Über Andy Jones

Andy Jones lebt mit seiner Frau und seinen zwei kleinen Mädchen in London. Tagsüber arbeitet er in einer Werbeagentur, am Wochenende und furchtbar früh am Morgen schreibt er. Eigentlich wollte er richtige Männerbücher schreiben – dass dabei immer wieder Liebesromane herauskommen, überrascht ihn selbst ziemlich. Im Aufbau Taschenbuch ist ebenfalls sein Roman »Zwei für immer« lieferbar.

Teja Schwaner, Studium in Hamburg, Frankfurt und London. Arbeitete als Musik- und Filmjournalist.Übertrug neben Hunter S. Thompson Daniel Woodrell und Daniel Friedmann ins Deutsche.

Iris Hansen lebt nach Aufenthalten in Kanada und Spanien als Übersetzerin in Hamburg.

Informationen zum Buch

Stell dir vor, du triffst die Liebe deines Lebens – und es passt einfach gerade nicht.

Was die Liebe angeht, haben Henry und Zoe viel gemeinsam – sie haben es immer verbockt. Und sie begegnen einander zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt: Henry fragt sich, ob er mit der Flucht von der eigenen Hochzeit den größten Fehler seines Lebens begangen hat. Und Zoe wird nach dem Ende ihrer letzten Beziehung von solchen Schuldgefühlen geplagt, dass sie wirklich anderes im Sinn hat, als sich zu fragen, ob sie womöglich gerade den Mann ihres Lebens getroffen hat …

Eine ebenso lustige wie herzzerreißende Geschichte darüber, wie aus den schlechtesten Entscheidungen das Beste erwachsen kann.

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Andy Jones

Liebe – lieber nicht

Roman

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Aus dem Englischen
von Teja Schwaner und Iris Hansen

Inhaltsübersicht

Über Andy Jones

Informationen zum Buch

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Teil Eins

Henry: Warum er nicht schlafen kann

Zoe: Unerwartete Annäherung

Henry: Regionales Glück

Zoe: Finger im Reißwolf

Henry: Steinstufen knarren nicht

Zoe: Früher war er DJ

Teil Zwei

Henry: Ein Backstein mit Schleife

Zoe: H zählt dreifach

Henry: Die Antwort ist wohl Liebe

Zoe: Überall und nirgends

Zoe: Klick

Henry: Wenn ich sie nicht so gern hätte

Zoe: Angenehmes Unbehagen

Henry: Glanz neue

Zoe: Kompakt

Henry: Haarig

Zoe: Nur für diese Nacht

Henry : Jedermanns Ding

Zoe: Sicher in den Top two

Henry: Wir sollten das lassen

Zoe: Wir heiraten

Henry: Schweben wir?

Zoe: P steht für Pappnase

Henry: Ganz weiß

Zoe: Doppelscheiß

Henry: Es ist kompliziert

Henry: Süß

Henry: Eine Art Witwe

Henry: Eine Art Zahnarzt

Zoe: Männer, die Häuschen bauen

Henry: Saure Äpfel

Zoe: Hubschraubern

Henry: Nächtliche Stille

Zoe: Vielleicht vielleicht

Henry: Trügerische Aufrichtigkeit

Zoe: Da ist etwas

Henry: Ein unmissverständliches Geräusch

Zoe: Henry und ich

Henry: Weitreichendes Leiden

Zoe: Es kann viel passieren

Zoe: Ein rosa Umschlag

Henry: Doh je

Zoe: Voller Wut

Henry: Flugschwierigkeiten

Zoe: Schlimmer als gedacht

Henry: Schön blöd

Zoe: Die letzte Flasche

Henry : Ein aussichtsloser Kampf

Zoe: Au revoir

Henry: Überraschungen

Zoe : Auf der Suche

Henry: Ein Zeitreisender

Zoe: Die große romantische Geste

Henry: Komplizierte Geschichte

Zoe: Wahrscheinlich bringe ich dich morgen früh um

Henry: Postkardos

Henry: Etwas Verborgenes

Zoe: Was nie geschah

Henry: Einander nicht verlieren

Zoe: Sein Name

Henry: Alles außer ihr

Zoe: Tage, die man hinter sich lässt

Henry: Casablanca

Teil Drei

Epilog

Dank

Impressum

Für Sarah,
die mir immer wieder klarmacht,
was wirklich gut ist

Teil
Eins

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HENRY
Warum er nicht schlafen kann

Die Frage, die Henry den Schlaf raubt, lautet: Was ist schlimmer – die falsche Frau zu heiraten oder ihr vor den Augen von hundertachtundzwanzig Gästen für alle Zeit das Herz zu brechen?

Womöglich ist es auch die Antwort, die ihm Probleme bereitet. Aber das spielt längst keine Rolle mehr. Ein Blick auf seine Uhr verrät Henry, dass es bereits 2:48 Uhr ist und man in weniger als zehn Stunden von ihm erwarten wird, »ja« zu sagen. Er wird Ringe unter den Augen haben, und schon allein deswegen wird seine Mutter – die Friseurin des Ortes und Selfmade-Kosmetikerin – vor Wut rasen. An jedem einzelnen der letzten sechs Sonntage hat sie Henry gezwungen, eine äußerst schmerzhafte, intensive Gesichtsbehandlung über sich ergehen zu lassen, doch von all ihrer Arbeit ist nun nichts mehr zu sehen.

Kurz nach seinem Heiratsantrag kündigte Henry seinen Job in der fünftgrößten Stadt Großbritanniens und kehrte zu den weiten Feldern und engen Straßen seiner Kindheit zurück. Er fand Arbeit in einer örtlichen Zahnarztpraxis und bezog sein altes Zimmer über dem Pub seiner Eltern. Letzten Sonntag verpasste seine Mutter ihm eine abschließende »besänftigende« Gesichtsmaske.

»Ein Wunder, dass er mit all diesem Getue nicht andersrum geworden ist«, sagte sein alter Herr, der wie ein abgehalfterter Rockstar in der Wohnzimmertür stand – die muskulösen Unterarme vor der Gastwirtswampe verschränkt, schöne Augen, im müden Gesicht stets ein Strahlen, das schüttere, aber unbeirrbar schwarze Haar zu einer makellosen Rockabilly-Tolle gekämmt.

»Was machst du hier oben?«, fragt seine Mutter, während sie eine kalte grüne Schleimschicht auf Henrys Gesicht aufträgt.

»Lokus.«

Seine Mutter seufzt. »Mein Gott. Zu viel Information.«

»Du hast gefragt.«

»Was ist mit dem Herrenklo?«

»Das hatten wir doch schon – da friert man sich was ab.«

»Weil du das Fenster nicht repariert hast, darum.«

»Hab dir gesagt, ich mach das.«

»Ja. Gesagt, aber nicht getan – deine Lebensgeschichte.«

Henrys Vater löst einen Arm aus der Verschränkung und winkt verächtlich ab. Von dort, wo sein Vater, ehemaliger Boxer und einstiger Lokalpromi, steht, kann er nicht sehen, dass auf dem stummgeschalteten Fernsehbild Clark Gable gerade sein Cocktailglas erhebt. Henry beobachtet, wie der Blick seiner Mutter vom Fernseher zu seinem Vater und wieder zurückschnellt, sieht, wie sich der Ausdruck in ihrem Gesicht wandelt – von Verachtung zu Enttäuschung.

Henry, dessen Gesichtshaut sich unter der trocknenden Maske aus Ton spannt, sagt zu seinem Vater: »Sobald ich hier fertig bin, kümmere ich mich um die Fässer.«

»Nicht, dass du dir dabei einen Nagel abbrichst«, antwortet der alte Mann.

»Lass ihn in Ruhe«, faucht seine Mutter.

»Nur wenn du’s auch tust.«

Sein Vater schüttelt den Kopf und verschwindet durch den Flur. Henrys Mutter glättet den Ton an seinem unebenen Nasenrücken und seufzt. »Deine arme Nase«, sagte sie. »Deine arme, arme Nase.«

Henry (benannt nach dem britischen Schwergewicht, dem es einst gelang, Muhammad Ali für sehr kurze Zeit auf die Bretter zu schicken) weiß, dass seine Mutter nach seiner Geburt zwei Fehlgeburten hatte, bevor sie sich schließlich damit abfand, niemals ein Mädchen zu bekommen. Anstelle der nicht verwirklichten Tochter – Priscilla Agatha hätte sie heißen sollen – musste also er an der Seite seiner Mutter auf diesem abgewetzten Sofa sitzen und Verdammt in alle Ewigkeit, Das Appartement, Sein Mädchen für besondere Fälle und Dutzende anderer Filme ansehen.

»Du verweichlichst ihn«, sagte sein Vater immer wieder.

»Ich bringe ihm bei, ein richtiger Mann zu sein«, entgegnete Sheila gewöhnlich.

Und während seine Mutter ihn weiter nostalgische Hollywood-Schinken schauen ließ, beschloss sein Vater, ihn ins Boxstudio zu schleppen. Natürlich verzieh keiner seiner beiden Elternteile dem anderen die Schäden, die dem Sohn durch die jeweilige »Erziehung« zugefügt wurden – die gebrochene Nase, die vernarbte Augenbraue, den albernen Filmgeschmack. Manchmal erledigten sich die Feindseligkeiten in routiniertem Gezänk, manchmal jedoch (wenn seine Mutter zu tief ins Glas geschaut hatte und sein Vater hinter einem leeren Tresen Dienst schob) gipfelten sie in hässlichem Streit.

Henry kannte die alten Fotos seiner Eltern, auf denen Clive »Big Boots« Smith, selbstverliebt und voller Manneskraft, den Arm um die Taille seines Mädchens gelegt hatte. Wie füreinander bestimmt, sagten die Leute damals. Und genau so war es auch: Sie schienen wie von ein und demselben Spielzeugmacher geschaffen – allerdings steif und zerbrechlich, ohne bewegliche Teile. Dennoch sahen sie aus wie das perfekte Paar.

Genau wie nun alle sagen, dass Henry und April perfekt zusammenpassen. Wie Braut und Bräutigam aus Zuckerguss auf ihrer dreistöckigen Hochzeitstorte. April und er streiten nicht. Sicher haben sie ihre Meinungsverschiedenheiten, doch nur selten werden ihre Diskussionen hitzig. Und ganz sicher entwickeln sie dabei keine Wut, jenes Gefühl, in das sich seine Eltern nur allzu leicht steigern.

Aber ist die Tatsache, dass man nicht streitet, Grund genug zum Heiraten?

Der Bräutigam wälzt sich in seinem Bett – und fühlt sich wie ein Single mit flauem Gefühl im Bauch in einem gemieteten Schloss, in dem sehr bald die Hochzeitsfeier stattfinden wird. Henry und April wohnen nicht einmal fünf Meilen weiter die Straße entlang, aber sie wollte für diesen Tag ein Schloss, und Aprils Vater ist nicht der Typ, der seiner Prinzessin einen Wunsch ausschlägt. Das Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert (Hochzeiten, Tagungen, Firmenevents) umfasst zwei Flügel: die Angehörigen der Braut in dem einen, die des Bräutigams im anderen, alles sorgfältig arrangiert, so dass die beiden einander vor dem großen Ereignis nicht begegnen.

Wieder stellt er sich die Frage: Solltest du eine Frau heiraten, von der du glaubst, dass du sie … magst? Ein hübsches Mädchen, das du seit deinem fünfzehnten Lebensjahr kennst, das dich liebt. Solltest du diese Person heiraten, wenn du in den Tiefen aller vier Herzkammern und deines Bauches weißt, dass du dieses Mädchen nicht liebst? Zumindest nicht so, wie sie es im Film tun, nicht wie Rhett seine Scarlett geliebt hat oder Rick seine Ilsa. So etwas wie Liebe ist schon irgendwie da, aber hat dieses Gefühl seinen romantischen Zenit erreicht? Ist Liebe womöglich etwas Absolutes? Kann man auch nur ein bisschen lieben, oder muss es immer das ganze Programm sein? Und wie lange könnte ein bisschen halten – fünf Jahre oder zehn?

Solltest du sie trotzdem heiraten, weil ihr schon seit (mehr oder weniger) zwölf Jahren zusammen seid, weil niemand die Tochter, die deine Mutter nie hatte, besser ersetzen kann als deine Verlobte, weil sie im Salon deiner Mutter Haare schneidet, weil ihr Vater ein Haus baut, in dem du alt werden und sterben kannst? Solltest du lächeln und sagen »in guten wie in schlechten Tagen«, obwohl du den Verdacht hegst, dass letztere überwiegen werden? Solltest du ihren Schleier heben, deine Braut auf die schönen Lippen küssen und flüstern (natürlich so laut, dass die Versammelten es hören können): »Ich liebe dich so sehr«? Selbst wenn du es nicht tust? Solltest du es tun, weil du in diesem Dorf jeden kennst und sie alle dich kennen und die Alternative einfach ganz und gar unvorstellbar ist?

Aber warum fällt ihm das ausgerechnet jetzt ein? Die letzten zwölf Monate sind ihm die Zeitschriftenausschnitte, Stoffmuster und Listen über Listen nur so um die Ohren geflogen. Seit drei Monaten trägt April keine Hausschuhe mehr, sondern hat beim Fernsehen und beim Teekochen elfenbeinweiße Stilettos an den Füßen, die mit den fünfzehn Zentimeter hohen Absätzen, die in den Teppichen ihrer Mutter Pockennarben hinterlassen, wenn sie die Schuhe einläuft – all das nur für den kurzen Gang zum Altar und eine lange Tanznacht. Beim Gedanken daran muss Henry fast lachen, aber es ist absolut nichts komisch an dem, was ihm durch den Kopf geht.

Was stellt er sich eigentlich vor? Dass er nach dem Frühstück an ihre Tür klopft, sie fragt, wie sie geschlafen hat, und dann sagt: »Hör mal, ich habe nachgedacht …«

Unvorstellbar, denkt er. Es geht nicht, er kann sich beim besten Willen kein Szenario ausmalen, in dem er seiner Verlobten eröffnet, nachdem er noch einmal darüber geschlafen habe, sei er zu der Ansicht gekommen, dass sie beide – langfristig gesehen – sicher glücklicher wären, wenn sie die ganze Geschichte abblasen würden.

Diese düstere Idee kommt ihm nicht zum ersten Mal in den Sinn. Sie gärt dort schon seit Monaten. Vor zwei Wochen, als er bei Mrs Griffith einen Wurzelkanal behandelte und sie, die Finger unter dem Busen verschränkt, dort lag, hatte das Licht der OP-Lampe den Stein in ihrem Verlobungsring funkeln lassen. Und in diesem Moment hatte er auf einmal verstanden: Das ist es nicht, was ich will. Und ebenso schnell hatte sein Hirn das Szenario durchgespielt, das er aus Angst lieber gar nicht erst ins Auge fassen wollte. April würde nein sagen. Er würde ihr erzählen, dass er nicht überzeugt sei, und April würde seine Bedenken einfach abtun. Sie würde sagen, es sei normal, Zweifel zu haben, aber sie seien füreinander geschaffen. Vielleicht würde sie sein Eingeständnis auch mit hysterischem Schluchzen und Heulen quittieren und dadurch die Brautjungfern und ihre Eltern aus dem Schlaf reißen. Ihren Vater und auch den halbpsychotischen Bruder wecken. Und glaubt Henry wirklich, dass sie ihn einfach so aus dieser Sache rauslassen würden?

Als er auf der Universität war, wurde er immer wieder gefragt, woher er komme. Innerlich seufzend antwortete er und wartete auf das unabwendbare Kopfschütteln. Sie kannten die Region im weitesten Sinne; waren vielleicht sogar schon einmal in einer der zahllosen Städte oder einem der Dörfer gewesen, die diesen fleckigen grünen Streifen in der Mitte Englands bilden. Jedoch niemals in dem Dorf, in dem Henry zur Schule ging, seinen ersten Streit hatte, zum ersten Mal geküsst wurde. Ein Dorf, so klein, dass jeder jeden kennt oder zumindest jemanden kennt, den man auch kennt. In einer Gemeinde von weniger als zweitausend Menschen wird niemand geschieden, ohne dass alle anderen davon erfahren. Deine Tochter hurt herum, dein Sohn hat mit Drogen zu tun, dein Hund scheißt auf den Gehweg – jeder weiß es. Kaufst du neue Schuhe, wird irgendjemand es beim Abendessen jemand anderem gegenüber erwähnen.

Deine Verlobte vorm Altar stehen lassen …

Unvorstellbar.

*

Zwischen acht und neun frühstückt die Gesellschaft der Braut in der Spülküche, und um neun Uhr dreißig, und keine Minute früher, werden der Bräutigam und die Seinen dasselbe tun. Anschließend bleiben ihm zwei Stunden, um sich zu rasieren, die Manschettenknöpfe anzulegen und rechtzeitig die Kirche zu erreichen – eine dreiminütige Fahrt, die in gemieteten historischen Fahrzeugen etwa sechshundert Pfund kostet. Nach der Trauung wird die Hochzeitsgesellschaft sich wieder zum Schloss begeben, um zu essen, zu trinken, Reden zu schwingen und zu tanzen. Und wenn sie nicht sterben, werden sie bis in alle Ewigkeit glücklich sein. April und er werden in einem Himmelbett schlafen, Liebe machen und als Mr und Mrs Smith aufwachen. Nach dem Frühstück wird April sich ins Gästebuch eintragen, und zwar mit der Unterschrift (breite, nach links geneigte Buchstaben, und das »S« am Ende mit einem Schwung über den Querbalken des »A« zurückgeführt), die sie in den letzten drei Wochen verfeinert hat. Ein paar letzte Fotos, Umarmungen, Händeschütteln, Tränen, »Pass auf mein Mädchen auf«, dann ab zum Flughafen. Zwei Wochen lang farbenfrohe Cocktails und faule Tage am Pool, vielleicht unterbrochen von einem Tagesausflug und einem Abend in einem namhaften Club. Zum Abschluss eine Flasche Champagner am Strand bei Sonnenuntergang und dann zurück in das spießige Backsteinhaus, das Henrys frischgebackener Schwiegervater für sie gebaut hat.

April hat eine Vorliebe für alte Lieder und klassische Melodien, was vielleicht daran liegt, dass sie mit dem Sohn eines Gastwirts ausgeht. Als sie noch zu jung waren, um im Pub zu trinken, gab Big Boots ihnen gern eine Handvoll Münzen, mit denen sie die Musikbox füttern durften. Aprils Lieblingslied ist »Sweet Home Alabama«, und wenn man es in gemächlichem Tempo singt und kein Luftgitarrensolo auslässt, dann dauert es vom Auftakt bis zu den letzten Tönen genau so lange, wie man zu Fuß von Aprils Elternhaus bis zum neuen Heim des jungen Paares braucht. Ungefähr fünf Minuten.

Es gibt zwei Schlafzimmer und ein Kinderzimmer. »Oder ein Arbeitszimmer«, hatte Henry gesagt. »Für welche Arbeit?«, fragte April. »Das ist ein Kinderzimmer. Willst du keine Kinder?« – »Doch, klar, aber nicht unbedingt sofort.« – »Wir sind seit zwölf Jahren zusammen. Es ist ein Kinderzimmer.« Und wieder einmal kein Streit. Die Küche ist nagelneu und unbenutzt, neue Betten, neue Tische, neue Stühle, neuer Fernseher. Alles steht still an seinem Fleck und fängt Staub.

April hat die Hochzeitsliste zusammengestellt: Bettwäsche, Pfannen, Messer, Morgenmäntel für sie und für ihn. Henry wollte einen altmodischen Plattenspieler – April suchte einen kabellosen Lautsprecher aus. Es macht ihm nichts aus – das Bedürfnis seiner Verlobten, das Sagen zu haben, kann er nicht für seine Zweifel verantwortlich machen. Daran ist nichts ungewöhnlich. April ist lustig, sportlich, hübsch. Woche für Woche besucht sie ihre Großmutter im Altersheim, bringt Blumen mit, kennt alle Bewohner beim Namen und hört sich deren ausschweifende Geschichten an, ohne den Blick abzuwenden. Sonntags lackiert sie ihrer Mutter die Fußnägel, unter der Woche bereitet sie ihrem Vater jeden Morgen eine Thermoskanne Kaffee. Sie spricht Henrys Vater mit dessen altem Boxernamen an und versetzt ihm spielerische Faustschläge in den Bauch. Außerdem arbeitet April im Love & Die, dem Friseursalon seiner Mutter, und die beiden Frauen fahren zusammen mit der Bahn in die Stadt, um im Einkaufszentrum zu shoppen. Manchmal übernimmt sie eine Schicht im Pub, und wenn Karaoke angesagt ist, springt sie immer als Erste auf. April führt den Hund des Nachbarn aus. Wenn du jemanden brauchst, der sich um die Fische kümmert, während du im Urlaub bist, dann fragst du das hübscheste, süßeste, liebenswerteste Mädchen im Dorf. Wen kümmert es, dass sie Kissen mit Monogramm will. Von Aprils Vater bekamen sie als Verlobungsgeschenk einen Hausziegel mit rosa Schleife. Der ruht jetzt in ihrem Haus mit zwei Schlafzimmern und einem Kinderzimmer auf dem Kaminsims.

Henrys Eltern kauften ihnen Geschirr, zwölfteilig, weiß mit blauem Rand.

»Er baut ihnen ein Haus, wir schenken ihnen Geschirr«, sagte seine Mutter, als sei ihr Mann daran schuld.

»Was erwartest du von mir? Was soll ich deiner Meinung nach tun?«

Sheila Smith lachte. »Gar nichts erwarte ich von dir.«

Was eine Hochzeit kostet, weiß jeder. Inklusive Blumen, Essen, Band, Kleid, Fahrzeuge und aller sonstigen Dinge wird der Tag 17 646 Pfund kosten. Gezahlt wird alles von Aprils Vater. Das Haus ist zehnmal so viel wert.

Henry hätte sich auch über einen Toaster gefreut. Mehr als über ein Haus.

»Wir können uns selbst ein Haus kaufen«, sagte Henry, als die Idee zum ersten Mal auf den Tisch kam. »Ich bin immerhin Zahnarzt.«

»Und mein Dad kann Häuser bauen. Jedem das Seine.«

Es wird nicht geschrien, es wird nicht mit Dingen geworfen, es fallen keine schlimmen Wörter. Und drei Wochen später sehen sie sich die Pläne des Architekten an.

»Wir könnten wegziehen«, sagt Henry.

Wenn April mit etwas nicht einverstanden ist, kräuselt sich ihre Nase. »Wegziehen? Wohin?«

»Keine Ahnung, egal wohin. Chester, Liverpool, irgendwo hin.«

»Irgendwo? Warum sollten wir irgendwo leben? Wir leben doch schon am schönsten Fleck der Erde.«

Das Mantra der Alteingesessenen. Doch Henry hat den Eindruck, dass Leute, die fest und steif behaupten, am schönsten Ort der Welt zu wohnen, von dieser meist noch nicht sehr viel gesehen haben.

»Oder Manchester?«, versucht er es. »Du würdest die Läden in Manchester lieben. Alle direkt vor der Haustür.«

»In Manchester regnet es.«

»Hier regnet es auch.«

April küsst ihn, nimmt sein Gesicht in die Hände. »Hey«, sagt sie. »Ich dachte, das hätten wir besprochen.«

»Es ist nur …« Er verstummt. Seufzt.

»Nervös zu sein ist normal«, sagt April. »Es ist ein großer Schritt. Wir werden eine Familie gründen, Kinder haben, und wir werden sie am schönsten Ort der Welt aufziehen. Hunde, Spaziergänge, Familie.« Sie küsst ihn noch einmal, länger als beim ersten Mal.

Sie ist sehr hübsch.

»Das ist er«, sagt April. »Das ist mein attraktiver Mann.« Und wieder küsst sie ihn.

In der Stille des Schlosses springt der Zeiger auf drei Uhr früh, und Henry schwenkt die Beine unter der Decke hervor. Weil es kalt ist, zieht er seine Socken, die Jeans und ein T-Shirt an. Nur weil es kalt ist.

Er geht zum Fenster hinüber, teilt die schweren Samtvorhänge und blickt hinaus aufs Schlossgelände. Das Licht des Mondes, der tief und schwer am Himmel hängt, reicht aus, um die Umrisse der Bäume und der Gipfel in der Ferne zu erkennen. »Sanft geschwungen« sagen die Leute über diese Hügel, aber Henry findet sie eher unruhig und rastlos, als würden sie murren und sich doch nie vom Fleck rühren.

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ZOE
Unerwartete Annäherung

Zoe denkt, sie sollte vielleicht aufstehen. Die Küchenspüle ist voller Geschirr, der Teppich braucht dringend einen Staubsaugerbesuch, das Bad muss geputzt werden. Aber sie ist müde, unter Decke ist es warm, und sie genießt den langsam abflauenden Rausch eines unerwarteten Zusammenfindens am Samstagmorgen. Alex ist eine Lerche und Zoe eine Eule, und in letzter Zeit ist ihr Timing besonders ungünstig: Immer wenn der eine in Stimmung ist, ist der andere schon halb weggepennt. Sie fragt sich, wann sie vor heute früh zum letzten Mal Liebe gemacht haben. Seit neun Monaten wohnen sie jetzt zusammen, und sie wäre überrascht, wenn sie die Bettfedern in den letzten drei Monaten öfter als ein halbes Dutzend Mal zum Quietschen gebracht hätten. Heute Morgen hatte er jedoch die Initiative ergriffen, und als Zoe etwas von »müde« murmelte, hatte er ihr Ohr geküsst und geflüstert: »Du brauchst ja die Augen nicht aufzumachen.« Das brachte sie zum Lächeln; sein Atem kitzelte ihr Ohr, und seine Hand, die unter ihrem T-Shirt nach oben geglitten war, kitzelte die Nervenenden weiter unten. Es war schön.

Wenn sie recht überlegte, war er ein bisschen zu schnell übers Ziel hinausgeschossen, aber es war … es war schön. Er hatte diese Sache gemacht – den Enterhaken nannte sie es –, bei der er seine Hand unter ihr linkes Bein schob. Normalerweise war Zoe auf diese Übung nicht scharf (nicht nur kam sie sich dabei ein wenig albern vor, sie war auch nicht sehr gelenkig, und manchmal schmerzte die Hinterseite ihres Oberschenkels dabei allzu sehr), aber heute Morgen war Alex sanft gewesen, und sie hatte irgendwie das Gefühl … sie weiß nicht genau, wie sie es ausdrücken soll … dass er es ernst meinte. Nein, dieser Morgen war schön, und dann – nach einer ansehnlich langen Nachspielphase des Kuschelns und Streichelns – war er aus dem Bett gesprungen und hatte gesagt, er werde einkaufen gehen. »Schlaf noch ein bisschen«, hatte er gesagt, »ich bring dir dann Frühstück ans Bett.« Was war dagegen zu sagen?

Sex, dachte sie. Kolossaler Spaß, solange man nicht drüber nachdenkt. Denn wenn man darüber nachdenkt, kommt einem das Ganze doch ein bisschen bescheuert vor, oder? Sie kennt Alex’ Programm fast auswendig, die Reihenfolge, in der er Hände, Lippen, Finger über ihren Körper wandern lässt.

Ein Teil von ihr weiß: Sobald man anfängt, etwas, eine Person, genau zu untersuchen, stößt man auf winzige Makel, die das Gesamtbild überschatten. Genau wie bei diesen Wänden, denkt sie.

Es ist gerade so hell im Zimmer, dass Zoe die Stellen erkennen kann, an denen die alte, dunklere Farbe durch zwei Schichten »Morgennebel« hindurchscheint. Alex behauptet, das nicht zu sehen. Zoe bilde sich das alles nur ein. Er beharrt so überzeugend darauf, dass Zoe sich fragt, ob er tatsächlich recht haben könnte. Konzentriere dich auf die positiven Dinge, sagt sie sich.

Und die positiven Dinge sind? Alex ist cool, attraktiv, hat einen schönen Körper, auch wenn dieser mittlerweile etwas weicher ist als am Anfang ihrer Beziehung, und er ist gut (oder ist er nur okay?) im Bett.

Zoe hat mit elf Männern geschlafen. Sechs davon waren Beziehungspartner, die restlichen gehörten zu einer Handvoll von Affären, die eine oder ein paar Nächte andauerten. Noch nie hat sie diese Männer nach ihrer sexuellen Leistungsfähigkeit geordnet, aber bei der Frage, wer die Rangliste anführt, muss sie nicht lange überlegen: Ken Coleman, ein Mathematikstudent im dritten Studienjahr, mit dem sie zwei Semester lang ausgegangen ist. »Ken Wood« war sein Spitzname, den ihm irgendjemand – höchstwahrscheinlich Vicky – verpasst hatte. Auch der Rangniedrigste steht fest (Jacob Kentish, Philosophie, kleiner Penis, Mundgeruch, merkwürdige Geräusche), aber die anderen in eine Reihenfolge zu bringen, war schwierig. Als ihr Kopf unaufgefordert zu sortieren beginnt, hält Zoe plötzlich inne – was, wenn Alex in der falschen Hälfte der Gruppe landet? Sie haben jetzt zusammen eine Hypothek aufgenommen – das moderne Äquivalent zum Heiraten –, und daher bringt es nichts, diese schulmädchenhaften Vergleiche anzustellen. Alex ist ein guter Liebhaber: Er ist meistens rücksichtsvoll, meistens sauber, und sie hat meistens einen angenehmen kleinen Orgasmus. Keine berauschenden Tsunamis, die Mark und Bein erschüttern, die sie die Augen verdrehen lassen, keine Orgasmen, wie Zoe sie in Kens Händen erlebt hat, jedes Mal, aber das kann für ein Mädchen auch zu viel werden.

Obwohl, neuerdings spürt sie etwa eine Woche, bevor ihre Periode fällig ist, manchmal ein … Lechzen ist das beste Wort, das ihr einfällt … Lechzen nach Sex. Es geht nicht darum, Liebe zu machen, sondern darum, elementaren, heftigen Sex zu haben. Zoe fragt sich, ob ihre biologische Uhr tickt und auf einen Sprössling lauert. Sie wird erst in elf Monaten dreißig, daher dürfte es ein wenig zu früh sein. Vielleicht liegt es daran, dass sie und Alex ein Haus gekauft haben, sich ihr Nest bauen. Wer hat das bloß meinen verdammten Eierstöcken verraten?, denkt sie.

Zoe wird bewusst, dass sie den Atem anhält – eine Gewohnheit, die sie irgendwann im letzten Jahr entwickelt zu haben scheint. Mehrmals täglich erwischt sie sich dabei, wenn sie am Schreibtisch sitzt oder im Bett liegt, bemerkt sie, dass ihr Brustkorb stockt und die Lungen sich prall mit Luft gefüllt haben. Es ist fast angenehm, aber gleichzeitig auch ein wenig seltsam, sich daran erinnern zu müssen, zu atmen. Stress, nimmt sie an.

Ist die Vorstellung, Mutter zu sein, wirklich so stressig? Oder ist es eher die Vorstellung, ein Baby mit Alex zu bekommen? Zoe schüttelt sich innerlich. Lässt die Luft hinaus … atmet.

Im Licht der hellen Oktobersonne denkt Zoe wieder daran, wie zärtlich Alex heute Morgen war, und ermahnt sich, im Jetzt zu leben. Sie zieht die Schublade ihres Nachttisches heraus und fischt den Streifen mit den Antibabypillen heraus. Eine davon drückt sie sich in die Handfläche und schluckt sie trocken hinunter.

*

Als Zoe wieder aufwacht, muss sie pinkeln. Im Haus ist es kalt, und das Nachglühen der unerwarteten Fummelei ist verflogen. Unter den nackten Füßen werden sich die Badfliesen anfühlen wie ein zugefrorener See, und sie zieht die Bettdecke hoch, um die Restwärme nicht entweichen zu lassen. Es sind nur noch zwei Monate bis Weihnachten, und sie überlegt, dass sie und Alex einander vielleicht Hausschuhe schenken sollten – günstig, praktisch und …

»Ach du lieber Gott«, sagt sie laut. »Ich verwandle mich in meine Mutter.«

Trotzdem, Hausschuhe wären toll.

Wenn sie sich auf etwas anderes konzentriert als ihre Blase, denkt Zoe, kann sie vielleicht noch zehn Minuten länger im Bett bleiben. Fünf mindestens. Der Boiler hat offenbar wieder beschlossen zu streiken. Er muss erneuert werden, aber in ihrer Kasse herrscht Ebbe; also werden sie einfach ihre blau gefrorenen Daumen drücken müssen, dass der Boiler und seine Rohre noch einen weiteren Winter überstehen, bevor das Ding einen stillen Tod stirbt oder explodiert.

Schlechte Wortwahl, denkt Zoe, und sie spürt ein Ziehen in der Blase. Sie schaut zur Uhr – viertel nach zehn – und fragt sich, wie lange sie gedöst hat. Zehn Minuten? Eine Stunde? Sie lauscht ins Haus hinein, doch es ist still – keine Küchengeräusche, kein brodelnder Wasserkocher. Sie ruft Alex, aber er antwortet nicht. Daher kommt Zoe zu dem Schluss, dass sie nicht lange geschlafen haben kann. Sie schlägt die Bettdecke auf und trippelt auf Zehenspitzen zum Klo.

Als sie ihren Füßen beim Tanzen zuschaut, während sie sich erleichtert, bemerkt sie auf den Fliesen ein Arrangement aus getrockneten Spritzern. Warum nur, fragt sie sich, sind Männer anscheinend nicht in der Lage, ins Becken zu pinkeln? Es ist nicht so, dass das Becken nicht groß genug wäre; bestimmt wäre selbst ein Elefant in der Lage, so in das Ding zu pinkeln, dass Beckenrand und Fliesen trocken bleiben. Bei der Vorstellung, dass ein Elefant in ihrem Bad pinkeln geht, muss sie lächeln. Womöglich wäre das eine gute Idee für ein Bilderbuch, denkt sie. Vielleicht erzählt sie Montag ihrer Chefin davon, mal sehen, ob einer der Autoren etwas daraus machen kann. Oder vielleicht tut sie es selbst – wie schwierig kann es letztendlich sein, achthundert Wörter über die Badezimmerpossen von Tieren zu schreiben? Das Klo im Zoo wird sie es nennen; vielleicht dieses Wochenende ein oder zwei Stunden daran werkeln.

Zoe wischt die Spritzer mit einem angefeuchteten Stück Toilettenpapier ab, das sie ins Becken fallen lässt, bevor sie spült. Als sie ihr Gesicht im Badspiegel (dekorativ umrahmt von Zahnpastaflecken) sieht, ertappt sie sich: finsterer Blick und die Stirn in hässliche Falten gelegt, die bleiben werden, wenn sie nicht aufpasst.

»Also, was mache ich jetzt?«, fragt sie ihr Spiegelbild.

Drei Möglichkeiten stehen zur Auswahl: den Badspiegel putzen, unter die Dusche gehen oder wieder ins Bett schlüpfen.

Geh wieder ins Bett und lass dir von dem Jungen Frühstück servieren. Gott weiß, er wird dir nicht helfen, das Haus zu putzen.

»Da hast du allerdings recht«, sagt Zoe.

Ihr Spiegelbild nickt: Ich weiß.

Als Zoe wieder ins Schlafzimmer geht und im Flur auf ein knarrendes Dielenbrett tritt, spürt sie einen Stich der Verärgerung. Vor zwei Wochen war sie auf einen herausstehenden Nagel getreten, der ein Loch in eine nagelneue Zwölf-Pfund-Strumpfhose riss. Weil das schon zum zweiten Mal passierte, versuchte Zoe, den Nagel mit einer Schere aus dem Dielenbrett zu ziehen. Sie wusste, dass eine Schere für diese Aufgabe das falsche Werkzeug war, aber das richtige befand sich irgendwo in ihrem kleinen unaufgeräumten Schuppen, und es regnete. Und anstatt wegen ihrer liebenswerten weiblichen Herangehensweise zu lachen, blaffte Alex sie an, weil sie die Schere kaputt gemacht hatte, und sagte, sie solle ihn fragen, wenn etwas zu reparieren war. Zwar entschuldigte er sich schnell genug, aber über seinen Wutausbruch ärgerte sie sich. Und trotz allem ist er immer noch nicht dazu gekommen, das verdammte Ding zu reparieren. Und es geht nicht nur um das eine Dielenbrett; im Gästezimmer ist noch eines und ein drittes unter dem Tisch im Wohnzimmer. Zoe ist versucht, den Hammer zu greifen und sich selbst darum zu kümmern, aber sie hat Angst, sie könnten sich deswegen streiten. Und das ärgert sie noch mehr als das Dielenbrett.

Weil sie mittlerweile zu wach ist, um weiterzuschlafen, öffnet Zoe die Schlafzimmervorhänge, blickt aus dem Fenster in die Reihe der Gärten hinter den Reihenhäusern in ihrer Straße. Es ist ein schöner Tag, und Zoe findet, dass sie an die Themse fahren sollten, um dort zu picknicken, eine Flasche Wein zu trinken und die vorbeigleitenden Ruderer zu beobachten. Die Fahrräder stecken im Schuppen unter einem von Spinnennetzen umwobenen Haufen zusammengefallener Pappkartons, auf denen mehrere Farbdosen balancieren. Der Aufwand ist fast zu groß, aber Zoe glaubt, dass ihnen ein Ausflug in mehr als einer Hinsicht guttun wird.

Als sie in dieses Haus zogen, musste alles neu gemacht werden: von den Teppichen über die Tapeten und das Badezimmer bis zur Küche – alles. Aber nach Anzahlung, Grunderwerbssteuer, Notarkosten, Haushaltsgeräten und einer Ikea-Grundausstattung waren sein und ihr Bankkonto leergeräumt. Zum Einzug bekamen sie Blumen und Champagner im Wert von etwa fünfhundert Pfund geschenkt, doch so geizig es auch klingt, Zoe hätte lieber Gutscheine für John Lewis oder ein anderes Kaufhaus gehabt. Dann hätten sie sich zumindest ein paar schöne Gläser und einen neuen Türklopfer kaufen können.

Letzten Monat schlug Zoe vor, zumindest ein paar kleine Verbesserungen vorzunehmen und mit einer Kreditkarte zu bezahlen, aber Alex weigerte sich. Wollte die Angelegenheit nicht einmal diskutieren. »Vergiss es, Zoe«, und in seiner Stimme lag eine Schärfe, bei der sie Magenkrämpfe bekam.

»Die Zinsen sind doch gar nicht so schlecht«, hatte sie gesagt, in neutralem Tonfall.

»Verdammt, Zoe, das ist genau die Art und Weise, wie Leute sich finanziell in die Scheiße reiten. Eine beschissene Falle ist das.« Das hatte ihr nicht gefallen – das »Scheiße« und das »beschissen« –, aber sie hatte sich gezwungen, ruhig zu bleiben. »Unsere Gehälter werden doch steigen, Alex.«

»Mein Gehalt, meinst du«, sagte er und sah sie herausfordernd an. Ein Schlag unter die Gürtellinie, dachte Zoe und hielt seinem Blick gleichermaßen herausfordernd stand. War nicht er derjenige gewesen, der sie darin bestärkt hatte, ihren gut bezahlten Job zu kündigen?

»Na gut«, hatte sie gesagt. »Ich mache es. Ich besorg mir eine Karte.«

»Nein«, hat Alex zurückgeschossen. »Nein, das tust du nicht. Das geht uns beide an.«

»Dann lass uns darüber sprechen.«

»Da gibt es nichts zu besprechen. Ich bin spät dran.«

Ende der Diskussion. Alex ging Fußball spielen, und in dem Moment, als die Haustür zufiel, hatte Zoe die lose Ecke einer Tapete gegriffen und daran gezogen. Der erste Streifen hatte sich ganz leicht abziehen lassen, doch der nächste klebte so fest an der Schlafzimmerwand, wie sich eine schlechte Idee in einem wütenden Kopf einnistet. Nachdem sie sich den zweiten Fingernagel eingerissen hatte, lief Zoe nach unten und suchte den Pfannenwender, ein scharfes Messer, einen Schwamm und eine Schüssel mit Seifenwasser zusammen. Drei Stunden später waren die Dielenbretter rutschig wie ein Schiffsdeck auf hoher See, und Zoe hatte zwei weitere abgebrochene Nägel samt einer schmerzhaften Blase an der Hand. Mittlerweile stand fest, dass wer immer dieses Zimmer einmal hatte einrichten dürfen, seinen schlechten Tapetengeschmack mit einer unübertroffenen Fertigkeit beim Anbringen derselben wettgemacht hatte. Bislang hatte Zoe vier Bahnen eines zerfledderten Paisleymusters entfernt, es blieben noch acht weitere, und zum ersten Mal seit ihrem Einzug freute Zoe sich, dass das Schlafzimmer so klein war. Als ihre Schätzung ergab, dass sie weitere sechs Stunden brauchen würde, um die Aufgabe abzuschließen, sprang Zoe unter die Dusche und machte sich auf in die Stadt, um ein wenig von dem Geld auszugeben, das sie nicht besaßen.

Als Zoe zurückkehrte, war es dunkel. Schuldbewusst und beklommen steckte sie den Schlüssel ins Schloss. Sie hatte alle Einkäufe (zweihundert Pfund für Schuhe und Jeans, die sie nicht brauchte) in eine einzige Tüte aus dem günstigsten Laden umgepackt, würde aber trotz dieser Vorkehrung liebend gern auf eine Befragung verzichten. Sie schlich sich ins Wohnzimmer und stellte erleichtert fest, dass Alex auf dem Sofa eingeschlafen war. Im Fernsehen lief ein alter Film, eine zur Hälfte ausgetrunkene Flasche Bier stand gefährlich nah an Alex’ Füßen. Darauf bedacht, die knarrenden Stufen auszulassen, schlich Zoe auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, verstaute schnell ihre Einkäufe im Kleiderschrank und versteckte die Tüte zusammengefaltet unter einem Haufen Schuhe.

Erst als sie die Tür des Kleiderschranks schloss, fielen ihr die Wände auf, alle vier nackt bis auf den Putz; nicht ein einziger Fetzen Paisleytapete war übrig. Der Abfall war weggeräumt worden, der Boden gereinigt und gewischt; sogar das Bett war gemacht, mit den Kissen auf der Bettdecke, wie Zoe es am liebsten hatte.

»Überraschung«, sagte eine leise Stimme dicht hinter ihrer linken Schulter.

Als sie sich jetzt daran erinnert, kommt es ihr kleinlich vor, die guten Seiten in den Schatten der schlechten zu stellen. Sie legt die Hand an die Wand und schiebt sie über die Stellen, von denen Alex behauptet, dass dort keine Farbe durchscheint. An dem Tag, nachdem Alex die Wände von der Tapete befreit hatte, fuhren sie zum Baumarkt, um Pinsel zu kaufen und ein halbes Dutzend Farbdosen in Probiergröße. Als Alex Farbtöne wie Frisches Salbeigrün, Auberginentraum und – in Zoes Augen – Erdrückendes Blau vorschlug, hätte sie ihn beinah gefragt, ob er scherzte, aber das war eindeutig nicht seine Absicht, und sie wollte die gute Stimmung nicht verderben, nachdem er am Tag zuvor so galant und romantisch gewesen war. Also ließ Zoe ihn verschiedene Farbtöne aussuchen, die allesamt an Blutergüsse erinnerten, während sie Probiermengen von Kieselgrau, Morgennebel und Altweiß auswählte.

In ungeliebten Jeans und vergessenen T-Shirts hatten sie die Farbproben aufgetragen. Zoe malte kleine Musterstellen in die Zimmerecke, aber Alex beschmierte die Wand mit einem unübersehbaren romantischen Herz in Auberginentraum. Er wollte aus diesem Vorhaben eine lustige Aktion machen, das war ihr klar – verrückt, romantisch, anekdotenhaft –, aber was er damit erreichte, war in erster Linie eine große Sauerei.

»Versuch’s mal etwas dezenter«, schlug sie vor. »Für den Fall, dass wir uns für einen helleren Ton entscheiden.«

»Entspann dich, mein kleiner Waldschrat«, sagte Alex und zog die merkwürdige Fratze, die er zu diesem dämlichen Kosenamen stets aufsetzte.

»Sicher«, sagte sie. »Es ist nur … weißt du … falls.«

Dann kam Alex mit dem Pinsel auf sie zu. »Vielleicht könntest du auch ein wenig Farbe vertragen.«

Zoe kannte diesen Gemeinplatz aus unzähligen Filmen und Sitcoms. Beim ersten Mal lustig, vielleicht, jetzt aber zum Klischee verkommen; und anstatt amüsiert zu sein, war sie einfach nur genervt.

»Wag es nicht«, sagte sie zu Alex.

»Ein bisschen Lila würde dir gut stehen«, sagte er und hob den Pinsel an.

»Ernsthaft, tu’s nicht.«

»Bringt die Farbe deiner Augen besser zur Geltung«, sagte er und schwang den Pinsel in Zoes Richtung.

Zoe spürte, wie die kühlen Klümpchen Auberginentraum sie an Stirn, Wange und Kinn trafen. »Verdammt, Alex!«

»Was?«

»Ich habe mir gerade erst die Haare gewaschen!«

»Mein Gott, da ist heute aber wirklich jemand ein Waldschrat.«

Er sah verletzt aus.

»Tut mir leid«, sagte Zoe. »Müde.«

»Mir tut’s auch leid«, sagte Alex. »Aber, na ja, es steht dir nun mal irgendwie.«

Das Lachen darüber hatte die Situation gerettet und Zoe gleichzeitig eine bequeme Überleitung in ihre Farbwahl verschafft.

»Das mag ja sein, Mister, aber ich glaube nicht, dass es der Wand steht.«

»Ich weiß, etwas Dezenteres, stimmt’s?«

Sie fuhren noch einmal zum Superbaumarkt, und dieses Mal kehrten sie mit literweise Farbe, Rollen, Abstreichgittern und all dem anderen Renovierungszubehör zurück. Zoe hatte versucht, die Wände zu säubern, bevor sie ernsthaft zu streichen begannen, und das Auberginenherz größtenteils entfernen können, doch es war noch so viel übrig geblieben, dass es durch drei Schichten Morgennebel hindurch zu sehen war. Als die Farbe zur Neige ging und mit ihr auch Alex’ Vorrat an Geduld, hatte Zoe vorgeschlagen, noch einmal zum Baumarkt zu fahren, um etwas dunklere Farbe zu kaufen.

»Ich dachte, du wolltest den verdammten Morgennebel haben.«

»Und muss das ›verdammt‹ sein? Es gibt keinen Grund, mich zu beschimpfen.«

Alex holte tief Luft. »Zoe, ich habe die Tapeten abgerissen, wir haben uns für deine Farbe entschieden.« Er lachte: »Mir fällt der Arm gleich ab.«

»Aber …«

»Das bildest du dir ein. Ich sehe nichts.«

»Das liegt daran, dass es dunkel wird.«

»Das ist ein besch…« Ein weiterer beruhigender Atemzug. »Das ist ein Schlafzimmer, Zoe. Es wird so ziemlich jede Minute, die wir hier verbringen, dunkel sein.«

Zoe nahm sich zurück, bevor der nächste Streit vom Zaun gebrochen war.

*

Als sie drei Wochen später im Schlafzimmer steht, ist es nicht dunkel, und wenn sie noch länger die Wand anstarrt, denkt Zoe, könnte es passieren, dass sie ihr einen Faustschlag versetzt. Also geht sie aus dem Zimmer und lässt Badewasser ein.

Während sie Shampoo einmassiert, dreht Zoe eine lange Haarsträhne zu einem straffen Strang und zieht daran. Der altvertraute Schmerz auf ihrer Kopfhaut ist bedenklich angenehm … Wie lange hat sie es nicht mehr getan?

Nicht mehr, seit sie den Beruf der Juristin aufgegeben hat und im Verlagswesen arbeitet. Seit drei Jahren also.

Vielleicht sollte ich mir einen Orden verleihen, denkt sie.

Sie weiß noch, dass sie irgendwann an einem Sonntagabend in der Badewanne saß, zutiefst deprimiert und voller Angst vor einer weiteren Woche in einem Job, den sie hasste. Sie zog an einem Büschel Haare und spürte, dass die Kopfhaut sich lösen würde, wenn die Haare nicht ausrissen. Zweimal hatte Zoe tatsächlich zu stark gezogen und plötzlich dicke, lange schwarze Strähnen in der Hand gehabt. Bei einer Online-Recherche fand sie heraus, dass dieser Zwang als Trichotillomanie bezeichnet wird; die sechs Silben bereiteten ihr Kopfjucken, und die begleitenden Bilder beschämt dreinblickender gerupfter Frauen, die sie vom Monitor anstarrten wie verwaiste Puppenköpfe, erwiesen sich als schnelle und wirksame Therapie. Habe einen kalten Entzug gemacht, bevor ich zum gerupften Huhn wurde, denkt Zoe, lässt das Haarbüschel los und greift nach der Haarspülung.

Während die Spülung einwirkt, rasiert Zoe sich mit Alex’ Rasierer die Beine. Er hasst es, wenn sie ihn für ihre Beine benutzt, aber sie hasst es, dass er ihn auf dem Waschbecken liegen lässt, daher ist es nur gerecht. Als er an diesem Morgen die Hände unter ihre Beine hakte, zuckte sie zusammen, weil sie wusste, ihr Wildwuchs würde an der weichen Haut seiner Hände kratzen. Sie untersucht ihre Schienbeine auf Ekzeme und sieht keine.

Und warum sollten da auch welche sein? Das Leben ist gut: Sie arbeitet an einem neuen Buch – keinem »Baby-Buch«, danke vielmals, sondern einer Geschichte für junge Leser. Gut, sie handelt von einer reimenden Katze und einem Gepardengnom, aber es ist ein Buch mit einer wichtigen Botschaft für die Kleinen: Sei froh, so wie du bist. Auch für die Großen eine wichtige Botschaft.

Zoe schlägt den Rasierer an der Seitenwand der Badewanne aus, so dass ihre Stoppel mit denen von Alex vermischt in einem Klumpen grünlicher Seife abfließen. Auf irritierende Art fast romantisch. Und Alex kann romantisch sein, wenn es ihn überfällt. Okay, manchmal ist er ein wenig zu sehr Kumpel – ein bisschen vergesslich vielleicht, ein bisschen unordentlich, ein bisschen … was auch immer, ein typisches Mannsbild eben. Aber dafür hat er kräftige Fußballerbeine, Haare auf der Brust, eine dunkle Stimme und ein Grübchen im Kinn. Natürlich ist sie voreingenommen, doch verglichen mit den Männern ihrer Freundinnen schneidet Alex eindeutig am besten ab. Und ist er nicht auch ihr Retter in der Not? Wenn sie ihre neue Arbeit genießt, dann sollte sie Alex dafür danken, dass er sie ermutigt und dabei unterstützt hat, der alten den Rücken zu kehren.

Das Badewasser ist kalt geworden, und überall an der Oberfläche schwimmen Haare von Alex’ Bart und Zoes Beinen. Sie hält den Atem an, kneift sich mit einer Hand die Nase zu, taucht den Kopf unter Wasser und fächert mit der anderen Hand das Haar auf. Sie wird duschen müssen, bevor sie sich abtrocknen kann.

Als sie aus dem Badezimmer kommt, ruft sie die Treppe hinunter, aber Alex ist immer noch nicht vom Einkaufen zurück. Es sei denn, er hört sich über Kopfhörer Platten an oder spielt irgendein Xbox-Spiel. Er kann so unglaublich rücksichtsvoll sein. Er weiß, wie sehr sie ihren Schlaf liebt, und hat sich gemerkt, welche Dielenbretter knarren, so dass er »wie ein Ninja« umherschleichen kann. Natürlich wäre es einfacher, er würde die Dielenbretter reparieren, aber vielleicht weniger süß. Wenn er unten ist, dann, so hofft Zoe, hört er Platten und schießt nicht auf Zombies. Sie mag es, wenn er hinter seinen Decks sitzt, die Lippen leicht aufgeworfen, während er zum Beat den Kopf bewegt; einige Männer wirken lächerlich, wenn sie mit dem Kopf nicken und dazu auch noch einen Kussmund machen, doch Alex sieht gut dabei aus. Hinzu kommt, dass er sich nie richtig ernst zu nehmen scheint – ein Glitzern in seinen Augen sagt: Ich weiß. Er kann seinen Kopf zur Seite schieben, so wie indische Frauen es beim Tanzen tun, aber anstatt darüber nachzudenken, ob er dabei auch cool aussieht, scheint es ihn einfach nur zu amüsieren. Wann immer sie ihm beim Abspielen eines Sets zusah und er mit dem Kopfwackeln anfing, suchte er in der tanzenden Menge Blickkontakt und zwinkerte ihr zu: Ich weiß. In diesen Blick verliebte sie sich und in den Mann dahinter. Er verliebte sich schon, als sie sich zum ersten Mal sahen.

Es war Zoes viertes Sommerfest in der Kanzlei, und nachdem sie sich bei der zweiten und dritten Party danebenbenommen hatte, achtete sie dieses Mal darauf, wie viel und was sie trank.

»Darf ich Sie auf ein Getränk einladen?«

»Die Getränke sind gratis«, hatte Zoe gesagt und zurückgelächelt.

Der DJ senkte seine Stimme. »Psst …«, sagte er und zwinkerte. »Tun wir einfach so, als ob.«

Zoe nickte, flüsterte zurück: »Okay.«

»He«, sagte er, als sei Zoe ihm gerade erst aufgefallen. »Darf ich Sie auf ein Getränk einladen?«

»Klar. Ein Glas Champagner, bitte.«

Alex tat so, als löse der teure Geschmack seiner Dame bei ihm Überraschung, Panik und Angst aus. »Champagner? Ich …«

Zoe improvisierte mit. »Ist das ein Problem?«

Nach kurzem Zögern: »Nein, Gott, nein, es ist nur so« – der DJ klopfte seine Taschen ab – »ich glaube, ich habe mein Portemonnaie im Ferrari liegen gelassen.«

»Das ist uns doch allen schon mal passiert«, sagte Zoe. »Ich bezahle, und Sie sind nächstes Mal dran.«

Der DJ zog seine kräftigen Augenbrauen hoch (Wenn wir Kinder hätten, würden sie mit kräftigem schwarzem Haupthaar geboren, dachte Zoe). »Nächstes Mal?«

Zoe hielt nichts von allzu frechen Flirts, aber nachdem sie in diesen hineingestolpert war, erlaubte sie sich mitzumachen. »Ist das Ihre übliche Anmache?«

»Noch nicht«, sagte er lachend.

Zoe drehte sich zum Tresen und bestellte zwei Gläser Champagner.

»Und wie spreche ich Sie an?«, fragte Zoe.

»DJ Lexx« – Kopfwackeln und selbstironisches Lächeln –, »wenn Sie mich für ein Set buchen wollen. Alex, wenn Sie Lust hätten, mich nächste Woche auf einen Drink zu treffen.«