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ANDREAS KREBS / PAUL WILLIAMS

Die Illusion der

UNBESIEGBARKEIT

Warum Manager nicht klüger sind
als die Incas vor 500 Jahren

Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Peter May

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ISBN Buchausgabe: 978-3-95623-682-2
ISBN epub: 978-3-95623-683-9

Unter Mitarbeit von Dr. Petra Begemann, Bücher für Wirtschaft + Management | www.petrabegemann.de

Lektorat: Eva Gößwein, Berlin | www.textstudio-goesswein.de

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorenfotos: Birgit Schmuck / Michael Kranz

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

© 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2018 erschienenen Buchtitel “Die Illusion der Unbesiegbarkeit” von Andreas Krebs und Paul Williams, ©2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

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Inhalt

Zum Geleit (Prof. Dr. Peter May)

Eine Peru-Reise mit unerwarteten Folgen

Kein Aufstieg ohne Fall? Ein Blick auf die Fortune 500

Wer spricht heute noch von Nokia?

Rasante Gipfelstürmer, schockierende Abstürze

Eine »Logik des Niedergangs«?

1Eine fesselnde Vision – oder organisierte Überforderung?

»Wir brauchen keine Vision – pünktliche Lieferung reicht völlig!«

Von Adlern, die durch Zirkuszelte fliegen

Warum Marktanteile keine Vision sind

Besser nichts als Bullshit-Bingo

Kleiner Stresstest für Ihre Vision

2Talent vor Seniorität – oder mit Mittelmaß in die Mittelmäßigkeit?

Was passiert, wenn der Prinz automatisch König wird

Dilettantismus, Desinteresse, Delegation

Regel Nummer 1: Keine Kompromisse!

Prognose statt Potenzial

Kleiner Stresstest für Ihre Personalpolitik

3Erfolg durch andere – oder Leader-Shit?

Von Rockladys und Honigshops – Motivation (mal wieder)

Eigenverantwortung – The Last Table

Beyond Delegation – der Verantwortungssog

Führungssouveränität – mehr als eine Stilfrage

1 : 10 oder 1 : 10 000? Leadership ≠ Leadership

Kleiner Stresstest für Leadership

4Fair Play – oder Werte-Kulissen?

Verbal radikal, faktisch total egal?

Von Riesenbüros und der Chefin als Putzhilfe

Nicht nur rechtens, sondern richtig?

Andere Länder, andere Werte

Kleiner Stresstest für Ihre Werte – und die des Unternehmens

5Die wahren Gegner bekämpfen – oder Nebenkriegsschauplätze eröffnen?

Wenn Alphatiere aufeinanderprallen

Wenn Patriarchen zukunftsblind agieren

Wenn der Fehler im System liegt

Wenn Risiken unterschätzt werden

Das fokussierte Unternehmen

Kleiner Stresstest für Ihre Schlagkraft

6Eine weitsichtige M&A-Strategie – oder ein Millionengrab?

Das ganz normale Fusionsfiasko – und ein Positivbeispiel

Prinzip Hoffnung – oder ein Masterplan?

Der Irrtum der Rationalität

Das Beste aller Welten – oder eine Diktatur des Siegers?

Kleiner Stresstest für Ihre Fusionspläne

7Urteilskraft – Look Who’s Telling the Story!

Im Spiegelkabinett der Chefetage

Die Landkarte ist nicht das Land

»Es irrt der Mensch so lang er strebt«

»Riots in Berlin« oder: Wer ist schon wirklich objektiv?

Kleiner Stresstest für Ihre Urteilskraft

8Ego schlägt Sache – für wen und was tue ich es?

Indiana Jones lässt grüßen

Heute CEO, morgen gefeuert

Am Tropf der Bewunderung

Sparringspartner statt Hofschranzen

Kleiner Stresstest für Ihr Ego

Zu guter Letzt …

Epilogue – a Message from Peru (Dr. Max Hernandez)

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Dank

Personen- und Stichwortverzeichnis

Über die Interviewpartner

Über die Autoren

Zum Geleit

Ein neues Kapitel unternehmerischen Denkens

In der Wirtschaft tätige Menschen lieben Erfolgsgeschichten. Sie handeln vom Siegen, vom Gelingen und vom Aufstieg. Wir sind fasziniert von Unternehmerlegenden, ganz gleich ob sie in der digitalen oder in der industriellen Zeit ihren Ursprung haben. Der Weg vom Einmannbetrieb zum Hunderte Millionen erwirtschaftenden Hidden Champion in einer oder zwei Generationen, der Aufstieg des Konzerns vom Regional Player zum globalen Multi – das sind spannende, zur Nachahmung einladende Vorbilder.

Aber wie sicher können wir uns der Erfolgsregeln, die zu einem derartigen Aufstieg führen, eigentlich sein? Ex post scheint fast immer klar, warum es gut gegangen ist. Reengineering zur rechten Zeit, Kostendisziplin, ausgefeilte, überlegene Strategien, das richtige Produkt, Innovationskraft, all das wird immer wieder als Begründung für den außerordentlichen Erfolg genannt. Und ist zumindest auf den ersten Blick auch immer richtig.

Die Betriebswirtschaftslehre hat daraus über die Jahre ein Erkenntnisgebäude aufgebaut, wie in ihren Augen gut und richtig gewirtschaftet werden sollte. Mit Fachgebieten wie Kostenrechnung, Bilanzierung, Marketing und Personal liefert sie das akademische Rüstzeug, das es für die Bewährung in der Praxis zu brauchen scheint. Man halte sich an die Regeln von Buchführung, Gewinnerzielung und vieler anderer Vorgaben dieses Typs – und alles scheint auf dem rechten Weg zu sein. Nur: Warum scheitern dann so viele Unternehmen? Wir alle kennen genügend Fälle, in denen nach den herkömmlichen Regeln offenbar alles richtig gemacht wurde, und dennoch wurde ein Geschäft hinweggefegt. Das trifft den Kaufmann um die Ecke ebenso wie den mittelständischen Maschinenbauer oder den milliardenschweren Großkonzern. Misserfolg passiert trotz Einhaltung der allgemein akzeptierten Regeln.

Es ist das große Verdienst meines geschätzten Freundes Andreas Krebs und seines Ko-Autors Paul Williams, dass sie mit dem vorliegenden Werk ein neues Kapitel für das Drehbuch unternehmerischen Denkens verfasst haben. In »Die Illusion der Unbesiegbarkeit« greifen sie zwei Grundkonstanten menschlichen Wirkens auf, die des Gelingens und die des Scheiterns. Sie haben den Mut, über die Grenzen einer isolierten Fachdisziplin hinauszugehen und Verknüpfungen zu schaffen, die jedem unternehmerisch Tätigen den Zugang zu wertvollen Parallelen und Einsichten eröffnen. Sie stellen unsere Grundfrage in einen neuen Zusammenhang: Warum und unter welchen Bedingungen gewinnen Systeme, werden überlebensstark und können ihren Wirkungskreis ausdehnen? Was löst Wendepunkte aus, was verursacht Niedergang?

Die klassische Führungslehre hält dafür nur einen begrenzten Vorrat an Antworten bereit. Seit dem Erscheinen von Peter Druckers Opus magnum »Concept of the Corporation« im Jahre 1946 hat die Führungslehre unendlich viele Verfeinerungen und Verbesserungen erfahren, dabei aber im Kern den Betrieb als universales Bezugssystem aufrechterhalten. Das vorliegende Buch geht weiter. Es schafft neue Verknüpfungen dort, wo sie aus der Sicht des Erkenntnisinteresses überaus lohnend erscheinen. Es bereichert unser Führungswissen um die historische Perspektive und den Blick auf allgemeine Prinzipien von Aufstieg und Niedergang – ein für moderne Unternehmensführung ebenso spannender wie unverzichtbarer Ansatz. Und es ist ganz sicher kein Zufall, dass Krebs und Williams für ihren übergreifenden Blickwinkel auf das Schicksal der Incas rekurrieren. Denn die südamerikanische Dynastie steht beispielhaft für beides – für Aufstieg und Niedergang.

Der Aufstieg der Incas währte über Jahrhunderte. In heutiges Wording übertragen ist das eine Erfolgsgeschichte, die uns mehr lehren kann als kurzfristige Management-Betrachtungen – und auch der Niedergang der Incas als Folge des Eindringens der spanischen Eroberer und des Bruderzwists zweier Herrscher liefert Erkenntnisse, die unser heutiges Führungswissen wertvoll ergänzen können. In der vorkolumbianischen Zeit verfügten die Incas über Führungs- und Expansionswissen, das dem anderer Völker überlegen war. Hoch entwickelter Ackerbau, ein Netz von Verkehrswegen sowie ein effizientes Nachrichtenwesen waren zentrale Säulen eines Staatswesens, das dank einer wirkungsvollen Mischung aus Verhandlung, Kooperation und Machtausübung seinen Wirkungskreis immer weiter ausdehnen konnte. Auf Unternehmen übertragen würden wir von Internationalisierung, Umsatz- und Marktanteilsgewinnen sprechen.

Der Erfolg der Incas hielt so lange an, wie es ihnen gelang, innerhalb des komplexer werdenden Systems die Einzelinteressen der Mächtigen mit denen anderer Stakeholder auszugleichen und die zerstörerischen Energien, die von innen wirkten, zu domestizieren. Aber diese einem sorgsam austarierten Gleichgewicht der Kräfte entspringende Wachstumsenergie währte nicht ewig. Scheinbar kleine Veränderungen sorgten erst für Destabilisierung und leiteten dann den Untergang ein.

Ohne direkten Bezug zum Unternehmen erkennen wir einige Gesetzlichkeiten von Systemen, die offenbar über den Wandel der Jahrhunderte hinweg gelten: Jeder lange andauernde Erfolg birgt in sich schon den Keim des Scheiterns, weil die verantwortlichen Akteure zunehmend blind werden für neue, ungekannte Bedrohungen. Aufkommende neue Technologien können bewährtes Führungswissen innerhalb kurzer Zeit abwerten und die Schaffung neuen Führungswissens erforderlich machen. Überzogener Egoismus und Nepotismus der Gestalter bringen ein System in die Risikozone und beschleunigen den Niedergang. Der Abstand der Jahrhunderte schafft eine Klarheit, die es erlaubt, Parallelen zur Jetztzeit zu ziehen. Auch heute erleben wir radikale Umbrüche. Für die Incas waren die Reiterei und die Waffen der Spanier ungekannte, disruptiv wirkende Technologien – für uns sind es Digitalisierung und Roboterisierung. Für die Incas waren die Herrschafts- und Kriegstechniken der Spanier die große, Unsicherheit schaffende Veränderung – für uns sind es der Wegfall der Verlässlichkeit in der Politik und ein sich beschleunigender gesellschaftlicher Wertewandel im Kleinen und im Großen. Und: Menschen mit überzogenem Ego und unnötige Konflikte gibt es immer noch – gerade in der Wirtschaft.

Das vorliegende Buch sollte für jeden von uns Anlass sein, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Wir sollten unsere Routinen überprüfen, Bewährtes nicht einfach weiter als Dauerlösung hinnehmen und unsere Wahrnehmung für die innerhalb und außerhalb des Systems wirkenden Kraftfelder schärfen. Nur dann wird es uns gelingen, die Dynamiken zu unseren Gunsten zu nutzen und aus den Veränderungen das zu formen, was wir alle brauchen: einen Aufbruch in ein neues Zeitalter.

Prof. Dr. Peter May

Bonn-Bad Godesberg, im Juni 2017

Eine Peru-Reise mit unerwarteten Folgen

Dies ist kein Buch über die Incas, aber ohne die Incas gäbe es dieses Buch nicht. Es begann ganz harmlos mit einer geschäftlichen Reise von Paul Williams nach Peru. Paul hatte sich im Vorfeld mit Lateinamerika-erfahrenen Freunden besprochen, die dringend rieten, doch mehr von der wunderbaren Kultur des Landes zu erleben als drei Tage Lima Hilton. Ihr Enthusiasmus hatte Folgen: An den Businesstermin schloss sich eine Peru-Reise von sieben Freunden aus vier Nationen an, an der auch Andreas Krebs teilnahm.

Wir waren durchaus vorbereitet auf die indigene Hochkultur des 15. und 16. Jahrhunderts. Doch was uns peruanische Führer auf 3500 Metern Höhe in einer atemberaubenden Landschaft dann erzählten, stimmte uns nachdenklich. In Tipón, einer früheren Agrar- und Forschungsstätte der Incas 30 Kilometer nordöstlich von Cusco, erfuhren wir genauer, wie die Incas in knapp 100 Jahren ein Imperium schufen, das sich fast 5000 Kilometer entlang der Anden vom heutigen Ecuador im Norden bis weit nach Chile hinein im Süden erstreckte. Wie sie dieses Reich mit 200 Ethnien effizient durchorganisierten und zusammenhielten. Wie sie durch kluge Anbautechniken Überschüsse erwirtschafteten, Vorratsspeicher bauten, für Kranke und Familien ohne Ernährer sorgten, und das in einer Zeit, in der in Europa Seuchen und Hungersnöte wüteten. Wie sie anderen Völkern ein Angebot zum »Friendly Takeover« machten und erst zu den Waffen griffen, wenn die Offerte ausgeschlagen wurde. Wie sie die Unterlegenen konsequent integrierten und besetzte Regionen durch Umsiedlung und Entwicklung der Infrastruktur befriedeten.

Eigentlich hatten wir auf dieser Reise Abstand zu unserem Tagesgeschäft als Manager, Aufsichtsräte, Investoren und Coachs gewinnen wollen. Doch plötzlich redeten wir ständig über Management – »Inca-Management«. Wie konnte es sein, dass die Incas, die weder über die Schrift verfügten noch das Rad nutzten (geschweige denn moderne Kommunikationstechnik), ein riesiges Imperium beherrschten, während zahlreiche Firmenzusammenschlüsse heute unter weitaus günstigeren Voraussetzungen scheitern? Wie schafften es die Incas, über viele Jahrzehnte eine akzeptierte Führungselite zu etablieren, während moderne Topmanager sich regelmäßig den Vorwurf der Egomanie und Abgehobenheit gefallen lassen müssen? Warum folgten zahlreiche Völker den »Kindern der Sonne«, während heutige Unternehmenslenker oft vergeblich versuchen, Firmenkonglomerate auf einen gemeinsamen Kurs einzuschwören?

Natürlich lassen sich die Methoden einer strikt hierarchischen Gesellschaft der frühen Neuzeit nicht eins zu eins in die Gegenwart übertragen. Doch eines machten unsere hitzigen Debatten deutlich: Die Incas halten uns einen Spiegel vor. Sie sind uns fremd – und doch verblüffend nah. Die Inca-Elite stand vor ähnlichen Herausforderungen wie Manager von heute: klare Ziele zu formulieren, andere davon zu überzeugen, in einem rauen Umfeld Veränderungen und Innovationen anzustoßen, unterschiedliche Gruppen zu einen, Vorhaben stringent umzusetzen.

Das ist es, worauf es jenseits aller Management-Moden und Buzzwords von »Diversity« bis »Disruption« bis heute ankommt. Genau darum dreht sich dieses Buch: Was ist wirklich entscheidend, wenn Führungskräfte Unternehmen oder Organisationen auf Erfolgskurs halten wollen? Die Incas dienen uns dabei als Initialzündung, treten dann aber in den Hintergrund. Stattdessen schöpfen wir aus unserer eigenen Unternehmenspraxis und aus dem, was uns Gesprächspartner – Topmanager aus unterschiedlichsten Kontexten vom internationalen Konzern über erfolgreiche Familienunternehmen bis hin zu Start-ups, Beratungsunternehmen, öffentlich-rechtlichen Organisationen und NGOs – mit auf dem Weg gaben (vgl. »Unsere Interviewpartner«). Wir danken allen Gesprächspartnern für ihre Offenheit. Einige besonders brisante Geschichten haben wir in Abstimmung mit ihnen anonymisiert.

Von einer unkritischen Verklärung der Incas sind wir weit entfernt. Denn auch das gab es: Deportationen ganzer Völker und Dörfer, Kinderopfer, eine rigide Reglementierung des Einzelnen, der weder Aufenthaltsort noch Beruf frei wählen konnte. Zudem ist nach knapp einem Jahrhundert grandioser Erfolge etwas ebenso grandios schiefgegangen. 1532 schlägt der spanische Eroberer Francisco Pizarro mit weniger als 200 Soldaten das 12 000 Köpfe zählende Heer der Incas und nimmt ihren Herrscher (den »Inca«) Atahualpa gefangen. Binnen weniger Jahre zerfällt das Inca-Reich, auch wenn der letzte Inca-König, ohnehin eine Marionette der spanischen Konquistadoren, erst 1572 hingerichtet wird. So findig, effizient und konsequent die Incas zuvor ihr Reich beherrschten, so hilflos erscheinen sie im Angesicht des neuen Gegners. Was uns zu der Frage führt, ob herausragende Erfolge zur Endlichkeit verdammt sind, ob jeder Triumph womöglich schon den Keim des Scheiterns in sich trägt.

Auch hier drängt sich die Gegenwart sofort ins Bild: Jeder Manager, jede Führungskraft kennt die Namen jener »Global Player«, scheinbar unangreifbarer Firmenimperien, die einen rasanten Niedergang erlebten oder sogar völlig in der Versenkung verschwunden sind: Kodak. Nokia. AOL. Pan Am. Arthur Andersen. Auch in Deutschland finden sich zahlreiche Beispiele, seien es Quelle, Grundig oder Schlecker. Nimmt man die jährliche Forbes-Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen weltweit zum Maßstab, so wird rasch deutlich: Kaum eine Organisation kann sich dauerhaft im Olymp der zehn wirtschaftlich erfolgreichsten Unternehmen halten. Möglicherweise ist es gerade die Illusion der Unbesiegbarkeit, die den manchmal rasanten Absturz vorprogrammiert. Für Führungskräfte und Manager bedeutet das, auch und gerade in Zeiten sicherer Erfolge wachsam zu bleiben, Schwachstellen zu prüfen und sich und das Unternehmen weiterzuentwickeln. Sonst geht es einem wie jenem deutschen Topmanager, der großspurig aus dem schwäbisch verwurzelten Daimler-Konzern eine »Welt AG« machen wollte, damit den Anfang vom Ende seiner Karriere einleitete und Milliarden Dollar verbrannte.

Was uns noch wichtig ist: Auch wenn wir unsere Darstellung der Incas sorgfältig recherchiert und Fachleute in Peru, den USA und Deutschland herangezogen haben, maßen wir uns nicht an, ein erschöpfendes, historisch vollständiges Bild zu zeichnen. Dazu gibt es andere wunderbare Bücher. Zum Einstieg empfohlen seien etwa der prachtvolle Katalog und weitere Begleitpublikationen der großen Inca-Ausstellung von 2013 im Lindenmuseum Stuttgart (»Inka. Könige der Anden«). Unser Blick auf die Incas ist der selektive Blick heutiger Führungskräfte. Uns selbst hat dieser Blick tiefere Einsichten in unser eigenes Denken und Handeln im Unternehmenskontext ermöglicht als zahllose gut gemeinte PowerPoint-Präsentationen und Führungsworkshops zuvor. Wir hoffen, dass es diesem Buch gelingt, einen Teil unserer Faszination weiterzugeben. Und wir freuen uns, wenn unsere manchmal überraschenden Einsichten Sie bis zur letzten Seite auch gut unterhalten. Langweilige Bücher gibt es schließlich schon genug! Und wer weiß: Vielleicht sehen wir uns ja auf einer gemeinsamen Unternehmerreise nach Peru? Sprechen Sie uns an!

Monheim am Rhein, im Juni 2017

Andreas Krebs und Paul Williams

www.inca-inc.com

PS: Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen: Wenn wir von »Managern« oder »Führungskräften« sprechen, schließen wir damit beide Geschlechter mit ein. Auf Doppelkonstruktionen wie »Manager/in« verzichten wir dennoch aus Gründen der Lesbarkeit.

Und noch eine Anmerkung: Bei dem Andenvolk, das uns so beeindruckt hat, haben wir uns für die internationale Schreibweise entschieden – also »Inca« statt »Inka«. Schließlich dachten auch die Incas schon vor 500 Jahren über nationale Grenzen hinweg …

»Jahrelange Erfolgsgeschichten können zu einem nicht zu rechtfertigenden Selbstvertrauen führen, zur irrigen Annahme, ›Wir kriegen das schon hin‹.«

PROF. DR. IRIS LÖW-FRIEDRICH, TOPMANAGERIN UND MULTI-AUFSICHTSRÄTIN

Kein Aufstieg ohne Fall? Ein Blick auf die Fortune 500

Alljährlich veröffentlicht das Magazin Fortune die Liste der Top 500. Hier sind sie versammelt: die Big Player, die umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Doch kaum eine Organisation schafft es, ihren Spitzenplatz im Wirtschaftsolymp dauerhaft zu halten. Ist der Moment des größten Triumphs womöglich auch der der größten Verwundbarkeit? Trägt jeder außergewöhnliche Erfolg schon den Keim des Scheiterns in sich? Anders gefragt: Gibt es keinen Aufstieg ohne Fall? Wenn Weltreiche zusammenbrechen, Hochkulturen wie die der Incas innerhalb weniger Jahre in der Bedeutungslosigkeit versinken, woher nehmen Unternehmensführer und Manager unserer Zeit die Zuversicht, dass ihr Erfolg von heute auch morgen und übermorgen noch andauern wird? Und wichtiger noch: Gibt es Warnsignale für den drohenden Untergang? Diese Frage betrifft selbstverständlich nicht nur Großunternehmen. Wir alle kennen schließlich Start-ups, die nach einem kometenhaften Aufstieg ebenso spektakulär scheiterten, und traditionsreiche Mittelständler, deren Erfolgskurve nach vielen Jahrzehnten scheinbar urplötzlich zu Ende war.

Wer spricht heute noch von Nokia?

Wenn Sie heute einen Smartphone-gewieften Dreizehnjährigen fragen, was er von Nokia hält, wird er Sie wahrscheinlich verständnislos anblicken: »Hä – Nokia?« Dabei war das finnische Unternehmen noch vor wenigen Jahren ein echtes Schwergewicht: Von 1998 bis 2011 dominierte es den weltweiten Markt für Mobiltelefone, als weltgrößter Handy-Hersteller und Marktführer. 2004 belegte Nokia in der Fortune-Liste der 500 größten Unternehmen der Welt einen stolzen Platz im vorderen Drittel (Rang 122). Ein kleines Land mit rund fünf Millionen Einwohnern beherrschte souverän eine Zukunftsbranche.

Die Geschichte von Nokia könnte Stoff für ein Hollywood-Drama liefern: 1865 baut der Ingenieur Fredrik Idestam am Fluss Nokianvirta im Süden Finnlands eine Zellstoffmühle und Papierfabrik und nennt sie »Nokia«. Gut drei Jahrzehnte später, 1898, gründet Eduard Polón eine Fabrik, die Gummistiefel und Radmäntel produziert, die Finnish Rubber Works. Und noch einmal knapp 15 Jahre später entstehen die Finnish Cable Works, gegründet von Arvid Wickström. Ab 1963 produzieren die Cable Works auch kabellose Telefone für die Armee. Die drei Unternehmen kooperieren bereits 45 Jahre miteinander, als sie 1967 zum Technologiekonzern Nokia verschmelzen. Forstwirtschaft, Gummi, Kabel, Elektronik und Stromproduktion bleiben Geschäftsbereiche, bis die Deregulierung des europäischen Telekommunikationsmarktes Anfang der Achtzigerjahre die Weichen neu stellt. Als das skandinavische Mobilfunknetz NMT (Nordic Mobile Telephone) entsteht, produziert Nokia 1981 das weltweit erste mobile Autotelefon und ab 1987 auch Mobilfunktelefone.1 Ab da geht es Schlag auf Schlag: Nokia konzentriert sich auf Mobiltelefone und wächst und wächst und wächst. Andere Geschäftsbereiche wie Gummi, Kabel oder Stromerzeugung werden abgestoßen. Das Unternehmen begeistert mit technischen Neuerungen wie dem Smartphone-Vorläufer »Communicator« (1996); vor allem aber überschwemmt es den Markt mit günstigen und robusten Handys für jedermann. 2002 stammt jedes dritte auf der Welt verkaufte Mobiltelefon von Nokia (Marktanteil 35,8 Prozent), nur jedes sechste von Motorola (15,3 Prozent) und nicht einmal jedes zehnte von Samsung (9,8 Prozent). Das bestverkaufte Handy aller Zeiten ist das Nokia 1100, das sich bis 2013 mehr als 250 Millionen Mal verkauft haben wird:2

Das Unternehmen aus dem finnischen Espoo scheint unbesiegbar. Und leider fühlt man sich auch so. Denn auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Macht bringen sich neue Wettbewerber in Stellung. Als 2004 die ersten Klapphandys erscheinen, setzt Nokia weiter auf »bewährte« Modelle, und als Apple 2007 das erste Smartphone mit Touchscreen herausbringt, hält CEO Olli-Pekka Kallasvuo das iPhone wörtlich für ein »Nischenprodukt«. Obwohl die Nokia-Techniker immer wieder neue Ideen liefern und nicht selten Vorreiter sind – etwa beim ersten Kamera-Handy (Nokia 7650) oder beim Internet Tablet 770 –, reagiert das Unternehmen zu langsam und schwerfällig. Zu allem Überfluss bricht in der Führungsetage ein Streit aus: Soll man die Smartphone-Entwicklung forcieren oder weiter besonders günstige Handys bauen? Der langjährige Leiter des Deutschland-Geschäfts, Razvan Olosu, zeichnet »das Bild einer riesigen Behörde, voller Handy-Beamter auf Lebenszeit«.3 Die Mitarbeiter am deutschen Standort Ratingen benennen zu Beginn der Krise die eigenen Meeting-Räume vielsagend um: Aus »Helsinki«, »Berlin« oder »London« werden die Räume »Funktioniert hier nicht«, »Wird nie approved« und »Global will das«.4 Mit »Global« ist übrigens die zögerliche Zentrale gemeint. Das nennt man wohl Galgenhumor.

Genauso rasant, wie es zehn Jahre zuvor aufwärts ging, geht es nun bergab. Ab 2008 sinkt der Marktanteil von Nokia drastisch, ab 2011 schreibt das Unternehmen Verluste. Im gleichen Jahr einigt man sich mit Microsoft auf eine Kooperation: Das eigene Betriebssystem wird aufgegeben, stattdessen wird nun MS Windows auf Nokia-Handys installiert. Die Branche spottet derweil über zwei rostige Schlachtschiffe, die gemeinsam Fahrt aufnehmen wollen. Gegen Apples iPhone und das auf Geräten von Samsung, LG und anderen Unternehmen genutzte Android-System bleibt man erfolglos. Zwei Jahre später übernimmt Microsoft die Mobiltelefonsparte von Nokia. »Das finnische Handywunder ist zu Ende«, urteilt das Branchenmagazin connect. Heute definiert sich Nokia als führender Anbieter von Netzwerktechnologie. Der Aktienkurs seit 1999 gleicht einem Hochgebirge mit Schwindel erregenden Höhen um die Jahrtausendwende, das ab 2009 in eine konstant flache Ebene übergeht. Wer 2000 über 60 Euro für eine Nokia-Aktie bezahlte, bekam Anfang 2016 weniger als 5 Euro dafür.

Wenn man sich mit der Geschichte der Incas beschäftigt, hat man bei der Lektüre der Nokia-Firmengeschichte gleich mehrere Déjà-vus. In beiden Fällen verändert ein kleines Volk die Welt, weil es findiger, konsequenter und damit zunächst erfolgreicher ist als potenzielle Konkurrenten. Dabei nutzen beide die Gunst der Stunde. Der Aufstieg der Incas vom unbedeutenden Andenvolk zur Großmacht begann circa 1100. Was für Nokia die Deregulierung des Mobilfunkmarktes und das Know-how in Sachen drahtloser Telekommunikation, waren für die Incas ungewöhnliche Kälteperioden in den Anden und entlang der Pazifikküste, in denen sich ihre Kenntnisse in Agrarwirtschaft, Bewässerungswesen und Anbautechniken als überlegen erwiesen. Während andere Völker die kalten Hochebenen verließen, Dürre am Pazifik und extreme Niederschläge andernorts zu Landflucht und kriegerischen Auseinandersetzungen führten, handelten die Incas getreu ihrem Motto, »Ordnung in die Welt bringen«. Sie legten an steilen Hängen tausende Terrassen an, bauten Bewässerungsanlagen, leiteten Flüsse um. Sie kultivierten gezielt jene Feldfrüchte, die den klimatischen Bedingungen angepasst waren, etwa eine Kartoffelart, die sich leicht gefriertrocknen ließ. Die Expansion der Incas basierte stark auf ihrem (land)wirtschaftlichen Erfolg durch innovative Anbaumethoden. Wie die Finnen, die mit robuster, nicht zu teurer Technik weltweit erfolgreich waren, exportierten die Incas ihre Erfolgsrezepte in Nachbarregionen und gewannen so immer mehr Einfluss. Ihr goldenes Zeitalter mit großen Landgewinnen begann unter der Regentschaft Pachacutec Yupanquis (1438–1471). Doch wie die Finnen, die sich kaum vorstellen konnten, dass ihre Siegesserie einmal enden könnte, klammerten die Incas sich auch dann noch an bewährte Rezepte, als sie sich mit einem Gegner konfrontiert sahen, der nach völlig anderen Regeln spielte. Wo man sich bei Nokia nicht vorstellen konnte, dass Apple mit einem einzigen, noch dazu teuren Gerät wie dem iPhone der Nokia-Produktvielfalt günstiger Geräte den Rang ablaufen könnte, war es für die Incas unmöglich, sich auf einen Gegner einzustellen, der mit den bewährten Methoden der »freundlichen« Übernahme oder aber Unterwerfung nicht zu fassen war: die spanischen Konquistadoren unter Francisco Pizarro.

In beiden Fällen besiegelten interne Konflikte den Untergang. Bei den Incas war es der Bruderkrieg, der ausbrach, als Huayna Cápac 1527 das Reich unter seinen beiden Söhnen Atahualpa und Huáscar aufteilte. Beide Brüder scharten die Volksgruppen ihrer verschiedenen Mütter und weitere Verbündete hinter sich und kämpften erbittert. Als 1532 Francisco Pizarro das Inca-Reich erreichte, war es bereits stark geschwächt und daher leichte Beute für die Invasoren. Den Niedergang von Nokia beschleunigte der Richtungsstreit in der Führungsetage unter Olli-Pekka Kallasvuo ab 2007, in dem Befürworter und Gegner einer Strategieänderung weg vom günstigen Handy und hin zum Smartphone sich gegenüberstanden. Und in beiden Fällen versanken die einst so mächtigen und scheinbar Unbesiegbaren innerhalb weniger Jahre in der Bedeutungslosigkeit: hier die »Könige der Anden«, dort die Herrscher des Handy-Marktes. Kann es sein, dass mit einem grandiosen Aufstieg unweigerlich jene Hybris geboren wird, die den späteren Absturz schon vorprogrammiert?

Rasante Gipfelstürmer, schockierende Abstürze

Die Beschäftigung mit den umsatzstärksten Unternehmen der Welt lehrt Demut. Die erste globale »Fortune 500«-Liste des US-Magazins Fortune erschien 1990, basierend auf den Umsatzdaten des Vorjahres. Vergleicht man die Top Ten dieser Aufstellung mit den Spitzenreitern der 2000 und 2015 veröffentlichten Listen, gewinnt man einen ersten Eindruck, wie fragil außergewöhnliche Unternehmenserfolge sind. Nach zehn Jahren finden sich nur noch fünf der ersten Spitzenreiter unter den Top Ten (farbig hinterlegt), nach weiteren 15 Jahren sind es noch drei der 1990 platzierten (farbig hinterlegt).

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Abb. 1: Die Top 10 der »Fortune 500«-Listen 1990, 2000 und 2015

Die Liste bildet auch die tektonischen Verschiebungen der Weltwirtschaft ab: Wo noch 1990 die USA mit sechs Unternehmen dominierten, gefolgt von Japan mit zwei Organisationen, sind es 2015 noch ganze zwei US-Unternehmen und ein japanisches, dafür aber gleich drei aus der Volksrepublik China. Herausgefallen sind klangvolle Namen wie IBM (1990 das fünftgrößte Unternehmen der Welt; 2015 auf Rang 82) oder General Electric (2015 Rang 24). Der Spitzenreiter von 1990, General Motors, belegt 2015 Rang 21. Riesige Öl- und Gasproduzenten dominieren heute mit fünf der ersten sechs Plätze.

In der Welt der Wirtschaft gilt: Sicher ist, dass nichts sicher ist. Der Erfolg von gestern ist kein Garant für den Erfolg von morgen. Leider gerät das in guten Zeiten offenbar fast automatisch in Vergessenheit und kann zu waghalsigen Manövern verführen. So ist das Gastspiel des deutschen Autobauers Daimler in den Top Ten des Jahres 2000 der Fusion mit Chrysler zu verdanken, laut CEO Jürgen Schrempp damals eine »Hochzeit, die im Himmel geschlossen« wurde. Schrempps ehrgeiziges Ziel: die »Welt AG«, ungeachtet aller gängigen Erfahrungen mit der Schwierigkeit von Fusionen und ungeachtet der Skepsis der eigenen Händler. »Was wollen die bloß mit diesem amerikanischen Schrott«, zitiert die Süddeutsche Zeitung einen ratlosen Mercedes-Verkäufer. Er sollte recht behalten. 2009 endete die himmlische Ehe mit einer 40 Milliarden teuren Scheidung. Der Fall DaimlerChrysler ist ein Musterbeispiel für brachiale Egomanie eines Topmanagers und für eine verfehlte Merger-Strategie. Von diesen Fallstricken und der Schwierigkeit, ihnen auszuweichen, wird im achten Kapitel (»Ego schlägt Sache«) ausführlich die Rede sein. Denn vor »Ego-Tripping« ist kaum jemand gefeit, der es mit Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen bis an die Spitze geschafft hat. Die Frage ist: Wie gelingt die Gratwanderung zwischen Ehrgeiz und Egomanie, zwischen visionärer Kraft und Größenwahn? Wie verhindert man seine persönlichen »Indiana-Jones-Momente«?

Sie fragen sich, was dagegen sprechen könnte, dem beliebten Film-Abenteurer nachzueifern? Nun, nüchtern betrachtet ist der Archäologe Indiana Jones alles andere als ein Vorbild: Am Ende jeder seiner Reisen hat er zwar den begehrten Schatz gefunden, zugleich aber reihenweise zerstörte Tempel und Monumente hinterlassen. Wie der von Harrison Ford verkörperte Dr. Jones neigen auch viele Manager dazu, Eigeninteressen als Dienst am »großen Ganzen« zu verbrämen. So erweisen sie ihrem Unternehmen in Wahrheit einen Bärendienst. Wir wissen, wovon wir reden, und werden im letzten Kapitel von unseren persönlichen Indiana-Jones-Momenten berichten. Davor widmen wir uns im sechsten Kapitel der Frage, aus welchen weiteren Gründen zahlreiche Unternehmensfusionen ähnlich wie die von Daimler und Chrysler radikal scheitern und was moderne Unternehmensführer womöglich von den Incas und ihrer ausgeklügelten »Integrationspolitik« lernen können.

Zurück zu den Fortune 500. Die Automobilindustrie ist eine Branche, an der sich viele Abstiegsfallen illustrieren lassen. Dazu gehört das Thema Werte. Wie sich der Umsatz von Volkswagen, im Jahr 2015 Platz 8 der Fortune 500, angesichts des Abgasskandals entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Zumindest in den USA war der Absatz im Februar 2016 im Vergleich zum Vorjahresmonat um satte 13 Prozent zurückgegangen.5 In US-Werbespots hatte VW seine Dieselfahrzeuge als super sauber präsentiert: Eine ältere Dame hält bei laufendem Motor ein schneeweißes Tuch vor den Auspuff, und das Tuch bleibt blütenrein. Wer so offensichtlich Werte-Kulissen bewegt, wird abgestraft (unser Thema in Kapitel 4). Dass Werte mehr sind als Textbausteine für Neujahrsversammlungen und Kick-off-Meetings, illustriert auch die Führungskultur von Volkswagen, die der Spiegel einmal als »Nordkorea minus Arbeitslager« beschrieb.6 Wo alle vor dem Herrscher zittern, kann es den Kopf kosten, wenn man gesetzte Ziele zu den gesetzten Kosten nicht erreicht. Also wurde geschwiegen und getrickst, und der Konzern muss jetzt mit weitaus höheren Kosten für den daraus resultierenden Betrug rechnen. Fatalerweise setzte sich das Werte-Dilemma bei VW auch nach Entdeckung der »Schummel-Software« fort: So bestand das Topmanagement im Frühjahr 2016 auf Millionen-Boni, während Mitarbeiter längst um Arbeitsplätze bangten und Einschnitte hinnehmen mussten. Dabei zeichnet sich ab, dass immer häufiger Managementerfolge nachträglich neu bewertet und Forderungen nach Rückzahlung von Boni laut werden. Offenbar ist es schwierig, auf Top-Ebene die Bodenhaftung zu behalten, wenn einem kaum noch jemand unangenehme Wahrheiten sagt. Wie umgeht man diese Falle?

Darüber hinaus gibt es noch weitere Komponenten des Unternehmenserfolgs, die wir in diesem Buch auf den Prüfstand stellen: Wann gehen die gern pathetisch beschworenen Unternehmensvisionen nach hinten los (Kapitel 1)? Wieso gelang den Incas über viele Jahrzehnte, woran viele Unternehmen scheitern: tatsächlich die Talentiertesten mit Führung zu betrauen (Kapitel 2)? Was zeichnet glaubwürdige Führung aus (Kapitel 3)? Wie vermeidet man ruinöse Machtkämpfe, die nicht nur das Inca-Reich zu Fall brachten, sondern bis heute Unternehmen gefährden? Und wie bewahrt man nüchterne Urteilskraft angesichts der oft interessegeleiteten und daher tendenziösen »Briefings« anderer? Auch in diesem Punkt stimmt die Geschichte der Incas oder besser gesagt unser Blick auf diese nachdenklich: 500 Jahre lang wurde das Bild der Incas durch katholische Missionare und gierige Eroberer geprägt, Eindringlinge, die ihr brutales Vorgehen durch die Abwertung einer vermeintlich »primitiven« Kultur rechtfertigen mussten. »Wer erzählt mir was mit welchen Hintergedanken?«, lautet eine Frage, die sich auch im Unternehmensalltag regelmäßig zu stellen lohnt (vgl. Kapitel 7 »Urteilskraft«).

Eine »Logik des Niedergangs«?

»Nichts ist so beständig wie der Wandel«, stellte der griechische Philosoph Heraklit von Ephesus schon vor rund zweieinhalb Jahrtausenden fest. In der Bibel warnt Joseph den Pharao, dass auf »sieben fette Jahre« sieben magere folgen werden (1. Mose 41). Auf mittelalterlichen Darstellungen dreht Fortuna das Glücksrad, unerbittlich und ohne Ansehen der Person. Die Botschaft: Wer gerade noch oben auf ist, dessen Schicksal kann sich schon bald wenden. Fortuna befördert ihn unaufhaltsam nach unten, immerhin mit der Chance, irgendwann wieder obenauf zu sein. Auch Goethe glaubte offenbar nicht an stabiles Glück: »… alles muss in Nichts zerfallen, / wenn es im Sein beharren will«, dichtete er und empfahl »umzuschaffen das Geschaffne, / damit sich’s nicht zum Starren waffne«.7

Der Gedanke der Wankelmütigkeit des Erfolgs ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Für Unternehmen heißt das: Kometenhafte Aufstiege sind jederzeit möglich, aber auch rasante Abstürze. Dazu muss man nicht den modischen Hinweis auf »disruptive« Technologien bemühen; im Kern steckt diese Idee schon in Joseph Schumpeters bekannter (und mehr als 70 Jahre alter) These der »kreativen Zerstörung«. Danach wird der Kapitalismus durch Innovationen vorangetrieben – neue, bessere Verfahren und Technologien bedrohen fortlaufend die bestehenden, die Spielregeln der Produktion ändern sich. Auch der mechanische Webstuhl oder die Dampfmaschine waren so gesehen Auslöser einer »Disruption« und verschwanden nach einer weiteren Drehung des innovativen »Glücksrades«.

Wer bestehen will, muss sich daher rechtzeitig wandeln – nur was sich verändert, bleibt. Wir alle kennen Beispiele von Unternehmen, die den Zug der Zeit verpassten, unverdrossen Schreibmaschinen produzierten, während der Personal Computer Einzug hielt, auf mechanische Uhrwerke setzten, obwohl billigere Digitaluhren den Markt überschwemmten, usw. Neben solchen externen Faktoren können aber auch hausgemachte Fehler ein Unternehmen Talfahrt aufnehmen lassen, siehe DaimlerChrysler, Schlecker oder Volkswagen. Gilbert Probst und Sebastian Raisch von der Universität Genf haben in diesem Zusammenhang schon 2004 die Frage aufgeworfen, ob es so etwas wie eine »Logik des Niedergangs« gibt. Dazu analysierten sie die 100 größten Unternehmenskrisen der vorausgegangenen fünf Jahre in den USA und Europa, d. h. die fünfzig größten Insolvenzen sowie 50 Fälle, in denen Unternehmen binnen dieses Zeitraums mindestens 40 Prozent ihres Börsenwertes eingebüßt hatten. Probst und Raisch identifizierten vier Merkmale eines dauerhaften Unternehmenserfolgs:

imagestarkes Wachstum,

imageBereitschaft zur permanenten Veränderung,

imageeine starke (»visionäre«) Führung und

imageeine leistungsorientierte Unternehmenskultur.8

70 Prozent der scheiternden Unternehmen besaßen all das – jedoch im Übermaß. Zu schnelles Wachstum, hektische Veränderungsprozesse, übermächtige (starrsinnige) CEOs und eine »überzogene Erfolgskultur« führten diese Organisationen auf Dauer an den Abgrund. Eine extreme Erfolgskultur etwa, mit hohen Gehältern und Boni, schürt Konkurrenzdenken und Söldnermentalität. Geht es dem Unternehmen schlechter, verlassen davon angezogene Mitarbeiter eilig das sinkende Schiff und beschleunigen seinen Untergang. Extremes Wachstum ist häufig Folge zahlreicher Unternehmensaufkäufe in (zu) kurzer Zeit. Dies erschwert nicht nur die Integration, sondern bürdet den Käufern häufig hohe Schulden auf, die in umsatzschwächeren Zeiten zum Problem werden. Beispiele sind der US-Mischkonzern Tyco oder ABB. Unkontrollierter Wandel führt zur Orientierungslosigkeit auf allen Ebenen. Nach 60 Übernahmen und zahlreichen Restrukturierungen und Richtungswechseln wusste bei ABB zeitweise niemand mehr, wofür das Unternehmen eigentlich steht. Der letzte Sargnagel ist dann eine Führungsspitze, die den Ernst der Lage verkennt, weil der bisherige Erfolg sie selbstherrlich und blind für Gefahren gemacht hat. Das Unternehmen brennt aus, schlittert in die Insolvenz (wie etwa Enron nach einem Wachstum von 2000 Prozent in nur vier Jahren, von 1997 bis 2001) oder wird durch riesige Schuldenberge belastet (wie zeitweise British Telecom, Deutsche Telekom und France Télécom). Probst / Raisch sprechen vom »Burn-out-Syndrom«. Aktuellere Beispiele für dieses Syndrom wären die Porsche AG, die in den VW-Konzern eingegliedert wurde, nachdem sie sich selbst an einem Übernahmeversuch verhoben hatte, die wechselhafte Geschichte von Infineon, die Talfahrt von Valeant, die wir in Kapitel 6 analysieren, oder auch die Drogeriekette Schlecker, die u.a. an einer explodierenden Zahl von Filialen und einem beratungsresistenten Firmenpatriarchen scheiterte.

Der Absturz bis dato erfolgreicher Unternehmen ist also keine schicksalhafte Fügung, kein Produkt »äußerer Umstände« oder »disruptiver« Technologien, sondern oft Folge einer Kette interner Fehler, die in Summe – so Probst / Raisch – eine »Logik des Niedergangs« begründen. So weit, so schlecht. Und leider ist es nicht so, dass ein Unternehmen nur vom Gaspedal gehen muss, um auf sicherem Terrain zu bleiben. Die restlichen 30 Prozent der Unternehmen scheiterten an ihrer Trägheit und an zu schwacher und wenig entscheidungsfreudiger Führung. Frühvergreisung (»Premature Aging«) nennen es die Forscher, wenn Unternehmensumsätze stagnieren, Innovationen versäumt werden, Vorstandschefs Reformen blockieren und eine besonders fürsorgliche Unternehmenskultur notwendige personelle Einschnitte verhindert. Ihre Beispiele: United Airlines, Kodak, Xerox, Motorola. Idealerweise achtet ein Unternehmen also auf die richtige Balance: Es setzt auf gesundes Wachstum und auf einen stabilen Wandel, der den Mitarbeitern Veränderungen abverlangt, ohne sie zu überfordern. Es verhindert (außer in akuten Krisen) autokratische Führer und setzt auf Austausch und gegenseitige Kontrolle auch auf der Top-Ebene. Und es pflegt eine »wehrhafte Vertrauenskultur«, in der Leistung belohnt und Nichtleistung sanktioniert wird, ohne die Organisation in ein Haifischbecken zu verwandeln.9 Vom Topmanagement verlangt all das ein besonnenes und zugleich entschlossenes Handeln.

Doch so plausibel all diese Faktoren in der Rückschau wirken, so anspruchsvoll ist ihre Umsetzung im Unternehmensalltag. Wer vermag schon immer verlässlich zu sagen, ob man sich noch in der Phase gesunder Expansion befindet oder schon auf dem Weg zur Überhitzung? Oder ob die Unternehmenskultur noch ein akzeptables Maß an Wettbewerbsorientierung aufweist oder schon Söldnermentalität provoziert?

Hinzu kommt ein grundsätzliches Dilemma, auf das auch der Management-Vordenker Jim Collins in einem Aufsatz über den Absturz erfolgsverwöhnter Unternehmen hinweist (»How the Mighty Fall«10): Umsteuern muss ein Unternehmen (bzw. sein Management) schon, bevor die Missstände für alle offen zutage treten, also in einer Phase, in der scheinbar noch alles gut läuft. Dem steht aber die menschliche Psyche entgegen, wie Probst / Raisch einräumen, die sich schwer damit tut, eine Strategie »bereits zu einem Zeitpunkt [zu] ändern, zu dem diese (zumindest vordergründig) noch erfolgreich ist«.11 Von den Incas hätte dies beispielsweise erfordert, ihre rastlose Expansionsstrategie schon zu verlangsamen, bevor ihr Reich durch zunehmende Widerstände schwerer regierbar wurde. Oder von großen Versendern wie Quelle oder Neckermann, sich schon um das Online-Geschäft zu kümmern, als das Bestellen per Katalog ihnen noch satte Umsätze und Gewinne bescherte.

Collins’ Analyse der Faktoren, die mächtige Unternehmen zu Fall bringen, überschneidet sich übrigens stark mit der seiner Genfer Kollegen. Der US-Berater nennt auf der Basis der Auswertung von zusammen 6000 Jahren Unternehmensgeschichte die »Hybris« erfolgsverwöhnter Manager, die Gier nach mehr Macht, Umsatz und Größe und das Verleugnen von Risiken und Gefahren als Komponenten des Niedergangs. Lässt sich die Misere nicht mehr ausblenden, folgen hektische Rettungsversuche und schließlich Resignation. Doch auch Collins blickt aus sicherer Entfernung auf die Vergangenheit. Die eigentlich spannende Frage ist: Wie erkennen wir als Verantwortungsträger im Unternehmensalltag die ersten, noch schwachen Warnsignale? Wie steuern wir im Vorfeld der Logik des Niedergangs gegen? Wie schärfen wir unsere Sinne, wie blicken wir hinter die Kulissen des Tagesgeschäfts? Diesen (und weiteren) Fragen sind die folgenden Kapitel gewidmet. Die jeweils wichtigsten Erkenntnisse eines Kapitels bündeln wir am Ende zu einem »Inca-Impuls«. Fangen wir gleich damit an!

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INCA-IMPULS

Der Moment der größten Stärke und des größten Erfolgs ist zugleich der Moment der größten Verletzbarkeit.

Analysieren Sie Ihre »offenen Flanken« – vor allem dann, wenn Sie sich unbesiegbar fühlen!

»Die Nummer Eins zu werden, muss ein erklärtes Ziel sein in allem, was du tust. Aber ›being number one‹ heißt nicht ›being the biggest‹.«