2Eine Edition des Niklas Luhmann-Archivs der Universität Bielefeld in Kooperation mit dem Cologne Center for eHumanities

3Niklas Luhmann

Systemtheorie der Gesellschaft

Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling

Unter Mitarbeit von Christoph Gesigora

Suhrkamp

5Inhalt

Einführung

Teil 1
Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, Gesellschaft

Kapitel I Grundbegriffe der Systemtheorie

Kapitel II Konstitution sozialer Systeme

Kapitel III Ebenen der Systembildung

Kapitel IV Ebenendifferenzierung

Teil 2
Gesellschaftliche Evolution

Kapitel I Evolutionstheorie

Kapitel II Mechanismen soziokultureller Evolution

Kapitel III Gesellschaftsformationen

Teil 3
Kommunikationsmedien

Kapitel I Grundlagen der Medienbildung

Kapitel II Medientypen und Medienprobleme

Kapitel III Lebenswelt und Technik

6Teil 4
Gesellschaft als System

Kapitel I Intersubjektive Konstitution der Welt

Kapitel II Ausdifferenzierung des Gesellschaftssystems

Kapitel III Innendifferenzierung des Gesellschaftssystems

Kapitel IV Die Größenverhältnisse und die Strukturen des Systems der Weltgesellschaft

Teil 5
Reflexion

Kapitel I Selbstthematisierung

Kapitel II Gesellschaftstheorie als Wissenschaft

Kapitel III Rationalität

Anhang

Editorische Notiz

Sachregister

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

7Einführung

Der Begriff Gesellschaft soll hier nicht nur als Sammelbezeichnung für die Totalität sozialer Beziehungen dienen, sondern als Bezeichnung eines sozialen Systems unter anderen. In der Tradition dieses Begriffs war diese Alternative offengeblieben. Die alteuropäische Tradition der politischen Gesellschaft (societas civilis) hatte ihren Gesellschaftsbegriff zunächst allgemein gefaßt (koinonía, communitas, societas) als jede Art Gemeinschaft um gemeinsamer Vorteile willen, hatte ihn aber für den besonderen Fall des umfassenden Gesellschaftssystems durch einen einschränkenden Zusatz definiert: als civitas sive societas civilis. In der neuzeitlichen Tradition der wirtschaftlichen Gesellschaft (bürgerlichen Gesellschaft) blieb ein Anspruch auf Totalität erhalten. Gleichwohl wurden auch hier begriffliche Elemente, die man nicht einordnen konnte, ausgestoßen und als ein Gegenüber fixiert – so in der Unterscheidung von Gesellschaft und Staat oder in der Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft. Oder die Einschränkungen wurden zur Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft als einer Klassengesellschaft benutzt und der Anspruch auf Totalität in die Zukunft einer klassenlosen Gesellschaft verlagert, das heißt: der Widerspruch von Ganzem und Teil in die Zeitdimension verlegt und als Übergang begriffen. Welchen Lösungsansatz man auch wählte – und davon hing alles Weitere ab –, der Gesellschaftsbegriff blieb doppeldeutig, indem er zugleich das Ganze und einen Teil des Ganzen vertreten mußte.

In die Prämissen der Gesellschaftstheorie war demnach eine logische Unbestimmbarkeit eingebaut gewesen (ohne 8daß man diesen Nerv jemals gezielt angebohrt hätte). Diese Unbestimmbarkeit ist nur zu rechtfertigen, wenn man in ihr ein strukturelles Erfordernis der Gesellschaft selbst sieht – und nicht einfach nur einen Theoriefehler. In der Tat muß die Gesellschaft paradox konstituiert sein, weil es sonst Unwahrheit gar nicht gäbe. Der logische Schematismus ist selbst erst ein Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung. Ob man gerade ihm jemals die Identifikation des Gesellschaftssystems im ganzen wird überlassen können – so wie einst der Politik und dann der Wirtschaft –, dürfte letztlich eine Frage der zunehmenden Konvergenz von gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Entwicklung sein. Der Gesellschaftstheorie kommt dafür die Funktion eines Katalysators zu.

Auf Aspekte dieser Unbestimmbarkeitsproblematik, die in der bürgerlichen Gesellschaft im neuartigen Primat ihrer Wirtschaft und vor allem in der Form ihrer politischen Revolution und Instabilität sichtbar geworden war, hatte bereits Hegel reagiert durch Einbau des Prinzips der Reflexion in die Gesellschaftstheorie. Die Unbestimmbarkeit wurde damit als Selbstbestimmung reformuliert und als historischer Prozeß begriffen. Die Einheit von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie war noch metaphysisch garantiert, aber zugleich schon, wie im vorigen Absatz angedeutet, ein Entwicklungsproblem. So mußte die politische Revolution letztlich die Logik revolutionieren oder zumindest auf diese Konsequenz hin zu Ende gedacht werden. Verzeitlicht wird das Problem der Unbestimmtheit (von Gesellschaft und Gesellschaftstheorie zugleich), weil es für andere Darstellungsformen zu komplex geworden ist. Seitdem muß man Gesellschaft als Aspekt der Selbstselektion des Seins begreifen. Metaphysische Titel wie »Vernunft« oder »Materie« dienen, wie immer adaptiert, eine Zeitlang noch als Garanten der Einheit von Denken und Sein (oder marxistisch: von Theorie und Praxis) und verdecken 9damit zugleich die nicht voll begriffenen Strukturprobleme dieser Selbstselektion. Hinter diesen Gedanken der im Gesellschaftssystem zur Reflexion gebrachten Verzeitlichung kann keine Theorie der Gesellschaft zurückfallen, die der Komplexität ihres Gegenstandes gerecht werden will. Die wissenschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten liegen im begrifflichen Material, mit dem dieses Prinzip zur Darstellung kommt – oder genauer gesagt: als sich selbst darstellend begriffen wird. Und es ist dieser begriffliche Ansatz, der über Hegel und Marx hinaus abstrahiert werden muß.

Hegel hatte sich an die im 18. Jahrhundert eingeführte Dichotomie von Natur und Freiheit gehalten, und er hatte begriffen, daß sowohl Natur als auch Freiheit für die neue Gesellschaft Begriffe der Selbstdistanzierung von der Tradition waren.1 Um dieser Entzweiung (und zugleich dem Primat der Ökonomie und der Nichtrestaurierbarkeit der Politik im ethisch-institutionellen Sinne) Rechnung zu tragen, hatte er die Gesellschaft auf die menschliche Bedürfnisnatur gegründet und gerade darin, daß sie nur dies sei, eine Bedingung der Freiheit gesehen. Damit bezeichnete der Gesellschaftsbegriff die Gesellschaft indes nur noch als ein Moment des konkreten Ganzen; ihre Abstraktion war gerade nicht die Leitstruktur der Selbstselektion des Seins, sondern mußte in der konkreten Sittlichkeit aufgehoben werden. Im Wettkampf der metaphysischen Titel konnte die Gesellschaft dann auch nicht als vernünftig behauptet werden – und man sah ja auch, daß sie es nicht war –, sondern eben nur als materiell. Da aber Vernunft und Materie letztlich nur Chiffren für jene Unbestimmbarkeit sind, in der Gesellschaft und Gesellschaftstheorie konvergieren, blieb ein Streit auf dieser10 Ebene ohne Bezug zum Problem. Nachdem Hegel nur den Ausweg gesehen hatte, jenseits aller Konstruktionsprobleme des politischen Systems der bürgerlichen Gesellschaft im Staatsbegriff einen sozusagen revolutionsfreien Primat der politischen Ethik zu erneuern,2 und Marx dem nur die Verabsolutierung eines primär ökonomisch begriffenen Gesellschaftssystems entgegensetzen konnte,3 ist es notwendig geworden, die Gesellschaftstheorie neu zu begründen. Die marxistisch konservierten Restbestände bieten dafür wenig Anregungen, wohl aber Mindestforderungen an Blickweite und Reflexionsvermögen, die nicht unterschritten werden sollten.

Aufgenommen und kombiniert werden müssen, wenn man überhaupt Wert darauf legt, an bisheriges Denken über Gesellschaft anzuschließen,4 die folgenden Momente: (1) das traditionelle Problem der Einheit des Gesellschaftssystems, das als umfassendes zugleich nur ein Sozialsystem unter anderen11 ist, und (2) die moderne (bürgerliche) Fassung dieses Problems als Notwendigkeit der Selbstselektion des Gesellschaftssystems, die (a) Reflexivität der Selbstbestimmung impliziert als Bedingung der Möglichkeit des Wechsels derjenigen Teilsysteme, die durch Realisierung eines funktionalen Primats eine Pars-pro-toto-Funktion übernehmen, und (b) eine Verzeitlichung von Komplexität erfordert in dem genauen Sinne, daß durch Einbau von »historischem Bewußtsein« in die Gesellschaftsstruktur Unbestimmtheit der Möglichkeiten und Bestimmtheit der Realisierungen im Nacheinander kompatibel werden.

Analysiert man aus größerer Distanz, dann zeigt sich, daß jene Begriffsbildungsprobleme der Gesellschaftstheorie unlösbar waren aus mehrfachen Gründen, die sich wechselseitig stabilisieren. Man hatte sich (1) aus plausiblen Gründen zu der Auffassung bekannt, das Ganze sei mehr als die Summe der Teile, obwohl Gesellschaftstheorien der skizzierten Art eher Anlaß gegeben hätten, die Gegenthese anzunehmen und zu sagen, das Ganze sei weniger als die Summe der Teile, es sei Ordnung als Reduktionsleistung. Man hatte, wie in bestimmten evolutionären Lagen von faszinierender Neuartigkeit verständlich, (2) die Gesellschaft als Ganzes durch Merkmale ihres jeweils wichtigsten Teilsystems charakterisiert und ihren Begriff dadurch konkretisiert – zunächst als politische, dann als wirtschaftliche Gesellschaft. Dadurch blieb das Ganze mit Merkmalen infiziert, die nicht für die Gesamtheit der unter ihm zusammengefaßten Elemente repräsentativ sein konnten. Man sah (3) die zweiwertige Logik nicht nur als begrenzt funktionsadäquaten Schematismus, sondern als Abbild eines wirklichen Unterschiedes von Sein und Nichtsein und konnte infolgedessen (4) weder selbstreferentielle Prozesse noch Intersubjektivität, noch Systeme mit strukturimmanentem Umweltbezug, noch Systeme mit strukturimmanentem 12Zeitbezug denken. Und man hatte (5) zwischen verschiedenen Systembildungsebenen, vor allem zwischen Gesellschaftssystem und organisierten Sozialsystemen, nicht ausreichend unterschieden und infolgedessen eine Pars-pro-toto-Technik, die in Organisationen ohne weiteres möglich ist, auf das als Korporation vorgestellte Gesellschaftssystem übertragen. All diese Optionen sind aus den historischen Lagen und den evolutionären Perspektiven vergangener Gesellschaftssysteme heraus verständlich. In all diesen Hinsichten könnte man heute anders urteilen.

Die Hauptdifferenz, die uns von den Anfängen der Soziologie und von den Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts, also auch von der Marxschen Theorie trennt, liegt im systemtheoretischen Ansatz. Dieser ist nicht nur eine bestimmte, konkurrierende Fassung der Gesellschaftstheorie. Geht man von einer Theorie sozialer Systeme aus, analysiert man von einer Begriffsebene aus, die höher aggregiert ist als die Theorie der Gesellschaft. Soziologie ist dann nicht mehr nur Gesellschaftstheorie (bzw., wie im Ostblock, empirische Hilfswissenschaft der Gesellschaftstheorie). Die Theorie des umfassenden Systems der sozialen Wirklichkeit ist für sie nur eine Teiltheorie. Mit anderen Worten: Die Soziologie braucht zur Integration ihrer Erkenntnisse eine andere, abstraktere Sinnebene, als die Gesellschaft sie braucht zur Integration ihrer selbst. Man muß daher, wie die Skizze verdeutlichen soll, zwischen der theoretischen (analytischen) und den gesellschaftlichen (realen) Inklusionsverhältnissen unterscheiden – und dies, obwohl die Soziologie sich selbst als Teilsystem der Gesellschaft begreifen kann.

Nur so können die »Totalisationen« der gesellschaftlichen Realität in der Theorie nochmals überboten werden, kritisiert werden, relativiert werden und auf Variationsmöglichkeiten hingewiesen werden.

S1.tif

13Eine weitere Implikation verdient besondere Hervorhebung: Dem (für die Soziologie) höchsten Gegenstandsbegriff entspricht kein einheitlicher Gegenstand mehr.5 Die systemtheoretische Soziologie setzt keine ihren analytischen Bedürfnissen entsprechende Realsynthese in der sozialen Wirklichkeit voraus. Sie kann, muß aber nicht notwendig ihre Aussagen mit Bezug auf die Systemreferenz formulieren, die in der sozialen Wirklichkeit zur umfassenden Vereinheitlichung dient. Das heißt nicht, daß der soziologischen Synthesis im Begriff des sozialen Systems ein Gegenstand überhaupt fehle, es fehlt nur die entsprechende Totalsynthese. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme bietet nicht nur ein (wohl mögliches normatives) Ideal. Sie stellt begriffliche Minimalmittel für die Analyse eines jeden Sozialsystems bereit. Sie kann infolgedessen auch hypothetisch formuliert werden: Immer wenn sich soziale Systeme bilden, kommt es zur Reduktion auf Handlung, zur Bildung von Erwartungsstrukturen, zur Kommunikation, zur Orientierung an Innen/Außen-Differenzen usw.

Allerdings sind die dazu notwendigen analytischen Instrumente Stück für Stück umstritten, und umstritten ist auch, 14ob und mit welchem Recht sie unter dem Gesichtspunkt des Systems zusammengefaßt werden können. Diese Schwierigkeiten gehen nicht zuletzt auf Gründe zurück, die in der Geschichte des Systembegriffs wurzeln.

Einerseits gibt es eine auf den Anfang des 17. Jahrhunderts zurückreichende Tendenz, den Systembegriff auf Erkenntnisse und Erkenntnisdarstellungen (zum Beispiel Lehrbucheinteilungen) zu beziehen und ihn in dieser Funktion zu idealisieren.6 Die Gründe dafür scheinen teils in Krisen der Theologie, insbesondere in der Unlösbarkeit des Problems der Glaubensgewißheit und der anschließenden Problematisierung von Gewißheit schlechthin, teils in Verselbständigungstendenzen anderer Fächer gelegen zu haben. Auf dieser Linie findet sich, wie schon angedeutet, noch heute der »analytische« Systembegriff von Talcott Parsons,7 der 15in neukantianischer Manier Gegenstand und Erkenntnis identifiziert und, dann konsequent, die systemtheoretische Analyse der Gesellschaft auf die These stützt, daß diese ein analytisches System sei. Diese Konzeption bleibt aber an eine bestimmte erkenntnistheoretische Position gebunden, die von manchen, etwa von Marxisten, schon auf dieser Ebene bestritten wird.

Andere Vorbehalte lassen sich zusammenfassen unter der These, daß nie die Totalität, also auch nicht die gesellschaftliche Totalität menschlicher Interessen, sondern immer nur ein Teil als System begriffen werden könnte. So formuliert Hobbes: »By Systems; I understand any numbers of men joyned in one Interest; or one Business«.8 Nach Fusion mit der erkenntnistheoretisch-idealisierenden Strömung liegt es heute nahe, diesen Systembegriff als Kategorie für Teile oder Aspekte des gesellschaftlichen Ganzen auf Ideen oder auf Instrumente zu beschränken und für die Totalität des menschlichen Lebens, die Gesellschaft im Vollsinne oder die begriffliche Artikulation des Mündigkeitsinteresses oder der Subjektheit der Individuen andere Ausdrucksformen zu suchen.9

16In diesen Vorbehalten gegen die Systemtheorie findet die bereits analysierte Unbestimmbarkeitsproblematik erneut Ausdruck, und es wiederholt sich auch die Neigung »bürgerlicher« Denker, das Problem durch Dichotomisierung und Dialektisierung zu lösen. So wie einst der »Staat« und dann die »Gemeinschaft« scheint heute das »System« das erforderliche Gegenüber der Gesellschaft zu sein; zumindest formulieren diejenigen es so, die zur Systemkritik oder zur Systemüberwindung aufrufen. Dabei bleibt dunkler als je zuvor, was denn Gesellschaft sei, wenn nicht System. Diese Frage wird – und wiederum haben wir ein bürgerliches Denkmotiv und bürgerliche Reflexivität vor uns – in ein Zeitverhältnis aufgelöst: Das System ist die Gesellschaft in ihrer (kapitalistischen) Gegenwart, die eigentliche Gesellschaft ist das, was nach der Systemüberwindung kommt.

Für ein politisches Interesse an dieser Debatte mag die Erläuterung genügen, daß die Gesellschaft der Zukunft das von den Systemüberwindern beherrschte System sein wird. Dann gilt es, Partei zu ergreifen. Für ein wissenschaftliches Interesse ist die Frage vorrangig, ob das analytische Potential der Systemtheorie mit dieser Kontrastierung adäquat benutzt – oder nicht vielmehr verschenkt wird.

Die These der folgenden Abhandlung ist, daß gerade der Systembegriff sich zur Lösung jenes Unbestimmbarkeitsproblems eignet. Er postuliert – als Systembegriff –, daß die Gesellschaft die Lösung ihres eigenen Unbestimmbarkeitsproblems leistet, dadurch daß sie sich als System konstituiert; dadurch daß sie durch Grenzziehung eine für sie unbestimmbare Komplexität reduziert und, im Wissenschaftsbereich zum Beispiel, unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit/Unwahrheit schematisiert. Die Systemtheorie geht, mit anderen Worten, davon aus, daß ihre Gegenstände sich selbst als Systeme organisieren, sich selbst in ihren Möglichkeiten ermöglichen17 und einschränken; und daß sie nur deshalb als Systeme begreifbar sind.

Wir ersetzen für die Zwecke dieser Analyse jene Dichotomien der früh-, anti- oder sonstwie bürgerlichen Gesellschaftstheorie durch die abstraktere, dem Systembegriff inhärente Dichotomie von System und Umwelt. Durch diese Differenz wird Komplexität konstituiert, die zugleich als letzter Bezugs- und Integrationspunkt für funktionale Analysen dient. Im Falle sozialer Systeme haben wir es mit einer besonderen Form der Verarbeitung von System/Umwelt-Differenzen zu tun, nämlich mit Sinn. Auf Sinn beruht die Möglichkeit, Komplexität als unbestimmte Bestimmbarkeit zu begreifen – ebenjenes Problem, das der Tradition durch Metaphysik verdeckt vorausliegt und das explizit in die Gesellschaftstheorie einzuführen ist.

An diese scheinbar einfachen Ausgangspunkte10 läßt sich eine Reihe von Folgetheorien anknüpfen, deren Interdependenzen eine ziemlich komplexe Gesellschaftstheorie ergeben. Jeder der folgenden Teile geht von einer direkten Anknüpfung an die Differenz von System und Umwelt aus und behandelt sie zunächst in evolutionstheoretischer (Teil 2) und in kommunikations- und motivationstheoretischer Perspektive (Teil 3), schließlich unter dem Gesichtspunkt der Komplexitätssteigerung durch Ausdifferenzierung und durch Innendifferenzierung (Teil 4) und der dadurch ermöglichten Reflexion und Rationalisierung des Gesellschaftssystems (Teil 5). Erst im letzten Teil können wir auf wissenschaftstheoretische Probleme zurückkommen. Bevor wir in diese Untersuchungen eintreten, die sich speziell auf das Gesellschaftssystem beziehen, müssen wir jedoch verschiedene Ebenen der Systembildung18 analytisch auseinanderziehen.11 Auch das geschieht in Anknüpfung an die Differenz von System und Umwelt, denn die Ebenen der Systembildung unterscheiden sich durch die Art der Behandlung der Differenz von System und Umwelt. Eine solche Ebenenunterscheidung gibt uns zugleich die Möglichkeit, verschiedene Typen sozialer Systeme zu unterscheiden und zu begründen, wie eines von ihnen, die Gesellschaft, zugleich das Ganze sein kann.

19Teil 1
Soziale Systeme: Interaktion, Organisation, Gesellschaft

21Die Charakterisierung eines wissenschaftlichen Unternehmens als Systemtheorie und die Charakterisierung ihrer Gegenstände als Systeme soll und kann nicht besagen, daß aus dem Begriff des Systems alles abgeleitet werden könne, was an der Realität wissenschaftlich (hier: soziologisch) bemerkenswert sei. Eine derart globale Bezeichnung kann ferner nicht in Anspruch nehmen, einen Satz von Hypothesen zu besitzen, die erklären und begründen könnten, warum etwas ist und nicht nicht ist. So stringente Prätentionen sind (zumindest beim gegenwärtigen Stande des Wissens und auf eine absehbare Zukunft) nicht kompatibel mit der hohen Spannweite des theoretischen Bezugsrahmens.

Angesichts dieser Diskrepanz von Präzision und Spannweite, die als solche wiederum systemtheoretischer Analyse zugänglich wäre,1 wählen wir folgende Art und Weise des Vorgehens: Wir werden zunächst in einer uns ausreichend erscheinenden Abstraktionsstufe einige Angaben machen über Systeme schlechthin. Diese Angaben müssen auf der Ebene einer allgemeinen Systemtheorie kompatibel sein mit den Eigenarten von Systemen jeder Art, seien es physische Systeme, selbstreproduktive Systeme primitivster Art, Organismen, Populationen von Organismen, psychische Systeme, soziale Systeme, informationsverarbeitende Maschinen und all das mit zahlreichen Untertypen; sie bleiben deshalb hochgradig abstrakt und informationsarm. Dieser Nachteil kann 22nicht behoben, wohl aber kompensiert werden durch Präzisierungsregeln, die angeben, wie man unter Verzicht auf Spannweite zu deutlicher konturierbaren Aussagen kommt. Das sind Regeln der Typenbildung. Diese können keine Deduktionsregeln sein, da der allgemeinere Begriff die dafür nötige Information nicht hergibt. Statt dessen soll hier versucht werden, auf jeder Allgemeinheitsstufe, zunächst also auf der der allgemeinen Systemtheorie, Probleme zu formulieren – und offenzuhalten.

Im Problembegriff ist impliziert, daß das Problem auf mindestens eine, zumeist mehrere, jedenfalls aber nicht beliebige Weise gelöst werden kann. Diese Vorbedingung führen wir mit Hilfe des Begriffs der Limitationalität ein. Dieser Begriff, den wir weiter unten als »Kontingenzformel« des Wissenschaftssystems ausführlicher behandeln werden, soll besagen, daß durch Eliminierung einer Variante die Wahrscheinlichkeit für andere steigt – sei es nun je nach Kontext die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins, der Erkenntnis, der Richtigkeit. Auf diese Voraussetzung muß sich jede Gattungslogik und alle Dialektik einlassen.2 Auch der »kritische Rationalismus« eines Popper kann nur unter dieser Voraussetzung Falsifikation als sinnvolle Eliminierungsstrategie empfehlen. Offenbar handelt es sich um Grundbedingungen sinnvoller Verwendung von Negationen. Jedenfalls findet der Funktionalismus sich in der guten Gesellschaft aller seiner Kritiker, wenn er sich ebenfalls darauf einläßt.

Ob Problemlösungen als sich wechselseitig limitierende Varianten bekannt sind oder nicht, ist eine zweite Frage. In dem Maße, als die Problemformulierung Konturen möglicher 23Lösungen erkennen läßt,3 kann sie als Suchregel benutzt werden, also als Regel der Suche oder Herstellung von Lösungsformen, die andere, funktional äquivalente Möglichkeiten neben sich haben können.

Wenn es nun ein zentrales Problem der Systembildung und Systemerhaltung gibt, und das behaupten wir, führt dieses Verfahren zur Bildung von Systemtypen. Die primäre Leistung der allgemeinen Systemtheorie besteht dann in der Ausarbeitung des Grundproblems der Systembildung – und das heißt zugleich: in der Präzisierung von Bedingungen möglicher Systemtypen. Dies Verfahren läßt sich wiederholen auf verschiedenen Stufen der Konkretion. Wir werden es zweifach anwenden: Auf einer ersten Ebene4 werden wir diejenigen Grundbegriffe der Systemtheorie ausarbeiten, die wir benötigen, um zur Ebene der sozialen Systeme zu kommen (und das heißt in umgekehrter Blickrichtung: um zu begründen, inwiefern soziale Systeme Systeme sind). Das Kapitel II behandelt sodann die Theorie sozialer Systeme in ihren Grundzügen. Auf dieser Ebene können diejenigen Probleme ausgearbeitet werden, die, wenn sie unterschiedlich gelöst werden, zur Bildung unterschiedlicher Typen sozialer Systeme führen. Wir benötigen diese Analyse also, um von der Ebene sozialer Systeme im allgemeinen zu den besonderen Typen Interaktion, Organisation und Gesellschaft zu gelangen, die wir in Kapitel III und IV unserer Untersuchungen 24behandeln werden (und das heißt in umgekehrter Blickrichtung: um zu begründen, inwiefern Interaktion, Organisation und Gesellschaft soziale Systeme sind).

Beide Komplexe zusammen dienen einer gestuften Einführung in das Thema: Gesellschaftstheorie. Sie entlasten zugleich die folgenden Teile von Ausführungen, die in einen höher abstrahierten Bezugsrahmen gehören.

25Kapitel I
Grundbegriffe der Systemtheorie

1. Komplexität

(1) Im gegenwärtigen Schrifttum sehr verschiedener Disziplinen wird der Begriff der Komplexität häufig, zumeist aber undefiniert gebraucht.5 Auch ohne Definition suggeriert der Begriff schon seine eigene Bedeutung. Da vieles als komplex angesehen oder bezeichnet wird, scheint ihm eine theoretisch zentrale Stellung zuzukommen. Die Ausnutzung der damit verbundenen Chancen hängt aber von einer zureichenden Klärung des Begriffs und von einer Explikation und Kontrolle der im Begriffsfeld liegenden Optionen ab.6

Aus einer sehr kursorischen Einführung des Begriffs ergeben sich zunächst in den einzelnen Disziplinen oder Forschungszweigen recht heterogene Verwendungen, obwohl offenbar ein einheitliches Phänomen anvisiert wird. In der 26psychologischen Forschung über »kognitive Komplexität«7 dient der Begriff zur Bezeichnung der Struktur von Persönlichkeitssystemen unter dem Gesichtspunkt ihrer Fähigkeit, Umweltinformationen unter differenzierten und auf einem abstrakten Niveau integrierten Kategorien zu verarbeiten und sich dadurch von allzu konkreten Umweltbindungen zu lösen. In der Organisationstheorie braucht man den Begriff der Komplexität als Maß für den Grad arbeitsteiliger Differenzierung; er wird dann in bezug auf Rollen oder Stellen als Einheiten ausgearbeitet.8 In der Theorie soziokultureller Evolution wird Komplexität entweder stillschweigend mit »struktureller Differenzierung« gleichgesetzt,9 oder der Begriff bezeichnet schlicht die Evolution selbst, soweit sie mit Guttman-Skalen zu messen ist.10 Die Formalwissenschaften denken bei Komplexität zumeist an die Zahl und die Verschiedenartigkeit der Relationen, die auf Grund einer 27gegebenen Zahl von Elementen in einem System seiner Struktur nach möglich sind.11 Und auch sonst stößt man häufig auf mehrdimensionale, mehrere Variable einfach addierende Definitionen, die das innere Gefüge des Komplexitätsbegriffs auf ein bloßes »und« reduzieren.12

Neben knappen und theoretisch unzureichenden und unabgestimmten Begriffsverwendungen dieser Art gibt es Versuche, den Begriff durch Rückzug auf eine epistemologische oder methodologische Ebene zu präzisieren. Die bestimmenden Merkmale liegen dann in der Messung von Bemühungen um die Erkenntnis komplexer Sachverhalte, etwa im Auf wand an benötigter Information oder Informationsverarbeitung,1328