image

Roy Palmer

Im Sog des Sturmgotts

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Der Mann mit der Kutte – ein wahrer Goliath an Gestalt – stand auf dem Achterdeck der Dreimast-Handels-Galeone „Valencia“ und blickte voraus. Seine Miene war nachdenklich, seine Stirn leicht gefurcht.

„Was halten Sie von diesem Wetter, Señor Capitán?“ fragte er mit dunkler, wohlklingender Stimme, als der Kapitän zu ihm trat.

Don Angelo Val de Montez betrachtete den Himmel, der sich allmählich dunkler färbte, dann sah er auf das Wasser. Es war von milchigtrübem Blaugrün. Obwohl nur eine schwache Dünung die See kräuselte, schien es sich um unheilverkündende Zeichen zu handeln.

„Es könnte ein Gewitter geben“, sagte Val de Montez. „Daß wir aber Havanna, unser Ziel, sicher erreichen, daran brauchen Sie nicht zu zweifeln, Padre.“

„Aber man soll den Tag auch nicht vor dem Abend loben, wie Sie immer sagen, Señor. Wieso sind Sie plötzlich so zuversichtlich?“

„Weil Kuba nicht mehr weit entfernt ist“, erwiderte Val de Montez lächelnd. „Das gibt mir Zuversicht. Das ist immer so, wenn man von der Heimat her den Atlantik überquert und die Karibik erreicht hat.“

Der Gottesmann fuhr sich mit der Hand über den Bart. „Ja, da haben Sie sicherlich recht, und ich kann diese Stimmung wohl schlecht nachempfinden, obwohl ich selbst froh bin, daß wir bald in Havanna sind.“

„Irgend etwas gefällt Ihnen nicht, Padre David“, sagte der Kapitän. „Ich lese es an Ihren Zügen ab.“ Rasch war er wieder ernst geworden. „Vielleicht rechnen Sie mit einem Sturm. Aber wenn sich das Wetter in den nächsten Stunden verschlechtert, haben wir Zeit genug, die Turks- oder Caicos-Inseln anzulaufen und in eine Bucht zu verholen. Es ist Vormittag. Anders würde es aussehen, wenn es schon Abend wäre und wir eine Nacht mit ungewissem Ausgang vor uns hätten.“

„Ja“, sagte der Mönch. „Da muß ich Ihnen zustimmen. Und ich will auch nicht den Teufel an die Wand malen. Nur habe ich daheim, in Valencia, davon vernommen; daß es hier in der Karibik den Huracán, den gefährlichen Wirbelsturm, geben soll. Die gelbliche Färbung des Himmels in der Ferne scheint mir darauf hinzudeuten.“

Val de Montez zuckte kaum merklich zusammen. Wieder einmal überraschte es ihn, wie gut dieser Mann, der keinerlei Erfahrung in Sachen Seemannschaft hatte, sich auskannte.

„Padre“, sagte er. „Wir haben uns bislang gegenseitig vertraut, nicht wahr?“

Pater David wandte den Kopf und sah ihn offen an. „Das will ich meinen.“

„Dann verlassen Sie sich darauf: Es gibt keinen Huracán.“

Pater David verschränkte die Arme vor der mächtigen Brust. „Um so besser. Die Männer an Bord dieses Schiffes sind mir in der Zeit der Überfahrt ans Herz gewachsen, ich bete täglich für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Es ist mir ein persönliches Anliegen, daß sie alle wohlauf die Insel Kuba erreichen.“

„Und daß wir dort unsere Ladung, die Bauhölzer und Werkzeuge, löschen“, fügte der Kapitän mit einem leichten Lächeln hinzu. „Schließen Sie bitte auch das mit in Ihre Gebete ein.“

Der Gottesmann blieb ernst. „Ich tue auch das.“

„Eigentlich bedaure ich, daß sich unsere Wege in Havanna trennen“, sagte Val de Montez, und er meinte es aufrichtig. „Sind Sie denn sicher, daß Sie das Richtige tun?“

„Völlig sicher.“

„Sie wollen Ihr Werk den Eingeborenen widmen?“

„Allen Menschen, die meine Hilfe und Gottes Beistand brauchen“, erwiderte Pater David. „In erster Linie aber scheinen es die andersfarbigen Menschen zu sein, die in der Neuen Welt Not leiden.“

„Das mag stimmen.“

„Es ist so, ich habe genug darüber gehört.“

„Ja“, sagte Val de Montez. „Aber die Berichte zu vernehmen, die in Spanien kursieren, oder sich direkt mit der harten Wahrheit zu befassen, sind zwei unterschiedliche Dinge.“

„Eben deshalb habe ich in die Neue Welt reisen wollen“, erklärte der Gottesmann. „Um vor Ort selbst urteilen und handeln zu können. Ich weiß schon, was Sie jetzt wieder sagen wollen, verehrter Capitán: daß die Indianer und die Schwarzen Heiden und Menschenfresser seien. Ich gebe mich keinen Illusionen hin, aber man muß auch die feinen Unterschiede erkennen. Was würden Sie davon halten, wenn man behauptet, alle Spanier wären Räuber und Schlagetots?“

„Das wäre eine glatte Verleumdung.“

„Und doch hat es Leute wie Pizarro und Cortez gegeben.“

„Sie haben die Neue Welt dem christlichen Glauben geöffnet“, sagte Val de Montez.

„Aber sie waren keine Missionare“, erwiderte Pater David fast schroff. „Alles andere als das! Viel Unheil und Schaden sind angerichtet worden, und es gilt, einiges wiedergutzumachen.“

„Wir haben uns während unserer Reise mehrfach darüber unterhalten“, sagte Val de Montez. „Aber die Erfahrungen, die ich gesammelt habe, scheinen Ihnen nicht viel zu bedeuten. Ich bin auf Jamaica von Wilden überfallen, halb totgeschlagen und ausgeplündert worden. Auf den Azoren hat mich vor Jahren ein Schwarzer mit einem Messer angegriffen – auch das hätte mich fast das Leben gekostet.“

„Der Herr stehe ihnen bei, denn sie wissen nicht, was sie tun. Waren es immer nur Indianer und Afrikaner, die Ihnen ans Leder wollten, Capitán?“

„Nein. Auch Weiße.“

„Sehen Sie. Mensch ist Mensch. Nur gibt es keine Untermenschen.“

Val de Montez hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Sie sind zu hartnäckig, bei Ihnen beiße ich auf Granit. Aber ich will Sie auch nicht davon überzeugen, daß die Eingeborenen alle Teufel sind. Ich will Sie nur warnen. Seien Sie nicht zu gutgläubig.“

„Danke. Ich werde mich Ihrer Worte entsinnen.“ Pater David zeigte ihm seine Fäuste. „Ich scheue mich auch nicht, hart durchzugreifen, wenn man mich mit Steinen bewirft. Ich weiß, ich weiß, auch das ist nicht unbedingt die wahre christliche Gesinnung. Doch Jesus hat für uns alle gelitten, und es ist nicht erforderlich, seinen Weg unbedingt nachzuvollziehen.“

„Sie haben gewonnen, Padre“, sagte der Kapitän resigniert. „Ich gebe es auf. Und ich kann Ihnen nur wünschen, daß Sie mit Ihrem Vorhaben, in der Neuen Welt allen Unterdrückten und Geknechteten zu helfen, Erfolg haben.“

Sie schwiegen und blickten wieder voraus. Es war der 20. Mai 1594, und die „Valencia“ näherte sich dem östlichen Bereich der Caicos-Inselngruppe.

Eigentlich hatte sich Old Donegal Daniel O’Flynn wieder einmal alles ganz anders vorgestellt. Etwa so: Nach dem siegreichen Gefecht vor Tortuga gegen den spanischen Flottenverband unter dem Generalkapitän Don Alonso de López y Marqués waren die Schiffe des Bundes der Korsaren zur Schlangen-Insel zurückgekehrt – und dort hätte man im Prinzip tüchtig feiern sollen, und zwar Tag und Nacht: erstens wegen des Triumphes und zweitens wegen der „offiziellen Einweihung“ der Flagge, dem schwarzen Tuch mit den beiden gekreuzten goldenen Säbeln. Mit anderen Worten, all das war Anlaß genug, in „Old Donegals Rutsche“ die Humpen zu lenzen, bis einer nach dem anderen total angeschlagen unter die Tische sank.

Aber er hatte – wie üblich – seine Pläne ohne „den Wirt“ aufgestellt. Der Wirt war zwar eigentlich er, aber das „Sagen“ hatte Mary O’Flynn, geborene Snugglemouse, die vollauf mit den Vorbereitungen für die Taufe des Wikinger-Zwillings-Pärchens auf der Schlangen-Insel beschäftigt war. Alles andere war unwichtig und mußte zurückgestellt werden – auch das Saufen.

Den „Betriebsstoff“, mit dem Old O’Flynn sich bei Diego eingedeckt hatte, würde man also erst später „kosten“ können. Wann? Noch war alles offen, noch wußte keiner, nach welchem Ritual die Taufe überhaupt ablaufen sollte. Mary hatte mit dem nötigen Temperament wieder mal alles an sich gerissen.

„Versteht sich“, brummte Old O’Flynn an diesem Morgen mißmutig. „Aber langsam habe ich die Schnauze voll. Die verdammte Weiberwirtschaft muß ein Ende haben.“

„Sie hat gerade erst angefangen“, sagte Karl von Hutten lächelnd. „Aber wir sollten froh sein. Was wären wir ohne deine Mary, ohne Gotlinde, Gunnhild, Arkana, Araua und Siri-Tong?“

„Immer noch dieselben wie früher“, erwiderte Smoky.

„Aber ziemlich verdreckt“, sagte Karl von Hutten.

„Und die Schlangen-Insel wäre ein feiner Saustall“, sagte Sam Roskill.

„So?“ stieß der Alte hervor. „Ihr nehmt die Weiber also auch noch in Schutz? Euch bekommt das feine Leben nicht, ihr Affen, es verweichlicht euch!“

„Bei Mary verweichlicht keiner“, behauptete jetzt Martin Correa. „Da paßt sie schon auf. Wer muckt oder meckert, kriegt was vor den Bug.“

Die Männer lachten, nur Old O’Flynn und Mac Pellew lachten nicht mit. Sie waren beide total verbiestert, der Alte, weil er seiner Mary gegenüber wieder mal hatte klein beigeben müssen, Mac hingegen, weil sich ausgerechnet an diesem Morgen zu seinem gewohnten Griesgram noch ein ganz besonderer Fimmel gesellte: Er hatte sich in den Kopf gesetzt, daß gespart werden müsse. In der Pantry und anderswo – am besten wurde künftig gehungert, damit die Vorräte nicht dauernd zur Neige gingen. Zuviel Brennstoff wurde auch verbraucht. Reine Verschwendung. Mit zehn Pfund Holzkohle mußte ein guter Schiffskoch einen Monat reichen. So und ähnlich dachte der sauertöpfische Mac Pellew – ausgerechnet an diesem fatalen Morgen.

Um seinem ewigen „Befehlshaber“ Mary zu entgehen, hatte sich Old O’Flynn mit seiner „Empress of Sea II.“ freiwillig zum Patrouillendienst gemeldet. Auf diese Weise war er jeder Art von Donnerwetter entronnen und hatte vorläufig seine Ruhe. Er fuhr das Seegebiet rund um die Caicos-Inseln ab. Daß er dabei ständig brummelte und orakelte, gehörte bei ihm zur Bordordnung.

Gegen Mittag des 20. Mai stand die „Empress“ einige Meilen östlich querab der Caicos-Gruppe. Außer Martin Correa, dem Bootsmann und Lotsen Old O’Flynns, Karl von Hutten, Smoky, Mac Pellew und Sam Roskill befanden sich die Söhne des Seewolfs mit an Bord – Hasard junior und Philip junior, die auch dieses Mal nicht darauf verzichtet hatten, Plymmie, die Wolfshündin, mitzunehmen. Eine feine, kompakte Crew also, die jedes Manöver im Schlaf beherrschte.

Bislang war die Patrouillenfahrt ruhig verlaufen, und daran schien sich auch nichts zu ändern. Daß der „Empress“ und ihrer Besatzung noch ein Ereignis ganz besonderer Art bevorstand, dessen unmittelbarer Zeuge sie werden sollte – davon ahnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner etwas.

Mac Pellew erschien zum fünften Male an diesem Vormittag auf dem Hauptdeck, trat ans Schanzkleid, warf einen Blick zum Himmel und murmelte: „So ein Scheißwetter. Da braut sich was zusammen. Und warm ist es. Hölle und Teufel, ist das eine Hitze.“

Eine mächtige Haufenwolke schob sich, von dem Wind aus Nordosten bewegt, immer näher auf die „Empress“ zu. In ihrem unteren Bereich – das vermochten die sechs Männer und die beiden Jungen deutlich zu erkennen – war sie von drohender Dunkelheit, während nach oben in die höheren Luftschichten hellere Schleier hinauswuchsen und sich so verteilten, daß das ganze seltsame Gebilde fast wie ein Amboß aussah.

Smoky sah ebenfalls auf die eigentümliche Wolkenformation und kaute nachdenklich auf der Unterlippe.

„Ja“, sagte er. „Wir kriegen mindestens einen dicken Wolkenbruch aufs Haupt. Dem sollten wir auszuweichen versuchen.“

„Bist du der Kapitän?“ fragte Karl von Hutten gedämpft.

„Nein. Und die Entscheidung liegt nicht bei dir, das weiß ich.“

„Ob wir Donegal einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten sollten?“ fragte Karl von Hutten.

„Damit warten wir lieber noch“, entgegnete Smoky. „Wie der heute früh dreinschaut, würde er am liebsten um sich beißen, glaube ich.“

In der Tat, Old O’Flynns Seelenzustand verschlechterte sich zusehends. Das Wolkengebilde in Nordosten schob sich auf die „Empress“ zu, die auf einem Kreuzschlag Richtung Osten – zur offenen See hin – lag. Der Alte stand an der Pinne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er wurde zappelig und unruhig und begann wieder kräftig zu fluchen.

„Diese Hitze!“ wetterte er. „Die Planken fangen bald von selbst an zu brennen!“

Mac Pellew hatte es vernommen und hieb sofort in dieselbe Kerbe.

„Jawohl!“ rief er. „Und das verdammte Karibikwasser ist so warm, daß ich mir die Holzkohle sparen kann, um meine Suppe zu kochen. Brütend heiß ist das hier, das hält keiner aus!“

„Wie bitte?“ fragte Sam zurück. „Wie war das mit der Suppe?“

„Daß sie von selber kocht, hab’ ich gesagt. Weil das Seewasser so heiß ist. Darum“, erwiderte Mac Pellew mit einem Gesicht, als wolle er in Tränen ausbrechen.

„Verdammt“, sagte Sam. „Damit bin ich nicht einverstanden. Das kannst du uns nicht antun, Mister Pellew.“

„Kann ich aber doch. Die Brühe tut’s auch, wenn ich das Zeug für die Suppe hineinschnippele“, erklärte Mac mit grämlicher Miene. „Kartoffeln, Kräuter, Fleisch und all das Zeug. Außerdem spare ich gleich das Salz.“

„Auch die alten Fleischbrocken solltest du nicht wegschmeißen, Mac“, riet Hasard junior. „Du heftest sie mit ein paar Stichen wieder zusammen und wirfst sie in die Suppe. Wenn dann wieder was übrigbleibt, kannst du es erneut verwenden und so weiter. Na, ist das nicht ein guter Sparvorschlag?“

Mac musterte ihn traurig. „Kann sein. Ich werde darüber nachdenken.“

Sams Augen hatten sich etwas verengt. „Du hast es heute wohl mit dem Sparen, wie?“

„Ja.“

„Und wie wär’s, wenn du einfach die Zutaten weglassen und nur das Wasser kochen würdest?“

„Ich koch’ das Wasser nicht, es ist heiß genug“, brummte Mac. „Bist du eigentlich taub, oder was ist los?“

„Aha“, sagte Sam grimmig. „Das macht die Sache noch leichter. Wir fieren nur eine Pütz außenbords und schöpfen ein paar Gallonen Wasser. Das ist dann die Mittagssuppe. Oder?“

„Eine gute Idee“, erwiderte Mac. „Das hätte mir auch selbst einfallen können.“

„Nein!“ zischte Sam. „Es gehört nämlich eine Portion Grütze dazu.“

„Grütze habe ich nicht in der Pantry“, sagte Mac. Er wirkte jetzt sehr, sehr müde.

„Und in deinem Gehirnkasten?“ fragte Sam.

„Auch nicht.“

„Eben. Sonst wärst du auch nicht auf einen so blöden Gedanken verfallen“, sagte Sam mit unerschütterlicher Logik.

Die Zwillinge lachten, sie konnten jetzt nicht mehr an sich halten. Mac indes blickte so deprimiert und schläfrig drein, als ginge ihn das alles nichts an, überhaupt schien er sich in völlig anderen Sphären zu bewegen. Auch das konnte nur am Wetter liegen.

„Gebt mal einen Kübel her“, murmelte er nur. „Ich will Wasser schöpfen.“