinkerte Anton verschwörerisch zu.

»Herbstferien«, sagte Anton augenrollend und versuchte, sich an Herrn Freitag vorbeizuquetschen.

Herr Freitag lächelte noch einmal sein falschestes Lächeln, griff in die Innentasche seines Anzugs und zog einen Umschlag hervor.

»Was ist das?«, fragte Anton.

»Die Unterlagen für das Praktikum in der Firma, über das wir gesprochen haben. Wir halten große Stücke auf dich, Anton. Wir glauben, dass Talent vererbbar ist.«

»Das wird nichts. Neben Schule und Training hab ich keine Zeit.«

»Mach dir darüber mal keine Gedanken.« Herr Freitag zwinkerte. »Darum kümmere ich mich. Klar, Sportsfreund?«

Zögernd nahm Anton den Umschlag entgegen, steckte ihn in seine Jacke und ging ohne ein weiteres Wort zum Haus.

 

Die Stimmung am Abendbrottisch lag zehn Stockwerke unter dem Keller. Antons Mutter hatte nach einer Gabel Kartoffelpüree aufgegeben und schob ihren vollen Teller wortlos zu ihrem Mann. Wolfgang Thiele war damit beschäftigt, zwischen seinen Kindern hin- und herzuschauen, ohne sich entscheiden zu können, ob er zuerst Antons Gesicht oder Adas Frisur ansprechen sollte. Antons kleine Schwester hatte sich vor einer Stunde – angeblich aus Versehen – einseitig ihre blonde Lockenmähne abrasiert. Jetzt sah sie von links aus wie ein Engelchen und von rechts wie eine Klobürste. Mit aufgeblasenen Backen stocherte sie in den Tiefkühlerbsen herum und zwinkerte in einem unbeobachteten Moment ihrem Bruder schelmisch zu. Anton musste bei dem Anblick schmunzeln und formte mit den Lippen ein wortloses Danke. Es gab wahrscheinlich nicht viele elfjährige Mädchen, die ihren großen Bruder mit so einer Aktion aus der Schusslinie ihrer Eltern zogen.

»Wollen wir morgen alle zusammen Pilze sammeln gehen?«, versuchte sich Antons Vater an einer unverfänglichen Gesprächseröffnung. »Vielleicht gibt es auch noch ein paar Blaubeeren.«

»Ich muss leider arbeiten«, Annette seufzte. »Die Deadline eines neuen Projektes drückt ziemlich.«

Sie atmete tief ein und löste ihren strengen Zopf. »Es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so schwierig bin. Heute waren schon wieder die Heizungsleute da, und Herr Freitag sitzt mir im Nacken, weil die Firma an die Börse will und ein paar zentrale Datenfilter …« Sie unterbrach sich und winkte ab.

»Der Himmel klart auf«, sagte Antons Vater, der aufgestanden war und aus dem Fenster schaute. »Mit ein bisschen Glück sehen wir dieses Jahr wieder die Sterne. Oma und Opa würden sich sicher freuen.« Annettes Gesicht hellte sich schlagartig auf.

Anton schluckte. »Ich wollte gleich noch zu Nele.«

»Heute?« Die Enttäuschung in der Stimme seiner Mutter war überdeutlich. »Sie hat doch erst morgen Geburtstag?«

»Sie wollte um Mitternacht feiern. Hab ich vergessen, tut mir leid.«

Sein Vater blickte besorgt hinüber zu seiner Frau, die sich an die Stirn griff, als hätte sie plötzlich heftige Kopfschmerzen. »Dann muss Nele dieses Jahr ohne dich feiern, Schatz. Heute ist wichtig, morgen ist auch noch Zeit für Partys.«

»Das ist ungerecht«, platzte es heftiger aus Anton heraus, als er beabsichtigt hatte. »Alle meine Freunde sind da und ich hänge mit meiner Familie rum.« Er ließ das Besteck auf den Teller fallen und verschränkte seine Arme vor der Brust. Als das Klirren verklungen war, herrschte eine unangenehme Stille, bedrückend und bedrohlich wie vor einem Sturm.

Schweigend begann seine Mutter den Tisch abzuräumen. Ada half ihr. Unfähig zu irgendeiner Reaktion blieb Anton sitzen. Irgendwie bereute er, sich erneut nicht unter Kontrolle gehabt zu haben, aber verdammt – er war kein kleines Kind mehr! Und warum musste seine Mutter immer alles so dramatisieren?

Schließlich stand er auf und ging in sein Zimmer. Durch die geöffnete Badezimmertür sah er, dass Ada vor dem Spiegel stand und begonnen hatte, die kahlen Stellen auf ihrem Kopf mit Filzstiften zu verzieren. Sie summte vor sich hin und winkte ihm zu, als sein Blick ihrem begegnete. Er musste lächeln. Immerhin eine in dieser Familie verstand ihn.

In seinem Zimmer drehte er zuerst den Thermostat herunter – wie immer war es viel zu warm in dem Raum, der genau über dem Heizungskeller lag. Während Anton seine Sportkleider aus der Tasche kramte, klopfte es leise an der Tür.

»Ich will meine Ruhe, Papa!«, sagte Anton. Es war immer wieder überraschend, wie behutsam so ein großer Kerl sein konnte, der täglich zentnerschwere Steine schleppte.

»Und ich will mit dir reden!« Die Stimme seines Vaters klang ernst.

Anton stöhnte: »Ist nicht abgeschlossen.«

Wolfgang Thiele blieb im Türrahmen stehen. »Mama geht’s nicht gut. Wir gehen nicht zum Wasserturm. Fürs Campen ist das Wetter wahrscheinlich auch zu schlecht.«

»Aha«, antwortete Anton und starrte auf sein Spiegelbild im dunklen Fenster. »Bin auch ziemlich platt. Wegen dem Spiel und so.«

»Willst du darüber reden?«

»Später vielleicht.«

»Wollen wir morgen bei Dr. Pietsch vorbeifahren?«

»Ich laufe morgen die große Runde. Da komme ich eh an der Praxis vorbei.«

Wolfgang Thiele nickte. Nach einer kurzen Pause fasste er sich ein Herz: »Entschuldige dich doch bei Mama. Du weißt, wie wichtig ihr diese Nacht ist.«

»Warum soll ich mich denn entschuldigen?«, fragte Anton. »Ihr erlaubt mir nichts, sperrt mich in diesem Kaff ein, als wäre ich ein kleines Kind.«

»Und was ist mit Oranienburg?«, warf sein Vater ein. »Das ist ungerecht. Wir lassen dich zu jedem Training und den Spielen fahren.«

»Und wie lange habe ich darum kämpfen müssen? Wie oft hat Herr Ribbentrop euch quasi auf Knien angerufen?« Die Wut in ihm wurde lauter, seine Stimme jedoch leiser. »Wenn das noch mal so lange dauert, bin ich fünfzig, bis ich ins Leistungszentrum nach Berlin kann.«

Antons Vater trat ein paar Schritte ins Zimmer und setzte sich neben Anton auf die Bettkante.

»Wir haben es dir doch schon erklärt«, sagte er seufzend, »Berlin ist eine andere Welt, du bist …«

»… zu jung, um das zu verstehen«, zitierte Anton augenrollend.

»Sagen wir das wirklich so oft?«

Anton nickte. »Du sagst auch immer, die Sterne laufen uns nicht weg. Warum müssen wir denn unbedingt heute raus? Morgen ist auch noch eine Nacht.«

»Wäre das erste Mal, dass wir nicht gehen.« Erwartungsvoll sah er seinen Sohn an.

Eine Entschuldigung, ein Einlenken und alles würde wieder seinen gewohnten Gang gehen. Sie würden zum Wasserturm wandern – wie jedes Jahr. Die Sterne beobachten und wahrscheinlich trotz des Wetters im Zelt übernachten, bis die Sonne aufging. Aber diesmal nicht. Anton hatte sein eigenes Leben! Freunde, eine feste Freundin und einfach tausend andere Dinge im Kopf als dämliche Familientraditionen.

»Davon, dass wir die Sterne anstarren, werden Oma und Opa auch nicht wieder lebendig.« Die Worte verließen seinen Mund, ehe er sie richtig gedacht hatte.

Irgendetwas in den Augen seines Vaters schien zu zerbrechen. Wolfgang Thiele erhob sich drohend über seinen Sohn. »Das ist der einzige Tag im Jahr, an dem deine Mutter nicht an ihre Arbeit denkt«, mit jeder Silbe stieg die Lautstärke. »Herrgott, ich weiß, Erwachsenwerden ist ein Haufen Mist, aber das heißt nicht, dass du deine Familie links liegen lassen kannst. Wir verlangen nicht viel von dir, nur diese eine Nacht.«

Anton schluckte schwer, doch sein Stolz war größer als seine Furcht. Er stand auf. »Von wegen erwachsen. Das Haus, Zehdenick und ihr … ich ersticke hier irgendwann. Mama behandelt mich wie ein Kleinkind und …«

»Ich behandele dich nicht wie ein Kleinkind«, sagte Annette Thiele, die plötzlich in der Tür stand. Sie hatte geweint, versuchte jedoch, sich nichts anmerken zu lassen. Ihre Stimme blieb ruhig, hatte aber die Kraft, ihre beiden Männer verstummen zu lassen. »Ich mache mir nur Sorgen. Du willst so weit weg. Vor lauter Training sehen wir dich jetzt schon kaum noch. Wenigstens dieser eine Abend im Jahr gehört uns vieren, das musst du doch verstehen. Auch wenn wir heute nicht zum Wasserturm gehen, lass uns einen Familienabend verbringen. Oma und Opa hätten sich das gewünscht.«

»Aber …«