image

Roy Palmer

Das Duell auf Lobos Cay

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Pilar erwachte im Morgengrauen des 10. April 1594 und wälzte sich von seinem Lager. Er liebte es, unter freiem Himmel zu schlafen, und verachtete Betten, Kissen sowie eine sichere, solide Unterkunft samt allen anderen Symbolen einer annähernd normalen Existenz. Er war ein Galgenstrick, Schnapphahn, Schlagetot und Beutelschneider, ein erklärter Gegner der Rechtschaffenheit und Ehrbarkeit. Nie hätte er akzeptiert, sich seinen Lebensunterhalt auch nur durch eine leichte Arbeit zu verdienen. Lieber wäre er auf der Stelle verreckt.

Er setzte sich auf, rieb sich den Schlaf aus den Augen und ließ seinen Blick wandern – in den ersten grauen Schleiern des Tages, der allmählich im Osten aus der See aufstieg, über die rauschende Brandung, den weißen Sandstrand und die Stämme der Kokospalmen bis hin zu den schnarchenden Gestalten. Halb nackt lagen sie auf ihren Mattenlagern, einige lang ausgestreckt, andere wieder verkrümmt in grotesker Haltung. Nur wenige hatten sich in die primitiven Schutzhütten verzogen, die sie hier als ihre Quartiere errichtet hatten.

Wenn es allzu heftig regnete oder ein Sturm über die Insel toste, verzogen sich die Kerle ins Innere und suchten in der einzigen Höhle Zuflucht. Sonst hatten sie nur eine Sorge: daß kein Wetter die beiden Schaluppen zerschlug, deren sie sich bedienten, und daß das Pulver für die Schußwaffen trocken blieb.

Pilar erhob sich und ging zum Strand. Er entledigte sich seiner Hose, ließ sie achtlos auf den Sand fallen, war mit wenigen Sätzen mitten in der Brandung und genoß es, von den schäumenden Fluten umspült zu werden. Er watete in tieferes Wasser. Sanft fiel der Grund ab, stieg wieder zu einer ausgedehnten Sandbank an und wurde danach erneut abschüssig. Pilar tauchte ganz unter, sprang auf, schüttelte sich ein wenig und begann zu schwimmen.

Er schwamm bis zu der kleinen Korallenbank, die dem nördlichen Ufer der Insel vorgelagert war. Ständig hielt er nach Haien Ausschau. Sie konnten zu jeder Zeit an jeder Stelle auftauchen, aber er hatte doch ihr Verhalten einigermaßen kennengelernt. Um diese Stunde trieben sich hier höchst selten die großen, blutrünstigen Exemplare herum. Nur deshalb wagte Pilar, ohne jegliche Waffe zu dem Riff zu schwimmen. Trotzdem blieb sein Unternehmen ein waghalsiges Abenteuer. Es war Mutprobe und Herausforderung zugleich. Fast jeden Morgen setzte er auf diese Weise sein Leben aufs Spiel.

Mit dem Tod Auge in Auge mußte ein Mann wie er ohnehin ständig leben. Pilar hatte sich daran gewöhnt und wollte „nicht aus der Übung kommen“. Eine eigentümliche Art von Lebensphilosophie hatte er sich zurechtgelegt, die nur einem niedrigen, von Grausamkeit und Skrupellosigkeit geprägten Naturell wie dem seinen entspringen konnte.

Am Riff angelangt, hielt er sich an einem eigenwillig geformten Zacken fest und kletterte ein Stück an ihm hoch. Routinemäßig suchte er ringsum den Horizont ab.

Heller war es geworden. Im Osten schickte sich der Sonnenball an, aus der See zu tauchen. Die Kimm war leer, verlassen, keine Mastspitzen zeigten sich. Kein Schiff näherte sich Lobos Cay. Wahrscheinlich würde es wieder ein ruhiger Tag werden.

Allzu ruhig – die Kerle hatten seit drei Wochen keinen Gegner gesehen. Es juckte ihnen in den Fingern, die Langeweile plagte sie. Sie wollten endlich wieder ein Schiff aufbringen und entern und es „ausnehmen von den Masttoppen bis zum Kielschwein“, wie sie das nannten. Das lange Warten ließ eine gereizte Stimmung aufkommen.

Pilar blickte eine Weile blinzelnd in das zunehmende Sonnenlicht. Dann, als es zu stark wurde, wandte er sich ab, ließ sich wieder ins Wasser gleiten und kehrte an Land zurück. Er trat auf den Strand und blickte zu den Kerlen. Sie schliefen immer noch. In einer Mischung aus Spott und Verachtung verzogen sich seine Lippen zu einem Grinsen.

Pilar war ein hochgewachsener, hagerer, sehniger Mann voll unterschwelliger, versteckter Kraft. Sein Gesicht war schmal, sonnengegerbt und von Furchen geprägt, die Geschichten zu erzählen schienen. Ein Schnauzbart, ebenso struppig wie sein Haupthaar, hing sichelförmig über die Mundwinkel nach unten. Er hatte lange Arme und knochige Hände, die außergewöhnlich hart zupacken konnten, wenn es galt, einen Gegner zu überwältigen und zu besiegen.

Er trat zwischen seine Männer. Manch einer war größer und breiter als er, viele muskulöser. Aber keiner hatte die Energie und Ausdauer, die Zähigkeit und die Willenskraft eines Pilar. Dies hatte ihn zum Anführer der zweiundzwanzigköpfigen Meute werden lassen.

Am Vorabend hatten die Kerle kräftig getrunken. Das hatte Folgen. Nicht einmal Kanonendonner würde sie wecken, dachte Pilar. Er ahnte nicht, daß sich seine Vermutung bestätigen sollte.

Zubiga, der Portugiese, lag auf dem Rücken und hatte die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sein Mund war halb geöffnet, im Schlaf murmelte er fast ununterbrochen die übelsten Flüche. Pilar ging an ihm vorbei. Er überlegte, was Zubiga allein mit dem Haufen wilder Kerle anfangen würde. Würde er sich gegen sie behaupten können?

Zubiga war ein Küstenschnapphahn der hartgesottenen Sorte – der stärkste der Meute, der beste Kämpfer. Aber es mangelte ihm am nötigen Verstand. Pilar hatte ihn zu seinem Unterführer ernannt, aber er wußte, daß Zubiga scheitern würde, wenn er ihm die Bande auch nur für ein paar Tage überließ.

Unabkömmlich war Pilar deswegen in dem Schlupfwinkel. Nie konnte er sich erlauben, allein loszusegeln und irgendwelche Raids auszukundschaften – was ihm sehr gelegen hätte. Er war dazu verdammt, auf Lobos Cay auszuhalten, denn sonst gärten Unmut und Rivalität unter seinen Männern. Schnell waren sie mit dem Messer bei der Hand und trugen Streitigkeiten blutig aus. Handgreiflichkeiten, Mord und Totschlag, Meuterei und Rebellion waren die Folgen.

Immer mußte Pilar über sie wachen und Auseinandersetzungen schlichten. Oft griff er hart durch und statuierte ein Exempel, wenn es nicht anders ging. Er wußte, daß er seine Autorität nicht untergraben lassen durfte. Zubiga war dazu nicht fähig.

Diese besondere Situation zwang die Piraten, zwischen ihren Unternehmungen lange Wartezeiten einzulegen. Sie waren auf die Schiffe angewiesen, die Lobos Cay passierten. Von sich aus konnten sie keine Schiffe aufbringen, Handelsfahrer beispielsweise, die oftmals Zuflucht vor einem Sturm suchten und geschützte Buchten auf den vielen Inseln anliefen, die der nördlichen Küste von Kuba vorgelagert waren.

Hinzu kam, daß viele „fette Brocken“, wie es in ihrem Jargon hieß, anderen Schnapphähnen in die Hände fielen, die wie sie ständig auf der Lauer lagen. Groß war die Zahl der Freibeuter in der Karibik, und viele hatten sich Kuba als Jagdgebiet ausgesucht – Catalina beispielsweise, ein höchst gefährlicher Galgenstrick, der zuletzt Havanna überfallen haben sollte. Pilar hatte davon vernommen, aber er wußte nicht, daß Catalina tot war.

Große Piraten wie die Black Queen und Caligula, die schon fast eine Legende waren, hatten Kerlen wie Pilar und Zubiga samt Kumpanen einiges voraus. Sie hatten die besseren Schiffe – die Queen einen Zweidecker namens „Caribian Queen“, vor dem auch die mutigsten Kerle zitterten, wenn sie ihn nur aus der Ferne sahen. Catalina sollte mehr als zwanzig gut ausgerüstete Schaluppen sein eigen nennen. Und auch die Bewaffnung solcher Banden sowie die Armierung ihrer Segler war dem überlegen, was Pilars Horde ihr „Arsenal“ nannte.

Zehn veraltete Arkebusen mit Luntenschloß – Hakenbüchsen, wie sie auch als Handfeuerwaffen an Bord von Galeonen kaum noch verwendet wurden –, sechs nur zum Teil gut erhaltene Musketen, vier Blunderbüchsen mit trichterförmig erweiterten Mündungen, ein Dutzend Pistolen verschiedenster Herkunft und Fertigung – Stein-, Rad-, Schnapphahn- und Miqueletschloß-Modelle –, Schiffshauer, Entermesser, Säbel, zwei Degenbrecher und eine Handvoll Messer sowie zwei angerostete Drehbassen, die auf drehbaren Gabellafetten an Bord der Schaluppen montiert werden konnten: das war alles, was sie zu bieten hatten. Und wo es an Munition mangelte, versuchten sie, das Manko durch ihr tollkühnes Draufgängertum auszugleichen.

Auch die beiden einmastigen Schaluppen, über die sie verfügten, waren schon ziemlich alt und zogen hin und wieder Wasser. Mehr schlecht als recht betrieb die Bande also die Küsten-Piraterie, mehr im kleinen als im großen Stil und eher als Hungerleider – und damit standen die Kerle viele Stufen tiefer als ein Catalina, eine Black Queen oder ein Mardengo, von dessen wüsten Beutezügen an Floridas Küsten man auch hier gehört hatte.

Pilar schritt an den Schutzhütten vorbei, erreichte den Saum des Dschungels und lehnte sich mit dem Rücken gegen den knorrigen Stamm eines Mangrovenbaumes. Er überlegte – wie in der letzten Zeit oft –, ob er die Meute einfach im Stich lassen und zum Teufel schicken sollte. Er fühlte sich zu Größerem berufen, aber mit solchen Kerlen wie diesen vermochte er sich nicht so zu bewegen, wie es ihm in seinen kühnsten Träumen vorschwebte.

Eine verluderte Gesellschaft, zu faul selbst zum Pönen und Kalfatern der Boote, aber großmäulig und ständig darauf aus, doch einmal den „ganz großen Coup“ zu landen – das war sie, die glorreiche Bande. Sie bestand aus menschlichem Strandgut gemischter Nationalitäten und verschiedener Rassen, darunter auch ein paar Mulatten und Mestizen.

Da war beispielsweise Cavenago, der Kreole, oder Anibal, der riesige Mulatte. Garaudy, der Franzose, Bollerup, der Holländer, und Franz Josef, der nach seinen eigenen Worten aus einem deutschen Land stammte, in dem es kein Meer, nur ein paar Flüsse gab – Kerle waren das, die Bier, Wein und Rum gallonenweise tranken und wie besessen in den Häfen herumhurten, wenn sich die Gelegenheit dazu einmal ergab.

In der letzten Zeit mangelte es jedoch erheblich an den Gelegenheiten. Denn für große Saufgelage und für die Huren in den Hafenkneipen von Kuba brauchte man harte Gold- und Silbermünzen. Pilar und seine Horde hatten die letzten Silberlinge fast aufgebraucht. Sie mußten kurztreten und konnten Lobos Cay, das Eiland nördlich der Islas de Camagüey, vorläufig nicht verlassen.

Aber Pilar hatte sich vorgenommen, daß dies anders werden sollte. Ob mit oder ohne Bande – er würde den großen Schlag unternehmen und reich werden. Dann hatte das Elendsdasein ein Ende.

Pilar war stolz auf sich selbst, weil er sich für einen Nachfahren des Diego Velasquez hielt, jenes spanischen Eroberers, der 1515 an der Bucht von Matamano auf Kuba den ersten Hafen gegründet hatte. Pilar behauptete allen Ernstes, ein Enkel des Velasquez zu sein. Genau nachprüfen ließ sich das nicht. Nur eins war sicher: War sein „Großvater“ noch Sargento gewesen, so brachte es sein Vater nur bis zum versoffenen Kneipengehilfen in Havanna. Und Pilar selbst war schon in jungen Jahren diesseits der Gesellschaft zwischen Tagedieben, Lumpenpack und schließlich Küstenhaien gelandet, wo ihm ein gewisses Quantum Verschlagenheit, gepaart mit skrupellosem Durchsetzungsvermögen, zur Führerrolle verholfen hatte.

Pilar wollte das Inselinnere aufsuchen, um seine Schlingen und Fallen zu kontrollieren, mit denen er kleine Tiere fing. Das Essen war knapp auf Lobos Cay. Auch der Fisch, den sie täglich fingen, reichte oft nicht aus, um zweiundzwanzig Mägen zu stopfen. So waren sie oft auf die Kokosnüsse angewiesen, die ihnen allen schon seit einiger Zeit zum Hals heraushingen. Pilar versuchte, durch die Jagd für mehr Reichhaltigkeit im Proviant zu sorgen, aber immer gelang ihm das nicht.

Gerade wollte er sich abwenden, da registrierte er in der Ferne, an der nordwestlichen Kimm, eine schwache Bewegung. Er glaubte sich zu täuschen, trat aber doch unter das Dach und holte sich einen der drei Messingkieker, die zur „Ausrüstung“ gehörten.

Er zog ihn auseinander, eilte zum Strand und hob ihn ans Auge. Jetzt vermochte er mehr zu erkennen: Mastspitzen, die sich Lobos Cay zu nähern schienen. Bald entpuppten sie sich als die drei Toppen einer Karavelle.

Pilar stieß einen leisen Pfiff aus. Er wollte seine Kerle alarmieren, aber etwas irritierte ihn. Um welche Art von Karavelle handelte es sich? Doch wohl um keinen harmlosen Handelsfahrer – nein, ausgeschlossen. Nach und nach konnte Pilar mehr Einzelheiten erkennen und stellte fest, daß es sich um eine Kriegskaravelle mit offenbar guter Armierung handelte.

Ein harter Brocken, aber es lohnte sich trotzdem, sie anzugreifen. Als Prise stellte sie einen guten Fang dar, denn künftige Raids konnte Pilar mit solch einem Schiff leichter durchführen als mit den beiden Schaluppen. Er würde seine Taktik ändern und spanischen Silbergaleonen richtige Gefechte liefern, statt sie wie bisher in tollkühnen Entermanövern nach der Art aller Karibik-Schnapphähne anzugreifen.

Dies malte Pilar sich bereits aus, wobei er hoffte, die Karavelle auf eins der Riffe oder auf eine Untiefe von Lobos Cay locken zu können. Anders konnte er sie nicht kapern, und es war immer noch besser, den Dreimaster später wieder reparieren zu müssen, als bei dem ersten Annäherungsversuch von dem Capitán und dessen Mannschaft zusammengeschossen und zu den Haien geschickt zu werden.

Plötzlich bemerkte Pilar, daß sich von der anderen Seite – von Nordosten also – ein zweiter Segler näherte. Er richtete den Kieker dorthin und stellte fest, daß es sich ebenfalls um einen Dreimaster handelte, allerdings um einen bedeutend größeren. Donnerwetter, dachte er unwillkürlich, was für ein Schiff!

Über dreihundert Tonnen war dieses Schiff groß, und es konnte nicht sehr alt sein, was sich aus der Bauart leicht schließen ließ: hohe Masten, lange Rahrute, niedrige Aufbauten. Eine Galeone fortschrittlicher Konstruktionsweise, schnell, wendig und gut bestückt, hervorragend in Schuß und mit einem tadellosen Rigg versehen.

Beide Segler schienen aufeinander zuzuhalten. Erst überhaupt kein Schiff und dann gleich zwei auf einmal, dachte Pilar, kaum zu fassen. Daß es sich bei der Kriegskaravelle um einen Spanier handelte, konnte er inzwischen an der Flagge erkennen. Doch es blieb ungeklärt, welcher Nationalität die große Galeone war. Sie führte keinerlei Beflaggung.

Pilar lief zu Zubiga und weckte ihn mit einem Tritt in die Seite.

„Komm hoch und sieh dir das an!“ blaffte er.

Verwirrt fuhr Zubiga hoch, knotete sich den Strick um den Bauch zusammen, der ihm als Gürtel diente, und eilte zu seinem Anführer, der sich inzwischen vollständig angekleidet hatte. Gemeinsam spähten sie zu den Schiffen. Ihre Spannung wuchs. Nach wie vor hielten die Galeone und die Karavelle aufeinander zu, die Distanz schrumpfte immer mehr zusammen. Doch es schien sich um keine Begegnung freundschaftlicher Art zu handeln.