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Ashley Carrington

Jessica

In der Ferne lockt das Glück

Roman

hockebooks

22

Die zwei Tage und Nächte auf Mirra Booka waren wie ein einziger sinnlicher Traum, erfüllt von Liebe, Zärtlichkeit und Leidenschaft. Jessica kostete die Stunden und Minuten, die Augenblicke ungekannten Glücks und verzehrender Ekstase aus und verschwendete keinen Gedanken an das Morgen. Sie nahm voller Dankbarkeit und Hingabe, was das Schicksal ihnen beiden geschenkt hatte. Denn das Geschenk ihrer wiedergefundenen Liebe war zu wertvoll, um es an diesen beiden Tagen durch irgendeine Unstimmigkeit oder Zukunftssorgen in seiner berauschenden Herrlichkeit zu trüben.

Die Zeit würde auf viele Fragen, die unausgesprochen zwischen ihnen standen, die Antwort bringen. Sogar Mitchell gab sich diesem fast unwirklichen Bann, dieser Verzauberung hin und brachte das Gespräch nicht ein einziges Mal mehr auf eine baldige Eheschließung.

Jessica wich nicht von seiner Seite – die zwei Stunden ausgenommen, die sie dazu verwendete, um den fast blinden Fassbinder Joshua Chowning und seine Tochter Ruth aufzusuchen. Ruth sah jünger aus, als sie war, und Jessica fand, dass sie eine natürliche, frische Ausstrahlung besaß, die ihr eher farbloses Äußeres zu einem guten Teil aufwog.

Ruth passte sie bei dem abgestorbenen, kahlen Eukalyptusbaum vor der Lehmhütte ab. In ihren großen Augen lag mehr Hoffen, als sie mit Worten hätte ausdrücken können. »Wie schön, Sie wiederzusehen, Missis Brading. Ich … ich habe so oft an Sie gedacht.«

»Ich habe nicht vergessen, was ich dir versprochen habe, Ruth«, sagte Jessica ohne Umschweife, denn sie sah Ruth an, wie sehr sie unter der Anspannung und der Ungewissheit litt.

»Deshalb bin ich heute auch gekommen. Hättest du Lust, demnächst auf Seven Hills zu leben – in einer Hütte, die ganz allein dir gehört … bis du weißt, welchen Mann du zu deinem Ehemann und Vater deiner Kinder nehmen möchtest?«

»Sie machen sich über mich lustig, Missis Brading. Natürlich würde ich gern dort leben. Aber ich glaube nicht, dass sich irgendein Mann für mich interessieren wird – so wie ich aussehe.«

»Bevor das neue Jahr zur Hälfte um ist, wirst du einen anderen Namen und vielleicht schon dein erstes Kind unter dem Herzen tragen, darauf gehe ich jede Wette ein, Ruth«, versicherte Jessica und eröffnete ihr, wie sie sich das mit ihrem Vater gedacht hatte.

Ruth war begeistert, nicht jedoch der alte, fast kahlköpfige Joshua Chowning, der kaum noch etwas sah, aber nichtsdestoweniger ausgezeichnete Arbeit leistete.

»Ich bleibe hier und Ruth auch!«, bestimmte er.

Jessica hatte mit dieser Reaktion gerechnet. Dass der Fassbinder sich erst einmal störrisch stellte, entmutigte sie nicht. Sie kannte ihn gut genug, um seine Stärken, aber auch seine Schwächen beurteilen zu können. Sie vermittelte ihm den Eindruck, dass seine Arbeitskraft dringend auf Seven Hills gebraucht werde. Und nach langem, zähem Verhandeln, bei dem es eigentlich nur um unbedeutende Kleinigkeiten gegangen war, hatte sie ihn dann endlich so weit.

»Also gut, ich werde dir den Gefallen tun, Jessica, und nach Seven Hills kommen«, krächzte er schließlich. »Aber keine pfuscht mir ins Handwerk. Und wenn mir die Frau nicht passt, die mir den Haushalt führt, kann ich sie hinausschmeißen, ja?«

»Ja, so ist es abgemacht«, bestätigte Jessica und schmunzelte, was er zum Glück nicht sehen konnte.

»Dann soll es so sein!«

Ruth strahlte vor Glück. Für sie begann nun ein neues Leben, das nicht mehr von der entsetzlichen Tyrannei ihres Vaters bestimmt sein würde.

»Das werde ich Ihnen nie vergessen, Missis Brading«, sagte Ruth draußen zu ihr, und Tränen liefen ihr über das Gesicht, während ihre Augen leuchteten, dass sie fast hübsch aussah. »Nie werde ich vergessen, was Sie für mich … für uns getan haben.«

»Ich habe es auch für mich getan, Ruth«, erwiderte Jessica und kehrte leichten Herzens zu Mitchell zurück, der ihre Rückkehr schon ungeduldig erwartet hatte.

»Ich möchte, dass du zum Ball kommst«, sagte er am Abend.

»Was für ein Ball?«

»Oh, davon habe ich dir ja noch gar nichts erzählt. Da kannst du mal sehen, wie sehr du mich verwirrt und aus dem Gleichgewicht gebracht hast, Liebste. Also: John und ich, wir veranstalten zum Jahreswechsel stets ein großes Fest, so auch dieses Jahr. Diesmal wirst du an meiner Seite sein.«

Die Aussicht auf einen großen, aufwendigen Ball erregte Jessica, hatte sie so etwas doch noch nie mitgemacht, aber schon tausendmal davon geträumt.

Doch sie zögerte, ihm ihre Zustimmung zu geben. »Ich weiß nicht, ob das ratsam ist, Mitchell. Zuerst müsstest du ja wohl John Hawkley fragen.«

»Warum sollte ich das tun, Jessica? Ich kann doch von meinen Freunden einladen, wen ich will, rede ich John doch auch nicht hinein, wen er zu diesem Fest bittet. Und vergiss bitte nicht, dass wir zwar theoretisch immer noch gleichberechtigte Partner sind, in der Praxis aber alles auf meinen Schultern liegt. John ist wegen seiner Krankheit nicht mehr in der Lage, viel zur Führung von Mirra Booka beizutragen. Ich mache es ihm nicht zum Vorwurf, doch da ich nun mal die ganze Verantwortung trage, nehme ich auch das Recht für mich in Anspruch, Entscheidungen zu treffen, die ihm nicht gefallen mögen. Aber was rede ich da über John! Du bist mir wichtiger als alles andere, Jessica, und du musst einfach kommen.«

»Vergiss nicht, dass ich ein ehemaliger Sträfling bin!«

»Du bist nicht irgendeine Deportierte, du bist die Herrin von Seven Hills, einer der größten Farmen der Kolonie! Außerdem besteht gut die Hälfte der Bewohner von New South Wales aus Emanzipisten.«

»Die aber nicht zu solchen gesellschaftlichen Anlässen eingeladen werden«, wandte sie sarkastisch ein.

»Jessica, bitte!! Warum quälst du mich mit deinem unvernünftigen Widerspruch? Verstehst du denn nicht, dass ich dich bald wiedersehen und ganz besonders auf diesem Fest an meiner Seite wissen möchte? Tu mir den Gefallen und sag zu!«, beschwor er sie, zog sie in seine Arme und begann, sie zu entkleiden, während er sie küsste. »Ich werde dich nicht eher freigeben, bis du es mir versprochen hast.«

Seine Küsse setzten ihre Haut wieder in Flammen, und sie erschauderte, als sie seinen warmen Atem, seine feuchten Lippen und seine kundige Zunge auf ihren Brüsten spürte. »Wenn du so weitermachst, verspreche ich es dir nie«, stöhnte sie und erwiderte seine Zärtlichkeiten. Es war ihre letzte Nacht, und sie kosteten sie bis zur völligen Erschöpfung aus. Irgendwann in den Stunden vor Morgengrauen versprach sie ihm, zum Fest zu kommen.

Am nächsten Morgen brachte Mitchell sie zum Hafen. Patrick Rourke hatte sie tags zuvor durch einen Boten des Schiffsausrüsters in Parramatta wissen lassen, dass er eine Ladung für Sydney bekommen habe und deshalb zu früher Morgenstunde Segel setzen wolle.

Mitchell hatte vergeblich versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Doch Jessica hatte sich nicht erweichen lassen. »Ian wird schon unruhig in Sydney bei den Keltons auf mich warten. Über eine Woche bin ich jetzt von Seven Hills weg, und ich brauche noch zwei Tage bis Sydney. Und du hast hier auch mehr als genug zu tun.«

»Mein Gott, ist es schwer, sich bei dir einmal durchzusetzen!«, hatte er geklagt. »Du solltest besser Hosen als Kleider tragen.«

»Gewöhn dich dran«, hatte sie im Scherz erwidert, doch es lag auch ein Quäntchen Ernst darin. Sie war, nach all dem, was hinter ihr lag, nicht gewillt, sich von irgendjemandem vorschreiben zu lassen, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Es war besser, für sie beide, wenn Mitchell sich schon früh an diesen Gedanken gewöhnte.

Als Mitchell sie nun auf die Comet brachte, fragte sich Jessica verwundert, wo die Tage geblieben waren. Und es schmerzte sie genauso wie ihn, dass sie sich nun trennen mussten. Doch nachdem sie Mitchell mit Captain Rourke bekannt gemacht hatte und es Zeit war, die Segel zu setzen, sorgte sie dafür, dass ihr Abschied kurz und knapp ausfiel. Für gefühltsbetonte Szenen in der Öffentlichkeit hatte sie nichts übrig.

»Es war wunderschön, und ich liebe dich, Mitchell. Aber nun geh bitte schnell. Ich hasse rührselige Abschiede mit Tränen.«

»Vergiss nie, wie sehr ich dich liebe«, flüsterte er und gab sie dann widerwillig frei.

»Bis bald, Mitchell«, sagte sie und ging schnell unter Deck, während die Leinen losgeworfen wurden und die Comet ablegte. Erst als Parramatta außer Sicht war, ging Jessica wieder an Deck.

Der Schoner brauchte vier Stunden für die Fahrt, und sie erreichten Sydney noch vor der größten Mittagshitze, wo Ian McIntosh sie mit der Kutsche abholte.

Er freute sich sehr, sie wiederzusehen, und zeigte es auch. »Die Fahrt mit der Comet scheint Ihnen vorzüglich bekommen zu sein, Jessica«, begrüßte er sie.

Sie lachte. »Ja! Die Ruhe hat mir wirklich gutgetan.«

Er nickte. »Das sieht man Ihnen an. Sie sehen wie das blühende Leben in seiner hübschesten Erscheinungsform aus, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben.«

»Ich habe gar nicht gewusst, dass Sie sich auch in der Kunst der Schmeichelei verstehen, Ian«, sagte sie amüsiert.

»Mit Schmeichelei hat das nichts zu tun, Jessica. Es ist nur die Feststellung einer offensichtlichen Tatsache«, erklärte er, hielt es aber für ratsamer, das Thema zu wechseln. »Die Keltons warten ungeduldig auf Sie. Sie dachten schon, Sie hätten es sich vielleicht doch anders überlegt und würden gar nicht mehr kommen.«

Jessica seufzte. »Ich wünschte, ich hätte ein eigenes Haus in Sydney«, entfuhr es ihr unwillkürlich.

»Aber die Keltons sind doch Ihre Freunde!«, wandte er verwundert ein.

»Sicher sind sie das«, beteuerte Jessica. »Ich mag sie ja auch wirklich gern, doch auch Freunde sind nicht frei von Fehlern. Und was Robert und Martha betrifft, so kann man von ihrer fürsorglichen Art geradezu erdrückt werden. Für ein paar Stunden ist es ja gut zu ertragen, aber wenn man mehrere Tage mit ihnen unter einem Dach leben muss …« Sie zuckte nur mit den Achseln.

Ian schmunzelte. »Ich muss Ihnen da zustimmen, es ist wirklich anstrengend, ihr Gast zu sein. Und das Zuhören hat Missis Kelton nicht gelernt.«

»Nein, ihre Schwatzhaftigkeit ist oft sehr anstrengend.«

Sie lachten beide, sodass man sich nach ihnen umdrehte, als sie über die Pier zum Ladeschuppen gingen, wo die Brading-Kutsche wartete.

»Wenn Ihnen so an einem Haus in Sydney liegt, warum schauen Sie sich nicht mal nach einem geeigneten Objekt um?«, schlug Ian vor. »Sie können es sich leisten, und als Wertanlage kann ich Ihnen nur dazu raten.«

»Sie müssen es ja wissen, Ian. Vermute ich richtig, dass Ihnen inzwischen halb Sydney gehört?«, scherzte sie, wusste sie doch, dass Ian schon seit Jahren sein Geld in Grund und Boden investierte, ganz besonders in und um Sydney.

»Ein gutes Dutzend Grundstücke ist noch nicht die halbe Stadt«, erwiderte der Verwalter belustigt. »Aber wenn sich mir eine günstige Gelegenheit in Sydney bietet, zögere ich nicht lange. Die Immobilienpreise steigen rapide. Die Zeit, wo man die Nase über die Kolonie rümpfte, ist endgültig vorbei. Sie sehen ja selbst, dass immer mehr Siedler nach New South Wales kommen. Gut zehntausend haben sich bis jetzt schon hier niedergelassen, und ich sage Ihnen, das ist erst der Anfang.«

»Vielleicht sollte ich mir Ihren Vorschlag wirklich durch den Kopf gehen lassen.«

»Ich werde Ihnen natürlich gern mit Rat und Tat zur Seite stehen, obwohl ich nicht die Befürchtung habe, dass Sie sich von irgendeinem noch so cleveren Geschäftsmann übervorteilen lassen«, meinte er.

»Danke für das Kompliment, Ian.«

»Das ist kein Kompliment, sondern meine Überzeugung.«

Sie hatten die Kutsche erreicht. Ian hielt ihr den Schlag auf, und Jessica nahm auf dem samtbezogenen Sitz Platz. Ian setzte sich auf die Bank ihr gegenüber, und Craig, der Kutscher, trieb das Gespann an. Ruckend setzte sich die Kutsche in Bewegung.

Jessica dachte an Mitchells Einladung zum Ball. »Sie kennen sich besser in Sydney aus als ich, Ian. Welches Geschäft hat Ihrer Ansicht nach die größte Auswahl an Stoffen?«

Ian McIntosh überlegte kurz. »Das beste Geschäft in Sydney ist wohl das von Mister Simonton in der Pitt Street.«

»So?«

»Ja, er importiert Stoffe nicht nur aus England, Indien und China, sondern hat trotz der Kriegswirren in Europa auch französische Waren in seinem Angebot.«

»Gut, dann statten wir Mister Simontons Geschäft doch mal einen Besuch ab«, sagte Jessica, die beschlossen hatte, sich für dieses Fest zum Jahreswechsel ein besonders hübsches Kleid zu nähen. »Sagen Sie Craig, dass er uns nicht zu den Keltons, sondern in die Pitt Street fahren soll.«

Er zögerte. »Tja, ich weiß nicht so recht«, druckste er herum.

»Oh, lassen Sie sich von mir, um Himmels willen, bloß nicht aufhalten, falls Sie selbst noch Dinge zu erledigen haben«, deutete sie sein Zögern falsch. »Ich habe Ihre Zeit schon lange genug in Anspruch genommen.«

»Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe Zeit im Überfluss«, versicherte er.

»Was ist es dann?«

»Nun, so viel mir zu Ohren gekommen ist, steht Missis Deborah Simonton bei uns Emanzipisten nicht gerade in einem guten Ruf. Sie gehört zu den Freien und soll ihrem Mann nur höchst widerwillig in die Kolonie gefolgt sein. Sie verabscheut New South Wales, weil es eine Sträflingskolonie ist, und hat für Leute wie Sie und mich nicht viel übrig. In ihren Augen bleiben wir wohl auf ewig Sträflinge, verachtenswerter Abschaum der Gesellschaft.«

Jessica zuckte die Achseln. »Da ist sie wohl nicht die Einzige, die so denkt. Aber ich beabsichtige nicht, mich in ein Streitgespräch über moralische Standpunkte verwickeln zu lassen. Mir geht es um gute Stoffe, und da ist das Geld eines Emanzipisten wohl genauso gut wie das eines Freien. Kommen Sie, Ian, sagen Sie Craig Bescheid.«

Der Verwalter machte eine besorgte Miene und schien noch etwas erwidern zu wollen. Doch Jessicas energischer Tonfall hatte ihm verraten, dass sie entschlossen war, dieses Geschäft aufzusuchen, und sich durch nichts davon abbringen lassen würde. Und so behielt er seinen Einwand für sich und wies Craig an, sie in die Pitt Street zu fahren.

Simonton’s Stoffe und Kolonialwaren stand über dem Geschäft, das in einem flachen Gebäude aus rotbraunen Ziegelsteinen untergebracht war. Zwei Fenster, die statt der üblichen Wachspapierbespannung richtige gläserne Butzenscheiben hatten, gingen auf die Straße hinaus und verrieten auch einem Ortsunkundigen, dass der Geschäftsinhaber über Geldmittel und Beziehungen verfügte, die der Luxus von gläsernen Fensterscheiben in New South Wales erforderte.

In freudiger Erregung betrat Jessica mit Ian McIntosh das Geschäft. Bei ihrem letzten Besuch in Sydney hatte ihr der Sinn nicht danach gestanden, sich in den feineren Geschäften umzusehen. Umso mehr genoss sie jetzt die verwirrende Vielfalt der Gerüche und der Farben, die sie im Innern des Geschäftes umgab.

Der große, rechteckige Raum war in zwei Abteilungen unterteilt. Auf der rechten Seite füllten vertraute und exotische Köstlichkeiten, Gewürze und Riechstoffe die Regale. Sie waren in kleinen Beuteln abgepackt oder in Flaschen abgefüllt, während getrocknete Rosenblätter, Safran, Moschus, Lavendel, Jasmin, Senna und Gelbwurz sowie Ingwer und Pfeffer, Muskatnuss und Zimt, Sultaninen und Bataviatabak in hölzernen oder gläsernen Behältern aufbewahrt wurden. Der intensive Duft, der den vollgestellten Regalen entströmte, schlug den eintretenden Kunden wie eine berauschende Woge entgegen und weckte in ihnen das Verlangen, von all diesen Kostbarkeiten zumindest ein klein wenig zu besitzen.

Auf der linken Seite des Geschäftes stapelten sich Stoffballen in den Verkaufsregalen. Da gab es Kattun und Musselin, Brokat und Satin, Madrasgewebe und Organdystoffe, Gabardine und sogar Seide aus Piemont.

Jessica war im ersten Moment wie benommen. Tief sog sie die Wohlgerüche ein und vermochte sich an den herrlichen Stoffen nicht sattzusehen. In kleinen Fächern entdeckte sie tausend andere Dinge, die längst vergessen geglaubte frauliche Wünsche in ihr erweckten. Ihr Blick sprang mit wachsender Erregung von den Spitzenbändern zu den Bonnets, von den Rüschentüchern zu Handschuhen und Stoffrosetten, von den Halstüchern zu den Nähmaterialien.

»Was für eine Fülle!«, entfuhr es ihr bewundernd. »Welch ein Überfluss!«

In London wäre Mister Simontons Geschäft nicht der Erwähnung wert und sein Warenangebot ausgesprochen kläglich gewesen. Doch hier in New South Wales, wo es immer noch Engpässe bei den einfachsten Gebrauchsartikeln und Gerätschaften gab, existierte wohl kein anderes Geschäft, das sein Warenangebot an erlesenen und sündhaft teuren Artikeln übertreffen konnte.

»Ja, und es befindet sich auch viel unnützer Tand darunter, der zu uns Siedlern passt wie ein Känguru zum Hyde Park«, brummte Ian McIntosh leise, denn er war ein Mann von strengen Prinzipien und hielt jede unnütze Geldausgabe für ein Zeichen bedauernswerter Charakterschwäche. Doch in Jessicas Fall räumte er bereitwillig ein, dass sie nach den Jahren der Plackerei und der Entbehrungen ein Recht darauf hatte, sich etwas zu leisten, das nicht unter den sonst üblichen Gesichtspunkten von Nützlichkeit und möglichst langer Lebensdauer ausgewählt werden musste. Und so fügte er hinzu: »Aber es gibt in der Tat auch einige herrliche Dinge, die es sogar mir leicht machen würden, die Münzen aus dem Beutel zu holen.«

Jessica hatte nur mit halbem Ohr hingehört und nickte vage auf seine Worte, während sie sich der Stoffabteilung zuwandte. Eine ältere Frau in einem blauen Seidenkleid hatte einige Kurzwaren erstanden, und die blasse Verkäuferin, die mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht gestraft war, gab ihr gerade ein Sixpence-Stück zurück.

»Danke für Ihren Einkauf und noch einen schönen Tag, Missis Gatherby. Beehren Sie uns bald wieder, Missis Gatherby«, verabschiedete das etwa sechzehnjährige Mädchen die Kundin und strich über die makellos weiße, gestärkte Schürze, die sie über ihrem Kleid aus grauem Kattun trug. Dann wandte sie sich der neuen Kundschaft zu, grüßte mit der steifen Höflichkeit einer ungelernten und uninteressierten Aushilfskraft und fragte nach ihren Wünschen.

»Zeigen Sie mir die blaue Atlasseide … nein, warten Sie, lassen Sie mich die goldbraune Seide sehen«, verbesserte sich Jessica rasch. »Und der lindgrüne Musselin interessiert mich auch.«

»Sehr wohl.« Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen, zog den Ballen Seide aus dem Regal und legte ihn auf den blankpolierten Ladentisch. Sie rollte zwei Armlängen ab und breitete den goldbraunen Stoff aus. »Es ist allererste Wahl, gnädige Frau. Sie ist erst kürzlich eingetroffen. Mit der Southwind

Jessica ließ den glatten, herrlich leuchtenden Stoff durch ihre Finger gleiten und überlegte schon, welchen Schnitt sie für ihr neues Kleid aus diesem wunderbaren Material wählen sollte und ob sie es sich wohl erlauben konnte, Ausschnitt und Ärmel mit feiner Spitze einzufassen.

»Gefällt Ihnen der Stoff, Ian?«

Er ist fast so schön wie die Farbe Ihres Haares, hätte er beinahe geantwortet, sagte dann aber: »Er dürfte Ihnen vorzüglich zu Gesicht stehen.«

Jessica lachte. »Das hoffe ich doch auch! Was kostet der Yard übrigens?«, fragte sie das Mädchen, obwohl sie wusste, dass sie den Stoff und sicherlich noch einige Längen Spitzenbesatz und Bänder erstehen würde, egal, wie teuer alles war.

Die junge Verkäuferin kam nicht mehr dazu, ihr den Preis zu nennen. Ein Vorhang, der das Geschäft von den dahinterliegenden Privaträumen der Simontons abtrennte, wurde zur Seite geschoben, und eine hagere Frau eilte herbei.

»Hilf meinem Mann im Lager, Rosy!«, befahl sie dem Mädchen in einem scharfen, herrischen Ton, ohne Jessica und Ian eines Blickes zu würdigen. »Ich mache das hier schon!«

Das Mädchen deutete einen Knicks an. »Jawohl, Missis Simonton«, murmelte sie folgsam mit gesenktem Kopf und eilte ins Lager.

Deborah Simonton hatte die steife, unnatürliche Haltung eines Ladestockes. Hohe Wangenknochen bestimmten ihr schmales Gesicht, dessen Mundwinkel einen verkniffenen Zug aufwiesen, in dem viel Verbitterung und Hader mit dem Schicksal lagen. Von ihrer Erscheinung ging Unnahbarkeit aus, ja sogar Ablehnung, was durch ihr schwarzes, hochgeschlossenes Satinkleid und die streng nach hinten gekämmten und hochgesteckten Haare noch unterstrichen wurde.

Jessica mochte die Frau auf Anhieb nicht, ließ sich jedoch nichts anmerken. Betont freundlich lächelte sie Deborah Simonton an und sagte: »Ich hätte gern einige Yards von dieser herrlichen Seide und vielleicht auch noch …«

Deborah Simonton fiel ihr schroff ins Wort. »Bedaure, das ist unmöglich! Die Seide ist schon für eine andere Kundin reserviert. Rosy, dieses dumme Ding, muss es zu erwähnen vergessen haben.«

»Der ganze Ballen?«, fragte Jessica verwundert.

»Ja, der ganze Ballen!«, bestätigte Deborah Simonton kühl.

Jessica seufzte bedauernd. »Nun, dann lassen Sie mich doch mal Ihre Atlasstoffe sehen.«

»Habe keine mehr!«

Verständnislos blickte Jessica erst sie an und dann zu den fünf, sechs Ballen, die in den tiefen Regelfächern lagen. »Aber da haben Sie doch noch jede Menge Atlasseide.«

»Davon ist nichts mehr verkäuflich!«, beschied Deborah Simonton sie knapp.

»Das kann ich nicht glauben!«

»Glauben Sie, was Sie wollen!«, erwiderte die Ladenbesitzerin unfreundlich. »Es ist so, wie ich sage! Ich habe weder Seide, Atlas noch Musselin für Sie!«

Verdutzt sah Jessica sie an. »Ich verstehe nicht ganz …«

»Das ist Ihr Problem!«

Ian hatte dem Wortwechsel schweigend und mit wachsendem Ingrimm zugehört. Was er befürchtet hatte, war eingetreten. »Kommen Sie, Jessica«, sagte er leise und berührte sie behutsam am Arm.

Ärgerlich schüttelte Jessica seine Hand ab. Allmählich begriff sie, welches Spiel Deborah Simonton mit ihr spielte. »Gibt es denn irgendetwas in Ihrem Geschäft, was noch nicht verkauft oder reserviert ist?«

Deborah Simonton blickte sie mit unverhohlener Verachtung an. »Nein!«, schnappte sie. »Meine Waren sind ausschließlich für Damen reserviert, falls Sie das noch nicht gewusst haben sollten!«

Nun konnte sich der Verwalter nicht länger zurückhalten. »Was nehmen Sie sich für eine Unverschämtheit heraus!«, donnerte er wutentbrannt »Missis Brading …«

Deborah Simonton schnitt ihm mit scharfer Stimme das Wort ab. »… ist eine Emanzipistin! Und an Sträflinge und Emanzipisten verkaufe ich grundsätzlich nicht! Und nun machen Sie beide, dass Sie hinaus auf die Straße kommen!«

Grenzenlose Wut stieg in Jessica auf. Sie spürte das kaum zu zügelnde Verlangen, dieser hochnäsigen Frau eine schallende Ohrfeige zu versetzen. Doch sie beherrschte sich. »Sie wollen uns aus dem Geschäft jagen wie einen Straßenhund?«, stieß sie mit zitternder Stimme und geballten Fäusten hervor.

»Sie haben lange gebraucht, um das zu begreifen! Und nun verschwinden Sie endlich, bevor ich den Konstabler rufe und Sie wegen Belästigung vor Gericht stellen lasse!«, geiferte Deborah Simonton.

Ein gefährliches Feuer loderte in Jessicas Augen. »Sie sitzen auf einem hohen Ross, Missis Simonton!«, presste sie hervor.

»Jessica, bitte! Lassen Sie uns gehen!«, drängte Ian. Er hatte Angst, sie könnte sich in ihrem verständlichen Zorn zu einer unbedachten Äußerung hinreißen lassen, die sie später bereuen würde.

Jessica schüttelte gereizt den Kopf. »Sie können zehnmal als Freie in diese Kolonie gekommen sein … Missis Simonton. Aber Sie irren sich, wenn Sie der Meinung sind, so mit mir umspringen zu können!«

»Mit Gesindel von eurer Sorte springe ich um, wie es mir passt!«, zischte Deborah Simonton abfällig. »In meinem Geschäft dulde ich kein Sträflingspack!«

»Das werden Sie noch mal bereuen!« Jessica zitterte am ganzen Leib vor Erregung und ohnmächtigem Zorn.

»Soll das eine Drohung sein?«

»Nehmen Sie es, wie Sie wollen!«

»Raus!«, brüllte Deborah Simonton und wies mit der gestreckten knochigen Hand zur Tür.

»Mein Gott, so kommen Sie doch endlich!«, beschwor Ian sie, als er den dickleibigen Mann mit der Glatze und dem Zwicker auf der Nase hinter dem Vorhang hervortreten sah. Es war Albert Simonton. Schnell zog er Jessica am Arm aus dem Geschäft.

Albert Simonton eilte zu seiner Frau. »Bist du noch bei Sinnen, Weib? Was hast du getan?«, stieß er hervor.

»Ich habe dieses Gesindel rausgeschmissen, das habe ich getan! Hat wohl gedacht, ich könnte einen Emanzipisten nicht von einem Freien unterscheiden! Pah! Man braucht sich doch bloß die verarbeiteten Hände und die ekelhaft sonnengebräunten Gesichter anzusehen, um zu wissen, dass man keine Dame vor sich hat!«, erwiderte sie gereizt. »Und dieses Miststück von einer Deportierten hat auch noch die Dreistigkeit besessen, mir zu drohen!«

Albert Simonton rang die Hände. »Himmelherrgott! Habe ich dir nicht schon tausendmal gepredigt, dass du dir mehr Zurückhaltung auferlegen sollst?«, lamentierte er. »Ob Emanzipisten oder Freie, wir führen ein Geschäft, und wir haben jeden Shilling, egal, aus welcher Tasche er kommt, bitter nötig.«

»Nicht einen Penny nehme ich von so einem Pöbel!«, entgegnete sie schrill. »Wir haben das beste Geschäft in Sydney und genug Freie als Kunden!«

Albert Simonton sah sie gequält an, wagte jedoch nicht, ihr zu widersprechen. Er hatte schon mehr gesagt, als ratsam war. Bloß nicht ihr Misstrauen erregen. Ihre bohrenden Fragen waren das Letzte, was er jetzt oder zu irgendeinem anderen Zeitpunkt provozieren wollte.

Deborah nahm sein Schweigen für ein Zeichen von Schwäche, die es augenblicklich auszunutzen galt. »Ich habe dich damals gewarnt, als du darauf bestandest, ausgerechnet in diese gottverlassene Sträflingskolonie auszuwandern! Ich habe dir gesagt, dass ich mit dieser verkommenen Brut nichts zu tun haben will – auch nicht hier im Geschäft. Du warst damit einverstanden. Und ich denke nicht daran, irgendetwas zu ändern!«

»Deine elende Starrköpfigkeit bringt uns eines Tages noch an den Bettelstab!«, warf er ihr vor.

»Das hättest du dir eher überlegen sollen! Ich sage dir ein für alle Mal: Ich will diesen Abschaum nicht im Geschäft haben! Und wenn du diese Leute nicht vor die Tür setzt, werde ich das tun!« Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verschwand hocherhobenen Hauptes hinter dem Vorhang. Jetzt würde sie sich erst einmal dieses Flittchen Rosy vornehmen, dem ihr Mann ständig schöne Augen machte, auch wenn er glaubte, sie sähe das nicht. So ein blutjunges Mädchen war wohl ganz nach seinem wollüstigen Geschmack. Aber da würde sie auch noch ein gewichtiges Wort mitzureden haben, so wahr sie Deborah Simonton hieß!

Albert Simonton sank mit einem schweren Seufzer auf einen Holzschemel und wischte sich den Schweiß von der Glatze. Was wusste seine Frau schon von seinen Geschäften! Warum hatte Gott ihn bloß mit so einem zänkischen, herrischen Weib geschlagen, das sich nur beim Anblick von Geld freuen konnte. Sie würde ihn eines Tages noch ins Grab bringen, wenn er sich vorher nicht selbst zugrunde richtete.

Draußen auf der Straße zitterte Jessica indessen noch immer vor Wut. Ian McIntosh hätte ihr am liebsten seinen Arm beruhigend um die Schulter gelegt, doch diese Geste schien ihm von zu intimer Art zu sein, als dass er sich diese Freiheit ihr gegenüber hätte herausnehmen können – schon gar nicht in aller Öffentlichkeit, die tausend verborgene Augen und noch mehr Klatschmäuler besaß.

»Nun beruhigen Sie sich doch, Jessica!«, redete er besänftigend auf sie ein.

»Ich will mich nicht beruhigen!«, erwiderte Jessica heftig. »Ich will nie vergessen, wie sie mich gedemütigt hat. Und ich werde dafür sorgen, dass sie es eines Tages bitter bereuen wird, das schwöre ich bei Gott!«

»Jessica! Bitte! Zügeln Sie Ihre Zunge!«, beschwor Ian sie erschrocken und drängte sie, in die Kutsche zu steigen. »Sie reden sich noch einmal um Kopf und Kragen! Die Simontons sind Freie, mit denen man sich in einer Kolonie wie dieser auch als Emanzipist nicht ohne Gefahr anlegt! Also bedenken Sie, was Sie im Zorn sagen!«

»Auch mich demütigt man nicht ungestraft!«, sagte Jessica und empfand auf einmal wieder unbändigen Hass, der ihr damals an Bord des Sträflingssschiffes geholfen hatte, die Ungerechtigkeiten und Erniedrigungen zu ertragen und am Leben zu bleiben. Ihr war, als wären alte Narben aufgebrochen und nicht Jahre seit jenen unmenschlichen Leiden vergangen, sondern höchstens Wochen.

»Diese Frau ist es doch gar nicht wert, dass man sich ihretwegen so erregt«, versuchte Ian die aufgepeitschten Wogen ihrer Gefühle zu glätten. »Sie gehört zu den Unbelehrbaren, die sich ihre Meinung über einen Menschen schon gebildet haben, bevor sie ihm begegnet sind.«

Jessica blickte ihn an. Ihre Nasenflügel bebten, und in ihren Augen stand dieses gefährliche Funkeln, das Ian nur zu gut kannte. So hatte sie ausgesehen, als er ihr berichtet hatte, dass Jonas Duckworth auf überhöhten Frachtraten bestand und leider am längeren Hebel saß.

»Unbelehrbar? Ich glaube, das ist das falsche Wort, Ian! Für sie sind wir nicht viel mehr als der Dreck in der Gosse. Sie gehört zu diesen selbstgerechten, heuchlerischen Christen, die uns am liebsten ewig geknechtet sehen möchten und die sich auf Kosten der Deportierten schamlos bereichern! Sie sind es, die keine öffentliche Auspeitschung und Hinrichtung auslassen, weil sie nämlich im Grunde ihres Herzens Sadisten sind, die sich am Leid anderer weiden!«

Er war von ihrem Gefühlsausbruch bestürzt. »Schon gut, schon gut! Es ist alles meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass so etwas geschehen würde«, machte er sich nun bittere Vorwürfe. »Ihr Unmut sollte mich treffen, denn ich habe zugelassen, dass diese engstirnige Frau Sie verletzen konnte.«

»Nein! Sie wissen ganz genau, dass das nicht stimmt!«, gebot sie seinen Selbstbezichtigungen Einhalt. »Es hätte mir an jedem anderen Tag passieren können! Also versuchen Sie nicht, mich wie ein kleines Kind zu behandeln, das nicht zu unterscheiden vermag, wen die Schuld trifft: das dumme Kaninchen, das nicht aufgepasst hat, oder die Schlange, die ihr Gift in ihr Opfer versprüht!« Ihr Ton war ungewöhnlich scharf und zurechtweisend.

Ian McIntosh schwieg betreten.

»Die Keltons werden warten«, änderte Jessica abrupt das Thema. »Fahren wir!«

Ian McIntosh hoffte, dass Jessica diesen hässlichen Zwischenfall bald vergessen haben würde. Doch er irrte sich. Jessica hatte nicht die Absicht, auch nur ein Wort zu vergessen. Sie würde sich revanchieren, auf ihre Art. Doch weder sie noch Deborah Simonton ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass ihre Begegnung im Geschäft in der Pitt Street der Beginn einer erbitterten Feindschaft war.

23

»Missis Brading! Welch eine angenehme Überraschung, dass Sie mir wieder die Ehre Ihres Besuches geben!« William Hutchinson machte eine steife Verbeugung und komplimentierte sie in einen bequemen Sessel, der mit grünem Leder bezogen war. »Darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass ich Sie zwar als eine Frau von Schönheit und Geist in Erinnerung hatte, jetzt jedoch zu meiner Schande gestehen muss, dass meine Erinnerung mir nur ein sehr blasses Abbild Ihrer wahren anmutigen Erscheinung geliefert hat.«

»Sie dürfen, Mister Hutchinson«, sagte Jessica mit einem Schmunzeln, machte sich jedoch keine Illusionen. Jedes Kompliment von seinen Lippen würde sie bezahlen. William Hutchinson war ein Anwalt, der sogar ein zustimmendes Kopfnicken in Rechnung stellte.

Er war ein hagerer Mann Anfang fünfzig mit einer schlaffen Gesichtshaut, die ihm wie leere Hamsterbeutel zu beiden Seiten über den Kiefer hingen. Wer ihn nicht kannte, musste ihn für einen müden, kraftlosen Mann halten, dessen verschleierte Augen kaum noch etwas wahrnahmen. Doch dieser Eindruck, der nicht ungewollt war, täuschte. In Wirklichkeit war Mister Hutchinson nämlich ein Mann von schneller Auffassungsgabe und gerissen bis an die Grenze des Erlaubten. Sein Blick mochte zwar verschleiert sein wie der einer müden Eule, doch seinen Augen entging kein wichtiges Detail, kein Zögern, kein Zucken eines Muskels, kein noch so kleiner Hinweis auf menschliche Regungen.

Er trug wie immer einen schwarzen, altmodischen Tuchrock und eine gepuderte Perücke, die schon mal bessere Zeiten gesehen hatte, was auch auf den Besitzer derselben zutraf. William Hutchinson hatte einmal eine äußerst erfolgreiche Kanzlei in Plymouth sein Eigen genannt. Er war damals ein junger aufstrebender Anwalt gewesen, der jedoch nicht gewillt war, erst in späten Jahren zu einem ansehnlichen Vermögen zu kommen. Und so hatte er sowohl seiner Karriere als auch seinem Bankkonto kräftig auf die Sprünge geholfen, indem er Dokumente, vor allem Testamente und Erbschaftsverträge, gefälscht hatte. Diesem besonderen Talent verdankte er lange Jahre in sorglosem Wohlstand – und fast genauso viele Jahre als Sträfling in New South Wales. Inzwischen hatte er seine Strafe längst verbüßt und eine kleine Kanzlei in Sydney eröffnet.

»Was führt Sie zu mir, Missis Brading?«, erkundigte sich der Anwalt, nachdem er wieder hinter seinem zerkratzten Schreibtisch Platz genommen hatte. »Gibt es Schwierigkeiten mit Captain Rourke?«

Jessica schüttelte den Kopf. »Nein, ganz im Gegenteil, Mister Hutchinson. Unsere Geschäftsbeziehung entwickelt sich zur größten beiderseitigen Zufriedenheit. Ich danke Ihnen noch mal für Ihre Hilfe.«

»Es war mir ein Vergnügen, Missis Brading, obwohl ich nicht verhehlen möchte, dass mir Ihre Art, Geschäfte zu tätigen, sehr gewagt vorgekommen ist. Sie hätten auch verlieren können – trotz aller Sicherheitsvorkehrungen.«

»Jeder soll seine faire Chance bekommen«, erwiderte Jessica.

»Und wem wollen Sie jetzt eine faire Chance geben?«, erkundigte sich der Anwalt mit einem leicht spöttischen Unterton.

Jessica ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Ich habe diesmal nicht die Absicht, mich lange damit auseinanderzusetzen, was fair und was unfair ist.«

Er lächelte feinsinnig. »Es freut mich zu hören, dass Sie sich von diesen Dingen frei gemacht haben, die bei geschäftlichen Belangen bestenfalls nur unnützer Ballast sind, gelegentlich jedoch auch ruinösen Charakter haben können. Wobei kann ich Ihnen dienlich sein?«

»Bei Letzterem.«

»Wie bitte?«

»Sie sprachen von Ruin.«

Er runzelte die Stirn. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich in einer finanziell angespannten Situation befinden, Missis Brading?«

»Nein, ganz und gar nicht.«

Er seufzte erleichtert. »Es hätte mich auch sehr gewundert. Nun, wenn es sich nicht um Ihren eigenen Ruin handelt, können Sie nur den eines anderen gemeint haben.«

»So ist es.«

»Es geht Ihnen also darum, jemanden zu ruinieren, verstehe ich Sie da richtig?«, vergewisserte er sich.

»Absolut richtig«, bestätigte Jessica. Sie wusste, dass der Anwalt für kriminelle Praktiken seit seiner Strafverbüßung nicht mehr zu haben war. Er war zwar bereit, alle möglichen Tricks und Kniffe anzuwenden, die ihm die Gesetze ließen, und auch bis an die Grenze des Erlaubten zu gehen. Doch für offensichtliche Gesetzesübertretungen konnte man ihn auch mit Geld nicht gewinnen. Aus diesem Grund, und weil der Anwalt ein Mann war, der Stillschweigen bewahren konnte, hatte Jessica auch Zutrauen zu ihm.

Er nickte lächelnd. »Interessant, interessant. Geht es Ihnen dabei um einen finanziellen Ruin oder mehr um einen … nun, sagen wir mal gesellschaftlichen Exitus?«

»Es geht mir um einen finanziellen Ruin, der sich in den Grenzen des im Geschäftsleben Erlaubten hält. Hätten Sie Interesse, mir bei einem solchen Unternehmen als Anwalt zur Seite zu stehen und für mich zu arbeiten?«, fragte sie.

»Im Prinzip habe ich keine Einwände, Missis Brading. Der größte Teil der Arbeit eines guten Anwalts ist darauf gerichtet, den Konkurrenten seines Klienten geschäftlich zu ruinieren. Das liegt in der Natur unseres Berufes«, erklärte Hutchinson ironisch. »Ich stehe Ihnen also gern zu Diensten …«

»Die ich Ihnen großzügig entgelten werde.«

Er deutete im Sitzen eine Verbeugung an. »Ich hätte auch nichts anderes erwartet, Missis Brading. Auf welche Person hat sich Ihr Interesse denn gerichtet?«

»Auf Missis Simonton!«

Er hob überrascht die Augenbrauen. »Oh, diese hochnäsige Dame in der Pitt Street?«

Jessica nickte.

»Sie beweisen einen fürwahr trefflichen Geschmack, der sich in diesem Fall sogar mit dem meinen deckt. Es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, Ihnen bei diesem reizvollen Vorhaben zur Hand zu gehen.«

»Das freut mich«, versicherte Jessica und dachte: ›Aber Ihre Rechnung wird deshalb bestimmt nicht weniger hoch ausfallen!‹

»Darf ich Sie aber darauf aufmerksam machen, dass dies dann auch Mister Simonton einschließt?«

»Spricht irgendetwas dagegen?«

William Hutchinson verzog das Gesicht. »Nein, es gibt genug, was auch ganz objektiv gegen ihn spricht. Missis und Mister Simonton unterscheiden sich nicht im Grad ihrer Unverträglichkeit, sondern höchstens in der Art, wie sie sie an den Tag legen. Nein, ich habe keine Bedenken, gegen beide aktiv zu werden.«

»Ich möchte sie in eine Art Bankrott treiben, der sie dazu zwingt, mir mindestens fünfzig Prozent ihres Geschäftes zu verkaufen.«

Der Anwalt zeigte sich überrascht. »Erst die Farm, dann der Schoner und nun das beste Geschäft in Sydney? Bei allem Respekt, aber Sie scheinen einen unersättlichen Appetit auf geschäftliche Unternehmungen der gegensätzlichsten Art zu haben.«

»Wäre ein solches Geschäft denn eine schlechte Investition?«

»Nein, Mister Simontons Geschäft ist eine wahre Goldgrube und könnte noch viel mehr abwerfen, wenn auch Nicht-Freie dort bedient würden.«

Enttäuschung malte sich auf Jessicas Gesicht. »So, eine Goldgrube. Dann ist es also um die Erfolgschancen meines Vorhabens schlecht bestellt?«

»Das würde ich nicht sagen«, widersprach er.

»Aber Sie sagten doch …«

»Eine Goldgrube kann noch so ergiebig sein, über den Reichtum eines Mannes sagt das nichts aus, Missis Brading«, sagte der Anwalt spöttisch. »Es kommt allein darauf an, was zwischen seinen Fingern hängen bleibt und an einen sicheren Ort wandert. Bei Mister Simonton wandert das Geld, das er mit seinem Laden verdient, ganz gewiss nicht an einen sicheren Ort, wo es Zinsen bringt.«

»Sondern?«, fragte Jessica gespannt.

Der Anwalt wirkte plötzlich ein wenig verlegen und suchte nach den passenden Worten für seine Antwort. »Es schickt sich eigentlich nicht, in Gegenwart einer Dame von den Lastern zu reden, denen Mister Simonton meines Wissens frönt.«

»Zieren Sie sich nicht, Mister Hutchinson!«, forderte Jessica ihn auf. »Wir beide sind auf einem Sträflingsschiff nach New South Wales gekommen, und daher ist keinem von uns irgendein menschlicher Abgrund fremd. Außerdem bezahle ich Sie nicht für rücksichtsvolle Worte, sondern für klare Antworten und Hilfen! Also, heraus damit!«

Ein schwaches, anerkennendes Schmunzeln huschte über sein Gesicht. »Entschuldigen Sie mein Zögern. Sie haben natürlich recht mit dem, was Sie da sagen. Aber ich bin es nicht gewohnt, mit Frauen, die meinen uneingeschränkte Respekt genießen, über derlei höchst pikante Dinge zu reden.« Er räusperte sich. »Aber gut, kommen wir zur Sache. Mister Simonton verbringt meines Wissens viele Abende und gelegentlich auch Nächte in Gesellschaft von Männern, die sich dem Glücksspiel verschrieben haben, und Frauen, die sich ihre Gunst bezahlen lassen.«

»Er verkehrt also in Freudenhäusern«, stellte Jessica auf ihre direkte Art fest.

»Ja, so ist es.«

Jessica lächelte. »Vielleicht zufälligerweise auch im Haus einer gewissen Betsy Fodder?«

»Sie besitzen das Talent, mich immer wieder zu überraschen, Missis Brading. Ja, dieses Haus frequentiert er in der Tat«, bestätigte er, und sein Erröten ließ in Jessica die Vermutung aufkommen, dass auch ihm das Innere des Freudenhauses von Betsy Fodder nicht unbekannt war. Aber er war unverheiratet, wie sie wusste, und es war seine private Angelegenheit, wo er sein Vergnügen suchte.

»Ich kenne Betsy Fodder, recht gut sogar. Wir kamen auf demselben Schiff nach Australien«, erklärte sie. »Aber bitte, fahren Sie fort.«

»Ich habe mich bisher nicht sonderlich für Mister Simontons Aktivitäten in diesem Hause interessiert, glaube mich jedoch daran erinnern zu können, dass er als sehr glückloser Spieler gilt, was man gewiss vielen nachsagen kann. Doch er scheint diese Tatsache nicht akzeptieren zu wollen. Denn statt sich vom Spieltisch fernzuhalten, versucht er das Glück mit Gewalt zu erzwingen.«

»Ohne Erfolg?«

»Mit dem Erfolg, dass er Schuldscheine zeichnen muss, sogar jede Menge Schuldscheine.«

»Wir sollten ihm dafür dankbar sein«, sagte Jessica fröhlich. »Sie wissen dann ja, was Sie zu tun haben, nicht wahr?«

Er nickte. »Es wird nicht so einfach sein, in den Besitz all dieser Schuldscheine zu gelangen, denn sie befinden sich in verschiedenen Händen.«

»Ich denke, das ist allein eine Frage des Angebots«, erwiderte Jessica ungerührt. »Welche Sicherheiten bietet er denn seinen Gläubigern?«

»Zuerst einmal das Geschäft in der Pitt Street, obwohl dieses wohl schon über Gebühr belastet sein dürfte«, berichtete der Anwalt. »Doch er hat sich auch noch mit fünfhundert Pfund an der Charter eines Handelsfahrers beteiligt. Kehrt dieses Schiff rechtzeitig zurück, dürfte er mit dem Gewinn aus diesem Unternehmen seine Schulden decken können.«

»Und wann erwartet er das Schiff zurück?«

»Es ist schon zwei Monate überfällig.«

»Dann dürften seine Gläubiger doch schon unruhig werden.«

»Das ist anzunehmen.«

»Bestens! Gehen Sie sofort an die Arbeit und kaufen Sie auf, was Sie kriegen können«, trug Jessica ihm auf. »Und wenn jemand zögert, an Sie zu verkaufen, bieten Sie ihm mehr als die Summe auf dem Schuldschein.«

»Wie hoch kann ich gehen?«

»Bis zu zehn Prozent über den Nennwert. Das sollte genügen, um auch einen Zauderer davon zu überzeugen, dass er mit Abwarten kein besseres Geschäft machen wird.«

»Ganz bestimmt. Aber das wird Sie einiges kosten, Missis Brading.«

»Ich weiß, aber das ist es mir wert. Sehen Sie nur zu, dass Sie keine Zeit verlieren!«, forderte sie den Anwalt auf.

»Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Sie nicht zu enttäuschen«, versicherte William Hutchinson. »Und es wird mir eine Freude sein, bald über dem Geschäft in der Pitt Street Brading’s Stoffe und Kolonialwaren lesen zu können.«

»Nein, das werden Sie nicht.«

»Sondern?«

»Auf dem Schild werden beide Namen stehen – der eines Freien und der einer Emanzipistin. Brading & Simonton, so wird die Aufschrift lauten!«

24

Edward Oakes zügelte sein Pferd, als die Farm in Sicht kam, und wischte sich Staub und Schweiß vom Gesicht. Bei der glühenden Hitze – es war jetzt Mitte Dezember und somit Hochsommer – war der Ritt von Parramatta nach Camden recht anstrengend gewesen. Doch der schwierigste Teil seiner Aufgabe lag noch vor ihm. Er war Chef-Konstabler von Parramatta und als gewissenhafter Mann bekannt, der dem Gesetz Geltung zu verschaffen verstand. Und bisher war er mit allen Schwierigkeiten, die seine Stellung nun mal mit sich brachten, stets bestens fertig geworden.

Doch an diesem Tag fühlte er sich äußerst unwohl in seiner Haut. Richter Atkins hatte ihm eine Gerichtsvorladung auf den Tisch geknallt, die er nun John MacArthur zustellen sollte.

»Bringen wir es hinter uns«, murmelte er vor sich hin und trieb sein Pferd an.

Dass John MacArthur ein reicher Mann war, sah man seiner großen Farm, die in einem fruchtbaren Weidegebiet mit dem Namen Cow Pastures lag, schon auf den ersten Blick an. Saftige Weiden, wohin das Auge auch blickte, und ein reicher Viehbestand. Die besten Schafe der Kolonie kamen aus seiner Zucht. Und beim Bau seines neuen Farmhauses hatte er weder Kosten noch Mühen gescheut.

John MacArthur bat den Konstabler nicht ins Haus, als ihm sein Erscheinen gemeldet wurde. Er hatte Gäste, mehrere Offiziere des Corps und einige Händler, die mit ihm zusammen das Rum-Monopol beherrschten.

»Was führt Sie zu mir?«, fragte MacArthur auf seine herrische Art, als er zu ihm auf die vordere Veranda hinaustrat.

Edward Oakes zog die Vorladung aus der Stulpe seiner Uniformjacke. »Mister MacArthur, ich habe die unerfreuliche Aufgabe, Ihnen diese von Richter Atkins unterzeichnete Gerichtsvorladung zuzustellen und Sie aufzufordern, sich zu den Anklagepunkten im Fall des Schoners Parramatta vor Gericht zu äußern und …«

MacArthur schnitt ihm grob das Wort ab. »Gerichtsvorladung! Sie sind wohl nicht bei Trost, Mann?«, fuhr er ihn aufgebracht an. »Ich lasse mich doch nicht von diesem heruntergekommenen Säufer, der eine Schande für das Richteramt ist, herumkommandieren! Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt! Ich habe mit dem verdammten entlaufenen Sträfling so wenig zu tun wie mit dem Schoner. Und damit hat es sich. Sagen Sie diesem Trunkenbold, er kann sich seinen Wisch sonst wohin stecken!«

»Mister MacArthur! Dies ist eine ordentliche Gerichtsvorladung!«, protestierte Edward Oakes. »Sie ergeht im Namen Seiner Exzellenz des Gouverneurs, Stellvertreter des Königs, und ich muss Sie doch sehr bitten, sich zu mäßigen!«

»Den Teufel werde ich tun, Mann!«, ließ MacArthur seinem hitzigen Temperament freien Lauf. »Atkins und Bligh sind vom selben hinterhältigen Schlag! Ich denke gar nicht daran, mich dieser schamlosen Tyrannei durch Bounty-Bligh zu unterwerfen. Was er da treibt, ist ein abgekartetes Spiel, doch bei mir ist er da an den Falschen geraten! Ich kenne meine Rechte, und ich lasse sie mir auch nicht von einem Despoten wie Bligh beschneiden!«

»Sir, das sind schwerwiegende Beleidigungen, die Sie da äußern, und die Missachtung einer Gerichtsvorlad…«

Wieder ließ MacArthur ihn nicht ausreden. »Sparen Sie sich Ihren Atem für den Rückweg! Ich akzeptiere diese verdammte Vorladung nicht, und damit basta! Und nun machen Sie, dass Sie von meinem Grund und Boden verschwinden. Lakaien von Tyrannen dulde ich hier nicht!«

Hochrot im Gesicht vor Zorn steckte Edward Oakes die Vorladung wieder ein. »Ganz wie Sie wollen, Mister MacArthur. Aber das wird für Sie noch ein Nachspiel haben!«, drohte er.

»Wenn Sie jemandem Angst einjagen wollen, müssen Sie sich schon einen suchen, der das große Schlottern kriegt, wenn er den Namen Atkins oder Bligh hört. Aber da werden Sie in New South Wales kaum jemanden finden!«, höhnte MacArthur.

Der Chef-Konstabler schwang sich auf sein Pferd und begab sich zurück nach Parramatta. Dass MacArthur ausfallend werden würde, damit hatte er insgeheim gerechnet, doch dass er sich zu solchen Beleidigungen würde hinreißen lassen, hätte er nie gedacht!

Kenneth Forbes war wie MacArthurs andere Gäste Zeuge dieses heftigen Wortwechsels geworden, der laut genug geführt worden war, dass sie im Innern des Hauses jedes Wort hatten verstehen können.

»John, ich fürchte, du hast damit einen Fehler begangen«, tadelte Major Robertson ihn.

»Ich habe nichts als die Wahrheit gesagt, verdammt noch mal! Atkins und Bligh versuchen jeden schäbigen Trick, um mir am Fell zu flicken!«, verteidigte sich MacArthur vehement. »Aber ich werde mich diesen Tyrannen nicht beugen. Allmählich ist das Maß voll.«

»Das mag schon sein, und du weißt, was wir von Bligh halten …«

»Verdammt wenig!«, warf einer der Männer ein.

Major Robertson nickte zustimmend. »Richtig, aber es dürfte ratsamer sein, John, wenn du versuchst, diesen Fehler auszubügeln, bevor Bligh dir daraus einen Strick drehen kann. Das könnte nur uns allen schaden.«

Die Meinung des Majors wurde in dieser Runde der Rum-Monopolisten ohne Ausnahme geteilt, und nach langem Diskutieren nahm MacArthur den Rat seiner Freunde an, nach Sydney zu reiten und die Angelegenheit schnellstens in Ordnung zu bringen. Ihrer uneingeschränkten Unterstützung konnte er gewiss sein.

Als John MacArthur am 16. Dezember in Sydney eintraf, war schon ein Haftbefehl gegen ihn ergangen. Kaum in der Stadt, wurde er festgenommen und ins Gefängnis gebracht.

Lange brauchte er jedoch nicht einzusitzen. Seine Freunde sorgten für eine schnelle vorgerichtliche Anhörung, bei der der Chef-Konstabler die Beleidigungen zu Protokoll gab, die MacArthur gegen ihn, Richter Atkins und Gouverneur Bligh geäußert hatte. Dennoch: Gegen eine geringe Kaution wurde er wieder auf freien Fuß gesetzt. Als Termin für den Prozess gegen ihn wurde der 25. Januar 1808 festgesetzt. Zeit genug für John MacArthur, um eine hieb- und stichfeste Verteidigung aufzubauen. Und er nahm sich vor, diesen Prozess als Plattform zu benutzen, ein für alle Mal mit Atkins und Bligh abzurechnen. In aller Öffentlichkeit!

25

»Beweg dich nicht von der Stelle! Du sollst ganz ruhig stehen bleiben. Aufrecht und steif wie eine Marmorstatue, Jessica!«, ermahnte Lydia sie streng, und die Nadeln, die sie im linken Mundwinkel festhielt, ließen sie dabei lispeln.

»Ich bin aber keine Statue!«, beklagte sich Jessica. »Mir ist heiß … Ich möchte wissen, wo Anne bloß mit dem Tee bleibt!«

»Nur noch einen Augenblick, dann bin ich fertig«, tröstete Lydia sie.

»Das sagst du schon seit einer halben Stunde!«

Lydia lachte. »Du bist ungeduldig wie ein kleines Kind. Das bin ich von dir ja gar nicht gewohnt.«