Für Ingo Schulze

Ich heiße Carolin und bin 34 Jahre alt. Nicht mehr jung und noch nicht alt. Mitten drin im Lebensfluss.

Ich weiß nicht, was ich mit meinem Leben machen soll. In mir ist nichts als große Leere. Ich bin unfähig mein Leben zu gestalten.

Meine Freundin Vera, die sich bereits vermehrt hat, sagt zu mir: „Hast es gut, hast so viel Zeit.“ Ja, Scheiße! Lieber hätte ich einen Stall voller Kinder, samt einem Kerl, der sie mit mir gemacht hat. Ist schon bescheuert: Ich will mich vermehren und finde keinen, mit dem ich’s tun kann; und Vera wollte gar keine Kinder, hat aber welche! Sie braucht nur ihre Unterhose an den Bettpfosten zu hängen und schon kriegt sie ‘nen dicken Bauch.

Bald werde ich 35. Und was is? Nix is! Noch nichts geschafft, noch nichts erlebt. Noch nicht einmal richtig geliebt. Meinen Job hab' ich geschmissen. Habe keine Lust mehr technische Zeichnungen anzufertigen. Ich ersticke in diesem Büro. Ich brauche Luft, ich brauche Licht, ich brauche Lebendigkeit! Doch wie soll ich nun Geld verdienen? Die Zeit verrinnt, ich muss eine Entscheidung treffen. Bis dahin gehe ich ins Puccini kellnern, um mich über Wasser zu halten.

„In einem Restaurant zu jobben ist unter deinem Niveau“, sagt mein Vater.

„Du mit deiner tollen Ausbildung...“, sagt meine Mutter. „Dieser Abstieg!“

Doch: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert!

Ich denke, als Hilfskellnerin Teller hin und her zu tragen, Getränke auszuschenken, Gäste zu bedienen, ist eine prima Möglichkeit, erst einmal zu mir selbst zu kommen. Und diese Reise wird noch dauern. Sie hat gerade erst begonnen. Das Ziel steht nicht fest.

„Nimm’ dir dafür ein Jahr Zeit“, empfahl mir meine Freundin Vera. „Ein Jahr, um herauszufinden, was Sache ist. Ein zweites Jahr, um zu prüfen, ob die Erkenntnis des ersten Jahres stimmig ist.“

Und genau das tue ich zur Zeit.

An einem Sonntag Abend im Puccini

„Schääätzchen, fängst du eine große Bier an, bitte?“ Gina (sprich: Dschiiina) rauscht an der Theke vorbei, balanciert einen Stoß Teller in die Küche. Dabei versäumt Gina es nicht, mir einen vielsagenden Blick zuzuwerfen und die Augen gen Himmel zu rollen. Ich muss grinsen. Greife mit der linken Hand nach einem der Gläser, die tropfnass auf der Spüle stehen. Meine Rechte zieht den Zapfhahn nach vorn, die goldgelbe Flüssigkeit strömt ins Glas. Ich stelle es beiseite, damit der Schaum sich setzen kann.

Biergläser trockne ich nie ab. Die sind sowieso nass, wenn sie dem Gast vor die Nase gestellt werden. Ist die Blume gelungen, tauche ich das Glas noch einmal in klares kaltes Wasser, lege ihm liebevoll die Papier-Rosette um den Hals, stelle es auf ein Tablett und schwuppdiwupp, wird es auch schon zum Gast getragen.

Gina, der eigentlich Adriano heißt, sich aber Gina rufen lässt, gesellt sich zu mir hinter den Tresen, nimmt einen Schluck Prosecco aus einem Wasserglas und lässt den Blick durch das Lokal streifen. Ich kümmere mich wieder um das Bier, das er angefordert hat. „Wer will das Bier?“, frage ich.

„Die fette Nutte da.“ Mit dem Kinn weist Gina zu Tisch 8.

Ich pruste los, das Bier schäumt über.

„Eh, que fatto!“, kreischt Gina und hüpft lachend zur Seite. Dabei zeigt er schiefe Zähne in einem wunderschönen Mund. Wenn er ihn geschlossen hält, erinnert sein Mund an ein Herz. Ein Herz aus vollen weichen Lippen. Ich stelle mir vor, wie er damit den Schwanz von Francesco bearbeitet. Dieser Gedanke macht mich nervös.

„Ciao, Francesco, möchtest du ein Glas Wasser?“

Francesco grinst mich an, wobei er seine Zungenspitze kurz, ganz kurz, an der Oberlippe aufblitzen lässt. „Si Bella, eine kleine Wasser, prego.“ Francesco trinkt in einem Zug, stößt ein behagliches „Aaah“ aus und stellt das Glas ab. Er legt seine behaarten Unterarme auf die Theke. „Come stai? Viele Arbeit?“, will er wissen, wobei er beim Wort „Arbeit“ die Silbe „beit“ betont.

Ich gieße sein Glas wieder voll. „Geht so“, sage ich und beobachte Gina, der auf seinen Geliebten zuschwebt, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Francesco fängt an zu erzählen. Ein Schwall italienischer Wörter prasselt auf Gina nieder. Seine Augenbrauen hebt er in die Höhe und ohne mit den Lidern zu zucken, schaut er seinen Liebsten an, nickt, um zuzustimmen oder stößt kleine Schreie des Entsetzens aus. Dabei schlägt er die Hand vor den Mund, die Augen kugelrund, die vollen Lippen zu einem kleinen o geformt.

Ich zapfe dem Bier eine weiße Krone aufs Haupt (das will gelernt sein) und trage es zu der fetten Nutte, die sich an Tisch 8 in eine Zeitschrift vertieft hat. Die fette Nutte heißt Anita und hat einen Bomben-Job bei McKinsey. Sie macht irgendwas im Management. Meine Eltern wären stolz auf sie. Anita kommt fast jeden Abend. Sitzt meistens allein. Guckt vor sich hin. Manchmal bringt sie Freunde mit, erfolgreiche Mittfünfziger in gehobenen Positionen. Klaus, dem das Puccini gehört, hat erzählt, dass Manfred zum Beispiel Vorstandsvorsitzender bei irgendeiner Bank sei und einen eigenen Fahrer hat. Jeden Morgen um sieben Uhr dreißig wird er mit einer gepanzerten Mercedes-Limousine von zu Hause abgeholt.

Ich bin immer noch auf dem Weg zu Anita, die auf ihr Bier wartet und, das Doppelkinn auf ihre Brust gesenkt, in der aktuellen Ausgabe von „Culinaria“ blättert. Ich stelle das Glas ab, sage „bittesehr“ und schenke ihr ein Lächeln. Sie lächelt zurück und bestellt, wie jeden Abend, gedünstetes Gemüse. Ohne den Brotkorb. Denn eine Scheibe Weißbrot hat immerhin 75 Kalorien, die sind auf den Sahnehüften gleich zu spüren. Aus Gehässigkeit stellt Gina ihr das frischgebackene duftende Brot immer auf den Tisch und tut dann so, als hätte er vergessen, dass Anita darauf verzichten möchte.