Umschlag

Matthias Fischer, geboren 1964 in Hanau, studierte Evangelische Theologie in Oberursel und Mainz und absolvierte sein Vikariat in Wächtersbach. Im Anschluss war er evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde im Kinzigtal sowie in der Notfallseelsorge tätig, derzeit arbeitet er als Schulpfarrer. 2005 schrieb er seinen ersten Kriminalroman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Patrik Naumann/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-349-3
Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Medienagentur Gerald Drews, Augsburg.

Gewidmet all denen, die Churchills schwarzen Hund kennen

Prolog

Das Ende hatte sich Caspari anders vorgestellt. Friedlich und frei von Schmerzen in einem weichen Bett liegend, umgeben von geliebten Menschen, so hatte er sich immer seine letzten Augenblicke ausgemalt, bevor er die Augen auf ewig schließen würde.

Doch daraus würde nichts werden.

Der Tod zeigte sich ihm in seiner hässlichsten Fratze, als Ungeheuer mit einem riesigen, keilförmigen Kopf, aus dem ihn zwei kalte Augen ansahen. Gleichgültige Erbarmungslosigkeit lag in den pechschwarzen Pupillen, mit denen die Bestie ihn taxierte. Die hochgezogenen Lefzen gaben ein monströses Gebiss preis, das alles zerfetzen und brechen konnte, in das sich die gewaltigen Zähne gruben.

Caspari fühlte sich an die Horrorfilme erinnert, die er sich mit Benny angeschaut hatte, als sie Jugendliche gewesen waren. Doch dieser fleischgewordene Alptraum war real. Er saß in der Falle.

Regungslos verharrte er auf seinem Platz. Eine falsche Bewegung, und der Tod würde über ihn kommen. Aus dieser Nummer kam er nicht wieder raus. Diesmal nicht! Dabei hätte er sich nur raushalten müssen, nur dieses eine Mal.

Caspari versuchte zu schlucken. Der Frosch in seinem Hals machte das unmöglich. Leise räusperte er sich. Zu viel Geräusch in diesem Raum, in dem die Stille alles zu ersticken schien wie Erde auf einem Grab.

Ein unheilvolles, tiefes Knurren grollte aus dem Rachen der Bestie, die ihre Lefzen noch weiter hochzog. Geschmeidig richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf. In ihren Augen sah Caspari das kalte, leere Nichts.

Dann setzte das Ungeheuer zum Sprung an.

Acht Wochen zuvor

»Ahuuuuuuuuuuuuuh!«

Verschlafen öffnete Christoph Caspari die Augen. Neben ihm hockte sein Sohn Lukas auf dem Bett, stützte seine Fäuste auf die Matratze und heulte laut wie ein Wolf.

»Ach du liebes bisschen«, sagte Caspari gähnend. »Wir haben wohl einen Wolf im Haus.«

»Grrrrrrrrrrrrrrr!« Lukas zog die Lippen auseinander und entblößte ein Vampirgebiss aus Plastik. »Keinen Wolf, einen Werwolf!«, nuschelte er empört durch die falschen Zähne.

»Oh mein Gott, das ist ja noch schlimmer«, erwiderte Caspari mit gespieltem Entsetzen. »Ich muss mich sofort in Sicherheit bringen.« Schnell zog er sich die Decke über den Kopf.

»Grrrrrrrrrrrrrrr!«, knurrte der Achtjährige jetzt energischer und zog die Bettdecke wieder weg. »Clara hat gesagt, du sollst sofort aufstehen! Es gibt jetzt Frühstück.«

Caspari ergab sich seinem Schicksal. Seit gut einem halben Jahr lebten Clara und er zusammen, nachdem sie sich bei einem Kriminalfall in Gelnhausen kennengelernt und ineinander verliebt hatten. Caspari war damals als Spezialist des Landeskriminalamtes für Serienmorde mit seinen Leuten an den Ermittlungen beteiligt, Clara als Notfallseelsorgerin und Pfarrerin aus Gelnhausen zur Betreuung der Zeugen und Angehörigen eingesetzt gewesen. Mittlerweile kannte er ihr irisches Temperament viel zu gut, um sich vorzumachen, dass er noch ein wenig länger im Bett liegen bleiben könnte.

»Es ist Samstag, der zweite Mai«, maulte er, während er ungelenk wie ein Bär, der das Laufen auf zwei Beinen übt, die Treppe hinunterstieg.

»Jammere nicht!«, schallte es ihm aus der Küche entgegen. »Meine Mutter sagt immer, wer am Abend im Pub trinken kann, kann am nächsten Morgen auch aufstehen und arbeiten.«

Sie empfing ihn mit einem Kuss an der Küchentür und strahlte ihn mit ihren blauen Augen an.

»Guten Morgen, mein Großer. Na, war das letzte Bier gestern schlecht?«, feixte sie, während er sie in den Arm nahm.

»Es war der erste Mai, das Wetter war traumhaft, es war warm. Da bekommt man eben Bierdurst«, rechtfertigte sich Caspari halbherzig.

»Und heute ist das Wetter genauso traumhaft. Es ist neun Uhr, und die Blumenbeete im Garten müssen auf Vordermann gebracht werden«, hielt ihm Clara entgegen. »In zwölf Wochen heiraten wir, mein Lieber. Ich will keinen Garten, der aussieht wie ein Dschungel.«

»Alles, was du willst, Sweetheart, aber erst nach einem ordentlichen Kaffee.«

Claras Temperament war eine Naturgewalt, gegen die selbst Caspari nicht ankam und auch nicht ankommen wollte. Sie hatte ihm eine Tür des Gefängnisses aufgestoßen, in das er sich verkrochen hatte, seit er denken konnte.

Groß gewachsen und von wuchtigem Körperbau, ähnelte er eher einem Gewichtheber als einem promovierten Akademiker. Mit seinem Erscheinungsbild wäre er die Idealbesetzung in einem Wikingerfilm gewesen, doch er selbst fühlte sich unattraktiv. Er hätte gern so drahtig und schlank ausgesehen wie die Jungen damals auf dem Gymnasium. In ihrer Gegenwart hatte er sich wie ein tapsiger Bär neben schön anzusehenden Raubkatzen gefühlt. Zumindest hatte er sich das zeitlebens eingeredet.

Wenn er sich als Teenager getraut hatte, sein Interesse an einem Mädchen zu zeigen, hatte er immer nur Zurückweisung erlebt. Diese Erfahrungen schienen seiner Selbsteinschätzung durchaus recht gegeben zu haben.

Allein drei Ausnahmen hatten bisher die Kette an frustrierenden Erfahrungen durchbrochen. Mit Maria, einer amerikanischen Austauschschülerin, hatte er als Gymnasiast zum ersten Mal Seelenfreundschaft und Leidenschaft kennengelernt. Elke, seine erste Frau und Lukas’ Mutter, hatte Geborgenheit bei ihm gesucht und gefunden. Als sie Caspari mit seinem damals besten Freund und Kollegen Jürgen Jungmann betrogen hatte, war das eine weitere Bestätigung seiner Überzeugung gewesen, auf Frauen wie ein Hackklotz zu wirken.

Sein Sohn war nach mehreren Konflikten mit dem neuen Partner seiner Mutter zu Caspari gekommen. Lukas hatte ihn gerettet und auf seine kindliche Weise gezwungen, sich dem Leben wieder zuzuwenden.

Schließlich war er nach den Jahren, in denen er sich damit zu arrangieren versucht hatte, dass er mit Lukas allein bleiben würde, auf Clara getroffen. Sie hatte seine Hand genommen und nicht mehr losgelassen. In ihrer Gegenwart lernte er allmählich, sich selbst so annehmen zu können, wie er war.

»Seit wann ist Lukas eigentlich auf diesem Werwolf-Trip?«, fragte Caspari nach dem ersten Schluck Kaffee.

»Meine Mutter hat ihm das Hörbuch mitgebracht, als sie mit Papa letztes Wochenende zu Besuch war.«

»›Der kleine Werwolf‹, ich weiß«, erinnerte sich Caspari, »ich dachte, das sei ihm zu gruselig. So hat er es mir jedenfalls gesagt.«

»Deshalb hat Clara sie auch gemeinsam mit mir angehört«, erklärte Lukas. »Die Geschichte war gar nicht so gruselig. Aber voll cool! Alter, der Junge verwandelt sich einfach so in einen Werwolf.«

»Alter?« Caspari wusste nicht, ob er schimpfen oder lachen sollte.

»Jugendsprache«, sprang Clara Lukas bei. »Das ist ein Ausruf wie ›Wow!‹ oder ›Krass!‹. Damit bist nicht du gemeint, obwohl … vom Alter her …« Sie hatte ihre herausfordernde, schelmische Miene aufgesetzt, mit der sie Caspari den Wind aus den Segeln nahm, noch bevor er zur Erwiderung ansetzen konnte.

»Obacht«, konterte er mit gespieltem Zorn. »Sonst sind wir gleich ein Knäuel.«

»Jaja, wenn den Männern die Argumente ausgehen, werden die Muskeln ausgepackt«, konterte Clara.

»Genau«, ereiferte sich Lukas.

»Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde«, resignierte Caspari.

»Oooch, so schlimm sind wir doch gar nicht«, versuchte Clara zu relativieren, legte ihm den Arm in den Nacken, zog ihn zu sich und gab ihm einen intensiven Kuss.

»Der ging bis in die Fußspitzen«, bedankte sich Caspari und fing Claras Blick ein, der voller Lebensfreude und Energie war. Dann sah er auf die Küchenuhr.

»Wir müssen uns ranhalten«, stellte er fest, »deine Mama kommt in einer halben Stunde, um dich für das Wochenende abzuholen, Lukas.«

»Menno! Ich will aber hierbleiben«, insistierte Lukas.

»Deine Schwester hat heute Geburtstag. Sie freut sich ganz bestimmt schon sehr auf ihren großen Bruder. Opa Heinz und Oma Luise sind auch da. Die möchtest du bestimmt wiedersehen.«

»Der Jürgen ist aber auch da. Auf den habe ich keine Lust.«

»Ja, ich weiß. Der ist aber der Papa deiner Schwester. Was meinst du, wie traurig sie wäre, wenn er nicht da wäre«, versuchte Caspari seinen Sohn zu überzeugen.

Wenig später klingelte es an der Tür. Während Caspari gemeinsam mit Lukas noch die letzten Kleinigkeiten für den Wochenendaufenthalt bei Elke in die Reisetasche legte, hörte er, wie Clara öffnete und sich mit seiner Ex-Frau unterhielt. Lukas bestand darauf, die Tasche allein die Treppe hinunterzutragen.

»Hallo, Mama«, begrüßte er seine Mutter halbherzig. Dann sah er seine Schwester hinter ihren Beinen hervorlinsen.

»Lina«, rief er überrascht, »du bist ja mitgekommen!«

»Sie wollte ihren großen Bruder unbedingt auch abholen«, erklärte Elke.

»Herzlichen Glückwunsch zum vierten Geburtstag!«, rief Lukas, umarmte Lina und hob sie hoch. Die Kleine quietschte vor Vergnügen.

»Herzlichen Glückwunsch, Lina«, sagte Clara und überreichte Lina ein Geschenk, das sie hinter ihrem Rücken hervorgeholt hatte. Caspari beeilte sich, sich den Glückwünschen anzuschließen.

Zum Abschied umarmte Lukas ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Hab dich lieb, Papa!«

»Ich hab dich auch lieb«, flüsterte Caspari zurück.

Nachdem Elke mit beiden Kindern vom Hof gefahren war, machte sich Caspari mit Clara an die Gartenarbeit. Sie hatte genaue Vorstellungen, wie die Blumenbeete auszusehen hatten.

»Du ziehst den Löwenzahn möglichst mit der kompletten Wurzel aus dem Boden, ich schneide die abgestorbenen Triebe an den Büschen ab«, sagte sie.

Schicksalsergeben tat Caspari wie geheißen. »Wie ich dich kenne, weißt du schon ganz genau, wie der Innenhof zur Hochzeit dekoriert sein soll.«

Clara hielt in der Arbeit inne und strich sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht. »Klar! Auf jeden Fall mit einer riesigen Lichterkette.«

»Mehr nicht?«, hakte Caspari nach, nachdem er einen großen Schluck Wasser aus einer Flasche getrunken hatte.

»Alles zu seiner Zeit. Der Innenhof hat bereits sehr viel Atmosphäre, da braucht es keinen großen Aufwand an Dekoration«, sagte Clara entschieden und widmete sich wieder den Büschen.

Sie hat recht, dachte Caspari.

Sie lebten auf dem Weiherhof, einem alten Anwesen auf der Spielberger Platte, das sich zwischen den Wächtersbacher Ortsteilen Wittgenborn und Waldensberg befand und geografisch zum Vogelsberg gehörte. Als Caspari ein kleiner Junge gewesen war, hatten seine Eltern das alte Gehöft in einem recht heruntergekommenen Zustand erworben und im Laufe vieler Jahre Stück um Stück restauriert.

Der Innenhof war ein echtes Schmuckstück. Umgeben von Wirtschafts- und Wohnflügeln sowie einer hohen Sandsteinmauer, erstreckte er sich rechteckig über eine große Fläche. In seiner Mitte breitete eine alte Linde ihre gewaltigen Äste in alle Himmelsrichtungen aus. Im Hochsommer gab es kaum einen angenehmeren Ort, um die Seele baumeln zu lassen, als unter ihrem grünen Blätterdach. Ihr Schatten würde selbst eine große Hochzeitsgesellschaft vor der Sonne schützen.

Caspari ließ seinen Blick durch den Garten bis zum See schweifen. An der Außenseite des Wohntraktes lagen die Terrassen der Haushälften von Caspari und seinen Eltern. Das gemeinsame Gartengrundstück reichte bis zum See, den die Menschen von der Spielberger Platte mit der typischen Vogelsberger Bescheidenheit nur als den ›Weiher‹ bezeichneten. Ein Holzsteg führte ins Wasser hinaus.

Caspari atmete tief ein und nahm dieses Landschaftsidyll in sich auf. Als er sich bückte, um einem weiteren Löwenzahn den Garaus zu machen, ertönte das Läuten eines Telefons.

»Ich dachte, du hast keine Wochenendbereitschaften mehr«, beschwerte sich Clara.

Seit Caspari den Posten eines Kriminaldirektors beim Bundeskriminalamt bekleidete und einer Abteilung mit ausreichend vielen Mitarbeitern vorstand, waren die Wochenenden, an denen er wegen der absoluten Dringlichkeit irgendwelcher Ermittlungen nicht zu Hause sein konnte, eher selten geworden.

»Das ist nicht mein Handy«, stellte er klar. »Das liegt ausgeschaltet im Wagen. Es hört sich eher nach deinem Diensthandy an.«

Clara fluchte leise. Es war unschwer zu erkennen, dass sie es hasste, ein zusätzliches Telefon für ihre Aufgaben als Schulseelsorgerin mit sich herumtragen zu müssen.

»Stimmt. Ich habe es vorhin zum Aufladen ins Wohnzimmer gelegt«, sagte sie, schlüpfte hastig vor der Terrassentür aus ihren Gartenschuhen und beeilte sich, an das Mobiltelefon zu kommen.

Caspari sah ihr nach und beobachtete, wie sich ihr Gesicht während des Gesprächs verfinsterte. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

***

Südfrankreich, im Gévaudan, im Jahr 1764

Jean Chastel rollte ein frisches Fass Bier durch die Küche in den Schankraum. Ächzend hob er es auf den Tresen. Sein Körper war schwere Arbeit gewohnt, in seinem wettergegerbten Gesicht hatten die Jahre kaum ihre Spuren hinterlassen.

Etwas Jugendliches lag in dem Ausdruck seiner klaren blauen Augen. Doch an manchen Tagen spürte er seine sechsundfünfzig Jahre deutlich. Nicht mehr lange, und er wäre darauf angewiesen, dass seine Kinder ihm schwere Arbeiten abnahmen.

Obwohl es die ganze Nacht hindurch geregnet hatte, lag an diesem Junimorgen eine unangenehme Schwüle in der Luft. Während sich Chastel mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte, betrachtete er seine Frau, die auf den Knien den Boden unter den Tischen wischte. Ihr Po war ihm zugewandt, und er genoss den Anblick. Nach all den Jahren, die sie gemeinsam als Eheleute durchgestanden hatten, empfand er immer noch Liebe und Leidenschaft für sie. Zusammen hatten sie aus einer alten Kaschemme das beliebte Gasthaus »Le Percheron« geschaffen. Ein süffiges Bier und ein exzellenter Rotwein aus der Region mit dem Bukett von Kirschen, Beeren und einem Hauch Vanille und Eichenholz waren neben den Kochkünsten seiner Frau und deren Schwester das Geheimnis ihres Erfolges.

Wie hatte sie es nur geschafft, bei diesem harten Leben noch Energie dafür zu finden, mit ihm zu schlafen? Neun Kinder hatte Anne ihm geboren, und keines war ihnen gestorben. Ihre beiden Ältesten, Pierre und Antoine, gingen mit zur Hand, sei es im Gasthaus, sei es bei der Jagd. Denn neben seinem Beruf als Gastwirt war Chastel einer der Wildhüter im Gévaudan. Das bedeutete zwar deutlich mehr Arbeit, zahlte sich aber auch für sie alle aus. Für das Fleisch von Hirsch, Reh, Wildschwein und Fasan, das im »Le Percheron« häufig unter den Speisen zu finden war, sorgte er.

»Was glotzt du so, alter Narr?«, schalt Anne ihn spöttisch, während sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wieder unter ihre Haube schob.

»Ich habe mir nur einen kleinen Augenblick Zeit genommen, dein prächtiges Hinterteil zu bewundern«, gab er mit einem breiten Grinsen zurück.

»Mannsvolk!«, kommentierte sie.

Mit einem lauten Knall wurde die Eingangstür zum Schankraum aufgerissen. Jacques Durand, ein Sergeant der Gendarmerie, der sich mit Chastel gelegentlich bei einem Glas Wein über die Zeit bei der Armee, in der sie beide gedient hatten, unterhielt, stand mit hochrotem Kopf in der Tür.

»Jean«, rief er mit heiserer Stimme, »Ihr müsst sofort mitkommen! Befehl vom Präfekten.«

Die Spitzen seines gewaltigen Schnauzbartes waren schweißnass. Die sonst so akkurat sitzende Uniform war mit Dreckspritzern übersät und sah insgesamt reichlich mitgenommen aus. Er keuchte.

»Warum?«, wollte Chastel wissen.

»Ein Überfall«, stieß Durand erregt hervor, »nahe der Pfarrei Saint-Étienne.«

»Wozu braucht Ihr dabei einen Gastwirt?«, fragte Anne besorgt, während sie aufstand.

»Keinen Gastwirt, einen guten Wildhüter«, schnaubte Durand.

»Einen Wildhüter?«

»Der Angriff war …«, Durand rang nach Luft, »… es war kein Mensch. Das muss ein gewaltiges Vieh gewesen sein.«

»Gut, ich hole meine Büchse und Schießpulver«, sagte Chastel, griff nach dem Holzhammer und schlug den Zapfhahn in das Bierfass. »Sei so gut, Anne, und gib unserem Freund einen Krug Bier, während ich meine Sachen hole und das Pferd sattle.«

»Euer Pferd braucht Ihr nicht zu satteln. Ich habe eines für Euch dabei«, erklärte Durand. »Die Zeit drängt, wie gesagt. Aber gegen einen großen Schluck Bier hätte ich trotzdem nichts einzuwenden.«

Als Chastel mit seinem Jagdmesser, einer Saufeder, seiner Pistole und seinem Gewehr bewaffnet mit seinen beiden Jagdhunden vom Hof kam, stand der Sergeant der Gendarmerie bereits bei den Pferden.

»Die Hunde?«, fragte er. »Können sie bei einem strammen Galopp mithalten?«

»Kein Problem«, versicherte Chastel, »das sind ausdauernde Tiere.«

»Wenn Ihr es sagt. Ihr seid der Experte.«

Sie trieben die Pferde an und lenkten sie in Richtung Nordosten. Nach etwa einer Stunde scharfen Ritts kamen sie in eine Gegend, wo die Felder und Wiesen an einen Wald grenzten. Das Erste, was Chastel sah, war eine Rinderherde, die auf einer Weide stehend die Köpfe reckte und nervös muhte. Dann erkannte er eine Gruppe von Personen, die im Kreis auf einer kleinen Erhebung standen und in ihre Mitte starrten. Eine Frau war auf die Knie gesunken und schrie laut und hysterisch. Einer der Männer hielt sie an den Schultern gestützt. Sein ganzer Körper schüttelte sich unter den Weinkrämpfen, die er zu unterdrücken versuchte.

»Die Eltern!«, rief ihm Durand zu, während sie vom Galopp in einen leichten Trab verfielen.

»Die Eltern von wem?«

»Jeanne Boulet, dem Opfer«, erklärte Durand, während er nach Luft rang.

Kurz vor der Gruppe kamen sie zum Stehen, stiegen ab und überließen die Pferde sich selbst. Die erschöpften Tiere schnaubten und begannen zu grasen.

Chastel befahl seinen Hunden, sich abzulegen, dann gingen sie zu dem Kreis aus Menschenleibern, der einer Prozession glich, die kurz vor dem Waldrand haltgemacht hatte, um eine Andacht zu halten. Die Sonne stach gnadenlos aus einem wolkenlosen Himmel und tauchte die Gruppe in ein grelles Licht.

»Macht Euch auf einen schrecklichen Anblick gefasst, mon camarade«, warnte Durand Chastel.

Ein anderer Gendarm sah ihnen über die Schulter entgegen, nickte dem Sergeant zu und bedeutete den anderen, den Kreis aufzumachen.

Es war, als öffnete sich Chastel eine Schleuse zur Hölle. Doch sie war nicht schwarz oder mit Hitze und feurigen gelben Flammen angefüllt, sondern mit dem dunklen Rot von Blut, das das satte Grün der Weide befleckt hatte.

Jeanne Boulet lag in Stücke gerissen vor ihnen. Ihre Kehle war durchgebissen. Blank und fahl ragte der Kehlkopf aus dem Hals hervor. Der Kopf saß nicht mehr auf dem Hals. Er lag in einem Meter Entfernung. Von den Armen waren lediglich die Knochen übrig geblieben. Die Hände waren nicht mehr als ein breiiger Haufen. Das rechte Bein fehlte. Der linke Oberschenkel war fast vollständig abgenagt. Das zerfetzte Kleid gab Bissspuren auf dem Torso preis, die von einem gewaltigen Kiefer stammen mussten.

Chastel hatte Mühe, sein Entsetzen hinter einer stoischen Maske zu verbergen. In den Scharmützeln, in denen er als Soldat mitgekämpft hatte, war es immer sehr blutig zugegangen. Besonders die Wunden, die die Eingeborenen in Neu-Frankreich ihren Gegnern mit den Tomahawks beibrachten, waren grauenvoll. Aber einen menschlichen Körper, der aussah, als hätte eine Furie die Stoffpuppe eines Kindes in blinder Wut zerfetzt, hatte er bisher noch nie gesehen.

Er schluckte die sauren Reste seines Frühstücks wieder hinunter, als er zum Kopf des Opfers ging. Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen, der Mund zu einem stummen Schrei geöffnet. Scharfe Krallen hatten lange und tiefe Wunden gerissen. Das Gesicht glich auf grausame Weise einem frisch gepflügten Acker.

Was auch immer Jeanne Boulet getötet hatte, war äußerst brutal und rasend schnell vorgegangen.

»Wer oder was war das?«, fragte Chastel mit tonloser, fast nüchterner Stimme.

»Wir hatten gehofft, dass Ihr uns das sagen könnt«, entgegnete der andere Gendarm.

»Das war ein Wolf«, raunte einer der Männer aus der Menge, die sich um die Leiche versammelt hatte. »Unsere Gewehre hat man uns weggenommen. Auf Befehl des Königs. Die Biester konnten sich ungestört vermehren.«

Chastel kommentierte diese zornige Bemerkung nicht. Ludwig XV. Der König hatte der Bevölkerung im Gévaudan die Waffen abnehmen lassen, nachdem sie sich auf die Seite der Hugenotten gestellt und einen Aufstand unterstützt hatten.

Chastel war die Lage der Bauern wohl bewusst. Ohne ihre Gewehre war es schwierig, ein Wolfsrudel von den Herden zu vertreiben. Den Boden absuchend, ging er wortlos umher.

»Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte ein Wolf gewesen sein«, sagte er schließlich. »Falls das so ist, dann stehen wir vor einem Rätsel.«

»Was meint Ihr?«, fragte Durand.

»Die Größe des Tieres«, erklärte Chastel. »Ich kenne die Wölfe aus dem Zentralmassiv. Ich habe noch keinen gesehen, der so gewaltig war.« Er deutete auf den Boden. »Die Pfotenabdrücke sind riesig und die Abstände zwischen ihnen sehr groß.«

Das allein war schon außergewöhnlich, doch Chastel war eine noch viel gewichtigere Besonderheit aufgefallen.

»Außerdem frage ich mich«, begann er vorsichtig, »warum das Raubtier sich ausgerechnet die Hirtin als Beute gewählt hat.«

»Ich verstehe nicht, was Ihr meint«, entgegnete Père Charles, der Ortsgeistliche von Saint-Étienne-de-Lugdarès, der die Hand von Jeannes Mutter hielt, die mittlerweile leise wimmerte.

»Schaut Euch um, Père«, antwortete Chastel und breitete die Arme aus. »Überall auf dieser Weide stehen Rinder. Mindestens zwei Dutzend. Und das Raubtier reißt ausgerechnet das Mädchen? Ich meine, von einem Rind hätte es doch wesentlich …« Er verbiss sich die Fortführung des Satzes aus Respekt vor den Eltern der Toten. So bemerkenswert der Gedanke war, so makaber war er auch.

Das Entsetzen, das er in den meisten Gesichtern sehen konnte, sagte ihm, dass sie ihn verstanden hatten. Der Räuber hatte auf der Suche nach Beute die Auswahl unter einer Herde wohlgenährter Rinder gehabt. Stattdessen hatte er sich für ein vierzehnjähriges Mädchen entschieden, das sich mit einem eisenbewehrten Hirtenstock wehren konnte. Dieses Verhalten war außergewöhnlich, zumal Wölfe den Kontakt mit Menschen mieden.

»Ich meine …«, begann er von Neuem, »ein Wolf reißt doch keinen Menschen, wenn er sich ein Rind oder ein Schaf holen kann.«

»Ein Wiedergänger«, raunte eine Frau.

»Ein Werwolf«, ein Mann daneben.

»Ein Dämon«, zischte ein anderer.

»Hört auf damit!«, rief der Geistliche erregt. »Es war helllichter Tag! Wiedergänger und Werwölfe sind Kreaturen der Nacht. Besonders der Nacht in euren Köpfen. Abergläubiges Pack!«

»Werdet Ihr uns helfen, diese Bestie zu suchen, Chastel?«, fragte Durand hastig. Er schien das Gespräch in eine andere Richtung lenken zu wollen, bevor es zum Streit kam.

Chastel nickte.

»Dann ist es beschlossene Sache«, bestimmte der Sergeant und wandte sich seinem Untergebenen zu. »Ich reite mit dem Wildhüter, und Ihr kümmert euch darum, dass der Arzt sich die Leiche ansieht.«

Der andere Gendarm salutierte als Erwiderung.

»Brauche ich für meine Arbeit neuerdings ein Kindermädchen?«, raunte Chastel unwillig, als er und Durand sich von der Menge entfernt hatten.

Der schnaubte mit heruntergezogenen Mundwinkeln. »Wie Ihr schon sagtet, Jean, das war kein gewöhnlicher Wolf. Seht es einfach so: Ich gebe Euch Rückendeckung.«

»Wie damals in Québec gegen die Engländer?«

»Wie damals in Québec.«

Chastel rief seine beiden Jagdhunde mit einem kurzen Pfiff. Sofort kamen sie angerannt und ließen sich von ihm zu den Pfotenabdrücken führen, die er entdeckt hatte. Während sie die Stelle ausgiebig beschnüffelten, stieg er auf sein Pferd. Plötzlich hielten die Hunde inne und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Sie haben die Fährte aufgenommen«, erklärte Chastel seinem alten Freund. Wieder stieß er einen Pfiff aus, auf den die Hunde sofort reagierten und losrannten.

»Allez camarade!«, rief er und gab seinem Pferd die Sporen.

***

Er liebte diesen Ort. Von hier aus konnte er den Turm des Vogelsberger Doms, wie die evangelische Kirche in Unterreichenbach im Volksmund genannt wurde, trotz der hohen Bäume immer noch gut sehen. Imposant erhob sich das große Bauwerk auf einem Hügel mitten in dem kleinen Ort.

Nachdem Bernd Altmeier sich von dem Anblick gelöst hatte, widmete er sich wieder der Aufgabe, wegen der er eigentlich auf sein Gartengrundstück am Ortsrand gekommen war. Einige Ziegel seines Gartenhauses mussten dringend erneuert werden.

Vor sich hin summend holte er die Leiter und trug sie zur Hütte. Als er sie gegen das Dach lehnte, sah er in die Sonne und dachte an die wunderbaren lauen Sommernächte, die er auch in diesem Jahr mit seiner Familie und den Freunden hier verbringen würde. Dieser Garten am Ortsrand war sein Paradies inmitten einer unruhigen, rastlosen Welt.

Er kontrollierte, ob die Leiter sicher und stabil stand, dann ging er auf einen kleinen Stapel Dachziegel zu, der an der Hüttenwand lag. Er bückte sich, um die Ziegel zu fassen.

In diesem Moment traf ihn ein gewaltiger Schlag in den Rücken und warf ihn nach vorn. Die Holzlatten knarrten, als seine linke Schulter darankrachte.

Bernd Altmeier stöhnte laut auf. Aus einer Wunde an seiner Stirn lief ihm Blut über die Augen. Er konnte nicht sehen, wer oder was ihn gegen die Hütte geschleudert hatte. Dazu ließ ihm der Angreifer auch keine Gelegenheit. Etwas Schweres traf ihn an der Seite und riss ihn vollends zu Boden.

Bernd Altmeier lag wehrlos auf dem Rücken. Er konnte kaum etwas erkennen. Wie sollte er sich fast blind verteidigen?

Instinktiv nahm er die Arme vor sein Gesicht. Sofort bohrte sich etwas in seinen Unterarm. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand mehrere Nägel auf einmal ins Fleisch schlagen.

Altmeier stieß einen Schmerzensschrei aus und ließ den Arm sinken. Dabei wischte er sich mit dem Ärmel seines Hemdes das Blut aus den Augen.

In dem Augenblick, in dem er sah, was ihn angriff, bereute er, dass er nicht mehr blind war.

Über ihm erschien ein gewaltiges Gebiss. Wütende Augen starrten auf ihn herab.

Entsetzt versuchte Altmeier, auf dem Rücken liegend mit Händen und Füßen von dem Ungeheuer wegzurobben, aus dessen Rachen ein kurzes, bedrohliches Knurren kam. Dann umschloss es mit einem gewaltigen Kiefer seinen Hals. Scharfe Zähne wurden mit unbarmherziger Kraft durch Haut, Muskeln und Blutgefäße getrieben.

Das Letzte, was Bernd Altmeier spürte, war der feuchte, heiße Atem des Ungeheuers auf seiner Haut. Dann brach das Licht in seinen Augen.

***

»Ist es etwas Ernstes?« Caspari sah Clara mit nachdenklicher Miene aus dem Haus kommen.

»Wir haben einen Mobbingfall«, antwortete sie und schüttelte den Kopf, als wollte sie damit die Gedanken an das Telefonat vertreiben.

»An der Schule?«, fragte Caspari.

»Das Gymnasium ist kein Wolkenkuckucksheim.«

Caspari warf den letzten Löwenzahn in den Schubkarren und gönnte sich einen großen Schluck aus der Wasserflasche.

»Das ist mir bekannt. Ich habe selbst Erfahrungen damit sammeln dürfen«, sagte er schließlich, wobei er seinen Blick in die Ferne richtete.

Clara nickte. »Du hast es einmal erwähnt.«

»Dicker, dummer Chris«, zitierte er, ohne den Blick vom gegenüberliegenden Seeufer zu nehmen. »Das haben sie mir oft genug nachgerufen. So oft, dass ich irgendwann selbst daran glaubte, dick und dumm zu sein. Da geht einem ganz schnell das Selbstwertgefühl flöten.«

»Du warst total schüchtern, als wir uns kennengelernt haben.«

»Ja, ich habe nie wirklich gelernt, zu mir selbst zu stehen. Mich selbst als Person oder besser: als Persönlichkeit annehmen? Das kann ich gar nicht, auch heute noch nicht. Wenn ich mich ansehe, sehe ich bloß meine Defizite.«

»So erlebe ich dich aber kaum mehr. Seit wir zusammen sind, wirkst du selbstsicherer.«

»Du gibst mir das Gefühl, dass du mich so liebst, wie ich bin. Das hilft mir, das gibt mir einen Ausblick, wie es sein könnte, wenn ich mich selbst lieben würde. Bis zu einem echten Selbstwertgefühl ist es aber noch ein langer Weg.«

»Deine Klassenkameraden haben mit ihrem Mobbing tiefe Wunden in deine Seele geschlagen.«

»Nicht nur sie allein. Aber ja, ihr Anteil ist nicht unwesentlich.«

Clara legte ihm die Hand auf den Arm. »Kinder können sehr gemein sein.«

Er nickte knapp.

»Wie hast du diese Zeit überstanden?«

Caspari spürte Claras Blick auf sich ruhen.

»Lange Zeit war ich hilflos. Ich fühlte mich dem Geschwader, das mich regelmäßig fertigmachte, hilflos ausgeliefert. Dann begann ich als Dreizehnjähriger mit Krafttraining. Nach einiger Zeit war ich der Stärkste in der Klasse. Die anderen registrierten das allerdings erst, als ich einem von ihnen bei einer Auseinandersetzung zwei Rippen brach. Das gab natürlich eine Menge Ärger. Mein Vater schleppte Benny und mich danach zu Seydel, der uns in den Kampfkünsten unterwies. Die Jungs mit der großen Klappe ließen mich seither in Ruhe.«

Clara war schockiert. »Du hast so fest zugeschlagen?«

Caspari sah ihr in ihre strahlend blauen Augen.

»Wir haben das damals mit Ringkämpfen geregelt. Meistens jedenfalls. Ich hatte ihn umklammert und hochgehoben. Er strampelte wild mit seinen Füßen. Ich verstärkte den Druck, plötzlich knackte es, und er begann zu jammern.«

Clara verzog missbilligend das Gesicht.

»Du siehst alles andere als reumütig aus«, sagte sie. »Da ist so eine Andeutung eines frechen Grinsens um deine Mundwinkel.«

»Vom Gefühl der Genugtuung kann ich mich tatsächlich nicht freisprechen«, bestätigte Caspari. Als er sah, wie sie ihre Lippen schürzte, beeilte er sich, noch etwas hinzuzufügen. »Ja, ich weiß: Gewalt ist keine Lösung. Wenn du als Mobbingopfer nur verzweifelt genug bist, siehst du aber oft keinen anderen Weg.«

***

Es dämmerte bereits. Erschöpft betraten Chastel und Durand das »Le Percheron«. Ihre Reitmäntel hatten sich mit Wasser vollgesogen und lagen schwer auf ihren Schultern. Der Schwüle des Tages war ein neues Gewitter gefolgt, dessentwegen sie die Suche nach dem Raubtier abbrechen mussten.

Ein Regentropfen hing an der Spitze von Chastels markanter Adlernase. Er wischte ihn weg. Als er seinen Dreispitz vom Kopf nahm, lief ein Rinnsal aus der vorderen Hutecke und ergoss sich auf den Boden.

Durand war es nicht viel besser ergangen. Nachdem er den Mantel abgelegt hatte, wischte er sich mit dem Ärmel seiner Uniform über das nasse Gesicht.

»Antoine«, rief Chastel seinem Sohn zu, der am Tresen stand, »zapfe uns zwei Krüge Bier!« Suchend sah er sich um. »Wo ist deine Mutter?«

»In der Küche«, antwortete Antoine, »sie macht gerade sauber.«

»Ist noch etwas von dem Braten übrig?«, fragte Chastel.

»Ja, allerdings nur kalt.«

»Sei so gut, bringe uns etwas davon. Auch vom Brot.«

»Ja, Herr Vater.«

Schweigend tranken der Wildhüter und der Gendarm aus den Humpen, die Antoine ihnen hingestellt hatte.

»Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Tier so gerissen ist«, knurrte der Sergeant schließlich, nachdem sie eine Weile schweigend auf ihre halb leeren Krüge gestarrt hatten.

»Es ist ein sonderbares Wesen«, stimmte Jean Chastel zu. »Und riesig ist es obendrein. Ich meine, ist Euch jemals ein Raubtier untergekommen, das einen Sprung von acht Metern Länge machen kann?«

»Hier nicht und in Neu-Frankreich auch nicht. Während unserer Suche kamen mir die Geschichten der Eingeborenen wieder in den Sinn. Die Erzählungen über diejenigen, die Menschenfleisch gegessen und sich dann in diese Walddämonen verwandelt haben.«

»Ah, Ihr meint einen Wendigo«, erinnerte sich Chastel. »Womit wir wieder bei den Werwolf-Märchen unseres Kontinents wären.«

»Die Angst vor einem Werwolf wird sich hier im Nu verbreiten. Ihr werdet sehen. Der Anblick der zerfetzten Leiche gibt Anlass genug.«

»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Chastel.

»Wenn Ihr es Euch einrichten könnt, setzen wir beide morgen die Suche fort. Vielleicht finden die Hunde eine Spur«, antwortete Durand.

Chastel nickte. »Die Zeit nehme ich mir. Schließlich bin ich Wildhüter in der Gegend. Allerdings hege ich Zweifel, dass wir das Tier, oder was auch immer es ist, vor die Flinte bekommen. Die Wälder des Gévaudan sind zahlreich und groß. Gut möglich, dass es weiter nach Westen gezogen ist.«

»Ich fürchte, wir haben keine Alternative«, entgegnete Durand resigniert.

***

»Ich weiß ehrlich nicht, was mich da geritten hat«, sagte Jannik, der unentwegt seine Finger knetete.

Clara konnte gut verstehen, dass ihm die Situation mehr als peinlich war. Der Schüler saß mit einem Freund im Büro der Schulseelsorge. Clara hatte ihn gebeten, ihr zu erzählen, wie das Mobbing begonnen hatte, dem er täglich ausgeliefert war. Jannik hatte herumgedruckst, hatte von einem Videoclip in WhatsApp gesprochen, ohne konkret zu werden. Sein Freund Leon hatte ihm einen verständnisvollen Blick zugeworfen und ihm gesagt, er müsse schon mit der ganzen Wahrheit rausrücken.

»Das Video …«, setzte Jannik erneut an, »es war ein Sextie.«

Clara nickte. Zu ihrer Profession als Seelsorgerin gehörte es, jedem Ratsuchenden unvoreingenommen zuzuhören. Sie durfte sich keine vorschnelle Meinung bilden. Es ging hier nicht darum, was sie selbst von solchen Handyfotos oder -videos hielt, bei denen Jugendliche sich nackt filmten, Jungen meist mit erigiertem Glied.

»Und du hast es über WhatsApp weitergeschickt?«, tastete sie sich heran.

»Ja, ich habe es Sina geschickt.« Schweißperlen traten dem Jugendlichen auf die Stirn. »Wir haben schon ein paarmal im evangelischen Jugendzentrum bei Discos rumgeknutscht. Ich wollte richtig mit ihr zusammen sein. Ich …«

»Du wolltest mit ihr schlafen?«, half Clara ihm.

Jannik bekam einen feuerroten Kopf. »Ja«, antwortete er im Flüsterton.

»Aber sie hat dich abblitzen lassen?«

Jannik nickte.

»Manuel war auch hinter Sina her«, erklärte Leon. »Hatte wohl die besseren Karten. Jedenfalls sind die beiden jetzt ein Paar.«

Clara reimte sich eins und eins zusammen.

»Sina hat also Manuel dein Video gezeigt.«

»Nicht nur gezeigt.« Jannik fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Sie hat es ihm geschickt.«

»Manuel ist ein Arsch«, kommentierte Leon, »ein asoziales Arschloch! Dem geht es am besten, wenn er andere fertigmachen kann.«

»So etwas funktioniert auf Dauer aber nur gut, wenn man auch eine Gruppe von Leuten hat, die das gut finden oder sogar mitmachen«, wandte Clara ein.

»Die hat er, darauf können Sie wetten«, entgegnete Jannik. »Das sind Leute von unserer Schule und dem Beruflichen Gymnasium. Das ist täglich der reinste Spießrutenlauf hier in Gelnhausen. Einen von denen trifft man immer. Die haben es drauf, einen fertigzumachen.«

»Auch wenn sie allein sind?« Clara war überrascht.

Jannik nickte.

»Die holen im Bus ihr Handy aus der Tasche und zeigen anderen Schülern während der Fahrt zur Schule dieses dämliche Video. Dabei deuten sie dann auf mich und lachen sich kaputt.«

»Wie lange geht das schon?«, wollte Clara wissen.

»So sechs Wochen«, antwortete Jannik.

»Und sie haben seither noch nicht die Lust verloren, dich bloßzustellen?«

»Leider nicht. Einen von denen habe ich mir mal gekrallt. Letzte Woche bin ich nach der Schule an derselben Haltestelle ausgestiegen, obwohl ich nicht dort wohne. Der Typ war nicht gerade ein Brecher, wissen Sie? Für seine Videoshow im Bus habe ich ihm dann ein paar Schläge eingeschenkt.«

»Aber es hat nicht geholfen. Sonst wärst du nicht hier«, konstatierte Clara.

»Nee, die haben seither richtig aufgedreht. Es vergeht keine Pause, in der sie mich nicht vor allen anderen demütigen.«

»Wie machen sie das?«

»Sie rufen ›Hi, Jannik, was macht dein Schwanz?‹ und ähnliche Sprüche.«

»Jannik hat sie am Donnerstag zur Rede gestellt«, erzählte Leon. »Wir haben den ganzen Haufen vor dem Bahnhof getroffen. Jannik sagte ihnen, dass es nach sechs Wochen doch endlich mal gut sein müsste. Manuel hat nur gelacht, sich nach seinen Kumpels umgesehen und gemeint: ›Aber wieso denn? Es macht doch gerade erst so richtig Spaß!‹«

»Dazu kommt noch, dass sie über WhatsApp, Instagram und Twitter andere anstiften, dabei mitzumachen. Sie machen mit ihren Handys heimlich Fotos von mir, bearbeiten sie mit Photoshop, sodass ich wie der letzte Vollidiot aussehe, und schicken das mit entsprechenden Kommentaren herum.«

»Haben sie damit Erfolg?«, fragte Clara, die so viel Häme schockierte.

»Zum Teil ja«, antwortete Jannik. »Ich weiß nicht, wem sie dieses blöde Selfie gezeigt haben. Ich schäme mich so sehr, dass ich mich kaum noch mit anderen Leuten treffe. Weggehen ist gar nicht mehr drin. Die Gefahr, dass ich einem von denen oder der ganzen Gang über den Weg laufe, ist viel zu groß. Außerdem frage ich mich bei jedem, der mir begegnet, ob er das Video schon gesehen hat und was er über mich denkt. Die müssen mich doch alle für einen Idioten halten. Letzten Freitag, am ersten Mai, habe ich allein zu Hause gehockt. Leon hält zu mir, ein paar andere Freunde aus meiner Basketballmannschaft auch. Aber denen kann ich nicht zumuten, mit mir einen Filmabend zu Hause zu machen, während Klassenkameraden auf irgendeine Fete gehen.«

»Auch wenn ich bisher das Glück hatte, nicht gemobbt zu werden«, gestand Clara, »so weiß ich doch, wie es sich anfühlt, wenn jemand hinter einem her ist.« Sie machte eine kurze Pause. »Hast du schon mit deinen Eltern darüber gesprochen?«

»Oh Gott, nein!«, rief Jannik entsetzt. »Das kann ich nicht. Wenn die das mit dem Nacktfilm hören … dann …« Seine Augen füllten sich mit Tränen. Schnell wischte er sie weg.

Leon legte ihm die Hand auf die Schulter. »Komm, Alter, die sind doch ganz okay. Die machen dich schon nicht rund.«

»Ich schäme mich so sehr dafür. Ich weiß nicht, wie ich das meiner Mom sagen soll.«

»Was hältst du davon, wenn ich deine Eltern zu einem Gespräch hier in mein Büro bitte, und wir beide erzählen ihnen gemeinsam von dem Problem?«, schlug Clara vor.

Jannik stützte das Kinn auf seine Fäuste und sah sie an. Dann nickte er zögernd. »Ja, gut.«

Clara machte sich ein paar Notizen.

»Wir werden das Mobbing stoppen«, sagte sie voller Zuversicht. »Es gibt einen erprobten Ansatz, mit dem viele Einrichtungen seit Jahren arbeiten. Im Grunde geht es dabei darum, die Täter aktiv in den Prozess einzubinden, der ihr eigenes Mobbing beendet. Dazu brauche ich allerdings die Namen aller Akteure. Auch muss ich wissen, wer zu dir hält. Würdet ihr beide sie mir nennen wollen?«

Jannik und Leon sahen sich stumm an, als würde der eine darauf warten, dass der andere sein Schweigen brach.

***

Die Fotos aus der Gerichtsmedizin waren grauenvoll, selbst für einen so altgedienten Polizisten wie Kriminalrat Heinz Bertram. Sie hingen in einem akkuraten Abstand nebeneinander an der weißen Magnetwand in seinem Büro im Gelnhäuser Polizeirevier.

Detailaufnahmen des Leichnams von Bernd Altmeier zeigten tiefe Bissspuren, langflächig aufgerissene Hautpartien und einen blank liegenden Kehlkopf, der zerfetzt aus dem Hals ragte. Dieser Todesfall war Chefsache, also war es an ihm, Bertram, gemeinsam mit seinem Stellvertreter und Schwiegersohn Hauptkommissar Jürgen Jungmann die Ermittlungen zu leiten.

Bertram drehte sich zu der Frau, die neben ihm stand und die Aufnahmen sehr genau studierte.

»Was können Sie uns sagen, Dr. Brinkmann?«, fragte er.

Die drahtige Kynologin blieb noch einen kurzen Moment in ihre Betrachtung vertieft, bevor sie reagierte.

»Die Bissspuren, das Muster und die Tiefe der Verletzungen, die durch die Krallen verursacht wurden, sind eindeutig«, erklärte sie und strich sich mit einer knappen Bewegung eine Strähne aus ihrem Haar, das straff nach hinten gekämmt und zu einem Zopf geflochten war. »Die Pfotenabdrücke sprechen ebenfalls dafür. Sie haben es mit einem Caniden zu tun.«

»Bitte die deutsche Variante«, bat Bertram.

»Es war eindeutig ein Wolf oder ein Hund«, sagte sie in dozierendem Tonfall.

»Können Sie eine genauere Einschätzung abgeben?«, fragte Jungmann ungeduldig.

Dr. Brinkmanns mit grauen Strähnen durchzogener Zopf schwang auf ihrem Rücken, als sie sich ruckartig zu ihm umdrehte.

»Vielleicht«, antwortete sie und schürzte die Lippen. »Dazu müsste ich allerdings den Leichnam sehen und die Spuren genau vermessen. Auch wenn ich Sie enttäuschen muss – das Einzige, was sich im Augenblick mit Gewissheit sagen lässt, ist die Tatsache, dass der Mörder ein Vertreter aus der Familie der Canidae ist.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür, wie die Polizeihunde die Spur des Tieres verlieren konnten?«, fragte Jürgen Jungmann.

»Nein«, antwortete Dr. Brinkmann knapp.

»Also gut«, lenkte Bertram ein. »Dann wird Sie mein Kollege an den Tatort fahren, damit Sie nach Spuren schauen können. Ich setze mich mit Dr. Völker von der Gerichtsmedizin in Verbindung, damit Sie möglichst rasch die Leiche untersuchen können.«

Er reichte ihr die Hand zum Abschied. Obwohl die ihre in seiner Pranke fast verschwand, war ihr Händedruck erstaunlich fest.

»Vielen Dank noch einmal dafür, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für uns genommen haben«, fügte er hinzu.

Nachdem Dr. Brinkmann den Raum verlassen hatte, um auf dem Parkplatz auf Jungmann zu warten, kam der gleich auf den Punkt.

»Die ist schon ein bisschen seltsam«, stellte er fest. »Typ ›Frau Oberlehrer‹. Unverheiratet, versteht sich.«

»Sie ist die beste Kynologin weit und breit«, konterte Bertram, »das hat mir Dr. Völker jedenfalls versichert. Er hatte wohl schon öfter mit ihr zu tun und schätzt ihre Fachkompetenz außerordentlich.«

»Und wie die rumläuft«, fuhr Jungmann unbeirrt fort, »Outdoorhemd, Outdoorhose, Wanderstiefel …«

»Du sollst ihr keinen Heiratsantrag machen, du sollst mit ihr zusammenarbeiten«, wies Bertram seinen Schwiegersohn grinsend zurecht. Manchmal benahm sich Jürgen wie ein großer Junge, der in der Pubertät stecken geblieben war. »Vielleicht laufen alle Zoologen so herum, wenn sie ihre Studienobjekte beobachten. Vergiss nicht, dass wir sie von einem Forschungsauftrag weggeholt haben.«

»Ja, ja, ja! Ich gehe schon und fahre die Frau Hundeexpertin in den Vogelsberg«, maulte Jungmann halb ernst, halb im Spaß.

***

Die Dozententätigkeit an der Fachhochschule in Wiesbaden gehörte zu den angenehmen Seiten von Casparis Beruf. Die Benotung von Hausarbeiten allerdings nicht. Er rang mit jeder Beurteilung, weil er angehenden Polizisten das Leben nicht mit einer schlechten Note schwer machen wollte. Nach mehreren Anläufen war er fertig geworden und befand nun, dass der Notendurchschnitt vertretbar war.

Er kochte in der Küche Tee, als Clara von der Schule heimkam.

»Wie ist das Gespräch wegen des Mobbings gelaufen?«, fragte er, nachdem sie sich umarmt hatten.

»Insgesamt sehr gut«, antwortete sie und erzählte ihm von dem Treffen mit Jannik und Leon.

»Ich verstehe nicht, was Menschen dazu bringt, solche Sexties zu machen«, kommentierte Caspari Janniks Handyvideo.

»Das hat mit dem Kommunikationsverhalten der Jugendlichen zu tun«, entgegnete Clara und setzte sich an den Küchentisch. »WhatsApp, Instagram, Twitter