Über Jan Lucas

Jan Lucas ist das Pseudonym eines Autors zahlreicher erfolgreicher historischer Romane und Thriller. Er lebt in Deutschland, hält sich aber immer wieder gern auf der Kanalinsel Guernsey auf.

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Chief Inspector Cyrus Doyle ermittelt in atemberaubender Landschaft

In der malerischen Rocquaine Bay wird am Strand eine tote Frau gefunden. Auf ihrer Haut hat der Mörder eine Botschaft hinterlassen. Cyrus Doyle und seine Kollegin Pat Holburn stehen vor einem Rätsel. Als sich herausstellt, dass der Jogger, der die Leiche der Künstlerin gefunden hat, ein Verhältnis mit ihr hatte, wird Cyrus Doyle misstrauisch. Und was verschweigt der Strandwächter, der zur Tatzeit in der Bucht war? Schließlich machen Cyrus Doyle und Pat eine erschütternde Entdeckung.

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Jan Lucas

Cyrus Doyle
und die Kunst
des Todes

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Jan Lucas

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Guernsey

Erster Tag: Sonntag, 14. Juni

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zweiter Tag: Montag, 15. Juni

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Dritter Tag: Dienstag, 16. Juni

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Vier Tage später: Samstag, 20. Juni

Epilog

Nachwort

Impressum

Für Kay
von Cy

Guernsey

Guernsey
St. Peter Port

Erster Tag
Sonntag, 14. Juni

Prolog

Die Luft roch nach Salz und Jod und nach jener morgendlichen Frische, die bald schon Vergangenheit sein würde. Reginald Carney atmete tief durch und hoffte, mit der würzigen Seeluft die drückende Schwere aus seinem Schädel zu vertreiben. Jedenfalls ein Stück weit. Mehr konnte er kaum erwarten nach den Unmengen an billigem Fusel, die er gestern Abend in sich reingegossen hatte. So wie jeden Abend. Er konnte einfach nicht anders. Die Geister der Nacht waren zu stark, wenn er sich – und damit auch die Geister – nicht betäubte. Er rieb über seine müden, noch vom Schlaf verklebten Augen und blinzelte in die lang gezogene Bucht. Noch verbarg sich die Sonne auf der östlichen Inselhälfte. Hier im Westen, in der Rocquaine Bay, warf das milchige Licht des frühen Tages einen Schleier des Unwirklichen über alles.

Die Frau war verschwunden und ebenso das Monster. Er hatte sich alles nur eingebildet, natürlich. Der Alkohol war schuld. Manchmal, in lichten Momenten, fragte er sich, ob das Teufelszeug wirklich half, die Geister zu vertreiben. Oder rief es sie erst hervor, lockte es sie aus den tiefen Spalten in den Windungen seines Gehirns? Noch einmal wischte eine seiner ledrigen Hände über die Augen. Als er wieder in die Bucht sah, war alles unverändert, und erleichtert stieß er einen tiefen Seufzer aus.

Langsam setzte Carney einen Fuß vor den anderen, als wären die alten Kampfstiefel zu schwer für ihn. Er sah Ruderboote und ein paar kleine Fischkutter, die auf dem nur bei Ebbe sichtbaren Teil des Strandes lagen. Kein Mensch war zu sehen. Auch kein seltsames Wesen, wie man es vielleicht nur in den unbekannten Tiefen der Ozeane fand. Warum auch? Es war doch nichts anderes als Einbildung gewesen, eine Ausgeburt seines Rausches.

Nur ein paar Möwen hüpften aufgeregt hin und her, als Carney sich ihnen näherte. In einem der über Nacht angespülten Tanghaufen verbarg sich offenbar eine Leckerei, vielleicht ein toter, schon halb verwester Fisch.

»Macht nicht so ein Tamtam, ihr verfluchten Viecher«, krähte er mit seiner alt und dünn gewordenen Stimme. »Seid lieber froh, dass ich euch nicht abknalle!«

Die Möwen blieben ihm nichts schuldig und erwiderten sein Gezeter mit ihrem eigenen. Ohne weiter auf sie zu achten, setzte Carney seinen Weg in die Bucht hinein fort. Rechts von ihm erhob sich die hohe Steinmauer, die noch aus der Zeit der deutschen Besatzung stammte. Links von ihm Sand, Steine, Tang, Boote und Möwen. Er richtete seinen Blick weiter nach vorn zu dem kalkweißen Rundbau mit der grauen Umfassungsmauer, der den Süden der Bucht dominierte. »Cup and Saucer«, nannten ihn die Einheimischen mit liebevollem Spott, »Tasse und Untertasse«. Das Gebäude, offiziell Fort Grey getauft, war ein alter Martello-Turm aus der Zeit, als man Guernsey stark befestigt hatte, um eine Invasion Napoleons abzuwehren, die nie stattgefunden hatte. Jetzt befand sich darin ein Museum.

Sie musste ihm aus dieser Richtung entgegenkommen, wie sie es für gewöhnlich tat. Sie war die Einzige, die sich zu dieser frühen Uhrzeit mit den Möwen in die Bucht wagte. Aber sosehr er seine Augen auch zusammenkniff, um das Morgendämmer zu durchdringen, er sah sie nicht.

Carney ging noch ein Stück weiter und umrundete einen hellblauen Fischkutter, der sich faul in den Schlick drückte. Bei jedem Schritt schmatzte es, wenn er seine Stiefelsohlen vom Schlamm löste. Und da, jenseits des Kutters, erblickte er sie endlich.

Als wolle sie es dem müden Kutter gleichtun, lag sie bäuchlings im Schlick. Reglos. Ihr dunkelblondes Haar verteilte sich auf ihrem nackten Rücken. Sie trug nichts außer ihrem BH. Aber der schwarze Fetzen Stoff war fest um ihren Hals geschlungen, die unbedeckten Brüste drückten sich in den schlammigen Boden. Sehr ungewöhnlich. Aber noch ungewöhnlicher war ihr nacktes Gesäß, das sich ihm in geradezu obszöner Weise entgegenreckte und auf das jemand mit roter Farbe ein Wort geschrieben hatte.

Er verstand das alles nicht, und die Realität vermischte sich mit seinem Alptraum. Was, wenn das schwarze Monster zurückkehrte? Besser, er hätte nichts mit alldem zu tun. Helfen konnte er ihr ohnehin nicht. Er hatte in seinem verpfuschten Leben schon verdammt viele Tote gesehen, und Lizzie war so tot wie alle anderen.

Es war seine Schuld, hämmerte es plötzlich in seinem Kopf. Du bist schuld, du bringst allen den Tod!

»Nein!«, stieß er einen verunglückten Schrei aus, der nicht mehr war als ein Krächzen.

Carney drehte sich um und hastete so schnell er konnte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Weg von diesem Ort. Panik hatte ihn ergriffen und wurde noch größer, als der genüsslich schmatzende Schlamm ihn mit allen Kräften an den Füßen festhalten wollte wie das Monster, das ihn als sein nächstes Opfer auserwählt hatte. Jeder Schritt war ein Akt der Gewalt, ein Losreißen von diesem Ort des Todes.

Du bist schuld, dachte er wieder. Wo du bist, ist das Grauen, ist der Tod, ist Verwesung. Würde das niemals enden?

Kapitel 1

»Was haben wir?«, fragte Detective Chief Inspector Cyrus Doyle, als er unter einem in der Morgenbrise flatternden Absperrband aus Plastik hindurchtauchte und den Strand betrat.

Vor ihm stand Inspector Patricia Holburn, die viel näher an der Rocquaine Bay wohnte als er und deshalb vor ihm hier eingetroffen war. Sie trug schwarze Jeans und einen braunen Lederblouson, dessen Reißverschluss fast ganz geschlossen war. Noch war es früh am Morgen, und ein frischer Wind blies über die Bucht. Er spielte mit Pats halblangen blonden Haaren, was ihr ein leicht verwegenes Aussehen verlieh.

Fast noch attraktiver als ohnehin, schoss es Doyle durch den Kopf. Er wischte diesen Gedanken ganz schnell beiseite. In den vergangenen Monaten hatte er sich angewöhnt, sie nur als Kollegin und nicht als die Frau zu behandeln, mit der er vor mehr als zwanzig Jahren zusammen gewesen war und für die sein Herz immer noch schlug. Aber das wurde von ihr nicht erwidert, und daher arbeitete er hart daran, in ihr nichts anderes zu sehen als eine sehr gute Polizistin.

Pat zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter.

»Die Tote am Strand dort heißt Elizabeth Somers und gehört zum ›Cup and Saucer‹. Sie wurde erdrosselt, mit ihrem eigenen BH, wie es aussieht.«

»Ein Sexualdelikt?«

»Einiges deutet darauf hin, aber ich würde mich jetzt nicht festlegen. Warten wir lieber, was Dr. Nowlan dazu sagt. Nur nicht theoretisieren, bevor man alle Fakten kennt, wie dein Namensvetter Conan Doyle mal geschrieben hat.«

Doyle versuchte ein zustimmendes Lächeln, aber es geriet sehr dünn. Er hatte sich diesen Sonntag anders vorgestellt und viel Zeit mit seinem Vater verbringen wollen. Jetzt hatte er den alten Herrn nicht einmal beim Frühstück gesehen. Um genau zu sein, er hatte überhaupt kein Frühstück gehabt. Pat und allen anderen Kollegen hier ging es sicher ähnlich. Und Elizabeth Somers hatte sich für heute wohl auch etwas anderes vorgenommen als zu sterben.

»Sehen wir dem Tod ins Angesicht«, seufzte er unwillig. »Führst du mich zu der Ermordeten?«

Pat ging voran, und ihre braunen Stiefeletten knirschten in den Kieseln, aus denen der Strand zu einem guten Teil bestand. Je näher sie dem weit zurückgewichenen Wasser kamen, desto mehr Tang und Schlick vermischte sich mit den Kieselsteinen. Es knackte laut, als Doyle aus Versehen eine große Muschel zertrat.

»Wir müssen mit allem hier fertig sein, bevor die Flut kommt«, sagte er.

»Das habe ich unseren Leuten schon gesagt.«

»Natürlich, Pat. Manchmal denke ich einfach nicht daran, dass du schon viel länger bei der Guernsey Police bist als ich. Es war nicht als Kritik gemeint.«

Sie drehte sich zu ihm um, und fast war ihm, als habe er ein flüchtiges Lächeln über ihr Gesicht huschen sehen.

»So habe ich es auch nicht verstanden, Cy.«

Sie führte ihn zu dem hellblauen Kutter, neben dem die Tote lag. Elizabeth Somers war eine attraktive Frau, soweit er das beim ersten Anblick beurteilen konnte. Gewesen. Mitte bis Ende dreißig, schätzte Doyle. Ihr Gesicht war halb vom Schlamm verdeckt, deshalb konnte er ihr Alter nicht genauer schätzen. Mittelgroß, leicht gebräunte Haut und mit ausgeprägten weiblichen Formen. Das war gut zu erkennen, trug sie doch nichts weiter als ihren BH. Der saß allerdings nicht dort, wo er hingehörte, sondern war um ihren Hals gewickelt.

War das schon auffällig, so waren es die großen roten Buchstaben auf ihrem nackten Gesäß erst recht. HURE stand dort in fingerdicken Strichen, gleichmäßig verteilt auf beide Pobacken.

»Das lässt uns nicht an einen Raubmord glauben, wie?«, sagte Doyle. »Sieht aus wie mit einem Farbspray aufgetragen. Ich nehme an, du hast die Untersuchung dieser knallroten Farbe bereits veranlasst?«

»Habe ich.«

»Hat man ihre anderen Sachen gefunden?«

»Ja, hier am Strand verteilt. Sieht ganz so aus, als habe der Täter sie mit voller Wut von sich geschleudert. Wir haben all ihre Kleidungsstücke eingesammelt, vom Pullover bis zu den Gummistiefeln. Außerdem haben wir eine Plastiktüte mit Strandfunden, die in der Nähe der Toten lag.«

»Was für Strandfunde?«

»Ein paar Steine und Muscheln und ein seltsam geformtes Stück Holz, das an eine sich hochschlängelnde Kobra erinnert.«

»Wozu hat sie das gebraucht?«

»Das war wohl ihr großes Hobby. Elizabeth Somers hat die Strandfunde zu kleinen Kunstwerken verarbeitet. Sie hat sogar eine Ausstellung drüben in den Verkaufsräumen von Guernsey Gold & Silver.«

Bei diesen Worten blickte Pat zu der Granitmauer, hinter der die Straße lag. Auf der anderen Straßenseite, ungefähr auf der Höhe des alten Martello-Turms, verkaufte Guernsey Gold & Silver Schmuck und andere schöne Dinge aus Gold und Silber an Einheimische und Touristen. Es war ein alteingesessenes Unternehmen auf Guernsey.

»Woher weißt du das, Pat?«

»Von Peter Laforet, dem Juniorchef von Guernsey Gold & Silver. Er hat die Tote gefunden und uns verständigt.«

Pat zeigte auf zwei Männer in zehn Metern Entfernung. Doyle erkannte sofort die korpulente Gestalt von Sergeant Calvin Baker, der eifrig in ein Notizbuch schrieb. Sein Gesprächspartner hockte auf der Kante eines auf dem Trockenen liegenden Ruderboots und hatte die Hände auf dem Schoß ineinander verkrampft. Ende dreißig bis Anfang vierzig, schätzte Doyle. Blondes Haar und ein gepflegter Dreitagebart in derselben Farbe. Insgesamt durchaus ein gutaussehender Mann, der seine Wirkung auf das andere Geschlecht wohl nicht verfehlte. Die Sportkleidung und die Laufschuhe unterstrichen das.

»Was hat er hier gemacht?«

»Einen Sonntagmorgenlauf, sagt er. Die frische Luft und den noch leeren Strand genießen.«

»Also war er hier nicht mit der Ermordeten verabredet?«

»Nein. Das sagt er jedenfalls.«

»Glaubst du ihm, Pat?«

Sie warf dem blonden Mann einen forschenden Blick zu.

»Ich habe keinen Hinweis darauf, dass er lügt«, sagte sie vorsichtig. »Aber auch keinen darauf, dass er die Wahrheit sagt.«

»Eine gesunde Einstellung.« Doyle ließ seinen Blick über die Bucht schweifen. »Ist Constable Allisette noch nicht eingetroffen?«

»Doch, sie war noch vor Baker hier. Schließlich wohnt sie nicht weit entfernt in der Rue des Clercs.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Auf Spurensuche, wie sie es nannte.« Als Doyle fragend die Brauen hochzog, fuhr Pat fort: »Wir haben verdächtige Fußspuren gefunden. Allisette folgt ihnen.«

Pat zeigte ihm die Spuren im Schlick, die von schweren Schuhen oder Stiefeln zu stammen schienen. Sie kamen aus Südwesten, endeten in der Nähe der Toten und führten wieder zurück nach Südwesten.

»Sieht nach Arbeitsschuhen aus«, sagte Doyle. »Wer trägt hier so etwas?«

»Vielleicht ein Fischer, der nach seinem Boot sehen wollte. Oder ein anderer Sammler, ein Kollege der Ermordeten.«

»Möglich«, meinte Doyle. »Auf jeden Fall jemand mit einem schlechten Gewissen, da er die Leiche nicht gemeldet hat.«

»Vielleicht war sie zu dem Zeitpunkt noch nicht da.«

»Das glaube ich nicht, Pat. Sieh dir die Spuren nur genau an. Die Abdrücke, die von hier weg führen, sind tiefer, und zwischen ihnen liegen größere Abstände. Das sieht ganz so aus, als hätte es unser Unbekannter auf dem Rückweg besonders eilig gehabt.«

»Ist auch meine Meinung, Cy. Deshalb habe ich bereits einen Gipsabdruck von diesen Schuhen machen lassen. Ich wollte nur keine Möglichkeit außer Acht lassen.«

Doyle nickte ihr anerkennend zu und blickte den Strand entlang nach Süden.

»Jetzt bin ich gespannt, was uns Constable Allisette über ihre Spurensuche zu berichten hat.«

***

Constable Jasmyn Allisette folgte den Spuren im Schlick mit klopfendem Herzen. Nicht nur, weil sie einem möglichen Mörder dicht auf den Fersen war, schlug ihr Herz schneller. Etwas anderes hatte sie dazu gebracht, diesen Schuhabdrücken zu folgen. Sie hatte sich so schnell wie möglich von der Toten entfernen wollen. Und von Inspector Holburn, bevor diese erkannte, was in Allisette vorging. Der Anblick der Toten – der Anblick von Lizzie Somers – hatte ihr fast den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hatte befürchtet, dass Holburn ihr die Verwirrung ansehen würde. Die Aufgabe, den auffälligen Spuren zu folgen, kam ihr mehr als gelegen. Sie musste Zeit gewinnen, um in Ruhe über alles nachzudenken.

Vor ihr lagen die letzten Meter Strand, und noch immer sah sie die Abdrücke mit dem stark ausgeprägten Sohlenprofil vor sich. In einem Thriller wäre das wohl eine zu deutliche Spur gewesen. Eine, die sie in einen Hinterhalt locken sollte.

Sie hielt kurz inne und atmete die frische Seeluft ein. Es war fast wie ein kühler Drink. Ein Blick nach hinten zeigte ihr, weit entfernt, den Fundort der Leiche. Mehr Kollegen als vorhin hielten sich jetzt dort auf, weggeholt vom sonntäglichen Frühstückstisch oder aus dem warmen Bett. Auch sie hatte noch im Bett gelegen, als der Anruf vom Hauptquartier kam, und sie hatte kurzzeitig daran gedacht, ihr Handy einfach so lange die Melodie des Scouting-For-Girls-Songs Millionaire dudeln zu lassen, bis der Anrufer entnervt aufgab. Aber ihr Pflichtgefühl hatte einen knappen Sieg errungen: Sie hatte sich Rosies sanftem Griff entzogen, hatte sich zu ihrem Nachttisch herumgedreht und das störende Gerät in die Hand genommen. Als sie »Hallo« gesagt hatte, hatte sie auf dem Display längst die großen Buchstaben HQ für »Hauptquartier« gesehen und gewusst, dass der Sonntag in Rosies Armen so plötzlich zu Ende war, wie er begonnen hatte.

Wo der Strand endete, hörten auch die Fußabdrücke auf. Vor ihr lag eine felsige Landzunge, die natürliche Grenze zwischen der Rocquaine und der Portelet Bay. Ein mit Buschwerk bewachsener Landstreifen zog sich längs der angrenzenden Straße über die Landzunge, bis hin zum Portelet Beach Kiosk. Allisette war mit der Gegend vertraut, schließlich wohnte sie nicht weit entfernt.

Sie stieg zur Uferstraße hoch und blickte sich um. Die meisten der sich von hier bis zum Kiosk erstreckenden Parkplätze waren noch leer. Später am Tag, wenn die Ausflügler kamen, um die Strände zu genießen oder am Kiosk einen Cream Tea zu sich zu nehmen, würde sich das ändern. Jetzt aber standen hier nur ein roter Toyota-Transporter und ein schwarzer Vauxhall Insignia. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Allisettes Blick heftete sich auf kleine Klumpen aus Schlamm, Kieseln und feuchtem Sand, wie sie auch an ihren eigenen Schuhen klebten. Die Spur führte quer über die Straße zu dem Wald, der sich hinter dem Imperial Hotel landeinwärts erstreckte. Sie hastete über die Fahrbahn und tauchte ins Halbdunkel des Waldes ein. Der Boden hier war weich und ein wenig feucht; er wartete noch darauf, dass die Morgensonne ihn mit ihren wärmenden Strahlen erreichte. Als sie ihre schmale Taschenlampe einschaltete, entdeckte sie sofort die tiefen Abdrücke eines starken Schuhprofils, ganz ähnlich jenen, denen sie am Strand gefolgt war. Sie war sich sicher, dass es sich um Abdrücke derselben Schuhe handelte, und setzte die Verfolgung fort.

Ein Konzert von Vogelstimmen begleitete sie, so vielfältig und laut, dass es ihr wenig sinnvoll erschien, auf mögliche verdächtige Geräusche zu achten. Vermutlich war der Unbekannte, dem die profilstarken Schuhe gehörten, auch gar nicht mehr in der Nähe. Das Einzige, worauf sie vertrauen konnte, waren die Fußspuren, denen sie zielstrebig folgte.

Nach zwei, drei Minuten standen Bäume und Unterholz weniger dicht beisammen und gaben den Blick auf eine kleine Lichtung frei. Die Spuren führten auf die Lichtung und schienen in deren Mitte zu enden, bei einem seltsamen Gebäude, dessen Anblick sie in Erstaunen versetzte. Jetzt wusste Allisette, wo sie sich befand. Als Kind war sie mit Freunden durch den Wald gestreift, und dabei waren sie auf das kleine Steinhaus gestoßen. Damals war es aber nur eine Ruine gewesen, in deren Trümmern sie gespielt hatten. Bis das Geisterhaus, wie sie es getauft hatten, uninteressant geworden war. Mein Gott, wie lange war das her? Obwohl sie noch jung war, erschien es ihr wie ein anderes Leben.

Woher das Haus stammte, wusste sie nicht. An den Küsten Guernseys hatten früher ähnliche Gebäude gestanden, sogenannte Zollhäuser. Von dort hatte man das Meer beobachtet und nach Schmugglern Ausschau gehalten. Aber für diesen Zweck stand das Geisterhaus zu weit von der Küste entfernt. Vielleicht war es ein Depot gewesen oder ein Gefängnis für ertappte Schmuggler.

Das Haus war ihr früher viel größer erschienen, und es hatte sich sehr verändert, schien nun bewohnt zu sein. In seinem jetzigen Zustand war sie geneigt, es als Festung zu bezeichnen. Es erinnerte sie an das Blockhaus aus einer Schatzinsel-Verfilmung, die sie als Kind gesehen hatte. Darin hatten sich die Guten vor Long John Silver und seinen bösen Meuterern verschanzt, um auf die Angreifer zu feuern. Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie plötzlich eine Bande von Piraten mit alten Schießprügeln und Entermessern vor der Hütte auftauchte oder eine Abteilung Soldaten aus dem achtzehnten Jahrhundert, in roten Uniformen mit weißen Perücken unter dem Dreispitz und aufgepflanztem Bajonett. Aber nichts dergleichen geschah. Das seltsame kleine Gebäude lag vollkommen ruhig vor ihr und schien sie spöttisch mit seinen winzigen, an Schießscharten erinnernden Fensteröffnungen anzublinzeln.

Je länger Allisette das aus festem Stein errichtete Haus betrachtete, desto mehr Details fielen ihr auf. Das Dach, aus dem ein winziges Schornsteinrohr ragte, wirkte auf den ersten Blick flach. Aber bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass es ein nur leicht schräges Satteldach war, gedeckt mit Schieferplatten. Wer immer hier wohnte, hatte sich gegen einen unbefugten Zutritt von oben gut abgesichert. Stacheldraht zog sich rund um die Dachkante, und auf dem Dach ragten zahlreiche spitze Glasscherben auf, die das erste Sonnenlicht bedrohlich reflektierten.

Nach allen Regeln ihres Berufs hätte Allisette jetzt zum Handy greifen, DCI Doyle einen kurzen Lagebericht geben und um Unterstützung bitten müssen. Schon um ihrer eigenen Sicherheit willen, schließlich war sie allein und – wie alle Polizisten auf Guernsey, mit Ausnahme der Eingreiftruppe – unbewaffnet. Sie hatte die Hand schon fast am Telefon, zog sie dann aber zurück. Über den Grund war sie sich selbst nicht im Klaren. Vielleicht fürchtete sie unangenehme Fragen, obwohl Doyle und Holburn kaum so schnell hinter ihr Geheimnis kommen konnten. Doch eine diffuse Furcht blieb. Möglicherweise konnte sie vermeiden, dass ihre Vorgesetzten überhaupt auf den von ihr gefürchteten Verdacht kamen, wenn es ihr hier und jetzt gelang, den Mörder dingfest zu machen.

Falls es der Mörder war, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wischte diesen Gedanken beiseite und trat durch einen Gürtel von Brombeersträuchern hinaus auf die Lichtung. Gut geblufft ist halb gewonnen, sagte sie sich und rief mit fester Stimme: »Guernsey Police. Die Hütte ist umstellt. Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«

Sie hatte die halbe Distanz zu der Hütte hinter sich, als etwas durch eins der winzigen, scheibenlosen Fensteröffnungen geschoben wurde, begleitet von einem metallischen Geräusch, einem doppelten Klacken. Die Öffnungen waren tatsächlich Schießscharten!

Allisette starrte in zwei kleine schwarze Löcher, nebeneinander angeordnet, jedes exakt so groß wie das andere. Sie war wie hypnotisiert und begriff erst nach einer kleinen Ewigkeit, was das metallische Klacken zu bedeuten hatte. Der Mörder – oder zumindest derjenige, dem sie bis hierher gefolgt war – hatte die beiden Hähne einer abgesägten Schrotflinte zurückgezogen. Zwei Schrotladungen aus dieser kurzen Entfernung, da konnte er sie gar nicht verfehlen. Wenn er abdrückte, würde das verheerende Verletzungen zur Folge haben.

»Keine Bewegung, sonst bist du tot!«

Die Stimme eines Mannes, seltsam rau, fast heiser. Sie dachte sofort an einen älteren Mann. Der Unterton, der in seinen Worten mitschwang, ließ sie noch nervöser werden. Es war Angst, mehr noch, Panik. In diesem Zustand konnte jede noch so geringe Erregung dazu führen, dass er abdrückte. Obwohl sie aus allen Poren schwitzte und ihr abwechselnd heiße und kalte Schauer über den Rücken liefen, zwang sie sich, äußerlich ruhig zu bleiben. Sie durfte die Panik ihres für sie unsichtbaren Gegenübers keinesfalls schüren.

»Beruhigen Sie sich, ich will Ihnen nichts Böses«, sagte sie, um einen festen, ruhigen Tonfall bemüht. Ihre Worte waren angesichts der Situation vielleicht nicht die klügsten, aber etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Ihr Herz schlug so heftig, dass man es fast hören konnte, und sie musste sich zwingen, ruhig zu atmen.

»Ihr kriegt mich nicht!«, fauchte der Unbekannte, und seine heisere Stimme überschlug sich dabei fast. »Wer sich meinem Haus nähert, fährt zur Hölle!«

Offenbar steigerte sich der Mann immer mehr in seine Panik hinein und hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Der doppelte Lauf der Schrotflinte begann zu zittern, erst nur leicht, dann immer stärker.

Mit Worten, das war Allisette jetzt klar, kam sie hier nicht weiter. Durch das Zittern der Waffe alarmiert, ließ sie sich blitzschnell zu Boden fallen und rollte sich über das noch taufeuchte Gras zurück ins Unterholz. Sie war kaum von der Lichtung herunter, da krachten auch schon zwei Schüsse, so kurz hintereinander, dass es sich fast wie ein einziger anhörte.

***

Doyle und Pat gingen zu dem Ruderboot, auf dem Peter Laforet hockte und, wie es schien, geduldig Sergeant Bakers Fragen beantwortete. Als sie sich vorstellten, grüßte der Juniorchef von Guernsey Gold & Silver knapp, aber nicht unfreundlich. Er blickte die Polizisten offen an und wirkte auf den ersten Blick ganz gelassen, aber Doyle fiel auf, dass seine ineinander verschränkten Hände in kurzen Abständen leicht zuckten. Laforet hielt sich an sich selbst fest, schoss es Doyle durch den Kopf. Auf dem Ringfinger der rechten Hand steckte ein auffälliger Ring, golden und silbern glänzend, der Doyle an einen alten Siegelring erinnerte. Darauf prangten ein doppeltes G und ein S, das Signet von Guernsey Gold & Silver. Er hegte keinen Zweifel daran, dass der Ring aus echtem Gold und Silber gefertigt war.

»Ich habe dem Sergeant alles gesagt, was ich über Lizzie Somers weiß«, sagte Laforet und seufzte leicht. »Ich fürchte nur, ich war nicht sehr hilfreich.«

»Waren Sie beide hier am Strand verabredet?«, fragte Doyle.

»Nein. Wie kommen Sie darauf?«

»Es ist noch früh am Morgen. Die Tote war sehr attraktiv, und die Damen dieser Insel werden über Sie mit Recht dasselbe sagen.«

»Deswegen müssen wir ja nicht gleich etwas miteinander gehabt haben.«

»Natürlich nicht.«

»Außerdem ist – war – Lizzie verheiratet.«

»Es soll ja so etwas wie außereheliche Beziehungen geben«, sagte Doyle und beobachtete, wie das Zucken von Laforets Fingern stärker wurde. »Gab es zwischen Ihnen und der Toten eine solche Beziehung?«

»Nein, das habe ich Ihnen doch gerade gesagt. Wir hatten beruflich miteinander zu tun, weil ich die Ausstellung betreute. Lizzie hat einige der Kunstwerke, die sie aus ihren Strandfunden gefertigt hat, in unseren Geschäftsräumen ausgestellt, müssen Sie wissen.«

»Das weiß ich schon. Aber es erklärt nicht, warum Sie beide fast zur gleichen Zeit hier am Strand sind.«

»Ich bin häufig so früh hier, laufe etwas und genieße die Bucht, bevor sie sich mit Menschen füllt. Oft habe ich Lizzie hier getroffen, wenn sie nach kleinen Schätzen gesucht hat. Wir haben uns gut verstanden und nett miteinander geplaudert. So ist übrigens auch die Idee zu der Ausstellung entstanden.«

Während Doyle beobachtete, wie sich Laforets Hände voneinander lösten und, wie auf der Suche nach einem Halt, über den Bootsrumpf strichen, fragte Pat: »Warum hat Mrs Somers ihre Kunstwerke nicht bei sich selbst ausgestellt, im Museum?«

»Unsere Räumlichkeiten sind geeigneter. Wir haben solche Ausstellungen fast durchgängig, meistens zum Thema Schmuck. Lizzies Arbeiten sind da eine willkommene Abwechslung.«

»Und während Ihrer Zusammenarbeit sind Sie sich nicht nähergekommen?«, hakte Pat nach. »Fanden Sie Lizzie nicht attraktiv?«

»Ja, ich fand sie attraktiv, aber das muss ja nichts heißen. Sie sind auch attraktiv, Inspector, aber das heißt ja nicht gleich, dass der DCI etwas mit Ihnen am Laufen hat.«

Doyle bemerkte ein spöttisches Zucken um Pats Mundwinkel und ergriff wieder das Wort: »Sind Sie verheiratet, Mr Laforet?«

»Nein. Macht mich das zum Frauenhelden? Sind Sie verheiratet?«

»Um mich geht es hier nicht«, sagte Doyle kühl und trat näher an Laforet heran. »Sehen Sie, Sir, die Situation ist folgende: Sie kannten die Tote und sind zeitgleich oder ungefähr zeitgleich mit ihr an diesem Strandabschnitt. Sie melden zwar den Leichenfund, aber das kann auch ein Ablenkungsmanöver sein. Auf jeden Fall sind Sie zur Sekunde unser Tatverdächtiger Nummer eins. Sollte sich herausstellen, dass Sie uns angelogen haben und doch ein Verhältnis mit Lizzie Somers hatten, würde das diesen Verdacht noch verschärfen. Ich hoffe, das ist Ihnen klar.«

Laforet nagte nervös an seiner Unterlippe und schien mit sich selbst zu ringen. Bevor er etwas sagen konnte, ließ eine laute Detonation – oder waren es zwei, schnell nacheinander? – alle aufhorchen. Nur kurz zog Doyle die Möglichkeit in Erwägung, eins der Autos auf der Küstenstraße hätte eine Fehlzündung gehabt. Es hatte sich anders angehört, und Pat sprach aus, was ihm im selben Augenblick durch den Kopf ging.

»Ein Schuss – oder zwei!«

»Jasmyn!«, stieß Baker alarmiert hervor, zückte schnell sein Smartphone und drückte auf die Taste, unter der er Allisettes Nummer gespeichert hatte. »Nichts – ihr Handy ist nicht erreichbar!«

Doyle wies einen uniformierten Constable an, das Eingreifteam anzufordern und auf Peter Laforet zu achten. Dann war er auch schon mit Pat, Baker und ein paar Kollegen in Uniform unterwegs. Sie hasteten über den Strand und folgten dabei den Spuren, die Allisette und der von ihr verfolgte Unbekannte hinterlassen hatten.

***

Die Spuren hatten sie bis zum südlichen Ende der Bucht und dann quer über die Küstenstraße in den Wald geführt. Dicht gefolgt von George Topley, einem Sergeant der uniformierten Polizei, drang Doyle in das Unterholz ein. Hinter Ästen, Zweigen und Blättern verschwanden die Kollegen, die ihnen dicht auf den Fersen waren. Unter dem Dach der Baumkronen war es noch kühl, und Doyle hatte für einen Moment eine Gänsehaut, als er an Jasmyn Allisette dachte. Warum war ihr Handy nicht erreichbar? Was mochte ihr zugestoßen sein? Und weshalb hatte sie keine Standortmeldung abgegeben als sie die Rocquaine Bay verließ? Er erinnerte sich an jenen Laut, der sich wie ein Schuss angehört hatte, und die Sorge um seinen Constable trieb ihn weiter voran. Gern wäre er noch schneller gelaufen, aber er durfte die Fußspuren auf dem weichen Waldboden nicht verlieren oder verwischen.

Als er für einen Augenblick stehen blieb, um sich über den weiteren Verlauf der Spuren zu vergewissern, spürte er Topleys schnellen Atem im Nacken.

»Es kann nicht mehr weit sein, Sir.« Der Sergeant war vorsichtig und flüsterte nur. »Sonst wäre der Schuss nicht so laut gewesen. Wir sollten nichts überstürzen. Vielleicht wäre es besser, auf die Eingreiftruppe zu warten.«

»Besser für uns vielleicht, aber für Allisette?« Doyle dachte nur kurz über Topleys Vorschlag nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Sergeant. Vielleicht ist Allisette verletzt und benötigt dringend Hilfe. Wir müssen weiter!«

Topley nickte nur, und sie nahmen die Verfolgung der Spur wieder auf. Hinter sich hörten sie ihre Kollegen im Unterholz. Zweige knackten, und jemand, der sich wohl im Gehölz verletzt hatte, stieß einen leisen Fluch aus. Schon nach einem kurzen Stück bemerkte Doyle, dass es vor ihnen heller wurde. Eine Lichtung.

»Vorsicht!«

Die leise Stimme kam von links, und sie löste in Doyle große Erleichterung aus. Er hielt sofort an und spähte durch das Geäst. Auf dem Boden hockte Jasmyn Allisette. Sie wirkte unverletzt. Als er auf sie zutrat, bemerkte er den schmutzigen Zustand ihrer Kleidung, und ein paar Blätter klebten in ihrem kurzgeschnittenen rötlichen Haar. Der Blick aus ihren grünen Augen war ungewöhnlich. Normalerweise ließ sie sich nicht so leicht in Angst versetzen, aber jetzt wirkte sie zumindest verstört.

»Sind Sie verletzt, Jasmyn?«

Er sprach ebenfalls im Flüsterton und musterte sie eingehend, konnte aber keine Schusswunde entdecken.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, alles in Ordnung. Die beiden Schrotladungen gingen in die Bäume hoch über mir. Nur ein paar Zweige und Blätter sind auf mich herabgeregnet.«

»Das hätte leicht schiefgehen können.«

Doyles Stimme klang nicht vorwurfsvoll, nur besorgt.

»Der Typ da in der Hütte hat mehr Nervenflattern als ich. Deshalb ist wohl auch sein Finger am Abzug durchgegangen.«

Erst jetzt sah Doyle jenseits des dicken Eichenstamms, hinter dem Allisette sich verschanzt hatte, auf der Lichtung die seltsame, festungsartige Hütte. »Wer hat denn da den Spruch ›My home is my castle‹ zu wörtlich genommen?«

»Der Mann, dem ich vom Strand aus gefolgt bin. Jedenfalls nehme ich das an. Die Spur führte direkt zu diesem Ort.«

»Warum haben Sie sich nicht gemeldet? Haben Sie Ihr Handy verloren?«

»Verloren nicht, aber es funktioniert nicht mehr. Als ich mich eben zu Boden geworfen habe, um den Schrotladungen zu entgehen, bin ich darauf gelandet.«

Außer Topley waren noch weitere Kollegen erschienen, darunter auch Pat und Baker. Letzterer blickte Allisette voll tiefer Sorge an und wirkte, als hätte er sie am liebsten beschützend in seine Arme genommen.

»Jasmyn, geht es dir gut?«

Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln. »Ja, Calvin. Unkraut vergeht nicht.«

Doyle hatte die Augen zusammengekniffen und betrachtete die Hütte. »Das Ding hat ja richtige Schießscharten!«

»Und genau dadurch hat der Alte auch geschossen«, sagte Allisette.

»Der Alte? Haben Sie ihn gesehen?«

»Nein, aber seine Stimme hat sich angehört wie die eines alten Mannes.«

Vergeblich zerbrach sich Doyle den Kopf darüber, wer in dieser seltsamen Mischung aus Waldhütte und altertümlicher Festung im Miniformat hausen mochte. Den kurz aufflammenden Gedanken, ob sie es hier mit Elizabeth Somers’ Mörder zu tun hatten, verdrängte er schnell wieder. Das war jetzt zweitrangig. Der Unbekannte in der Hütte war auf jeden Fall gefährlich, das hatte er bewiesen. Er musste aufgehalten werden, bevor an diesem nur vordergründig schönen Sonntag noch jemand getötet wurde.

Eine fremde, kreidige Stimme ertönte, als hätte der Mann in der Hütte Doyles Gedanken gelesen. »Ich weiß, dass ihr da im Unterholz steckt. Glaubt nur nicht, ich kriege das nicht mit. Verschwindet und lasst mich in Ruhe! Sonst treffen euch die nächsten Schrotladungen. Mit meiner Flinte muss man nicht großartig zielen, um zu treffen.«

Ein seltsamer Unterton schwang in der Drohung mit und verriet, dass der Mann mit der Schrotflinte sich seiner Sache ganz und gar nicht sicher war. Hinter der scheinbaren Bestimmtheit seiner Worte verbarg sich Angst. Nackte Angst.

Pat war in geduckter Haltung herangekommen und legte eine Hand auf Doyles Schulter. »Wir sollten uns zurückziehen und auf das Eingreifteam warten. Die Kollegen werden ihn schon aus der Hütte holen.«

»Hast du die Angst in seiner Stimme gehört, Pat?«

»Ja. Aber was ändert das? Seine Angst macht ihn nur noch gefährlicher, unberechenbar.«

»Vielleicht aber auch beeinflussbar. Du übernimmst die Leitung und führst sämtliche Kollegen aus diesem Waldstück raus.«

Pat sah ihn an, ungläubig und erschrocken zugleich. Unter anderen Umständen hätte ihm die Furcht in ihren Augen geschmeichelt, aber für solche Gefühle war es weder der rechte Ort noch die rechte Zeit.

»Oh nein, Cy, das lasse ich nicht zu! Du wirst hier nicht allein zurückbleiben, um den Helden zu spielen. Du trägst nicht mal eine Schutzweste. Wenn der Verrückte da vorn seine Schrotladungen auf dich abfeuert, zerreißt es dich in tausend Stücke. Warum warten wir nicht auf die Eingreiftruppe? Die muss jeden Augenblick hier sein.«

»Jeden Augenblick kann auch in fünfzehn Minuten heißen. Wir haben einen Mordfall aufzuklären. Außerdem, wenn die Kollegen von der Eingreiftruppe hier ihr schweres Geschütz auffahren, kann die Sache leicht eskalieren. Was ist, wenn unser Freund bei einem Feuergefecht ins Gras beißt?«

Ein harter Ausdruck, der nicht so recht zu ihren schönen, sanften Zügen passen wollte, trat auf Pats Gesicht. »Dann erspart das uns vielleicht eine aufwendige Mordermittlung.«

»Oder wir sind eines wichtigen Zeugen beraubt. Der Mann war, wie wir annehmen dürfen, kürzlich in der Rocquaine Bay, aber das macht ihn nicht automatisch zu unserem Mörder.« Als Pat etwas erwidern wollte, hob Doyle abwehrend die Hand. »Keine weitere Diskussion. Du verlässt mit den anderen sofort diesen Ort. Das ist ein Befehl.«

»Wie du willst, Cy. Aber glaub bloß nicht, dass ich Händchen halten komme, wenn du mit Schrot vollgepumpt auf der Intensivstation liegst.«

»Ich weiß, dass du nicht Händchen halten kommst.« Doyle wandte sich von ihr ab, um wieder die Lichtung mit der Hütte zu beobachten. »Und jetzt macht Dampf, dass ihr hier wegkommt!«

Er hörte Pat leise zu den anderen sprechen und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie sich seine Kollegen vorsichtig zurückzogen.

Die kreidige Stimme ertönte wieder. »Was treibt ihr da im Wald? Wollt ihr mich umzingeln? Wenn mir jemand zu nahe kommt, schieße ich!«

»Meine Leute ziehen sich zurück«, rief Doyle. »Sie haben also keinen Grund, auf sie zu schießen.«

»Dann zieh du dich gefälligst auch zurück!«

»Ich möchte mit Ihnen sprechen«, sagte Doyle laut, aber ruhig.

»Ich aber nicht mit dir.«

»Mein Name ist Cyrus Doyle, Detective Chief Inspector. Ich bin unbewaffnet.«

»Ich nicht, und deshalb solltest du jetzt schleunigst abhauen, Bulle!«

»Seien Sie doch vernünftig. Im Augenblick mag Ihre kleine Festung Sie schützen, aber gleichzeitig sitzen Sie in der Falle. Kollegen mit schweren Waffen können jeden Augenblick hier eintreffen. Gegen die haben Sie keine Chance.«

»Das bleibt abzuwarten«, gab sich der Unbekannte selbstsicher. Aber das war nur vorgetäuscht. Wenn Doyle sich nicht irrte, war die Panik in seiner Stimme stärker geworden.

»Wir suchen den Mörder von Lizzie Somers«, sagte Doyle und behielt den ruhigen, sachlichen Ton bei. »Vielleicht können Sie uns dabei helfen.«

»Ich habe Lizzie nicht getötet!« Diesmal überschlug sich die Stimme des Unbekannten fast. »Sie ist … sie war ein gutes Mädchen, immer freundlich zu mir.«

»Dann kommen Sie aus Ihrer Hütte und sprechen Sie mit mir. Ihre Aussage kann dabei helfen, den Mörder zu finden.«

»Du willst mich doch nur rauslocken, Bulle.«

»Genau das will ich. Weil ich verhindern möchte, dass es bei einem Schusswechsel mit meinen Kollegen zu einem Unglück kommt. Deshalb komme ich jetzt zu Ihnen, mit erhobenen Händen und ohne Waffe.«

»Wenn du näherkommst, knall ich dich ab!«

»Dann wären Sie tatsächlich ein Mörder«, sagte Doyle und streifte seine Jacke ab, die er achtlos auf den Waldboden fallen ließ. Der Mann in der Hütte sollte auf den ersten Blick sehen, dass er keine versteckte Waffe bei sich trug. Es war ein gefährliches Unterfangen, gegen alle Regeln. Aber in der Ferne hörte er Polizeisirenen und vermutete, dass sich die beiden BMWs mit dem Eingreifteam näherten. Er musste jetzt handeln, wenn er vor dem Eintreffen der schwer bewaffneten Kollegen noch etwas erreichen wollte.

Ihm war alles andere als wohl in seiner Haut, als er mit erhobenen Händen den Wald verließ und mit kleinen, langsamen Schritten auf die Lichtung trat. Er schwitzte, und das lag nicht nur an dem ersten Sonnenlicht, das auf die merkwürdige Hütte und ihre Umgebung fiel. Am Rand der Lichtung standen Brombeersträucher, und die Dornen verhakten sich in Doyles Hemd und Hose, als wollten sie ihn zurückhalten. Aber er ging weiter, bis erneut die Stimme des Unbekannten erscholl.

»Sofort stehen bleiben, oder ich drücke ab. Ich meine es ernst, ich bringe dich um!«

Doyle blieb, die Hände weiterhin erhoben, stehen, blickte unverwandt auf die Hütte und fragte: »Warum?«

»Was?«

»Ich möchte wissen, warum Sie mich töten wollen.«

»Damit … na, damit …« Der Mann in der Hütte beendete den Satz nicht, schien verzweifelt nach einer Antwort zu suchen. Nach scheinbar endlosen Sekunden hatte er sie gefunden. »Damit du mich nicht umbringst!«

»Das kann ich doch gar nicht. Ich trage keine Waffe bei mir. Außerdem, weshalb sollte ich Sie töten wollen?«

»Na, um mich … um mich zu bestrafen.«

»Sie sagten doch, Sie haben Lizzie Somers nicht getötet.«

»Ja, ja, das stimmt ja auch.«

»Wofür sollte ich Sie dann bestrafen wollen?«

»Für die anderen, die tot sind«, sagte der Unbekannte leise, mit einer schwachen, kaum hörbaren Stimme, als liege er im Sterben.

Doyle schluckte schwer. Das war eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hatte.

»Für die anderen, die tot sind? Wer ist sonst noch tot außer Lizzie Somers?«

»So viele.« Die Stimme aus der Hütte war weiterhin schwach und zitterte heftig. »So viele, die unschuldig waren. Männer … Frauen … Kinder. Und jetzt, jetzt jagen sie mich, um Rache zu nehmen. Aber sie haben Lizzie erwischt und nicht mich. Haben wohl gedacht, so früh am Morgen ist nur einer am Strand. Eine dumme Verwechslung. Auch Geister können sich irren. Doch damit geht Lizzies Tod auf mein Konto.«

Doyles Blick hing an dem doppelten Lauf der abgesägten Schrotflinte, der ihm aus einer der Schießscharten entgegenragte. Der Lauf wackelte bedenklich hin und her, und Doyle fragte sich, ob der Finger an den beiden Abzugshähnen ebenso unruhig war. Verfehlen würde ihn ein Schuss aus so kurzer Entfernung kaum. Die Kürze des abgesägten Laufs sorgte zwar für eine geringere Reichweite, aber dafür im Gegenzug für eine enorme Streuwirkung. Allisette hatte wirklich großes Glück gehabt, als sie den beiden Schüssen unverletzt entgangen war.

Kurz durchfuhr ihn der Gedanke, sich durch einen schnellen Sprung zur Seite in Sicherheit zu bringen. Aber das hätte sein Gegenüber erst recht nervös gemacht, und es hätte jegliches Vertrauen in Doyles Worte zerstört.

Also blieb er wie angewurzelt stehen und fuhr in seinem ruhigen Tonfall fort: »Kommen Sie doch nach draußen, damit wir reden können. Bitte! Wenn erst meine Kollegen hier auftauchen und sehen, dass Sie mich mit der Waffe bedrohen, kann ich für nichts garantieren.«

Nach ein paar Sekunden der Stille fragte der Unbekannte: »Was passiert mit mir, wenn ich zu Ihnen rauskomme?«

»Wir müssen Sie mitnehmen zur Vernehmung, das werden Sie sicher verstehen.«

»Mitnehmen? Wohin?«

»Nach St. Peter Port, ins Hauptquartier.«

»Ins Gefängnis?«

»Ich weiß es nicht. Das hängt von der Vernehmung ab. Da Sie auf eine Polizistin geschossen haben, kann ich eine Untersuchungshaft nicht ausschließen.«

Der Unbekannte schwieg, schien zu überlegen. Doyle spürte, wie er mit jeder verrinnenden Sekunde nervöser wurde. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die bewaffneten Kollegen die Lichtung umstellten. Natürlich konnte er auch dann versuchen, die Verhandlung mit dem Mann in der Hütte weiterzuführen, aber allein die Anwesenheit der Eingreiftruppe würde dessen Panik steigern.

Doyle lauschte in den Wald hinein, hörte aber keine Schritte oder andere Geräusche, die das Nahen der Bewaffneten ankündigten. Doch das musste nichts heißen. Sie waren Spezialisten und dazu ausgebildet, sich auf jedem Terrain möglichst leise zu bewegen.

Endlich ertönte aus der Hütte ein Räuspern. »Das Gefängnis, ist das sicher?«

Die Frage überraschte Doyle, und vergebens überlegte er, welche Antwort der andere erwarten mochte. Er beschloss, ehrlich zu sein. »Ich denke, ein Ausbruch ist ziemlich schwer.«

»Und ein Einbruch?«

»Was meinen Sie?«

»Wie leicht ist es, in das Gefängnis einzubrechen?«

»Genauso schwer«, antwortete Doyle irritiert.

Er hörte ein heiseres Kichern. Kein Laut der Erheiterung, sondern der Nervosität.

»Das ist gut«, krähte der Fremde. »Dann komme ich jetzt. Aber wehe, du schießt auf mich!«

»Ich trage keine Waffe, wirklich nicht.«

»Hm«, machte der Unbekannte nur.

Der Lauf der Schrotflinte verschwand aus der Schießscharte. Kurz darauf ertönten metallische Geräusche, wohl hervorgerufen von einem schweren Riegel und einem Schlüssel, der zweimal im Schloss herumgedreht wurde. Gebannt starrte Doyle auf die dunkle Öffnung. Offenbar brannte in der Hütte kein künstliches Licht, und die schmalen Schießscharten, die hier die Fenster ersetzten, ließen nur wenig Tageslicht hinein.

Die Gestalt, die ins Freie trat, passte zu dem anachronistischen Gebäude wie die Faust aufs Auge. Abgesehen von der modernen Kleidung hätte der alte, dürre Mann mit dem verfilzten grauen Haar und dem ungepflegten Bart aus einem alten Piratenfilm stammen können. Der Mann blinzelte mit schmalen, von zahlreichen Falten umringten Augen unsicher in die Helligkeit der Lichtung, während die kurze Flinte, die er mit beiden Händen trug, bedenklich hin und her wackelte. Er schien nicht auf Doyle zu zielen. Es wirkte mehr, als halte er sich an der Waffe fest. Wie die Krallen eines Raubvogels seine Beute hielten seine großen sehnigen Hände die Doppelläufige umklammert.

Er musste früher ein kräftiger Mann von großer Statur gewesen sein, aber das Alter hatte ihn gebeugt. Das Alter und wohl ebenso der Alkohol, unter dessen Einfluss er auch jetzt stand. Die Fahne billigsten Fusels, die zu Doyle herüberwehte, verschlug ihm fast den Atem. Der Alkohol war auch eine Erklärung für das Zittern der Hände und für die Panik in seiner Stimme.

Trotz des Alkoholrausches fand Doyle den Mann beeindruckend. Vielleicht war es mehr das, was er einmal gewesen war, als das, was er jetzt darstellte. Ein Geheimnis schien ihn zu umgeben, etwas Besonderes, sonst hätte er kaum in dieser kleinen Festung gehaust. Aber war er auch ein Mörder?

Doyles Blick glitt an der Gestalt entlang nach unten, über die abgewetzte, mit Flecken übersäte Jacke und die an mehreren Stellen zerrissene schwarze Jeans, und blieb auf den klobigen Schuhen mit dem ausgeprägten Profil haften. Kampfstiefel, wie man sie beim Militär trug. Doyle stellte sich den Mann zwanzig Jahre jünger vor, ohne Bart und mit dunklem, militärisch kurzgeschnittenem Haar, in gerader, soldatischer Haltung, und in seinen Gedanken sah er einen gefährlichen Mann vor sich.

»Schön, dass Sie herausgekommen sind«, sagte Doyle ruhig, aber ohne falsche Freundlichkeit. »Wären Sie so nett, mir die Flinte zu übergeben?« Als der Alte ihn misstrauisch ansah, fügte er hinzu: »Es ist zu unser aller Sicherheit. Wenn meine Kollegen kommen und uns beide so sehen, Sie mit der Schrotflinte in den Händen, könnten sie falsche Schlüsse ziehen.«

Der Alte nickte bedächtig und streckte die Hände mit der Waffe in Doyles Richtung aus. Die doppelte Mündung zeigte dabei zur Seite. Vorsichtig nahm Doyle die Flinte an sich, und das war keine Sekunde zu früh. Er hörte leise Stimmen und Schritte aus dem Wald.

Auch der Graubart schien die Geräusche aus dem Wald zu hören. Er lauschte in das Dickicht hinein, bevor er seinen flackernden Blick wieder auf Doyle heftete.

»Das Gefängnis«, begann er zögernd, »ist es wirklich einbruchssicher?«

Kapitel 2

Die schwer bewaffneten Kollegen der Eingreiftruppe stürmten von allen Seiten auf die Lichtung, angeführt von Chief Inspector Kenneth Frobisher. Der sportliche Leiter der uniformierten Einsatzkräfte trug, wie seine Leute, eine Schutzweste und gab seine Kommandos über ein Headset. Doyle hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm entwickelt, und sie trafen sich häufig in ihrer Freizeit, nicht nur zum gemeinsamen Boxtraining im Polizeisportclub.

Ein breites Grinsen durchschnitt sein sonnengebräuntes Gesicht, als sein Blick auf Doyle fiel, der die Schrotflinte in den Händen hielt. »Wie ich sehe, hast du die Situation unter Kontrolle, Cy.«

»Ja, Ken. Es war unnötig, eure Sonntagsruhe zu stören. Aber das wussten wir noch nicht, als wir euch gerufen haben. Dieser Gentleman hatte sich mit der Doppelläufigen hier in seiner Festung verbarrikadiert.«