Roger Zelazny

Die Chroniken von Amber

3

IM ZEICHEN DES EINHORNS

Aus dem Englischen
von Thomas Schlück

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Übersetzung wurde für diese Neuausgabe vollständig überarbeitet.

 

Hobbit Presse

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Sign of the Unicorn« im Verlag Gollancz, London

© 1975 by Roger Zelazny

© 2015 by Amber Ltd

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover und Illustration: Birgit Gitschier, Augsburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98129-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10983-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1.

Ich ignorierte den fragenden Blick des Pferdeknechts, als ich das grausige Bündel zu Boden senkte und das Tier in seine Obhut gab. Mein Umhang vermochte die Beschaffenheit des Inhalts nicht zu verhüllen, als ich es mir über die Schulter warf und auf den Hintereingang des Palasts zustapfte. Die Hölle würde bald ihren Tribut fordern.

Ich ging um das Übungsfeld herum und schlug den Pfad ein, der zum Südteil des Palastgartens führte. Weniger Zeugen. Natürlich würde man mich entdecken, was hier aber nicht so unangenehm war wie auf der Vorderseite, wo immer Betrieb herrschte. Verdammt!

Und noch einmal: verdammt! Sorgen hatte ich meiner Ansicht nach wirklich genug. Doch wer viel hat, dem wird gegeben. Eine spirituelle Form von Zins und Zinseszins, nehme ich an.

Am anderen Ende des Gartens, beim Brunnen, lungerten ein paar Müßiggänger herum. Wächter bewegten sich durch die Büsche, die den Weg säumten. Sie sahen mich kommen, steckten kurz die Köpfe zusammen und wandten dann den Blick ab. Klug gehandelt.

Ich war noch keine ganze Woche wieder hier. Die meisten Probleme ungelöst. Der Hof von Amber voller Unruhe und Misstrauen. Und jetzt das: ein Todesfall, der die kurzen, unglücklichen Herrschaftsbestrebungen Corwins I. – das bin ich – noch weiter gefährden konnte.

Ich musste etwas in Angriff nehmen, dem ich mich gleich hätte widmen sollen. Aber es war auch von Anfang an so viel zu tun gewesen. Immerhin hatte ich nicht dagesessen und Däumchen gedreht. Ich hatte mir Prioritäten gesetzt und entsprechend gehandelt. Jetzt aber …

Ich durchquerte den Garten, trat aus dem Schatten in das schräg einfallende Sonnenlicht hinaus und ging auf die breite, geschwungene Treppe zu. Als ich den Palast betrat, salutierte ein Wächter. Ich nahm den hinteren Aufgang, stieg in die erste Etage hinauf, dann in die zweite. Dann in die dritte.

Von rechts trat mein Bruder Random aus seinen Räumen.

»Corwin!«, sagte er mit prüfendem Blick in mein Gesicht. »Was ist los? Ich habe dich vom Balkon aus gesehen, und …«

»Hinein«, sagte ich und machte eine Bewegung mit den Augen. »Wir müssen uns vertraulich unterhalten, und zwar sofort.«

Er zögerte und musterte meine Last.

»Gehen wir zwei Türen weiter, ja?«, sagte er. »Vialle ist hier.«

»Gut.«

Er ging voraus und öffnete die Tür. Ich betrat das kleine Wohnzimmer, wählte eine passende Stelle und ließ den Körper fallen.

Random starrte auf das Bündel.

»Was erwartest du von mir?«, fragte er.

»Pack es aus«, sagte ich. »Und schau’s dir an.«

Er kniete nieder, öffnete den Mantel und schlug den Stoff zurück.

»Tot«, bemerkte er. »Was ist das Problem?«

»Du hast dir das Ding nicht richtig angeschaut«, sagte ich. »Zieh mal ein Augenlid hoch. Öffne den Mund und sieh dir die Zähne an. Betaste die Spitzen auf den Handrücken. Zähle die Gelenke in den Fingern. Und dann sag du mir, was das Problem ist.«

Er kam meinen Wünschen nach. Als er die Hände erreichte, hielt er inne und nickte.

»Ja«, sagte er. »Ich erinnere mich.«

»Erinnere dich laut.«

»Vor langer Zeit, in Floras Haus …«

»Ja, dort habe ich so ein Wesen zum ersten Mal gesehen«, sagte ich. »Aber die Kerle waren hinter dir her. Bis heute weiß ich nicht, warum.«

»Das ist richtig«, bemerkte er. »Ich hatte nie Gelegenheit, dir davon zu erzählen. So lange sind wir seither nicht zusammen gewesen. Seltsam … Woher kommt dieses Exemplar?«

Ich zögerte, hin und her gerissen zwischen der Furcht, ihn von seiner Geschichte abzubringen und dem Bedürfnis, ihm meine zu erzählen. Schließlich gewann meine Geschichte, weil sie mir noch sehr frisch im Gedächtnis war.

Ich seufzte und ließ mich in einen Sessel fallen.

»Wir haben gerade einen weiteren Bruder verloren«, begann ich. »Caine ist tot. Ich bin ein bisschen zu spät gekommen. Dieses Ding – dieses Wesen – hat es getan. Ich wollte es lebend fangen, aus offensichtlichen Gründen. Aber es wehrte sich erstaunlich heftig, und ich hatte keine andere Wahl.«

Er pfiff leise durch die Zähne und setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl.

»Ich verstehe«, sagte er vorsichtig.

Ich musterte ihn eingehend. Lauerte da nicht ein schwaches Lächeln in den Kulissen, bereit, sich dem meinen anzuschließen? Durchaus möglich.

»Nein«, sagte ich entschieden. »Wenn es anders wäre, hätte ich dafür gesorgt, dass meine Unschuld weit weniger in Zweifel gezogen werden könnte. Ich sage dir, was wirklich geschehen ist.«

»Also schön«, sagte er. »Wo ist Caine jetzt?«

»Er liegt unter einer Erdschicht in der Nähe des Einhornwäldchens.«

»Das allein sieht ziemlich verdächtig aus«, sagte er. »Oder wird so aussehen. Für die anderen.«

Ich nickte.

»Ich weiß. Doch ich musste die Leiche verstecken und sie irgendwie bedecken. Ich konnte ihn nicht einfach herbringen und all die neugierigen Fragen auf mich einprasseln lassen. Nicht, solange da noch wichtige Tatsachen auf mich warten, in deinem Kopf.«

»Gut«, sagte Random. »Ich weiß nicht, wie wichtig sie sind, aber sie stehen dir natürlich zur Verfügung. Doch lass mich nicht in der Luft hängen, ja? Wie ist es passiert?«

»Es war direkt nach dem Mittagessen«, sagte ich. »Ich hatte mit Gérard unten am Hafen gesessen. Anschließend holte mich Benedict durch seine Trumpfkarte nach oben. In meinem Zimmer fand ich einen Zettel, den man offenbar unter der Tür hindurchgeschoben hatte. Darin wurde ich für später am Nachmittag zu einer privaten Zusammenkunft in das Einhornwäldchen gebeten. Die Unterschrift lautete: ›Caine‹.«

»Hast du den Zettel noch?«

»Ja.« Ich holte das Papier aus der Tasche und reichte es ihm. »Hier.«

Er studierte den Text und schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Könnte seine Handschrift sein – wenn er es sehr eilig hatte. Aber ich glaube nicht, dass sie es ist.«

Ich zuckte die Achseln, nahm den Zettel wieder an mich, faltete ihn zusammen und steckte ihn ein.

»Wie auch immer. Ich versuchte, ihn durch seinen Trumpf zu erreichen, um mir den Ritt zu ersparen. Doch er war nicht empfangsbereit. Ich vermutete, er wollte seinen Aufenthaltsort geheim halten, wenn die ganze Sache so wichtig war. Ich holte mir also ein Pferd und ritt los.«

»Hast du jemandem gesagt, wohin du wolltest?«

»Keiner Menschenseele. Allerdings beschloss ich, das Pferd ein bisschen auszureiten, und legte ein ganz schönes Tempo hin. Seinen Tod habe ich nicht gesehen, als ich das Wäldchen erreichte, sah ich ihn schon am Boden liegen. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, und in einiger Entfernung bewegte sich etwas in den Büschen. Ich ritt den Kerl nieder, sprang ihn an, kämpfte mit ihm und musste ihn schließlich töten. Dabei ist kein Wort gefallen.«

»Bist du sicher, dass du den Richtigen erwischt hast?«

»So sicher, wie man in einer solchen Situation sein kann. Seine Spur führte zu Caine. Er hatte frisches Blut an der Kleidung.«

»Vielleicht sein eigenes.«

»Schau ihn dir genauer an. Er hat überhaupt keine Wunden. Ich habe ihm das Genick gebrochen. Natürlich fiel mir ein, wo ich seinesgleichen schon mal gesehen hatte. Deshalb habe ich ihn direkt zu dir gebracht. Doch bevor du mir mehr darüber erzählst, noch eine Kleinigkeit, gewissermaßen die Krönung der Sache.« Ich zog die zweite Nachricht aus der Tasche und übergab sie ihm. »Das Geschöpf hatte das hier bei sich. Ich vermute, es hatte den Zettel Caine abgenommen.«

Random las und gab mir das Blatt mit einem Nicken zurück.

»Von dir an Caine, mit der Bitte um ein Treffen. Ja, ich verstehe. Überflüssig anzumerken …«

»Ja, überflüssig anzumerken«, fiel ich ihm ins Wort, »dass die Schrift tatsächlich ein bisschen wie die meine aussieht – jedenfalls auf den ersten Blick.«

»Ich frage mich, was geschehen wäre, wenn du als Erster eingetroffen wärst.«

»Wahrscheinlich gar nichts«, sagte ich. »Lebendig und unter Verdacht – so will man mich offenbar haben. Notwendig war nur, uns in der richtigen Reihenfolge dorthin zu holen, und ich habe mich nicht genug beeilt, um zu verpassen, was folgen sollte.«

Er nickte.

»In Anbetracht des knappen Zeitplans«, sagte er, »muss es sich um jemanden handeln, der an Ort und Stelle ist, hier im Palast. Hast du eine Idee?«

Ich lachte leise und griff nach meiner Zigarette. Ich zündete sie an, immer noch lachend.

»Ich bin gerade erst nach Amber zurückgekommen. Du bist die ganze Zeit hier gewesen«, sagte ich. »Wer hasst mich hier zur Zeit am meisten?«

»Corwin, das ist eine peinliche Frage«, stellte er fest. »Jeder hat irgendetwas gegen dich. Normalerweise würde ich Julian oben auf die Liste setzen. Doch scheint das in diesem Fall nicht zu funktionieren.«

»Warum nicht?«

»Er und Caine sind gut miteinander ausgekommen. Schon seit Jahren. Sie sind füreinander eingestanden, sind oft zusammen gewesen. Eine ziemlich dicke Freundschaft. Julian ist kühl und ignorant und so unangenehm wie eh und je. Doch wenn er überhaupt jemanden mochte, dann Caine. Ich glaube nicht, dass er ihm etwas angetan hätte, nicht einmal, um dich zu treffen. Sicher wären ihm andere Möglichkeiten eingefallen, wenn er das vorgehabt hätte.«

Ich seufzte. »Wer steht als Nächster auf der Liste?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht.«

»Also gut. Was meinst du, wie wird man auf die Sache reagieren?«

»Du sitzt in der Klemme, Corwin. Alle werden glauben, du hättest ihn getötet, gleichgültig, was du sagt.«

Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf den Toten. Random schüttelte den Kopf.

»Das kann genauso gut ein armer Teufel sein, den du als Sündenbock aus den Schatten geholt hast.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Seltsam, meine Rückkehr nach Amber. Ich traf zum genau richtigen Augenblick ein, um eine günstige Ausgangsposition zu haben.«

»Einen besseren Augenblick kann man sich nicht vorstellen«, sagte Random. »Um dein Ziel zu erreichen, brauchtest du nicht einmal Eric zu töten. Ein echter Glücksfall für dich.«

»Ja. Dennoch ist es kein großes Geheimnis, dass ich genau das vorhatte, und es dauert bestimmt nicht lange, bis meine Truppen – schwerbewaffnete Ausländer, die hier einquartiert sind – ein paar sehr negative Gefühle auslösen. Nur die drohende Gefahr von außen hat mich bisher davor bewahrt. Und dann die Dinge, die ich vor meiner Rückkehr getan haben soll, wie der Mord an Benedicts Dienstboten. Und jetzt das …«

»Ja«, sagte Random. »Das habe ich kommen sehen, als du mir davon erzählt hast. Als du und Bleys vor Jahren die Stadt angegriffen habt, hat Gérard einen Teil der Flotte abkommandiert und euch damit den Weg geebnet. Caine dagegen griff mit seinen Schiffen an und zersprengte eure Streitmacht. Nachdem er nun nicht mehr ist, wirst du vermutlich Gérard zum Befehlshaber der ganzen Flotte machen.«

»Wen sonst? Er kommt als Einziger für den Posten infrage.«

»Trotzdem …«

»Trotzdem. Zugegeben. Wenn ich jemanden umbringen müsste, um meine Position zu festigen, wäre Caine das logische Opfer. Das ist die einfache, niederschmetternde Wahrheit.«

»Was hast du vor?«, fragte Random.

»Ich werde überall herumerzählen, was geschehen ist, und festzustellen versuchen, wer dahintersteckt. Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Ich habe überlegt, ob ich dir ein Alibi verschaffen könnte. Aber das wäre nicht sehr vielversprechend.«

Ich schüttelte den Kopf. »Dazu stehst du mir zu nahe. Wie gut sich unsere Geschichte auch anhören würde, sie hätte vermutlich genau die entgegengesetzte Wirkung.«

»Hast du die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Tat zuzugeben?«

»Ja. Aber Notwehr käme dabei nicht infrage. Es muss ein Überraschungsangriff gewesen sein, wegen der durchgeschnittenen Kehle. Und für die Alternative fehlt mir der Nerv: irgendwelche Beweise zurechtzuflicken, wonach er etwas Übles im Schilde führte, und dann zu behaupten, ich hätte zum Wohle Ambers gehandelt. Ich bin rundweg dagegen, unter diesen Umständen ein falsches Schuldbekenntnis abzulegen. Außerdem würde mir das einen ziemlich üblen Geruch anhängen.«

»Aber auch den Ruf der Härte.«

»Doch die falsche Härte für die Art Herrschaft, die ich ausüben möchte. Nein, das kommt nicht infrage.«

»Damit hätten wir alle Möglichkeiten durch – so gut wie alle.«

»Was soll das heißen – so gut wie alle?«

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Random seinen linken Daumennagel.

»Nun, ich muss daran denken, wenn es eine Person gibt, die du gern aus dem Rennen geworfen hättest, wäre jetzt der richtige Augenblick darüber nachzudenken, dass man auch versuchen könnte, jemand anderen zu belasten.«

Ich dachte über seine Worte nach und drückte meine Zigarette aus.

»Nicht schlecht«, sagte ich. »Doch im Augenblick kann ich von meinen Brüdern keinen mehr erübrigen, nicht einmal Julian. Außerdem ist er derjenige, an dem falsche Beweise am schlechtesten haften würden.«

»Es braucht ja kein Familienmitglied zu sein«, meinte er. »Es gibt zahlreiche ehrenwerte Amberianer, die ein Motiv haben könnten. Beispielsweise Sir Reginald …«

»Vergiss die Sache, Random! Wir belasten keinen anderen!«

»Also gut. Damit sind meine kleinen grauen Zellen erschöpft.«

»Hoffentlich nicht die, die deine Erinnerung enthalten.«

»Also schön.«

Er seufzte, reckte sich, stand auf, stieg über den dritten Anwesenden und ging zum Fenster. Er zog die Vorhänge auf und starrte eine Zeitlang hinaus.

»Also schön«, wiederholte er. »Es gibt viel zu erzählen …«

Und er begann, sich laut zu erinnern.

2.

Obwohl Sex das liebste Hobby vieler Menschen ist, gibt es viele andere Dinge, mit denen man sich zwischendurch gern beschäftigt, Corwin. Bei mir sind es das Schlagzeug, die Fliegerei und das Spielen, wobei die Reihenfolge nicht weiter wichtig ist. Na ja, vielleicht steht das Fliegen – in Gleitern, Ballonen und gewissen anderen Maschinen – ein wenig über den anderen Tätigkeiten, doch auch hierbei spielt die jeweilige Stimmung eine große Rolle, wie du weißt. Ich meine, fragtest du mich ein andermal, würde ich vielleicht eins der beiden anderen Steckenpferde obenan stellen. Es hängt immer davon ab, was man sich im Augenblick am meisten wünscht.

Jedenfalls war ich vor einigen Jahren hier in Amber. Ich tat nichts Besonderes, sondern war einfach zu Besuch und ging den Leuten auf die Nerven. Zu der Zeit war Vater noch in der Stadt, und als ich eines Tages bemerkte, dass er sich mal wieder in eine seiner miesen Stimmungen hineinsteigerte, beschloss ich, dass ein Spaziergang angebracht sei. Ein langer Spaziergang. Ich hatte schon oft bemerkt, dass seine Zuneigung mir gegenüber im umgekehrten Verhältnis zu meiner Nähe stand. Zum Abschied schenkte er mir eine hübsche Reitgerte – vermutlich um den Prozess der Zuneigung zu beschleunigen. Es war eine wirklich schöne Gerte – versilbert und herrlich gestaltet –, und ich gebrauchte sie oft. Ich hatte beschlossen, mir einen kleinen Winkel in den Schatten zu suchen, wo ich ungestört meinen schlichten Freuden nachgehen konnte.

Es war ein langer Ritt – ich werde dich nicht mit Einzelheiten langweilen –, der mich ziemlich weit von Amber fortführte. Diesmal suchte ich nicht nach einem Ort, wo ich eine besondere Stellung besaß. Das wird entweder bald langweilig oder problematisch, je nachdem, wie wichtig man sein möchte. Ich jedoch wollte gerade ein verantwortungsloser Niemand sein und einfach Spaß am Leben haben.

Texorami ist eine Hafenstadt mit langen schwülen Nächten, viel guter Musik, Glücksspiel rund um die Uhr, mit Duellen zu jedem Sonnenanfang und Schlägereien zwischendurch für alle, die nicht warten können. Und die Aufwinde dort sind einfach großartig. Ich besaß ein kleines rotes Segelflugzeug, mit dem ich alle paar Tage in den Himmel aufstieg. Ein herrliches Leben. Ich spielte Schlagzeug in einem Kellerlokal am Fluss, wo die Wände fast ebenso schwitzten wie die Gäste und der Qualm als milchige Streifen um die Lampen strich. Wenn ich nicht mehr spielen wollte, suchte ich mir andere Unterhaltung, meist im Bett oder am Kartentisch. Und damit war dann der Rest der Nacht gelaufen. Verdammter Eric! Ich erinnere mich gerade … Er hat mich einmal beschuldigt, falsch zu spielen, wusstest du das? Dabei ist das ungefähr die einzige Sache, bei der ich ehrlich bin. Ich nehme das Kartenspiel ernst. Ich bin ein guter Spieler und ich habe Glück. Beides traf auf Eric nicht zu. Sein Problem war, dass er zu viele Dinge beherrschte, er wollte nicht einmal vor sich selbst eingestehen, dass es etwas gab, von dem andere mehr verstanden. Wenn man ihn immer wieder besiegte, musste man eben betrügen. Eines Abends fing er deshalb eine laute Auseinandersetzung mit mir an, die ernst hätte werden können, wenn Gérard und Caine nicht dazwischengetreten wären. Das muss ich Caine zugestehen – an jenem Abend hat er für mich Partei ergriffen. Armer Kerl … Ein hässlicher Tod. Seine Kehle … Na ja, jedenfalls hielt ich mich in Texorami auf, gab mich mit Musik und Frauen ab, spielte Karten und sauste am Himmel herum. Palmenbäume und des Nachts erblühende Stiefmütterchen. Herrliche Hafengerüche – Gewürze, Kaffee, Teer, Salz … du weißt schon. Adlige, Kaufleute und Bauern – dieselben Figuren wie an den meisten anderen Orten. Ein Kommen und Gehen von Seeleuten und Reisenden verschiedener Herkunft. Burschen wie ich, die am Rande der Szene lebten. Ich verbrachte zwei Jahre in Texorami, glücklich. Wirklich. Kaum Kontakt mit den anderen. Ab und zu ein grußkartenähnliches Hallo durch die Trümpfe, aber das war so ziemlich alles. In dieser Zeit musste ich kaum an Amber denken. Alles änderte sich eines Abends. Ich saß gerade mit einem Full House auf der Hand da, und der Bursche auf der anderen Seite des Tisches versuchte sich darüber klar zu werden, ob ich bluffte oder nicht.

Da begann der Karo-Bube plötzlich zu mir zu sprechen.

Ja, so hat es begonnen. Ich war ohnehin in einer ziemlich verrückten Stimmung. Ich hatte gerade ein paar gute Spiele gehabt und war noch irgendwie berauscht. Außerdem war ich erschöpft von einem langen Flug während des Tages und hatte in der Nacht davor nicht besonders viel geschlafen. Ich habe später überlegt, dass es wohl unser besonderer Umgang mit den Trümpfen gewesen sein muss, der mich aufmerken ließ, sobald mich jemand zu erreichen versuchte, während ich Spielkarten in der Hand hielt – irgendwelche Spielkarten. Normalerweise empfangen wir solche Nachricht ohne etwas in den Händen, es sei denn, der Anruf geht von uns aus. Vielleicht lag es an meinem Unterbewusstsein, das damals irgendwie erschöpft war und sich in diesem Augenblick wohl rein gewohnheitsmäßig der vorhandenen Requisiten bediente. Später habe ich mir das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich weiß es letztlich nicht.

Der Bube sagte: »Random.« Dann verschwamm sein Gesicht, und er sagte: »Hilf mir!« Ich begann zu spüren, welche Persönlichkeit dahinterstecken könnte, doch nur vage. Der ganze Impuls war sehr schwach. Schließlich formte sich das Gesicht von neuem, und ich erkannte, dass ich recht gehabt hatte. Es war Brand. Er sah übel aus und schien irgendwo festgebunden oder angekettet zu sein. »Hilf mir!«, sagte er noch einmal.

»Ich bin hier«, sagte ich. »Was ist los?«

»… Gefangener …«, sagte er, und dann noch etwas, das ich nicht verstehen konnte.

»Wo?«, wollte ich wissen.

Daraufhin schüttelte er den Kopf.

»Kann dich nicht holen«, sagte er. »Ich habe keine Trümpfe und bin zu schwach. Du musst auf dem langen Wege kommen …«

Ich fragte ihn nicht, wie er die Verbindung ohne meinen Trumpf hergestellt hatte. Es schien mir wichtiger, seinen Aufenthaltsort zu erfahren. Ich fragte ihn, wie ich ihn ausfindig machen könnte.

»Schau genau her«, sagte er. »Erinnere dich an jede Einzelheit. Vielleicht kann ich dir das Bild nur einmal durchgeben. Und bring Waffen mit …«

Dann sah ich die Landschaft – über seine Schulter, eingerahmt von einem Fenster, über einer Befestigung – ich weiß es nicht genau. Es war ein Ort, weit von Amber entfernt, wo die Schatten verrückt zu spielen beginnen. Weiter entfernt, als mir lieb ist. Eine öde Welt, mit unruhig wechselnden Farben. Flammenzuckend. Ein sonnenloser Tag. Felsen, die wie Segelschiffe über das Land glitten. Brand in einer Art Turm – ein winziger Punkt der Stabilität in einer fließenden Szene. Ich erinnerte mich hinterher ganz deutlich daran. Und ich erinnerte mich an das Geschöpf, das sich um den Fuß des Turms geringelt hatte. Ein prismatisch schimmerndes Gebilde. Offenbar eine Art Wachwesen – zu hell, um die Umrisse zu erkennen, die wahre Größe zu erraten. Dann löste sich alles auf. Und ich saß da und starrte auf den Karo-Buben, und die Burschen auf der anderen Seite des Tisches wussten nicht, ob sie sich über mein langes Schweigen aufregen oder sich Sorgen machen sollten, dass ich irgendeinen Anfall erlitten hatte.

Ich beendete mein Spiel und ging nach Hause. Dort lag ich ausgestreckt auf meinem Bett, rauchte eine Zigarette und überlegte. Als ich Amber verlassen hatte, war Brand noch dort gewesen. Als ich mich jedoch später nach ihm erkundigte, wusste niemand so recht, wo er steckte. Er hatte eine seiner melancholischen Phasen gehabt, hatte sich eines Tages daraus gelöst und war fortgeritten. Und das war alles. Keine Nachrichten – gute oder schlechte. Er reagierte nicht, er sprach nicht.

Ich versuchte, das Problem von allen Seiten zu beleuchten. Brand war schlau, verdammt schlau. Vermutlich der Intelligenteste in der Familie. Er steckte in der Klemme und hatte mich gerufen. Eric und Gérard waren kämpferischer veranlagt als ich und hätten sich wahrscheinlich über das Abenteuer gefreut. Caine wäre vermutlich aus Neugier losgezogen, Julian, um sich über uns andere zu erheben und bei Vater Pluspunkte zu sammeln. Brand hätte sich auch – und das wäre das einfachste gewesen – direkt an Vater wenden können. Vater hätte dann schon die nötigen Schritte unternommen. Doch er hatte sich mit mir in Verbindung gesetzt. Warum?

Mir kam der Gedanke, dass vielleicht einer oder mehrere Brüder für seine Lage verantwortlich waren. Wenn Vater ihn beispielsweise offen begünstigt hatte … Nun ja. Du weißt, wie so etwas geht. Eliminiere das Eindeutige. Wenn er zu Vater gekrochen wäre, hätte er wie ein Schwächling ausgesehen.

Ich unterdrückte also meinen Impuls, Verstärkung zu holen. Er hatte mich gerufen, und es war durchaus möglich, dass ich sein Ende besiegelte, wenn ich in Amber bekanntwerden ließ, dass er seine Nachricht durchbekommen hatte. Also gut. Was war für mich dabei zu gewinnen?

Wenn es um die Nachfolge ging und er wirklich der erste Anwärter geworden war, konnte es mir nur nützen, bei ihm in Gunst zu stehen. Und wenn nicht … Dann gab es alle möglichen anderen Möglichkeiten. Vielleicht war er auf etwas gestoßen, das zu wissen sich lohnen mochte. Neugierig machte mich auch die Methode, mit der er die Trümpfe umgangen hatte. So war es also letztlich Neugier, die mich dazu brachte, ihn ganz alleine retten zu wollen.

Ich staubte meine Trümpfe ab und versuchte, mich wieder mit ihm in Verbindung zu setzen. Doch ich erhielt keine Antwort. Ich schlief mich erst einmal aus und versuchte es am nächsten Morgen noch einmal. Wieder nichts. Längeres Warten hatte also keinen Sinn mehr.

Ich schärfte mein Schwert, gönnte mir ein gutes Frühstück und zog robuste Kleidung an. Außerdem nahm ich eine dunkle polarisierte Brille mit. Natürlich wusste ich nicht, wie sich die Gläser dort auswirken würden, aber das Wachwesen war mir überaus hell vorgekommen, und es schadet nie, alles Mögliche auszuprobieren. Deshalb nahm ich auch eine Feuerwaffe mit. Ich hatte das Gefühl, als würde sie mir dort nicht viel nützen, und damit behielt ich recht. Aber wie gesagt, so etwas weiß man erst, wenn man es ausprobiert.

Die einzige Person, von der ich mich verabschiedete, war ein Schlagzeuger, dem ich vor dem Abflug mein Instrument übergab. Ich wusste, dass er gut darauf achtgeben würde.

Dann marschierte ich zum Hangar hinaus, machte das Segelflugzeug startbereit, stieg auf und suchte mir den richtigen Wind. Dies schien mir die beste Methode zu sein.

Ich weiß nicht, ob du schon einmal durch die Schatten geflogen bist, aber … Nein? Nun, ich steuerte aufs Meer hinaus, bis das Land nur noch eine vage Linie im Norden war. Dann ließ ich das Wasser unter mir kobaltblau werden, ließ es emporsteigen und die gischtsprühenden Bärte seiner Wogen schütteln. Der Wind schlug um. Ich machte kehrt. Unter einem dunkler werdenden Himmel flog ich mit den Wogen um die Wette in Richtung Küste. Texorami war verschwunden, als ich an die Flussmündung zurückkehrte, stattdessen breitete sich dort ein riesiger Sumpf aus. Ich ließ mich von den Luftströmungen landeinwärts treiben und überquerte immer wieder den Fluss an allen neuen Windungen und Kurven, die er sich zugelegt hatte. Verschwunden waren die Hafenanlagen, die Straßen, der Verkehr. Die Bäume ragten hoch auf.

Wolken ballten sich im Westen zusammen, rosarot, perlmutterfarben, gelb. Die Sonne wechselte von orange zu rot zu gelb. Du schüttelst den Kopf? Die Sonne war der Preis der Städte, weißt du. Hastig entvölkere ich … oder besser gesagt, ich gehe die Route der Elemente. Aus dieser Höhe hätten Dinge von Menschenhand mich nur abgelenkt. Schattierung und Textur sind von entscheidender Bedeutung. Das meinte ich, als ich sagte, dass Fliegen ein wenig anders ist.

Also, ich hielt nach Westen, bis die Wälder von grünen Flächen abgelöst wurden, die schnell blasser wurden, ausliefen, in braune und gelbe Gebiete aufbrachen. Hell und krümelig, dann fleckig. Der Preis hierfür war ein Sturm. Ich ritt auf ihm, so lange ich konnte, bis die Blitze in der Nähe niederzuckten und ich Angst bekam, die Windstöße könnten zu viel werden für das kleine Segelflugzeug. Sofort schwächte ich den Sturm wieder, doch die Folge war mehr Grün unter mir. Trotzdem ließ ich das Unwetter schließlich hinter mir, eine gelbe Sonne sicher in meinem Rücken. Nach einer Weile holte ich die Wüste unten zurück, kahl und von Dünen geriffelt.

Dann schrumpfte die Sonne, und Wolkenfetzen zogen rasch vor ihrem Gesicht vorbei, löschten sie Stück für Stück aus. Dies war die Abkürzung, die mich weiter von Amber fortführte als je zuvor.

Nun gab es keine Sonne mehr, doch das Licht blieb, nicht minder hell, doch irgendwie unheimlich, diffus. Es täuschte das Auge, es verzerrte die Perspektive. Ich ging tiefer hinab, beschränkte mein Sehfeld. Nach kurzer Zeit kamen riesige Felsbrocken in Sicht, und ich bemühte mich um die Umrisse, an die ich mich erinnerte. Allmählich tauchten sie auf.

In diesen Verhältnissen war der lebhafte, fließende Effekt leichter zu erzeugen, doch ihn aufrechtzuerhalten war physisch belastend. Ich hatte Schwierigkeiten, den Gleiter zu steuern und kam tiefer, als ich wollte. Fast wäre ich mit einem Felsen zusammengestoßen. Doch endlich hob sich der Qualm, und Flammen tanzten empor, so wie ich es in Erinnerung hatte. Sie hatten keinen bestimmten Rhythmus, sondern kamen da und dort aus Rissen, Löchern, Höhlenöffnungen. Die Farben begannen das wirre Spiel, an das ich mich noch erinnerte. Dann begannen sich die Felsen zu bewegen – dahintreibend, segelnd, wie ruderlose Boote an einem Ort, wo Regenbogen ausgewrungen werden.

Inzwischen waren die Luftströmungen völlig verrückt geworden. Ein Aufwind nach dem anderen, wie Springbrunnen. Ich kämpfte mit ihnen nach besten Kräften, wusste aber, dass ich in dieser Höhe nicht lange die Oberhand behalten konnte. Ich stieg ein gutes Stück empor und vergaß eine Zeitlang alles andere, während ich versuchte, mein Fluggerät zu stabilisieren. Als ich wieder nach unten blickte, war es, als würde ich eine formlose Regatta schwarzer Eisberge beobachten. Die Felsen bewegten sich, stießen zusammen, wichen voreinander zurück, kollidierten erneut, gerieten ins Kreiseln, scherten aus über freie Flächen, glitten aneinander vorbei. Dann wurde auch ich herumgewirbelt, in die Tiefe gedrückt, wieder hochgesaugt – und ich sah, wie eine Strebe brach. Ich nahm eine letzte Korrektur an den Schatten vor und schaute noch einmal hinab. In der Ferne war der Turm aufgetaucht, und ein Gebilde heller als Eis oder Aluminium lag um seinen Fuß.

Die letzte Verschiebung besiegelte mein Schicksal. Das erkannte ich, als sich der Wind besonders unangenehm bemerkbar zu machen begann. Mehrere Seile rissen, und ich war auf dem Weg nach unten – als würde ich einen Wasserfall herunterreiten. Ich zog die Nase des Flugzeugs hoch, versuchte einen langen Anflug, sah die Stelle, an der ich aufkommen würde, und sprang im letzten Augenblick ab. Der Segler wurde von einem der herumsausenden Felsen zermalmt. Das machte mir mehr zu schaffen als die Schnitte, Abschürfungen und Prellungen, die ich mir geholt hatte.

Schon im nächsten Augenblick musste ich schnell reagieren, denn ein Berg kurvte auf mich zu. Wir wichen beide zur Seite aus, glücklicherweise in unterschiedliche Richtungen. Ich hatte keine Ahnung, was diese Gebilde in Gang hielt, und konnte zuerst auch kein System hinter ihren Bewegungen zu erkennen. Der Boden unter meinen Füßen schwankte zwischen warm und ausgesprochen heiß, und mit dem Rauch und den gelegentlichen Flammenzungen wallten aus zahlreichen Bodenöffnungen stinkende Gase empor. Ich eilte auf den Turm zu, wobei ich notgedrungen einen ziemlich gewundenen Weg wählte.

Es dauerte lange, bis ich die Strecke zurückgelegt hatte. Wie lange ich genau brauchte, weiß ich nicht, da ich keine Möglichkeit hatte, die Zeit zu messen. Stattdessen begannen mir einige interessante Wiederholungen aufzufallen. Erstens bewegten sich die großen Felsen schneller als die kleinen. Zweitens schienen sie sich zu umkreisen – Kreise in Kreisen in Kreisen –, die größeren um die kleineren, kein Stein je bewegungslos. Vielleicht ging die Ur-Bewegung von einem Staubkorn oder einem einzigen Molekül aus – irgendwo. Ich hatte weder Zeit noch Lust für den Versuch, das Zentrum dieser Angelegenheit zu bestimmen. Dennoch setzte ich meine Beobachtungen unterwegs fort und vermochte sogar etliche Kollisionen ein gutes Stück im Voraus zu bestimmen.

So kam Junker Random zum finsteren Turm, yeah, die Pistole in der einen, das Schwert in der anderen Hand. Die Brille hing mir um den Hals. Bei all dem Rauch und der verwirrenden Beleuchtung wollte ich sie erst aufsetzen, wenn es absolut erforderlich war.

Weshalb auch immer, die Felsen wichen dem Turm aus. Zuerst schien er mir auf einer Anhöhe zu stehen, doch ich erkannte beim Näherkommen, dass man wohl eher sagen musste, die Felsen hätten unmittelbar davor eine enorme Senke ausgeschabt. Von meiner Seite vermochte ich nicht zu entscheiden, ob das Ergebnis eine Insel oder eher eine Halbinsel war.

Ich rannte durch Rauch und Geröll und wich den Flammen aus, die aus Rissen und Löchern emporzüngelten. Schließlich krabbelte ich den Hang hinauf und löste mich damit aus den Umlaufbahnen der wandernden Felsen. Mehrere Minuten lang blieb ich unten am Hang an einer Stelle, die vom Turm aus nicht eingesehen werden konnte. Ich überprüfte meine Waffen, brachte meinen Atem wieder unter Kontrolle und setzte die Brille auf. Dann schwang ich mich über die Kante und duckte mich nieder.

Ja, die Brille funktionierte. Und ja, das Ungeheuer wartete bereits auf mich.

Es bot einen fürchterlichen Anblick, gleichzeitig auch irgendwie schön. Es hatte einen gewaltigen Echsenleib und einen Kopf, breit wie ein mächtiger Vorschlaghammer, der zur Schnauze hin spitz zulief. Augen von einem besonders hellen Grün. Das Geschöpf war durchsichtig wie Glas, auf dem schwache Linien einen Schuppenpanzer anzudeuten schienen. Was auch immer durch seine Adern floss, war ebenfalls ziemlich klar. Man konnte geradewegs in das Geschöpf hineinblicken und seine Organe ausmachen, die milchig-wolkig wirkten. Man war fast versucht, sich von seinem Anblick ablenken zu lassen. Es besaß an Kopf und Hals eine dichte Mähne, die an Glasfaserbüschel erinnerte. Als es mich erblickte, hob es den Kopf und glitt auf mich zu, wie ein Strom, wie dahinfließendes Wasser, wie ein Fluss ohne Ufer. Was mich jedoch fast erstarren ließ, war die Tatsache, dass ich seinen Magen sehen konnte. Darin lag ein teilweise verdauter Mensch.

Ich hob die Pistole, zielte auf eins der Augen und drückte ab. Ich habe dir schon gesagt, dass es nicht funktionierte. Ich warf die Pistole fort, sprang nach links und hieb mit der Klinge nach seinem Auge.

Du weißt selbst, wie schwierig der Kampf gegen reptilienhafte Wesen ist. Ich hatte mich blitzschnell für den Versuch entschieden, das Ungeheuer zunächst zu blenden und ihm die Zunge abzuschneiden. Da ich nicht unbedingt langsam auf den Füßen war, hatte ich anschließend vielleicht Gelegenheit, ein paar anständige Schläge am Kopf anzubringen, bis ich es enthaupten konnte. Dann konnte sich das Ding ineinander verknoten, bis alles vorbei war. Ich hegte zudem die Hoffnung, dass es sich nach seiner letzten Mahlzeit noch einigermaßen schwerfällig bewegen würde.

Doch wenn das Wesen jetzt schwerfällig reagierte, war ich heilfroh, dass ich nicht vor seiner Mahlzeit gekommen war. Es wich meiner Klinge aus und zuckte mit dem Kopf vor, noch während ich aus dem Gleichgewicht war. Die mächtige Schnauze streifte meine Brust, und ich hatte das Gefühl, von einem riesigen Hammer getroffen zu werden. Rücklings ging ich zu Boden.

Ich rollte mich seitlich ab, um außer Reichweite zu kommen, und rappelte mich am Rande der Anhöhe wieder auf. Das Geschöpf entspannte sich wieder, zerrte einen Gutteil seines Körpers in meine Richtung, richtete sich auf und drehte von neuem den Kopf in meine Richtung, etwa fünfzehn Fuß über mir.

Ich weiß verdammt gut, dass Gérard diesen Augenblick für einen Angriff gewählt hätte. Der großgewachsene Kerl wäre mit seiner Riesenklinge losgestürmt und hätte das Biest in zwei Hälften gehauen. Die Teile wären wahrscheinlich über ihm zusammengeschlagen und hätten sich auf ihm herumgewunden, was ihm ein paar Prellungen und vielleicht eine blutige Nase eingebracht hätte. Benedict dagegen hätte das Auge nicht verfehlt. Er hätte wahrscheinlich längst beide Augen in der Tasche gehabt und mit dem Kopf Fußball gespielt, während er im Geiste eine Notiz an Clausewitz verfasste. Diese beiden sind eben echte Helden. Ich stand einfach da mit erhobener Klingenspitze, beide Hände um den Griff gelegt, die Ellenbogen in die Hüften gestemmt, den Kopf zurückgeneigt so weit es ging. Ich wäre viel lieber geflohen und hätte die ganze Sache sausen lassen. Nur wusste ich, dass der Kopf niederzucken und mich zermalmen würde, wenn ich das versuchte.

Schreie aus dem Turm ließen erkennen, dass man mich entdeckt hatte, doch ich war nicht willens, den Kopf zu drehen, um nachzuschauen, was dort geschah. Dann begann ich, das Geschöpf zu verfluchen. Ich wollte, dass es endlich zuschlug und die Sache zu Ende brachte, so oder so.

Als es sich schließlich bewegte, zog ich die Beine an, drehte den Körper herum und richtete die Schwertspitze direkt auf mein Ziel.

Der Schlag lähmte einen Teil meiner linken Seite, und ich hatte das Gefühl, einen Fuß tief in den Boden getrieben worden zu sein. Irgendwie gelang es mir, auf den Füßen zu bleiben. Ja, ich hatte alles richtig gemacht. Das Manöver war genauso abgelaufen, wie ich gehofft und geplant hatte.

Bis auf das Ungeheuer, das leider nicht mitmachte. Die erwarteten Todeszuckungen blieben aus.

Im Gegenteil, es machte Anstalten, sich zu erheben.

Und dabei nahm es noch mein Schwert mit. Der Griff steckte in der linken Augenhöhle, die Spitze ragte als weiterer Stachel aus der Mähne am Hinterkopf. Ich hatte das Gefühl, dass die angreifende Mannschaft geliefert war.

In diesem Augenblick erschienen Gestalten in einer Öffnung am Fuße des Turms. Sie sahen hässlich aus und waren bewaffnet, und ich hatte das Gefühl, dass sie nicht gerade auf meiner Seite standen.

Also gut. Ich weiß, wenn es Zeit wird, die Zelte abzubrechen und auf bessere Karten zu hoffen.

»Brand!«, brüllte ich. »Hier Random! Ich komme nicht durch! Tut mir leid!«

Dann machte ich kehrt, lief los und sprang über den Rand dorthin, wo die Felsen ihre verwirrenden Bahnen zogen. Ich überlegte, ob ich mir für meinen Abstieg wirklich die beste Zeit ausgesucht hatte.

Wie so oft lautete die Antwort ja und nein.

Es war ein Sprung, wie ich ihn nur aus zwingenden Gründen tun würde. Als ich unten auftraf, war ich noch am Leben, doch das war auch schon alles, was sich über meinen Zustand sagen ließ. Ich war betäubt, und lange Zeit hatte ich das Gefühl, mir beide Knöchel gebrochen zu haben.