Cressida Cowell

WILDERWALD

Die Rückkehr der dunklen Magie

Aus dem Englischen
von Karlheinz Dürr

Mit Illustrationen
von Clara Vath

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Cressida Cowell
verbrachte ihre Kindheit in London sowie auf einer Insel an der schottischen Westküste. Ihre Kinderbuchreihe »Drachenzähmen leicht gemacht« wurde schnell zu einem internationalen Bestseller und erzielte als Kinofilm und Fernsehserie von DreamWorks Animation große Erfolge. Sie lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und einem Hund im englischen Hammersmith.

Clara Vath
liebte es schon als Kind, bunten und verrückten Fantasiewesen eine Gestalt zu geben. Dass ihr dabei auch das ein oder andere magische Wesen begegnet ist, kam ihr bei der Arbeit an »Wilderwald« sehr gelegen. Seit 2012 arbeitet sie als freie Illustratorin für verschiedene Unternehmen.

 

»Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Märchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Märchen vor.«

– Albert Einstein

Dieses Buch ist meinem Sohn Xanny gewidmet, einem Helden, dessen Name mit einem »X« beginnt (oder auch nicht).

Die Originalausgabe erschien erstmals 2017 unter dem Titel »The Wizards of Once« bei Hodder Children’s Books, London. © 2017 by Cressida Cowell

2. geänderte Auflage 2019
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Dieses E-Book ist 2018 bereits in anderer Ausstattung im Verlag erschienen.
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Einband, Satz und Illustration: Clara Vath
Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH

E-Book ISBN 978-3-401-80856-7

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PROLOG

Einst gab es Magie.

Das war vor langer, langer Zeit, in den dunklen Wäldern der Britischen Inseln. Es ist so lange her, dass die Britischen Inseln damals noch gar nicht wussten, dass sie eines Tages die »Britischen Inseln« genannt werden würden. Damals wurden sie manchmal »Albion« genannt.

Nun denkst du vielleicht, du wüsstest, wie so ein dunkler Wald aussieht, aber glaube mir: Du hast keine Ahnung. Denn in jener Zeit waren die dunklen Wälder viel dunkler, als du es jemals für möglich halten würdest, dunkler als ein schwarzer Tintenklecks, dunkler als ein sternenloser Nachthimmel, sogar noch dunkler als das Weltall und sie waren verworren und überwuchert wie das Herz einer Hexe. Sie waren das, was man heute Urwald nennen würde, was damals aber »Wilderwald« hieß, und dieser Wilderwald erstreckte sich weiter in alle Himmelsrichtungen, als du dir vorstellen kannst, und hörte erst dort auf, wo er an ein Meer stieß.

In diesem Wilderwald lebten verschiedene Arten von Menschen. Die Zauberer, die selbst Zauberwesen waren. Und die Krieger, die es nicht waren.

Die Zauberer lebten schon länger als Menschengedenken im Wilderwald. Und dort wollten sie auch weiterhin leben, zusammen mit den anderen magischen Wesen.

Bis die Krieger kamen. Sie kamen über die Meere und fielen in das Land ein; sie besaßen zwar keine magischen Kräfte, aber sie brachten eine neue Waffe mit, die sie »EISEN« nannten. Und Eisen war das Einzige, wogegen alle Zauberkunst der Welt nichts ausrichten konnte.

Die Krieger hatten eiserne Schwerter, eiserne Schilde und eiserne Rüstungen und gegen dieses Metall war selbst die furchtbare Magie der Hexen machtlos.

Zuerst kämpften die Krieger gegen die Hexen in einer langen, grausamen Schlacht, bis es keine einzige Hexe mehr gab.

Niemand weinte den Hexen auch nur eine einzige Träne nach, denn Hexen beherrschten dunkle Magie, die schlimmste Art von Zauber, die es gab. Dunkle Magie konnte die Welt vernichten und alles, was auf ihr lebte.

Aber die Krieger gaben sich damit nicht zufrieden. Sie glaubten, weil ein Teil der Magie böse war, sei JEDE Art von Magie böse.

Deshalb versuchten die Krieger, auch die Zauberer zu vernichten und mit ihnen die Oger und Werwölfe und das ganze Gesindel boshafter Kobolde und guter Elfen, die im Dunkeln wie kleine Sterne leuchteten und sich ständig stritten und mit hinterhältigen Zaubersprüchen bewarfen, und die Riesen, die langsam und vorsichtig durch die Wälder tappten, größer als Mammuts, aber friedlicher als schlafende Säuglinge.

Die Krieger hatten sich geschworen, keine Ruhe zu geben, bis sie DAS LETZTE BISSCHEN MAGIE im gesamten dunklen Wilderwald ausgerottet hatten. Und sie gingen dabei sehr gründlich vor: Mit ihren großen eisernen Äxten fällten sie viele der wunderbaren Bäume des Wilderwaldes, so schnell sie nur konnten, und mit den Stämmen bauten sie ihre Festungen und ihre Städte und ihre neue, moderne Welt.

Dies ist die Geschichte eines Zaubererjungen und eines Kriegermädchens. Seit ihrer Geburt hatte man ihnen eingetrichtert, einander so sehr zu hassen, wie sich zwei Wesen überhaupt hassen konnten.

Die Geschichte beginnt mit der Entdeckung EINER GIGANTISCHEN SCHWARZEN FEDER.

Konnte es sein, dass die Zauberer und die Krieger so sehr damit beschäftigt waren, gegeneinander zu kämpfen, dass sie nicht die Rückkehr eines uralten Bösen bemerkt hatten?

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Ich bin eine Figur dieser Geschichte,
die alles sieht und alles weiß.
Ich verrate dir nicht, wer ich bin.
Aber vielleicht kannst du es erraten.

Hier beginnt die Geschichte.
(Verirre dich nicht! Diese Wälder sind GEFÄHRLICH.)

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1.
DIE HEXENFALLE

Die Nacht war warm für November und viel zu warm für Hexen, wie es in den alten Legenden hieß. Hexen galten eigentlich als ausgestorben, aber Xar hatte gehört, dass Hexen stanken – und jetzt, hier, mitten im stillen Wilderwald, bildete er sich plötzlich ein, diesen Gestank riechen zu können. Es war der schwache, aber unverkennbare Gestank von versengtem Haar, vermischt mit verwesenden Mäusen und einem oder zwei Tropfen Viperngift – ein so ekelhafter, widerlicher Gestank, dass man ihn nur ein einziges Mal riechen musste, um ihn nie wieder vergessen zu können.

Xar war ein junger, wilder Zauberer, der auf dem Rücken eines gigantischen Schneeluchses ritt. Sie streiften durch einen Teil des Wilderwaldes, der noch dunkler und dichter und verwilderter war als der Rest des Waldes, sodass man diesem Teil einen eigenen Namen gegeben hatte: »Grimmwald«. Xar hätte gar nicht in diesem Teil des Waldes sein dürfen, denn der Grimmwald gehörte zum Reich der Krieger, und wenn ihn die Krieger zu fassen bekämen, dann, so behaupteten alle, würden sie ihn auf der Stelle töten. Ab mit dem Kopf! Und das war noch eine der netteren Hinrichtungsarten, die die Krieger bei solchen Gelegenheiten anwandten.

Aber Xar sah nicht so aus, als würde er sich darüber irgendwelche Sorgen machen. Er war ein fröhlicher und etwas zerlumpter Junge, mit Haaren, die aussahen, als seien sie in einen Wirbelsturm geraten.

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Sein Reittier, der Schneeluchs, hörte auf den Namen Lynx – ein wahrhaft königliches Tier, viel zu edel für seinen frechen Herrn und Reiter.

Lynx hatte glänzende Pfoten, so rund, dass sie unecht aussahen. Sein Fell war so dick und weich, dass es sich wie Pulverschnee anfühlte, und so wunderbar silbergrau, dass es fast blau schimmerte. Der Schneeluchs lief schnell, aber fast geräuschlos durch den Wald, wobei seine Ohren mit den schwarzen Spitzen ständig aufmerksam hin und her zuckten – denn eigentlich hatte er Angst, war aber zu stolz, um sich etwas anmerken zu lassen.

Heute Morgen erst hatte Xars Vater – Encanzo der Magier, König der Zauberer – den ganzen Stamm noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es allen Zauberern strengstens untersagt war, auch nur einen Fuß in das Gebiet der Krieger zu setzen.

Aber Xar war nun einmal der unfolgsamste Junge, der in den letzten vier Generationen im Königreich der Zauberer gelebt hatte, und alles, was verboten war, reizte ihn nur noch mehr.

Zum Beispiel hatte Xar gerade erst letzte Woche die Bartenden von zwei der ältesten und angesehensten Zauberer miteinander verknotet, als sie bei einem Bankett eingeschlafen waren. Er hatte einen Liebestrank in den Futtertrog der Schweine geschüttet, sodass sich die Schweine leidenschaftlich in Xars absoluten Un-Lieblingslehrer verknallt hatten und ihm auf Schritt und Tritt gefolgt waren, wobei sie ständig hingerissen quiekten und schmatzende Kussgeräusche von sich gaben. Außerdem hatte Xar sämtliche Bäume im Westteil des Zaubererlagers abgefackelt.

Man muss allerdings sagen, dass ihm die meisten dieser Zwischenfälle eigentlich nicht völlig absichtlich unterlaufen waren. Es gab eben immer wieder Augenblicke, in denen sich Xar einfach ein wenig mitreißen ließ.

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Aber keine dieser Unfolgsamkeiten war auch nur halb so schlimm wie das, was Xar in diesem Augenblick tat.

Über seinem Kopf flatterte ein großer schwarzer Rabe.

»Das ist eine ganz schlechte Idee, Xar«, sagte der Rabe. Der Vogel hörte auf den Namen Kaliburn. Er hätte eigentlich ein sehr hübsches Tier sein können, wenn es nicht sein Job gewesen wäre, auf Xar aufzupassen. Das war eine derart unmögliche Aufgabe, dass ihm vor Sorgen ständig die Federn ausfielen. »Es ist sehr unfair, deine Tiere und Elfen und Haar-Feen und die anderen jungen Zauberer in solche Gefahr zu bringen …«

Als Sohn des Königs der Magier hatte Xar eine Menge Gefährten, aber auch, weil er selbst sehr beliebt war. Zu seinem Gefolge gehörten ein fünfköpfiges Wolfsrudel, sein Reitluchs und zwei weitere Schneekatzen, ein Bär, acht Elfen und Haar-Feen, ein riesiger Riese namens Quetscher und eine Bande anderer junger Zauberer. Sie alle waren Xar in den Grimmwald gefolgt, als seien sie von ihm hypnotisiert worden; alle zitterten vor Angst, taten aber so, als seien sie vollkommen furchtlos.

»Ach, du machst dir zu viele Sorgen, Kaliburn«, sagte Xar, zog den Luchs leicht am Nackenfell, damit er anhielt, und sprang ab. »Schau dir doch nur mal diese wunderhübsche kleine Lichtung an … TOTAL SICHER, genauso sicher wie der ganze Wald.«

Xar schaute sich mit höchst zufriedener Miene um, als stünde er mitten in einem lauschigen Tälchen mit saftigem grünem Gras, auf dem Kaninchen herumtollten und Rehkitze ästen … und nicht auf einer kalten, unheimlichen kleinen Lichtung, über die sich düstere Eiben drohend neigten und Misteln wie Tränen eines Hexenmeisters von den Bäumen hingen.

Die anderen Jungzauberer zückten die Schwerter; die Schneekatzen fauchten und ihr Fell sträubte sich voller Angst so sehr, dass sie wie flauschige Pelzbälle aussahen. Die Wölfe liefen ruhelos umher und versuchten, einen Schutzring um ihre Menschen zu bilden.

Lediglich die kleinen Elfen waren von diesem Ort genauso begeistert wie Xar, aber nur, weil sie noch sehr jung und unerfahren waren.

Ich weiß nicht, ob du schon jemals einen Elfen gesehen hast, aber falls nicht, wird es wohl besser sein, wenn ich dir diese Wesen kurz beschreibe.

Xar hatte fünf größere Elfen bei sich.

Alle sahen ungefähr so aus wie sehr kleine Menschen, gekreuzt mit einem wilden, aber eleganten Insekt. Waren sie gereizt oder gelangweilt (was ziemlich oft vorkam), blinkten sie wie Sterne – an, aus, an, aus – und lila Rauch kräuselte sich aus ihren spitzen Ohren. Sie waren halb durchsichtig, sodass man ihre Herzen schlagen sehen konnte.

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Außerdem wurde Xar von drei kleineren Elfen begleitet; weil sie noch nicht erwachsen waren und noch ihren Babyflaum hatten, wurden diese kleinen feenartigen Wesen auch »Haar-Feen« genannt. Eine Haar-Fee mochte Xar besonders gern, ein eifriges, aber leider auch ein bisschen einfältiges Wesen namens Flatterkopf.

»Oh, sooo schööön!«, quiekte Flatterkopf begeistert. »Hab noch nie so eine zauberlichste allerhübscheste Lichtung gesehen! Was ist das für ein faszitastisches Blümchen? Lass mich raten! Ein Buttermilchblümchen? Oder ein Gänsezähnchen? Oder doch vielleicht ein Löwenglöckchen? Nein, warte, warte … es ist ein … Blumenkohlröschen!«

Flatterkopf flog auf die oberen Äste eines besonders düsteren und drohend aufragenden Baums und setzte sich auf den Rand einer der großen, fleischigen Blüten, die überall auf seinen Zweigen lauerten. Die Spitzen der äußeren Blütenblätter waren mit zahlreichen seltsamen, zahnartigen Zacken bestückt. Der Baum mit diesen seltsamen Blüten wurde Feenfressende Koboldfalle genannt. Und schon schnappte die Koboldfalle zu, schneller als eine Mausefalle zuschnappen konnte, und der arme kleine Flatterkopf war darin gefangen.

Kaliburn landete auf Xars Schulter und seufzte tief.

»Ich sage nicht gerne ›Ich hab’s dir ja gesagt‹«, krächzte Kaliburn. »Aber wir sind noch nicht mal eineinhalb Minuten auf dieser angeblich so harmlosen Lichtung und schon hat dir eine fleischfressende Pflanze einen deiner Gefährten weggefressen.«

»Unsinn«, schimpfte Xar ihn gutmütig aus. »Er wurde mir nicht weggefressen. Weißt du denn nicht, was einen guten Anführer ausmacht? Wenn einer aus meinem Gefolge in Schwierigkeiten gerät, rette ich ihn, denn genau das muss ein guter Anführer tun.«

Xar kletterte hoch hinauf auf den Baum, bis die oberen, viel dünneren Äste gefährlich zu schwanken begannen. Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und sprengte damit die Feenfressende Blüte wie eine Auster auf. Der kleine Flatterkopf flog blitzschnell heraus und schnappte nach Luft.

»Mir geht’s gut!«, quiekte Flatterkopf. »Mir geht’s gut! Kann mein linkes Bein nicht fühlen, aber mir geht’s gut!«

»Keine Angst, Flatterkopf! Das ist nur der Verdauungssaft der Koboldfalle – in ein paar Stunden spürst du dein Bein wieder«, rief Xar, als er vom Baum herabsprang. »Siehst du, was für ein großartiger Anführer ich bin? Bleibt bei mir, dann passiert euch nichts.«

Die jüngeren Zauberer schauten ihn sehr nachdenklich an.

In diesem Moment tauchte Xars älterer Bruder Robb aus dem Dickicht hinter ihnen auf. Er ritt auf einem großen grauen Wolf und wurde von noch mehr Elfen und Tieren und Jungzauberern begleitet als Xar selbst.

Xar erstarrte förmlich, denn er hasste seinen älteren Bruder Robb.

Robb war viel größer als Xar. Er war schon fast so groß wie sein Vater, war ein hervorragender Zauberer, sah sehr gut aus und war clever – und das wusste er auch. Meine Güte, war der Junge eingebildet! Er war der eingebildetste und streberhafteste Zauberer, den man sich vorstellen konnte, und er schnüffelte ständig hinter Xar her und verpetzte ihn, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen.

»Was hast du hier zu suchen, Robb?«, fragte Xar wütend und misstrauisch.

»Ach, ich bin dir nur gefolgt, weil ich sehen wollte, was für eine unglaublich blöde und hirnlose Sache dieser Rotzbengel von einem kleinen Bruder dieses Mal wieder anstellt!«, erklärte Robb lässig.

»Grandiose Anführer wie ich gehen nicht auf hirnlose Expeditionen!«, fauchte Xar. »Wir haben einen guten GRUND hierherzukommen. Geht dich zwar nichts an, aber …«

Xar überlegte, ob er Robb irgendeine Lüge erzählen sollte, über das, was er hier tat – aber er konnte einfach nicht widerstehen, ein bisschen anzugeben.

»… wir wollen nur mal schnell eine Hexe fangen«, prahlte Xar stolz.

Ach du dreimal rasiertes Warzenschwein …

Denn das war das erste Mal, dass Xar den wahren Grund der Expedition in den verbotenen Grimmwald laut aussprach und ihn somit auch seinen Gefährten verriet. Und für die war das alles andere als eine erfreuliche Nachricht!

Eine HEXE! Fangen!

Der Bär, die Schneekatzen und die Wölfe wurden plötzlich ganz still und begannen zu zittern. Und sogar Ariel, der wildeste und furchtloseste von Xars Elfentrupp, schoss hoch in die Luft und wurde unsichtbar.

»In diesem Revier des Grimmwaldes gibt’s nämlich Hexen«, flüsterte Xar aufgeregt, als sei eine Hexe so etwas wie ein liebes, possierliches Tierchen, das er ohne Probleme fangen und verschenken konnte.

Danach herrschte erst einmal Totenstille – bis Robb und seine Zaubererkumpels zu lachen anfingen. Sie lachten und lachten und wollten nicht mehr aufhören zu lachen.

»Ach, komm schon, Xar«, stieß Robb prustend hervor, als er wieder genug Luft bekam, »selbst du müsstest eigentlich wissen, dass die Hexen schon seit Jahrhunderten ausgestorben sind …«

»Klar, das sagen alle«, meinte Xar verächtlich, »aber was ist, wenn ein paar überlebt und sich die ganze Zeit versteckt gehalten haben? Schau mal, hier! Das hab ich erst gestern gefunden, genau hier, auf dieser Lichtung!«

Er zog vorsichtig eine gigantische schwarze Feder aus dem Rucksack.

Und sie war tatsächlich gigantisch: wie eine Krähenfeder, aber viel, viel größer. Ihre Farbe war ein samtenes Schwarz, nur an den

Spitzen schillerte sie dunkelgrün, ungefähr so wie die Grünfärbung auf dem Kopf eines Erpels.

»Es ist eine Hexenfeder …«, flüsterte Xar.

Robb grinste sein überheblichstes Grinsen. »Ist doch nur die Feder von irgendeinem großen alten Vogel«, sagte er abwertend, »vielleicht von einer Riesenkrähe … im Grimmwald leben bekanntlich ziemlich seltsame Wesen …«

Xar runzelte die Stirn und hängte die Feder an seinen Gürtel. »Ich habe noch nie einen derart großen Vogel gesehen«, murmelte er mürrisch.

»Alles Quatsch«, grinste Robb. »Nur ein hirnloser Knallkopf wie du weiß so was nicht. Die Hexen wurden für immer und ewig ausgerottet …«

Kaliburn flatterte herab und landete auf Xars wildem Haarschopf.

»Für immer ist eine lange Zeit«, sagte der Rabe.

»Siehst du?«, rief Xar triumphierend. »Kaliburn ist ein Schicksalsvogel, er kann in die Zukunft und in die Vergangenheit schauen und er glaubt auch nicht, dass die Hexen für immer verschwunden sind.«

»Ich weiß nur eins: Wenn die Hexen aus irgendeinem Grund doch nicht ganz ausgestorben sein sollten, würdest du ganz bestimmt nicht einer Hexe in einem finsteren Wald über den Weg laufen wollen«, sagte Kaliburn zitternd. »Wozu brauchst du denn überhaupt eine Hexe, Xar?«

»Ich will eine Hexe fangen«, erklärte Xar wichtigtuerisch, »um ihr die magische Kraft wegzunehmen. Damit ich sie selbst benutzen kann.«

Daraufhin herrschte entsetztes Schweigen.

Schließlich fand Robb die Sprache wieder. »Das, kleiner Bruder«, sagte er langsam, »ist der dümmste Plan, seit die Menschheit angefangen hat, Pläne zu machen.«

»Du bist ja nur sauer, weil dieser Plan nicht DIR eingefallen ist«, sagte Xar verächtlich.

»Ich hätte da noch ein paar kleine Fragen«, sagte Robb ungerührt. »Erstens: Wie willst du die Hexe überhaupt einfangen?«

»Dafür hab ich dieses Netz mitgebracht«, erklärte Xar, zog ein Netz aus dem Rucksack und hielt es in die Höhe. Seine Begeisterung für den Plan war echt, keine Frage. »Einer von meinen Leuten meldet sich freiwillig und den piksen wir ganz, ganz leicht in den Finger. Ein Tropfen Blut reicht. Das Blut lockt dann die Hexe an …«

»Na super.« Robb lächelte. »Du willst also einen deiner armen Gefährten hier verwunden – ausgerechnet in einem Wald, in dem es von blutgierigen Ogerschnüfflern und sabbernden Werwölfen nur so wimmelt? Du bist doch total durchgeknallt – der Plan wird immer schlimmer …«

Xar hörte gar nicht zu. »Und wenn dann die Hexe angreift, werfen wir einfach das Netz über sie. Nächste Frage?«

»Okay. Frage Nummer zwei. Kein lebender Zauberer hat jemals eine Hexe zu sehen bekommen. Woher willst du also wissen, wie so eine Hexe aussieht?«

Xar öffnete erneut den Rucksack und nahm ein großes Buch heraus – so groß wie ein Weltatlas. Es trug den Titel »Buch der Zaubersprüche«.

Bei seiner Geburt erhält jeder Zauberer ein Exemplar des Buches. Xars Buch sah sehr zerfleddert aus. Ein Teil davon war sogar unsichtbar (das Buch war irgendwann einmal in einen Zaubertrank gefallen, der unsichtbar machte) und ein anderer Teil war so angekohlt, dass man auf diesen Seiten kaum etwas entziffern konnte (das passierte, als Xar versehentlich einen Teil des Magierlagers abgefackelt hatte). Und viele Blätter waren lose und flatterten heraus, sobald man das Buch aufschlug (das war so vielen Abenteuern zu verdanken, dass ich sie hier nicht aufzählen kann).

Xar schlug das Inhaltsverzeichnis auf, das aus den sechsundzwanzig Buchstaben des Alphabets bestand, die sehr groß und in goldener Schrift gedruckt waren. Xar buchstabierte das Wort »Hexen« und tippte dabei mit dem Finger auf die einzelnen Buchstaben. Mit einem lauten Rascheln blätterte das Buch seine Seiten um, was schier endlos dauerte. Die einzelnen Kapitel verschwanden, als das Buch immer schneller durch die Seiten blätterte, als sei es ein nicht endender Stapel Spielkarten, bis es schließlich auf der richtigen Seite zu blättern aufhörte.

»Das ist aber seltsam«, murmelte Xar. »Hier steht nicht, wie sie aussehen … aber sie sind grün … glaube ich …«

Jemand meinte, Hexen könnten sich unsichtbar machen und hätten kein Blut, sondern Säure in den Adern. Jemand anders glaubte, dass ihnen dieses Säureblut aus den Augen schießen könne.

»Jedenfalls bin ich sicher, dass wir eine Hexe erkennen würden, wenn wir sie erst mal zu sehen bekommen«, erklärte Xar selbstsicher und schlug das Buch ungeduldig zu. »Sie sollen doch ziemlich grausig aussehen, oder nicht?«

»Grauenhaft grausig«, sagte Kaliburn ernst. »Die absolut gruseligsten, entsetzlichsten Wesen, die jemals auf der Erde lebten …«

»Na schön. Und wenn du dann so eine Hexe gefangen genommen hast – wie willst du sie dazu bringen, dir ein bisschen was von ihren magischen Kräften abzugeben?«, wollte Robb wissen. »Denn ich denke mal, so eine unsichtbare, säureverspritzende Hexe, das gruseligste, entsetzlichste Wesen, das jemals die Erde bevölkerte, wird dir ihre Zauberkraft nicht einfach schenken, auch wenn du sie noch so lieb darum bittest.«

»Ah!«, erwiderte Xar. »Daran habe ich natürlich auch schon gedacht.«

Und mit weit ausholenden Bewegungen zog er ein Paar Handschuhe an, griff in den Rucksack und holte … eine kleine Bratpfanne heraus.

Wieder herrschte ringsum verblüfftes Schweigen.

»Dir … dir ist aber klar, dass das eine Bratpfanne ist?«, erkundigte sich Robb vorsichtig.

»Ja – aber keine gewöhnliche Bratpfanne«, sagte Xar mit listigem Grinsen.

Und dann holte er tief Luft, um eine wahrhaft schockierende Erklärung abzugeben.

»Diese besondere Bratpfanne besteht voll und ganz aus EISEN …«

Ringsum wichen die meisten Zauberer voller Entsetzen einen Schritt zurück. Die Elfen kreischten alarmiert auf. Nur Robb zeigte sich völlig unbeeindruckt.

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Er lachte sogar laut los, er lachte so sehr, dass Xar glaubte, er würde vor Lachen umfallen. »Das – HAHAHA – ist einfach zu gut … du willst also mit einer Bratpfanne gegen eine Hexe kämpfen?«, rief er verächtlich. »Du bist kein ›grandioser Anführer‹, Xar, sondern ein grandioser Lügner, ein kompletter Volltrottel und unser Vater schämt sich für dich … und mir wird jetzt plötzlich klar, warum du so scharf darauf bist, einer Hexe die Zauberkraft zu stehlen! Du willst am Zauberwettkampf teilnehmen, der bei der Winterfeier heute Abend stattfindet, stimmt’s? Obwohl DU doch gar nicht zaubern kannst …«

Robb drehte sich zu den anderen Zauberern um und sang höhnisch: »XAR KANN NICHT ZAUBERN, XAR KANN NICHT ZAU-BERN …«

Xar lief rot an vor Verlegenheit, dann wurde er weiß vor Wut.

Denn es stimmte. Es war so ziemlich das Peinlichste, was man sich vorstellen konnte, und natürlich wollte man auf keinen Fall, dass es jemand anders merkte. Denn die Kinder der Magier wurden nicht mit ihrer Zauberkraft geboren – ihre magische Kraft kam von selbst, wenn sie ungefähr zwölf Jahre alt waren. Aber Xar war schon dreizehn – und trotzdem hatte er noch keine Zauberkraft.

Natürlich hatte er zu zaubern versucht. Endlose Stunden hatte er damit verbracht … wirklich ganz einfache Sachen hatte er zaubern wollen, zum Beispiel Dinge einfach kraft seiner Gedanken zu bewegen. Aber das war ungefähr so, als würde er einen Muskel einsetzen wollen, den er gar nicht besaß. »Nimm’s locker«, rieten ihm alle. »Entspann dich, dann kommt es ganz von allein.« Aber es fühlte sich so an, als wollte er mit den Händen etwas bewegen, ohne auch nur Arme zu haben, von Händen ganz zu schweigen.

Doch in letzter Zeit machte sich Xar wirklich Sorgen. Was, wenn es NIEMALS passierte? Das wäre zwar höchst unwahrscheinlich, aber was für eine Schande wäre es für seine Familie, wenn ausgerechnet der König der Magier einen Sohn hätte, der KEIN FÜNKCHEN ZAUBERKRAFT BESAß!

Schon beim bloßen Gedanken daran drehte sich ihm fast der Magen um.

»Armer kleiner Xar«, spottete Robb grausam weiter. »Er glaubt, er sei schon ein großer Junge, aber er kann kein bisschen zaubern …«

»Meine Zauberkraft KOMMT noch!«, zischte Xar und starrte seinen Bruder wütend an, die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. »Aber ICH SCHWÖRE: Bevor es so weit ist, werde ich eine Hexe fangen und ich werde so viel Magie aus ihr herauspressen, dass ich dich bis ans Ende der Welt PUSTEN kann!«

»Ach wirklich?« Robb grinste. Er griff in seinen Rucksack und zog einen seiner Zauberstäbe heraus. Der Zauberstab eines Zauberers hatte ungefähr die Länge eines Spazierstocks für Zwerge; durch den Stab konnten die Zauberer ihre magische Kraft auf ein bestimmtes Ziel konzentrieren.

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»Deine Zauberkraft funktioniert bei mir nicht, solange ich EISEN bei mir habe!«, brüllte Xar und stürzte vor, um Robb die Bratpfanne auf den Kopf zu schlagen.

Das mit dem Eisen war vollkommen richtig. Nur stolperte Xar unglücklicherweise über eine lange Brombeerranke, wodurch ihm die Bratpfanne aus den Händen glitt, die immer noch in den Handschuhen steckten. Die Pfanne flog über Robbs Kopf hinweg und landete im Gestrüpp.

Robb richtete den Zauberstab auf Xar und flüsterte leise einen Zauberspruch. Robbs ganzer Körper bebte, als die magische Kraft durch seine Adern und in seine Hände fuhr, sich im Stab bündelte und mit einem heißen, feurigen Blitz aus der Stabspitze schoss. Der magische Kraftstoß traf Xar am Bein.

Xar erstarrte mitten in der Bewegung. Robbs Zauber hatte seine Füße praktisch auf den Waldboden genagelt.

»HA! HA! HA! HA! HA!«, röhrten Robbs Freunde vor Lachen.

»HEB DEN ZAUBER AUF!«, brüllte Xar wütend, während er versuchte, die Füße vom Boden zu heben, aber es war, als seien sie aus Blei.

»Nö. Keine Lust«, erwiderte Robb und lächelte fies.

Xar drehte fast durch vor Wut und Scham. Er schnippte mit den Fingern.

RAAAAAAAWRR!

Bevor auch nur irgendeiner reagieren konnte, stürzte sich Lynx mit einem gewaltigen Satz auf Robb, das riesige Maul weit aufgerissen, eine silbergraue Tötungsmaschine, schwerer als fünf prall gefüllte Getreidesäcke. Robb schrie vor Entsetzen. Die Katze drückte ihn gegen einen Baumstamm. In Todesangst starrte Robb in das riesige, weit aufgerissene Maul, das nur noch ein paar Fingerbreit von seinem Gesicht entfernt war, und spürte, wie sich die scharfen Krallen in seine Schulter gruben; es fühlte sich an, als würden vier scharfe Küchenmesser in sein Fleisch gestoßen. Etwas Warmes lief ihm über den Rücken: Blut.

Der Angriff war so schnell erfolgt, dass keinem von Robbs Begleitern, weder Elf noch Tier, Zeit geblieben war, ihn zu schützen.

»Ich brauche nur noch einmal mit den Fingern zu schnippen«, fauchte Xar, »dann reißt dir Lynx den Kopf ab.«

»Betrug!«, keuchte Robb. »Du bist ein Betrüger! Es ist nicht erlaubt, deine Tiere auf andere Zauberer zu hetzen!«

»HEB DEN ZAUBERSPRUCH AUF!«, brüllte Xar.

Robb war inzwischen genauso wütend wie Xar selbst. Aber was konnte er schon machen?

Er richtete seinen Stab auf Xar und hob den Zauber auf, sodass Xar seine Füße wieder bewegen konnte. Und Xar gab Lynx ein Zeichen, Robb loszulassen.

»Du bist irre, verrückt, durchgeknallt!«, tobte Robb, als Lynx ihn fallen ließ, und starrte entgeistert auf die vier blutenden Wunden auf seiner Schulter, die Lynx ihm mit seinen scharfen Krallen zugefügt hatte. »Dein Tier hat mich GEBISSEN … Wage es nicht, am Zauberwettkampf teilzunehmen, sonst werde ich dich AUSLÖSCHEN!«

Robb holte tief Luft und wandte sich an Xars Gefolgsleute.

»Wollt ihr wirklich diesem dummen kleinen Irren hinterherlaufen, der mit einem Netz und seiner blöden Bratpfanne eine Hexe fangen will? Schließt euch mir an, kommt mit uns!«

Und einer nach dem anderen wichen Xars Gefolgsleute vor ihm zurück und schlossen sich Robbs Gruppe an. Sie stiegen auf ihre Wölfe oder Schneekatzen und murmelten so Sachen wie »Tut mir leid, Xar … aber was du vorhast, ist zu verrückt, sogar für jemanden wie dich …« und »Wenn doch nicht alle Hexen ausgestorben sind, sollten wir sofort umdrehen, bevor sie ihre dunkle Magie anwenden können …«.

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»Siehst du?«, rief Robb triumphierend. »Ein großer Anführer muss jemanden haben, den er anführen kann, und niemand will einem Verrückten folgen, der kein Fünkchen Zauberkraft besitzt. Viel Glück bei der Begegnung mit deiner Hexe, du Versager!«

Robb schwang sich auf seinen Wolf und ritt davon, gefolgt von den meisten anderen Zauberern.

»Feiglinge!«, brüllte Xar ihnen hinterher, wobei ihm aber fast Tränen der Wut aus den Augen quollen. Er rannte in das Unterholz, um seine Bratpfanne wiederzuholen, dann schüttelte er die Faust hinter den Abtrünnigen her. »EUCH WERDEN WIR ES SCHON NOCH ZEIGEN! WIR FANGEN EINE HEXE, NEHMEN IHR DIE ZAUBERKRAFT AB UND DANN HABEN WIR SO VIEL MAGIE, DASS WIR SOGAR OHNE FLÜGEL FLIEGEN KÖNNEN!«

Nachdem er seine Wut hinausgebrüllt hatte, seufzte er tief auf und drehte sich zu dem kläglichen Häufchen Getreuer um, die bei ihm geblieben waren.

Warum musste Robb immer alles verderben?

Jetzt waren kaum noch Gefolgsleute übrig, nur drei junge Zauberer, die ebenfalls noch keine Zauberkraft hatten: ein Mädchen namens Heliotrope und zwei Jungen, einer namens Hetzel und ein zweiter großer Junge mit riesigen Ohren namens Obskuro, der schon siebzehn war, ohne dass sich bei ihm die geringsten Anzeichen von Zauberkraft gezeigt hätten. Allerdings war er auch nicht gerade einer der hellsten.

»Verdammt – er hat mir nur die Versager hiergelassen«, knurrte Xar.

»He, Xar, ich finde, das ist ein bisschen unfair«, protestierte Hetzel.

»Werden wir wirklich ohne Flügel fliegen können?«, fragte Obskuro und vollführte Flatterbewegungen mit den Armen.

»Natürlich!«, versprach ihm Xar und rieb sich voller Begeisterung die Hände, denn die Niedergeschlagenheit hielt bei ihm nie sehr lange an. »Diese Feiglinge werden es noch bitter bereuen, dass sie mir nicht folgen wollten …«

»Obskuro, du bist der Größte von uns, deshalb bist du für das Graben zuständig!«, befahl Xar. »Hetzel, ich fürchte, wir werden dich ein wenig verletzen müssen, um die Hexe in die Falle zu locken … Und falls was schiefläuft …«

»He, warte mal! Hast du nicht gesagt, die Mission sei vollkommen sicher?«, erkundigte sich Hetzel misstrauisch.

»Na ja, nichts auf der Welt ist VOLLKOMMEN sicher …«, gab Xar zögernd zu. »Das Leben ist voller Gefahren, oder nicht? Schließlich könntest du auch umkommen, wenn du nur auf einen Baum kletterst, so wie ich grade eben …«

»Aber hier geht’s nicht darum, auf Bäume zu klettern!«, krächzte Kaliburn aufgeregt von einem Ast herab, während die drei Jungzauberer anfingen, Xars Anordnungen zu befolgen. »Was du hier machst, ist verboten: Erstens betrittst du absichtlich das Gebiet der Krieger, obwohl du dazu nicht befugt bist, und zweitens versuchst du, einer der entsetzlichsten Lebensformen, die jemals Fuß auf unseren Planeten gesetzt haben, eine Falle zu stellen!«

Kaliburn seufzte.

Niemand wollte ihm zuhören.

Und so hockte der Rabe still und starr vor Schrecken auf einem Ast und steckte den Kopf unter den Flügel. Vielleicht dachte er, wenn er den Kopf unter dem Flügel versteckte, könne er die Zukunft nicht sehen und dann würde die Zukunft auch nicht geschehen.

Aber natürlich wusste der alte Vogel genau, dass das nicht funktionieren würde.

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2.
EINE KRIEGERIN NAMENS WILLA

Ungefähr zur selben Zeit brachen zwei junge Krieger heimlich vom Eisernen Fort der Krieger auf. Sie ritten auf einem kräftigen, aber ziemlich verängstigten Kriegerpony.

Den Kriegern war es normalerweise nicht gestattet, das Eiserne Fort nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen, denn die Krieger hatten gewaltige Angst vor der Magie, die draußen im Wald lauerte.

Das Eiserne Fort war die größte Hügelfestung, die du dir vorstellen kannst. Über der gewaltigen, ringförmigen Festungsmauer ragten dreizehn Wachtürme in den Himmel; vor der Mauer zogen sich sieben breite Gräben um den gesamten Hügel. Wie groß musste die Furcht der Krieger vor allem sein, das mit Magie zu tun hatte, um so ein gewaltiges Fort zu bauen, mit Mauern so weiß wie Knochen und kleinen schlitzförmigen Fenstern, die wie eine bösartig blinzelnde Katze auf den Wald hinausstarrten?

Trotzdem war es den beiden Kriegern auf ihrem Kriegerpony gelungen, sich heimlich aus dem Fort zu stehlen, ohne von den nervösen und äußerst aufmerksamen Wärtern bemerkt zu werden, die auf den Zinnen patrouillierten und unablässig mit aufmerksamen Blicken den Wald zu durchdringen suchten. Und vielleicht gab es sogar einen guten Grund, warum sie so angestrengt auf die endlose grüne Wildnis hinausstarrten, die das Fort nicht nur umgab, sondern es zu überwuchern und zu verschlingen drohte.

Denn etwas BÖSES lauerte hoch oben in den Baumwipfeln und beobachtete das Pony.

Allerdings hätte zu diesem Zeitpunkt noch niemand sagen können, wer oder was dieses Etwas war.

Im Grimmwald lebten viele böse Wesen. Das Etwas hätte also durchaus ein Katzenmonster sein können. Oder ein Werwolf. Oder sogar ein Roger. (Ein Roger ist so etwas wie ein Oger, nur viel, viel grausamer.)

Bestimmt werden wir später erfahren, was für ein Wesen dieses Etwas war.

Dass das Pony die Aufmerksamkeit dieses Etwas erregte, war nicht besonders erstaunlich. Denn das Pony trabte mit viel zu viel Lärm und Hufgetrappel durch das Unterholz und auf seinem Rücken wurden eine zierliche kleine Kriegerprinzessin und ihr Hilfsleibwächter namens Griffel kräftig durchgeschüttelt.

Beide trugen knallrote Umhänge über ihren eisernen Rüstungen, und weil Knallrot in einem tiefgrünen Wald keine besonders clevere Tarnfarbe ist, stachen sie aus der Umgebung heraus wie leuchtende Sterne am schwarzen Nachthimmel.

Sie hätten nicht auffälliger sein können, außer vielleicht, wenn sie eine große Zielscheibe auf den Köpfen getragen hätten – oder ein Schild mit der Aufschrift »FANGT MICH, IHR HUNGRIGEN MONSTER DES GRIMMWALDES!«

Die Prinzessin hatte eigentlich einen sehr langen und königlichen Namen, wurde aber von allen nur Willa genannt.

Kriegerprinzessinnen sollten natürlich immer schön, groß und absolut furchterregend sein, so wie Willas Mutter, die Königin Sychorax.

Aber Willa war weder furchterregend noch besonders hübsch.

Ihr kleines Gesicht war so blass, als hätte ein Wasserschwall jegliche Farbe weggewischt. Ihre Ellbogen ragten etwas knochig heraus und ihr Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab, als hätte gerade ein Blitz eingeschlagen.

Über dem linken Auge trug sie eine schwarze Augenklappe. Im Moment schien sie etwas zu suchen, denn sie blickte sich aufmerksam um.

»Wir sollten eigentlich gar nicht ganz allein hier draußen sein, nicht mal am Tag und erst recht nicht in der Nacht!«, flüsterte ihr Hilfsleibwächter Griffel, wobei er sich ständig ängstlich umschaute.

Griffel war nicht Willas normaler Leibwächter. Er war noch nicht einmal ein richtiger Leibwächter, denn er hatte gerade erst die Ausbildung hinter sich gebracht und wurde daher nur aushilfsweise eingesetzt. Aber der eigentliche Leibwächter der Prinzessin hatte sich eine böse Erkältung zugezogen und sich krankmelden müssen.

Bei den jungen Kriegern waren die wenigen Stellen für Leibwächter bei der Königlichen Leibwache heiß begehrt, und obwohl Griffel erst dreizehn Jahre alt war, war er ein eifriger Schüler gewesen und hatte das Examen an der Leibwächterakademie als Bester seines Jahrgangs abgeschlossen.

Aber das hier war Griffels erster richtiger Einsatz als Leibwächter und schon jetzt dämmerte ihm, dass der Job viel härter war, als er sich vorgestellt hatte.

Denn die Prinzessin tat absolut nie das, was man ihr sagte.

Und obwohl er während seiner Ausbildung wirklich hart gebüffelt hatte, muss gesagt werden, dass Griffel nicht sehr gern kämpfte. Schon bei dem Gedanken, dass er jemals in eine Situation geraten könnte, in der richtige Gewalt angewandt wurde, drehte sich ihm fast der Magen um.

»Da draußen könnten Werwölfe oder Katzenmonster oder Riesen lauern …«, fuhr Griffel mit bebender Stimme fort, »von Bären und Jaguaren und den Zauberern und den Rogerschnüfflern ganz zu schweigen … Und sogar die Zwerge können verdammt gemein sein, wenn sie in Horden auf die Jagd gehen …«

»Ach, hör schon auf mit deinem Gejammer, Griffel!«, fauchte ihn die Prinzessin an. »Wir kehren ja sofort wieder um, sobald ich mein Haustier wiedergefunden habe. Und überhaupt: Du bist schuld daran, dass wir hier draußen sind! Du hast ihm Angst eingejagt, weil du ihm gedroht hast, ihn bei meiner Mutter zu verpetzen, und deshalb ist er durchgedreht und weggelaufen.«

»Ich wollte nur verhindern, dass Ihr noch mehr Schwierigkeiten bekommt!«, verteidigte sich Griffel. »Haustiere sind nun mal nicht erlaubt! Das verstößt gegen die Kriegergesetze!«

Nun war Griffel eben ein Junge, der felsenfest an Regeln und Gesetze glaubte. Er hatte vor, sich vom Hilfsleibwächter zu einem der Hüter des königlichen Haushalts hochzuarbeiten, aber DAS würde ihm natürlich nicht gelingen, wenn er ständig gegen Regeln oder Gesetze verstieß.

»Und diese Art von Haustier dürft Ihr erst recht nicht besitzen …«

»Er muss furchtbar Angst haben«, sorgte sich Willa. »Wir können ihn unmöglich hier draußen im Grimmwald herumirren lassen, so mutterseelenallein und verängstigt … wahrscheinlich würde er von Reißzahnmardern oder irgendwelchen anderen schrecklichen Ungeheuern gejagt …«

Wieder blickte sie sich um.

»AHA!«, rief sie plötzlich triumphierend und erleichtert aus. »DA IST ER JA!«

Sie zog am Zügel, um das Pony anzuhalten, und bückte sich nach etwas, das durch das Unterholz huschte. »Den Kriegsgöttern sei Dank!« Sie streichelte das Was-immer-es-sein-mochte und gurrte ihm beruhigende Worte zu, wie zum Beispiel »Keine Angst, alles in Ordnung, jetzt bist du bei mir und in Sicherheit …«. Was man eben so sagt, wenn man einen verängstigten Hund, eine Katze, ein Zwergkaninchen oder sonst irgendein pelziges Schoßtier beruhigen möchte, das allein und verlassen und außer sich vor Angst durch den Grimmwald irrte, nachdem die Herbstsonne längst untergegangen war.

Doch Willas Schoßtier war kein Hund. Auch keine Katze. Und erst recht kein Kaninchen. Es war nicht mal ein Tier.

»Euer Schoßtier ist ein LÖFFEL!«, wandte Griffel ein.

Womit der Hilfsleibwächter nicht unrecht hatte.

Denn das Schoßtier der Prinzessin war in der Tat ein großer eiserner Löffel.

»Das stimmt wohl«, antwortete Willa, als ob es ihr jetzt erst aufgefallen wäre. Sie trocknete den Löffel mit dem Ärmel ab.

»Und der Löffel ist LEBENDIG, Prinzessin! Er ist lebendig!«, rief Griffel und schüttelte sich ein wenig vor Entsetzen, als er den Löffel anschaute. »Was bedeutet, dass er ein vollkommen verbotener magisch verhexter Gegenstand ist! Habt Ihr denn nicht die vielen Schilder überall im Kriegerfort gesehen? Magie strengstens verboten! Keine verzauberten Gegenstände! Keine Tiere innerhalb der Burg! Jeder Zauber muss sofort gemeldet werden, damit die Magie aufgehoben werden kann!«

»Ich bin nicht sicher, ob er so richtig magisch ist«, sagte Willa hoffnungsvoll. »Er ist nur einfach ein bisschen … beweglich …«

»Natürlich ist er magisch!«, blaffte Griffel sie an. »Gewöhnliche Löffel hüpfen nicht herum, nur weil sie gestreichelt werden wollen, sondern bleiben einfach still und leise liegen oder füttern dich mit Suppe! Und jetzt schaut Euch den hier mal an! Jetzt verbeugt er sich sogar vor mir!«

»Ja, stimmt«, sagte Willa stolz. »Ist er nicht total süß und clever?«

Griffel verschlug es beinahe die Sprache. »Das … das ist nicht clever! Ihr verstoßt damit gegen so viele Regeln, dass ich sie gar nicht alle aufzählen kann! Woher habt Ihr überhaupt diesen Löffel?«

»Er ist einfach eines Tages in meinem Zimmer aufgetaucht wie eine Maus oder so. Deshalb hab ich ihm ein bisschen Milch gegeben und seither bleibt er immer in meiner Nähe … Irgendwie ist das ganz nett, denn vorher war ich immer ein bisschen einsam. Bist du nie einsam, Griffel?«